Der Schwur des Barbaren - Keira Andrews - E-Book

Der Schwur des Barbaren E-Book

Keira Andrews

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Er beanspruchte einen unschuldigen Prinzen – und übergab ihm sein Herz. Cador hatte den verwöhnten Prinzen aus einem weit entfernten Königreich nur geheiratet, um sein eigenes Volk zu retten. Er hätte nie gedacht, dass er einen solchen Respekt für Jem entwickeln würde. Er hätte nie gedacht, sich mit ihm so wohlzufühlen. Er hätte nie gedacht, ihn mit brennender Leidenschaft sein Eigen nennen zu wollen. Er hätte nie gedacht, sich in ihn zu verlieben. Nun muss Cador die Zukunft seines Volkes retten und Jems Herz erobern. Denn ohne seine Liebe hat Cador selbst keine Zukunft mehr. Der Schwur des Barbaren ist ein schwuler Romance Roman, bei dem euch enemies-to-lovers, Altersunterschiede, erzwungene Nähe, erste Male und natürlich ein Happy End erwartet. Es ist der zweite und letzte Teil der Barbaren Dilogie. "Vermählt mit dem Barbaren" ist Band 1.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 463

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Keira Andrews

Der Schwur des Barbaren

Barbaren Dilogie Teil Zwei

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2024

http://www.deadsoft.de

© the author

Titel der Originalausgabe: The Barbarian’s Vow

Übersetzung: Simone Richter

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

yanik88 - stock.adobe.com

Wakingdreams - stock.adobe.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-680-7

ISBN 978-3-96089-681-4 (ebook)

Inhalt:

Er beanspruchte einen unschuldigen Prinzen – und übergab ihm sein Herz.

Cador hatte den verwöhnten Prinzen aus einem weit entfernten Königreich nur geheiratet, um sein eigenes Volk zu retten. Er hätte nie gedacht, dass er einen solchen Respekt für Jem entwickeln würde. Er hätte nie gedacht, sich mit ihm so wohlzufühlen. Er hätte nie gedacht, ihn mit brennender Leidenschaft sein Eigen nennen zu wollen.

Er hätte nie gedacht, sich in ihn zu verlieben.

Nun muss Cador die Zukunft seines Volkes retten und Jems Herz erobern. Denn ohne seine Liebe hat Cador selbst keine Zukunft mehr.

Der Schwur des Barbaren ist ein schwuler Romance Roman, bei dem euch enemies-to-lovers, Altersunterschiede, erzwungene Nähe, erste Male und natürlich ein Happy End erwartet. Es ist der zweite und letzte Teil der Barbaren Dilogie. Vermählt mit dem Barbaren

Kapitel 1

Es gab tatsächlich ein schlimmeres Schicksal, als das verdammte Meer zu überqueren. Nämlich es in einer Affenhitze tun zu müssen.

Cadors bemitleidenswerter Magen drehte sich um, als das Schiff sich von den Wellen mitreißen ließ. Schweiß brannte ihm in den Augen und er hielt sich mit feuchten Händen an der Reling fest.

Nach einigen Wochen, in denen er nichts anderes als das Wasser und den Himmel gesehen hatte, blinzelte er nun Onans Festland an, das von Stunde zu Stunde größer erschien. Die Temperaturen hingehen schienen minütlich anzusteigen. Immerhin war die verfluchte Sonne jetzt hinter ihnen. Trotzdem brannte sie weiter rücksichtslos vom Himmel und genau auf seinen ohnehin schon knallroten Nacken.

Obwohl er sich mittlerweile seine Weste und Hose ausgezogen hatte, war er rot im Gesicht und seine Kehle fühlte sich permanent ausgetrocknet an. Er hatte seinen Bart getrimmt und sein Gesicht mit einem Rasiermesser bearbeitet, doch die widerspenstigen Haare wuchsen zu rasant und hinterließen dicke Stoppeln. Er überlegte erneut, seine Stiefel auszuziehen, doch er war so selten barfuß, dass er sich ohne Schuhe seltsam unwohl und entblößt fühlte.

Das Meerwasser brannte auf seinen aufgerissenen Lippen, doch das war immerhin kühl. Seine helle Haut verbrannte leicht, doch er hielt es nicht aus, seine Arme zu bedecken. Seine Weste trug er nur, damit nicht auch sein Rücken in Mitleidenschaft gezogen wurde. Er konnte nur kleine Schlucke Wasser zu sich nehmen, ohne dass sein Magen anfing zu rebellieren.

Das Allerschlimmste war, dass er all das nur liebend gerne aushalten würde, wenn Jem auch nur einen Blick in seine Richtung werfen würde.

Jem schuldete ihm überhaupt nichts, schon gar nicht, ihm zu verzeihen. Cador versuchte, sich daran jeden Tag zu erinnern. Stündlich fast schon. Er war der einzig Schuldtragende. Er hatte Tas’ Plan, Jem zu heiraten und seine Verschleppung zu planen, schließlich zugestimmt.

Es war unmöglich sich vorzustellen, dass er sich so wenig für Jems Schicksal interessiert hatte. Damals hatte er Jem nur als Belastung empfunden. Ein Schachzug. Jem war nichts gewesen. Jetzt war er alles für ihn und er hasste Cador. Vielleicht war das genau die Strafe, die Cador verdiente.

Ein fürchterlicher Schrei durchbrach die Stille.

Er schreckte auf und schämte sich sofort dafür, sich über die Hitze beschwert zu haben und in Selbstmitleid versunken zu sein. Er eilte zum Heck des Schiffes, an Jem und Jory vorbei, die ihr Würfelspiel für den Moment aufgaben. Egal, wie sehr er es versuchte zu ignorieren, Jems Nähe und das Gefühl, als wären sie Fremde, drehte ihm den Magen um.

Alle Blicke ruhten auf Hedrok. Oder zumindest, was man von ihm unter einem Haufen Wildschweinleder entdecken konnte, das als Sonnenschutz um ihn gewickelt worden war. Cadors Schwester, Delen, sah von ihrer Station am Steuer aus zu. Sie war stets in Creedas und Hedroks Nähe.

Creeda kniete neben ihrem Sohn und lehnte sich über ihn. Sie flüsterte beschwichtigend auf ihn ein und betete leise. In ihrer Hand hielt sie ein paar getrocknete Zweige von den alten Sevelbäumen fest umklammert. Ihr schwarzes Haar war wie immer fest zusammengebunden und ihre bronzefarbene Haut schien von der Sonne verschont zu bleiben, obwohl sie Hedroks Seite kaum verließ. Ihre Wangenknochen stachen noch stärker hervor. Ihr Körper schien angespannt und zu dünn.

So sehr Cador es auch hasste auf hoher See zu sein, es gab viele Dinge, die viel, viel schlimmer waren. Die tödliche, langsam voranschreitende Krankheit, die inklusive seines Neffen, nur Kinder auf Ergh befiel und schon viel zu viele Leben gekostet hatte.

»Kann ich helfen?«, fragte er und seine Finger zuckten.

Creeda warf ihm nicht einmal einen Blick zu. Ihre Augen waren fest auf Hedroks bleiches Gesicht gerichtet, das vor Schmerz ganz verzogen war. »Mehr Wasser.«

Er eilte, um den kleinen Kübel zu füllen. Meraud verließ ihren Posten am Steuer und gesellte sich am Wasserfass zu ihm. Ihre kleine, vertrauenswürdige Crew begleitete sie auf dieser unerwarteten Reise. Auch ein paar Jäger, die nichts von dem Plan, Jem zu kidnappen, gewusst hatten, waren an Board. Sie wussten auch nichts von Bryoks geheimem Vorhaben, ihn zu ermorden.

»Geht langsam aus«, murmelte Meraud. Ihre mit Grau durchzogenen Locken hingen über ihre Schultern und waren in ihrem Nacken zusammengebunden.

Tatsächlich musste Cador sich ganz nach vorne beugen und der Eimer kratzte schon am Boden des Fasses, als er ihn füllte. »Genug?«

Sie blinzelte in Onans Richtung. »Gerade so. Ich habe mehr Regen erwartet.«

»Soll ich Creeda sagen, dass sie es einteilen soll?«

»Nein, er soll so viel haben, wie er braucht.«

Noch einer von Hedroks Schreien erklang über dem Wind. Cador nickte. »Er kann meinen Anteil haben.«

Meraud lachte leise und die Falten um ihre Augen schienen sich zu vertiefen. »Du behältst es ja sowieso kaum unten.« Liebevoll schubste sie ihn leicht. »Du und das arme Pferd werdet froh sein zu hören, dass wir noch vor Sonnenaufgang Land erreichen werden.«

Sie hatten nur ein Pferd mitgenommen, da die Reise für Menschen schon anstrengend genug war. Pferde, die noch mehr Auslauf brauchten, waren dafür nicht geeignet. Das bemitleidenswerte graue Tier namens Lusow stand in einem in Windeseile zusammengebauten Stall auf dem Heck, doch Jory führte es stundenlang auf dem Deck spazieren.

Am Anfang hatte Lusow gestampft, geschnaubt und sich aufgebäumt, wenn Hedrok geschrien oder geweint hatte. Doch mittlerweile hatte sich auch das Pferd an den Jungen und sein Leiden gewöhnt. Jory war stets zu ihm gegangen, hatte ihn mit Karotten gefüttert und ihm beruhigend über den Rücken gestreichelt.

Lusow war aufgrund seiner Schnelligkeit als ihre Begleitung auserwählt worden. Jory würde auf ihm schon mal zum Heiligen Ort vorreiten, um dort noch weitere Pferde und Verpflegung holen zu können, bevor er nach Neuvella reiste. Dort würde er Tas die Nachricht überbringen, dass Bryok tot war und ihre Reisegruppe bald eintreffen würde. Ein Teil von Cador wünschte sich, er hätte Massen, seinen treuen Hengst, mitgebracht, doch er wollte ihn nicht sinnlos dieser Reise aussetzen.

Hedrok wand sich auf seiner Pritsche hin und her, doch seine Beine bewegten sich unter der dünnen Decke keinen Millimeter. Cador brachte das Wasser und fühlte sich nutzlos, als er Creeda dabei zusah, wie sie Hedrok sanft dazu aufforderte zu trinken. Er zitterte, sein Haar war schweißnass. Er zog an der Decke, die um ihn gewickelt war.

»Es ist zu heiß, um zugedeckt zu sein«, sagte Cador.

Creeda funkelte ihn wütend an und ihre braunen Augen verengten sich. »Na dann los, nimm die Decke weg.«

Die Herausforderung in ihrer Stimme war deutlich. Cador beugte sich nach unten und versuchte so zu tun, als würde es ihm nichts ausmachen. Es sollte ihm nichts ausmachen, die Zeichen der Krankheit zu sehen. Er bemühte sich, ein neutrales Gesicht aufzusetzen, als er Hedroks dürre Beine aufdeckte.

An seinen Füßen klebten getrocknete Fetzen von abgestorbener Haut und Knochen, die dunkel begannen und nach oben hin immer heller wurden. Hedroks langes Hemd war bis zu seinen Hüften hochgerutscht. Der blasige, aggressive Ausschlag, der sich wie Spinnweben über Hedroks Oberschenkel verbreitet hatte, war blutrot. Cador zwang sich dazu, seinen Blick von Hedroks entstelltem Körper nicht abzuwenden und hasste es, zu sehen, wie seine Beine starr blieben.

Creeda befeuchtete ein Tuch und wischte damit über Hedroks Stirn, als Cador fragte: »Bist du dir sicher, dass es eine gute Idee war, ihn mitzunehmen?« Es rutschte ihm einfach so heraus, bevor er es aufhalten konnte.

Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Wie schon gesagt, Hedrok leidet, egal ob hier oder Zuhause. Er leidet jede Stunde, jeden Tag. Dein Prinz hat versprochen, dass die neuvellanischen Heiler versuchen werden zu helfen, und es gibt dort ausreichend Sevels. Wenn es wirklich der Mangel an Sevelfrüchten ist, der das hier ausgelöst hat, dann werde ich ihn bis zu seinem letzten Atemzug damit füttern. Wir haben nichts mehr zu verlieren.«

Cador nickte. Sie hatten darüber nachgedacht, alle Kinder mitzubringen, die erkrankt waren, doch sollte wirklich Krieg mit Ebrenn im Westen ausgerufen werden, wären die Kinder in noch größerer Gefahr. Es gab einfach keine befriedigende Lösung. Wer zum Teufel wusste schon, was das Richtige war in dieser Situation?

»Außerdem sind wir dort näher an den Göttern«, sagte Creeda. »Die Kleriker werden helfen. Ich bete und bete und vielleicht werden die Götter mich endlich erhören.«

»Mh.« Mehr konnte er im Bezug auf die Kleriker und die Götter nicht sagen.

Waren die Kleriker wirklich so fromm und gut, oder sehnten auch sie sich nur nach Macht, so wie jeder andere? Tas glaubte jedenfalls daran, dass die Kleriker nur zu gerne die Macht über Ergh übernehmen würden, wenn sie die Gelegenheit dazu hätten.

Als Hedrok anfing zu wimmern, versuchte Cador ihn zu beruhigen, ohne Creeda im Weg zu sein. Worte, die sie gerade ausgesprochen hatte, hallten in seinem Kopf. Mein Prinz. Wenn das doch nur wahr wäre.

»Ist das neu? Hat er schon lange Fieber?«, fragte er. Dabei sollte er die Antwort auf diese Frage kennen. Er hätte seinen Neffen täglich besuchen sollen. Hätte für Bryok und Creeda eine Hilfe sein sollen. Auch für ihre Kleinen, die auf Ergh zurückgeblieben waren und keine Anzeichen der Krankheit zeigten. Noch nicht.

Creedas Blick blieb fest auf ihren Sohn gerichtet, als sie antwortete: »Es ist bereits vorgekommen. Nicht so lange. Bryok sagte –« Sie seufzte und streichelte Hedrok über sein Haar.

»Was?« Cador überkam der Drang, unbedingt wissen zu müssen, was er gesagt hatte. Sein Bruder war in den Tiefen des Askorn Meers versunken, wo er hingehörte. Dennoch war Cador erpicht darauf, diesen unbekannten Gedanken zu hören. Bryoks Tod hatte Creeda als Witwe zurückgelassen und Cador fragte sich, ob sie um ihn trauerte oder ob sie dafür überhaupt keine Energie übrig hatte.

»Er meinte, dass mehr Hitze die Krankheit vielleicht ausbrennen würde. Dass das Wetter auf dem Festland helfen würde.«

Hedrok wand sich hin und her und ächzte: »Kein Feuer.« Er war bereits zehn Jahre alt und schien dennoch so klein und jung.

»Kein Feuer«, stimmte Creeda zu. Erst als Hedrok sich beruhigte, murmelte sie: »Dein verrückter Bruder hat fast das Haus niedergebrannt bei dem Versuch, die Krankheit auszumerzen.« Ihr Mund verzog sich. »Er wäre unser aller Ende gewesen.«

Nein, es schien nicht so, als würde sie um ihren Ehemann trauern. Cador konnte es ihr nicht verübeln. Er war sich nicht einmal sicher, ob er um Bryok trauerte. Ihm fiel auf, dass Delen näherkam und er konnte ihre Sorge förmlich spüren. Als er sich umdrehte, um ihr aufmunternd zuzunicken, bemerkte er, dass auch Jems honigfarbenen Augen auf ihm ruhten.

Sofort drehte Jem sich auf seinem niedrigen Hocker wieder um, und drehte sein Gesicht der Sonne zu, die immer weiter in den Westen wanderte. Er schloss seine Augen und genoss die warmen Sonnenstrahlen, so wie er es häufig in den letzten Tagen, in denen sie immer weiter in Richtung Festland kamen, getan hatte. Würde er das Festland jemals wieder verlassen wollen?

Es gab so viel, um das getrauert werden sollte, doch das, worum Cador am meisten trauerte, war der Verlust seines Ehemanns. Er würde tausend Tage unter dieser erbarmungslosen Sonne schwitzend auf einem Schiff sitzen, wenn das bedeutete, dass Jem ihm vergab. Er musste geduldig sein.

Verdammt, er hasste es, sich gedulden zu müssen. Taten hatten ihm schon immer mehr gelegen.

Er ließ sich neben Hedrok nieder und war erleichtert, dass Creeda es ihm gestattete. Die stickige Hitze verweilte auch im Schatten, doch immerhin waren sie hier vor den zu hellen Strahlen sicher. Hedrok war mittlerweile eingeschlafen, als Creeda ihm leise vorsang. In ihren Händen hielt sie immer noch ein paar Sevelzweige fest umklammert. Sie war Cador immer als ernste und strenge Frau vorgekommen, daher war er von dem sanften Ton überrascht, in dem sie sang.

In der Mitte des Schiffes saß Jem alleine herum. Er warf ein paar Würfel immer wieder vor sich auf das Deck und sah dabei seltsam gezwungen aus. Nur kurz hielt er inne, um sich am Kopf zu kratzen. Cador war froh, dass er sich dieses Mal nicht unter Deck verkroch und sich dort zusammenkauernd versteckte, so, wie er es nach ihrer Hochzeit auf ihrer Reise nach Ergh getan hatte. Dennoch machte jedes von Jem ausgesprochene Wort, das an jemand anderen gerichtet war, während er Cador nichts als Stille entgegenbrachte, die Reise für Cador nur schwerer.

Creeda war bereit gewesen, Jems Mutter seinen abgehackten Kopf zuzuschicken, um einen Krieg anzuzetteln und dennoch schien er ihr gegenüber keinen Groll zu hegen. Ganz im Gegenteil, er hatte sofort Neuvellas Hilfe im Kampf gegen die Krankheit, die ihren Sohn plagte, angeboten. Natürlich hatte er das. Er war einfach so gut.

Wenn er Cador doch nur einen Funken seiner Aufmerksamkeit schenken würde, oder ein Zeichen, dass er etwas fühlte.

Dass Cador nicht jedes kleine Bisschen der Zärtlichkeit und Liebe und Leidenschaft zwischen ihnen zerstört hatte.

Wenn Jem ihn wahrlich geliebt hatte, so tat er das nicht mehr. Diese unerwartete, wertvolle Blüte war genauso tot wie die Sevelbäume, die nicht mehr auf Ergh wuchsen.

Cador hatte alles kaputtgemacht. Er hatte seinen Ehemann von dem Moment an, in dem sie zusammen vor dem Altar gestanden hatten und ihre Hände gebrandmarkt wurden, hinters Licht geführt. Er drehte seine linke Hand um und sah auf den Vogel hinab, der für immer seine zarten Flügel auf seiner Handfläche ausstrecken würde.

Manchmal erwartete er fast schon, dass das Mal schwinden würde. Er erwartete, alleine in seiner einfachen Hütte unter seinen Fellen zu erwachen. Massen in den Wald zu reiten, um dort mit Bryok jagen zu gehen. Immer noch zu versuchen, seinen Bruder stolz zu machen.

Ein Wildschwein erlegen, essen und ficken, nur um das Ganze am nächsten Tag zu wiederholen. Und dann noch einmal am Tag darauf. Sein Leben war einfach gewesen. Er erkannte es jetzt nicht mehr wieder.

Er hielt Hedroks kleine, feuchte Hand in seiner. Nie wieder würde er mit Bryok jagen gehen. Sein Bruder war verrückt geworden. Ja, das lag an der Trauer um seinen sterbenden Sohn, doch noch mehr lag es an seiner Machtgier. Cador würde den Anblick nie vergessen, als Bryoks Körper von den Klippen von Glaw ins dunkle Nichts fiel. Doch es war der Gedanke an Jems Sprung, der ihn wahrlich verfolgte.

In seinen Albträumen sah er Bryok mit hocherhobenem Schwert auf Jem zulaufen, um ihm den Kopf abzutrennen. Sah, wie Jem vom Rand der Klippe verschwand, und hörte seinen eigenen Aufschrei. Wie, als steckten seine Stiefel im Treibsand, konnte er nur hilflos dabei zusehen. Und noch einmal. Und noch einmal.

Im Moment schlief Cador zwar nicht, doch die Bilder ließen ihn dennoch nicht los. Er hatte nicht gewusst, dass so tiefe Trauer existierte, bis er dachte, Jem wäre vor seinen Augen gestorben. Dieser Moment des nicht aushaltbaren Verlusts. Das war der Zeitpunkt, an dem er mit absoluter Sicherheit wusste, dass er sich zweifellos und wahrhaftig in Jem verliebt hatte.

Er erinnerte sich selbst daran, dass Jem überlebt hatte. Dass er in dem Dred Nest gelandet und zurück auf die Klippe geklettert war. Er war in der Nähe und in Sicherheit. Kein Geist, obwohl er genauso unberührbar war.

Er fluchte leise und erntete dafür einen funkelnden Blick von Creeda. Sein Kopf schmerzte und seine Kehle war staubtrocken. Er würde sich selbst noch verrückt machen. Jem war kein Geist. Er lebte und vielleicht würde er Cadors Berührungen eines Tages wieder begrüßen. Oh, was Cador nur dafür tun würde, den Hauch seines Atems zu spüren.

Das Schiff neigte sich, als es von einer Welle mitgerissen wurde. Cadors Magen drehte sich um und die Übelkeit, die er unterdrückt hatte, um sich um Hedrok zu kümmern, kam zurück. Vorsichtig ließ er Hedroks Hand los und presste seine Finger gegen sein rechtes Handgelenk, so, wie Jem es ihm auf ihrer ersten Reise gezeigt hatte. Es kam ihm vor, als wäre das alles in einem früheren Leben passiert. Damals, als Cador sich nicht für seinen Ehemann interessiert hatte und ihm gegenüber sogar ungeduldig war. Was für ein verdammter Trottel er gewesen war, auch nur einen einzigen Moment mit Jem zu verschwenden.

Hedrok schlief nun tief und fest. Creeda betete wieder und ihre Lippen bewegten sich, als sie die Sevelzweige abtastete. Leise stahl Cador sich davon und versuchte, die Ruhe nicht zu stören, die sich gerade über sie gelegt hatte. Er kehrte zum Bug des Schiffes zurück, wo Salzwasser sein Gesicht kühlte.

»Bruder.«

Er hatte nicht einmal bemerkt, dass Delen auf ihn zugekommen war. Langsam drehte er sich zu ihr um und sein Herz machte einen leichten Satz, als er feststellte, dass Jem direkt hinter ihr stand. Jem schien die Zähne aufeinanderzubeißen und sein Blick war starr auf das knarzende Holz unter ihnen gerichtet. Er war barfuß und trug seine alten südländischen Kleider. Die dünnen Hosen saßen eng an seinen schlanken Beinen und ein grünes Seidenhemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte, bedeckte seinen Oberkörper. Seine glänzenden dunklen Locken fielen über seine Stirn und es juckte Cador in den Fingern, sie ihm aus dem Gesicht zu streichen.

»Ich sagte, dass wir uns aussprechen sollten.« Delen funkelte ihn an. Sie trug ihr schwarzes Haar kurz, genauso, wie er es tat. Das Zeichen der Jäger. Ihre braune Haut war dunkler als Jems und ihre Augen hatten einen tieferen Farbton als Jems honigbraun.

»Oh.« Cador versuchte, sich zu konzentrieren. »Ja.«

Als das Schiff von einer Welle angehoben wurde und sich dann wieder senkte, konnte er sich ein Aufstöhnen nicht verkneifen. Es klang wie ein beschämtes Wimmern, sein leerer Magen zog sich zusammen und Speichel füllte seinen Mund. Jem griff nach ihm, bevor er seine Hand zurückzog und die Lippen kräuselte.

»Übe an den Stellen Druck aus, die ich dir gezeigt habe«, murmelte er.

»Alles okay.« Cador stellte sich aufrecht hin, lehnte sich mit dem Rücken an die Reling und hob das Kinn, bevor er Delen ansprach. »Was hast du gesagt?«

Sie verdrehte die Augen. »Ich sagte, dass ihr zwei aufhören müsst, euch zu ignorieren. Es gibt einiges zu besprechen.«

Er wollte fragen, ob sie warten könnte, bis sie dieses verdammte Schiff verlassen konnten und er sich nicht so lachhaft verletzlich fühlte. Mit festem Boden unter seinen Stiefeln würde er besser denken können. Er biss sich auf die Zunge. Nein, er war ein mächtiger Jäger von Ergh, er konnte einer solchen Schwäche nicht nachgeben.

»Zunächst einmal müssen wir uns auf das einigen, was wir Tas und der Königin erzählen. Und wann. Das müssen wir abstimmen«, sagte Delen und hielt eine fest zusammengebundene Schriftrolle hoch.

»Ich habe eine Nachricht verfasst, die schon mal vorausgeschickt werden soll. Darin steht einfach nur, dass wir mit wichtigen Neuigkeiten zurückgekehrt sind, um die wir uns kümmern müssen, und wir schnellstmöglich nach Neuvella reisen werden. Natürlich ist es zu gefährlich, weitere Details niederzuschreiben.«

Cador nickte. Er hasste es, das Thema ansprechen zu müssen, fragte aber: »Was ist mit unserem Bruder?«

Sie hatten seither nicht darüber gesprochen, als hätten sie eine stille Abmachung getroffen. Bryok hatte das spitze Ende von Delens Speer zu spüren bekommen, da er sonst Jem getötet hätte. Und Cador vermutlich auch. Sie hatte keine andere Wahl gehabt. Sicherlich würde Tas das verstehen?

Er war weise und gerecht. Oder?

Zumindest hatte das Cador immer so gesehen. Er hatte sich schon seit er klein war nach der Zuneigung und Zustimmung seines Tas gesehnt. Nie hätte er seine Motive hinterfragt, nicht einmal, als Tas seine Hochzeit mit Jem arrangiert hatte, und Jem im Anschluss so grausam benutzen wollte. Cador verstand Tas’ Angst davor, dass die Kleriker ihre Krallen nach Ergh ausstrecken und alles ändern könnten. Die Angst, dem Festland gegenüber Schwäche zu zeigen und ihr gewohntes Leben zu verlieren.

Doch rechtfertigte das, Pläne zu schmieden und Menschen hinters Licht zu führen? War es das Richtige, ihren kranken Kindern um jeden Preis helfen zu wollen?

Cador konzentrierte sich wieder auf Delen. Wenn er sie nicht so gut kennen würde, hätte er den Eindruck, dass sie unberührt von der ganzen Sache war. Doch er konnte die Anspannung in ihrer Stimme hören, als sie seine Frage beantwortete.

»Wir können Tas nicht in einem Brief mitteilen, dass sein Sohn tot ist, ohne weitere Einzelheiten preiszugeben. Das wäre zu taktlos.« Sie verzog das Gesicht. »Nicht, dass es von Angesicht zu Angesicht besser laufen wird.«

»Nein«, stimmte Cador zu. Ihm graute es davor mehr, als er mit Worten ausdrücken konnte.

Jem war still und sah auf seine Füße hinab.

»Es ist passiert und jetzt muss er dem Ganzen ins Gesicht sehen, so, wie wir es tun mussten. Bryok ist tot und Tas hat einen neuen Nachfolger.«

Seltsamerweise wollte Cador fast nachfragen, wen. Er blinzelte sie an. Nicht ein einziger Gedanke daran war ihm durch den Kopf gegangen.

Delen runzelte die Stirn. »Du bist Zweitältester. Du wirst jetzt Häuptling werden.«

»Aber ich will kein Häuptling sein!« Er klang wie ein jammerndes Kind. Nur zu gut konnte er sich vorstellen, wie Bryok ihn dafür maßregeln würde. Zuerst Jem hinterherzuweinen und nun das. Er musste sich selbst unter Kontrolle bringen. Seine Würde zurückerlangen. Er war ein mächtiger Jäger von Ergh und wenn er Häuptling werden musste, so würde er das akzeptieren.

Ihm fiel auf, dass Jem ihn jetzt beobachtete. War das Mitleid? Sein Herz fing an zu rasen, als Jem die Zähne aufeinanderbiss, sich gerade hinstellte und die Hände hinter dem Rücken verschränkte.

Zu Delen sagte Jem: »Wir stimmen dem Inhalt der Nachricht zu.«

Sie hielt ihm die Papierrolle hin. »Möchtest du sie lesen, bevor sie versiegelt wird?«

Jem nahm sie ihr ab und las die Zeilen, bevor er nickte und sie ihr zurückgab.

»Wir sollten nur eine Nacht rumkriegen müssen, bevor Proviant vom Heiligen Ort uns erreicht. Jory ist unser bester Reiter und er wird sich beeilen. Wir werden ohne viel Gepäck reisen, abgesehen von –« Ihr Blick fiel auf den Bug des Schiffes, wo Creeda sich über Hedrok beugte. »Der Wagen wird etwas langsamer sein, doch wir können schon mal vorausreiten und mit unseren Eltern sprechen. Nun, was genau wollen wir ihnen sagen?«

»Die Wahrheit«, zischte Jem.

Sie nickte. »Natürlich. Doch wirst du uns erlauben mit unserem Tas zu sprechen, bevor wir deiner Mutter die … Einzelheiten mitteilen?«

Jems Gesicht hätte aus Stein gemeißelt sein können. »Und mit ‚Einzelheiten‘ meinst du Kenvers ursprünglichen Plan, mich zu entführen und meine Hand abzuhacken, um sie meiner Mutter zuzusenden, damit sie gegen Ebrenn in den Krieg zieht?«

Delen verzog das Gesicht. »Ja, so sehr wir es wahrlich bereuen. Ich bin mir sicher, dass unser Tas es genauso tut.«

»Du kannst nicht für Kenver sprechen.« Jem spannte seinen Kiefer an. »Schließlich hat er den ganzen Plan ausgeheckt.«

Sie nickte. »Du hast recht. Ich hoffe, dass du weißt –«

»Hör auf.« Jem hielt eine Hand hoch. »Es ist passiert und kann nicht ungeschehen gemacht werden. Reue ist nutzlos.«

In der angespannten Stille erkannte Cador die Wahrheit dieser Worte. Nie hatte er solch Reue verspürt und es konnte nichts ändern. Er versuchte seine Augen vor der Sonne zu schützen, die wenigstens dabei war unterzugehen.

Der Drang irgendetwas zu sagen, war so groß, bis Worte aus ihm herausplatzten. »Ist es immer so verdammt heiß im Sommer?«

Einen Moment lang dachte er, dass er von Jem keine Antwort erhalten würde. Letztlich sagte er: »Nein. Mir wurde immer gesagt, dass die Temperaturen so weit im Norden niedriger sein würden, aber es ist wesentlich besser als das ganze Grau auf Ergh.«

»Das liegt im Auge des Betrachters«, grummelte Cador.

»Lasst uns bei der Sache bleiben«, sagte Delen schnell. »Prinz Jowan, können wir mit unserem Tas sprechen, bevor wir der Königin alles beichten? Ich schlage vor, dass Cador und ich uns alleine mit ihm treffen, um ihm von Bryok zu berichten. Dann werden wir drei zu dir stoßen und deinen Eltern alles erzählen. Wir müssen zusammenhalten. Die Kinder sind wichtiger als alles andere. Wir müssen unsere Unstimmigkeiten, unsere Sünden, beiseitelassen und uns vereinen.«

Jem schien darüber nachzudenken. »Und wir werden ihnen die ganze Wahrheit sagen?«

»Das schwöre ich«, versprach Delen.

Jem nickte.

»Zumindest werden wir bald an Land ankommen«, sagte sie. »Du musst dich freuen, wieder nach Hause zu kommen, Prinz Jowan.«

»Die Untertreibung des Jahrhunderts. Ja, ich bin sehr erleichtert, für immer nach Neuvella zurückzukehren.« Jem drehte sich um und stolzierte fort.

Cador sehnte sich auch nicht danach, sich zu unterhalten und Delen verstummte neben ihm. Jem ging zu Jory zurück und hob die Würfel auf.

Jory warf Cador einen besorgten Blick zu, sein rotes Haar wilder denn je, nachdem es dem Wind des offenen Meeres ausgesetzt worden war. Es hing mittlerweile bis zu seinen Schultern. Cador nickte und versuchte zu lächeln. Jory war ein treuer Freund, der nichts mit dem Plan zu tun gehabt hatte. Immerhin spielte Jem mit ihm. Auch, wenn Cador das wahnsinnig eifersüchtig machte.

Als die Sonne dankbarerweise unterging und den Himmel in einem düsteren Pink erstrahlen ließ, fiel sein Blick auf Creeda, die neben Hedrok betete. Der Junge schien zu schlafen. Auch Delen sah hin und ihre harten Gesichtszüge nahmen einen Ausdruck von sanfter Sorge an.

Creeda hatte ihr dafür vergeben, Bryok getötet zu haben und verstand offenbar, dass seine Gier nach Macht nicht wiedergutzumachen war. Delen hatte nur aus der Not heraus nach ihrem Speer gegriffen.

Bevor er es sich verkneifen konnte, sagte Cador: »Manchmal denke ich, du liebst sie.«

Delen zuckte zusammen und funkelte ihn an. »Was?«

Nun konnte er es ja sagen. »Manchmal denke ich, dass du sie schon seit langer Zeit liebst.«

»Und?« Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und war sofort kampfbereit.

»Und gar nichts.« Er runzelte die Stirn und war verwirrt über ihre Wut.

Schnell sah sie sich um und zischte: »Denkst du, ich habe ihn zu meinem eigenen Vorteil getötet?«

Nun versteifte sich Cador vor Überraschung. »Nein!« Er packte sie am Arm.

»Niemals.«

Delen atmete laut aus und die plötzliche Gewaltbereitschaft verschwand. Sie nickte und sah wieder zu Creeda. »Ich sollte nicht«, murmelte sie.

»Wieso?« Er musste zugeben, dass er die Anziehung nicht nachvollziehen konnte. Doch Creeda und Delen waren schon seit Kindheitstagen befreundet. Vielleicht gab es noch andere Seiten an ihr, die so sanftmütig waren wie ihr Gesang.

Delen schüttelte seine Hand ab. »Du weißt wieso.«

»Aber –«

»Sollen wir von deiner Liebe sprechen? Wie lange willst du dich noch zurückziehen und Jems Wut wachsen lassen?«

»Er hat es verdient, wütend zu sein.«

»Kann sein. Aber je länger ihr euch aus dem Weg geht, desto tiefer wird die Kluft zwischen euch. All dieses Gerede, Neuvella nie wieder zu verlassen –«

»Wie kannst du ihm das verübeln, nachdem, was wir getan haben?«

Delen seufzte. »Ich verüble es ihm kein Bisschen. Aber wie schon gesagt, wir müssen uns vereinen. Du und er müsst euch besonders zusammenschließen, ansonsten haben wir keine Chance.«

»Das werden wir.«

»Sieh zu, dass es so ist.« Sie nickte ihm kurz zu und stolzierte dann weg, bevor sie in die Kabine des Kapitäns verschwand.

Cadors Blick kehrte zu Jem zurück, so wie immer. Jem schwenkte die Würfel in seinen zarten Händen, bevor er sie fallen ließ. Dort lagen keine Geheimnisse. Vom allerersten Moment an, als ihre bevorstehende Heirat im Heiligen Ort bekannt gegeben wurde, hatte Jem sein wahres Gesicht gezeigt.

Obwohl er so oft versucht hatte, seine Emotionen zu verbergen, so waren sie ihm stets ins Gesicht geschrieben gewesen. Alles, was nun zurückblieb, war Schmerz und Ärger. Cador sehnte sich danach, sein schüchternes, erfreutes Lächeln zu Gesicht zu bekommen.

Entschlossen richtete Cador seinen Blick auf das unendliche Meer. Er sah den Wellen zu, wie sie anstiegen und von weißem Schaum bedeckt wurden, als der Wind stärker wurde. Er atmete die salzige Luft tief ein, doch die war immer noch zu heiß, um ihn zu erfrischen. Auf einmal sehnte er sich danach, seinen Atem in der eisigen Luft auf Ergh sehen zu können. Er versuchte an irgendetwas anderes zu denken als Jem.

Oh, Jems leidenschaftliche Schreie zu hören und seine süßen Lippen zu küssen. Seinen Schwanz in ihm zu versenken und sie beide zum Höhepunkt zu bringen. Zur Hütte zurückzukehren und zu den berauschenden Tagen, an denen sie nichts anderes getan hatten, als sich zu entdecken und zu ficken. Auch nur Brot zu backen und sich um die Ziegen zu kümmern. Vielleicht ein weiteres Küken aufzunehmen, so wie Derwa.

Cador hatte nie gedacht, dass er einmal einen Vogel vermissen würde.

In den frühen Morgenstunden stand er auf und lief zum Deck, um sich zu erleichtern. Merauds zweiter Kapitän nickte ihm vom Ruder aus zu. Die Geräusche von Schnarchern und dem Meer, das am Schiff aufprallte, waren das Einzige, das er hören konnte. Ein Windhauch hinterließ Gänsehaut auf seinen nackten Armen, als er auf das Heck zuging.

Ein Halbmond schien hoch über ihnen und brachte die Wasseroberfläche zum Glitzern.

Sein Herz rutschte ihm in die Hose, als er feststellte, dass Jem am Geländer stand. Cador blieb einige Schritte von ihm entfernt stehen, konnte sich aber nicht dazu durchringen, Jem in Ruhe zu lassen.

Für ein paar lange Minuten standen sie zusammen, dennoch getrennt voneinander und blickten auf den dunklen Horizont. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, als Cador darauf wartete, dass Jem etwas sagte. Weinte, schrie, mit seinen Fäusten auf ihn einschlug. Irgendetwas, nur nicht diese furchtbare Stille.

Als er es nicht länger aushalten konnte, flüsterte er heiser: »Wenn du es doch nur verstehen könntest …«

»Kann ich.«

Cador hielt den Atem an und wartete nochmals. Ein Fünkchen Hoffnung –

»Aber ich hasse dich dafür.«

Cador bohrte seine stumpfen Fingernägel in das abgenutzte Holz des Geländers und wollte nichts lieber, als das Holz abzureißen und es in Tausende Stücke zu zerschlagen. Jem war wieder still, was Cador als angenehm empfand, nachdem er die Kälte in seiner Stimme gehört hatte. Er war so lange still, dass es Cador vorkam, als wäre er alleine, hätte er ihn nicht stets aus seinem Augenwinkel beobachtet. Er hatte es verdient, alleine zu sein.

»Es ist seltsam, dass ich hier die Sterne nicht mehr sehen kann«, murmelte Jem.

Cador sah sich um und kam sich fast jämmerlich vor, als er mit großer Freude feststellte, dass Jem wirklich mit ihm gesprochen hatte. Er blinzelte in Richtung Onan. Der Schatten des Landes vereinte sich mit dem Himmel, wo man ein paar Stunden zuvor die Sterne noch klar hatte sehen können.

»Vielleicht zieht ein Sturm auf? Oder es sind nur Wolken. Auf Ergh kann man fast nie die Sterne sehen.«

»Aber …« Jem lehnte sich nach vorne und stellte sich auf die Zehenspitzen. Cador konnte in dem schwachen Mondschein gerade so ausmachen, wie Jem die Nase kräuselte. »Ist das …«

»Was?« In dem Moment erreichte Cador ein beißender Geruch.

Jem stolperte so plötzlich zurück, dass er fast auf den Hintern fiel. Cador griff nach ihm, doch Jem wich ihm aus. Dann traf traf sein Blick auf Cadors und er sprach mit einer angespannten, zitternden Stimme.

»Rauch.«

Kapitel 2

All die Male, als Jem an das Festland und sein Zuhause gedacht hatte, all die Momente, in denen er sich danach verzehrt hatte, zurückzukehren, hatte er nie daran gedacht, seine Heimat verändert vorzufinden.

Er hatte unzählige Male von Neuvella und seiner Familie geträumt. Von ihrem wunderschönen Schloss umgeben von prächtigen Wäldern. Genauso, wie er sich früher in seine Vogelvoliere neben dem klaren blauen See gerettet hatte, so war er jetzt gedanklich in seine Heimat geflüchtet. Das Einzige, was ihm unbekannt war, war der Kerker unter dem Schloss.

Er war nie in das Gefängnis, das sich in dem Felsen befand, auf dem das Schloss erbaut worden war, hinuntergegangen. Wieso sollte er auch? Allerdings hatte er während ihrer Reise Stunden damit verbracht, sich diesen düsteren, verhängnisvollen Ort vorzustellen. Nicht Stunden, sogar Tage.

Immerhin würden Cador und seine Familie dort eingesperrt werden, sobald Jem seiner Mutter von dem Vorhaben, ihn zu entführen, erzählen würde. Und sie hätten es verdient. Jem würde sich endlich sicher fühlen.

Es musste geschehen, er musste stark sein.

Abgesehen von dem Kerker, den er sich nur ungefähr vorstellen konnte, hatte Jem sich mit friedvollen Erinnerungen getröstet. In den Monaten, die er so weit weg auf Ergh verbracht hatte, hatte er sich nur darum gesorgt, nie zurückzukehren. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass in Onan in seiner Abwesenheit etwas geschah. Immerhin war das Festland sein Leben lang zuverlässig gleich geblieben. Er verspottete seinen eigenen Gedanken. Zwanzig Jahre? Das war gar nichts.

Nie hätte er sich Feuer vorstellen können.

Es war Feuer, das den Rauch erzeugte, der die fernen Sterne bedeckte und ihm in den Augen brannte. Am Rande des westlichen Horizonts glühte jetzt ein furchterregender orangefarbener Schein, obwohl Jem geschworen hätte, dass es dort gerade eben noch pechschwarz gewesen war. Er war sich nicht sicher, was schlimmer war, die unheilvolle Dunkelheit des aufsteigenden Rauchs, der die Sterne versteckte, oder dieses ferne Leuchten.

Als sie nahe des nördlichen Strandes ankerten, war die Nacht immer noch zu dunkel, um irgendetwas vom Festland zu sehen. Nur das abwesende Sternenlicht fiel auf.

Der Mond verblich langsam am Horizont und fing an über dem Askorn Meer zu verschwinden.

Sie zündeten die Kerzen in den Laternen an, die sich der schaukelnden Bewegung des Schiffes anpassten und mit den sanften Wellen auf und ab wippten. Lusow schnaubte und wieherte aus seinem Stall heraus und scharrte mit den Hufen auf dem Boden. In der angespannten Stille sahen sie alle Jory dabei zu, wie er Lusow das Ledergeschirr anlegte und ihn dafür vorbereitete, vom Schiff in ein kleines Boot gehoben zu werden.

Jem blinzelte in Richtung Strand, konnte aber nichts Ungewöhnliches erkennen. Doch war es zu still und regungslos? Sicherlich nicht. Immerhin hatten sie kein Empfangskomitee erwartet. Niemand wusste, dass sie kamen. Sie hatten auch keine Handelsschiffe auf ihrem Weg gesehen, was an sich nicht sonderlich besorgniserregend war. Schließlich war der Handel zwischen dem Festland und Ergh unregelmäßig und wurde erst in den letzten beiden Jahren etabliert.

Hier, am höchsten Punkt Onans, nördlich des Heiligen Platzes, war die Küste leer. Das war zu erwarten.

In einem Flüsterton fragte Delen: »Und du bist dir sicher, dass es in der Vergangenheit keine Waldbrände gegeben hat?«

»Er hat schon Nein gesagt«, schnappte Cador.

Jem funkelte ihn wütend an. »Ich kann selbst sprechen.« Er klang grob und kindisch, was ihn selbst zusammenzucken ließ. Er räusperte sich. »Nein, wie schon gesagt, ich kann mich nicht daran erinnern, jemals von einem Waldbrand in diesem Teil Onans gehört zu haben. Ab und zu kommt es im Sommer zu Bränden, doch das passiert normalerweise in Gwels im Osten und nicht ansatzweise hier.« Er blickte nach Westen.

»Vor langer Zeit gab es mal ein großes Feuer nahe Ebrenn.«

»Tan zeigt ihren Unmut.«

Gleichzeitig drehten sie sich alle zu Creeda um, die neben Hedroks Pritsche am Ende des Mastes kniete.

Sie hatten den armen Jungen näher in die Mitte getragen, um ihn auf das Verlassen des Schiffes vorzubereiten. Nachdem er Ewigkeiten geweint hatte, was in der Realität vermutlich nur ein paar Minuten gewesen waren, war er endlich wieder eingeschlafen. Wenn auch unruhig.

Mit geschlossenen Augen hielt Creeda ihr Bündel Sevelzweige fest. Ihre ruhige Stimme erschien rau. »Tan bestraft das Festland für seine Gier. Die Kleriker haben davor gewarnt.«

Die Kleriker warnten stets vor zahlreichen Katastrophen, und das schon, seit Jem denken konnte. Nervös wippte er auf seinen nackten Füßen vor und zurück. Das Deck war immer noch warm und die Luft heiß, auch in tiefster Nacht.

Die Rauchschwaden schienen den Wind aufzuheizen. Er fragte sich, wie weit das Feuer von ihnen weg war. Sie befanden sich ein paar Tage von Neuvella entfernt. Bestimmt war seine Heimat in Sicherheit. Dennoch breitete sich ein Grauen in ihm aus und seine Brust schien sich zu verengen.

Niemand antwortete Creeda, was konnten sie schon sagen? Sie verstummte und ihre Lippen bewegten sich nur noch in einem stillen Gebet, als sie in einem bestimmten Rhythmus über die Zweige strich. Der Anblick machte Jem nervös und er wollte ihr das Gestrüpp aus den Händen reißen, um es dann in das Meer zu werfen.

Auf den Klippen von Glaw hatten Creeda und ihre Mittäter einen Kreis aus den vertrockneten Sevelzweigen gebildet. Es sollte ein Altar für die Opfergabe an die Götter sein. Jem fasste sich an die Gurgel und erinnerte sich an den Plan ihres Ehemannes, ihn zu opfern, indem man ihm den Kopf abtrennte. Er hoffte inständig, dass Creedas Götter nun etwas weniger Blutrünstiges forderten.

Er verlagerte sein Gewicht auf ein und dann aufs andere Bein und kratzte mit seinen Fingernägeln über seine Kopfhaut. Kurz zuckte er zusammen, als sich Schorf löste. Diesen nervösen Tick hatte er über die wochenlange Reise entwickelt. Am Anfang hatte er nur an seinen Kopf gefasst, wenn er Schwierigkeiten hatte einzuschlafen, was jede Nacht der Fall war. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und lachte sich selbst aus.

Ja, dein Kopf ist immer noch dran.

Am Anfang hatte es beruhigend auf ihn gewirkt und ließ ihn an Kindertage am See mit seinem geliebten Geschwister Santo zurückdenken. Xier gab immer nach und spielte mit seinem Haar. Eines Morgens war er jedoch mit verkrustetem Blut unter den Fingernägeln aufgewacht und hatte da erst gemerkt, dass er zu fest gekratzt hatte.

Sein Haar war so dicht, dass niemand sehen konnte, was er getan hatte. Außerdem hatte er geschworen, damit aufzuhören. Doch diese neue Angewohnheit war schwieriger wieder loszuwerden als gedacht.

In seinen Albträumen stellte er sich vor, wie grausame Hände nach ihm griffen und er in der Dunkelheit erstickte. Ein rauer Sack über seinem Kopf, während er versuchte, sich zu befreien. Oft wachte er auf und stellte fest, dass er in der Luft um sich trat. Er war erleichtert, dass er immerhin im Schlaf nicht laut aufschrie. Er konnte den Erghianern gegenüber niemals wieder Schwäche zeigen.

Die einzige Möglichkeit sich je wieder sicher zu fühlen, war, wenn die Verschwörer eingesperrt wurden. Er konnte der Versuchung, Cador zu verzeihen nicht nachgeben. Er würde nicht nachgeben. Sie hielten ihn für sanft und verhätschelt und wertlos. Da lagen sie falsch.

Er sah sich auf dem Deck um. Delen hatte ihm versichert, dass keiner der Menschen, die sie auf dieser Reise zurück aufs Festland begleiteten, an der Verschwörung beteiligt gewesen war. Abgesehen von Creeda natürlich. Aber vielleicht sollte er sie alle einsperren lassen. Wie konnte er je wieder einem Wort vertrauen, das aus Delens oder Cadors Mund kam?

Er würde die Entscheidung seiner Mutter überlassen. Der Gedanke war zweifellos beruhigend. Wenn er nach Hause zurückkehrte, würde seine Mutter sich um alles kümmern. Er würde sich um nichts sorgen müssen. Er musste keine Angst haben.

Nachdem er sich dabei ertappt hatte, an seinem Kopf zu kratzen, schob Jem die Hände in seine Hosentaschen. Er breitete seine Zehen aus und spürte den Sand der südlichen Strände seiner Heimat. Er würde stark bleiben.

Lusow wieherte und trat auf der Stelle, während Jory ihm sanftmütig zumurmelte und ihn streichelte. Jem beneidete ihn nicht um seine Aufgabe. Um ehrlich zu sein, beneidete er auch Cador und die anderen Jäger nicht darum, das Pferd vom Schiff in das Boot hieven zu müssen. Eine davon, Kensa, hatte manchmal mit ihm Würfel gespielt.

Er wusste, dass sie und Cador in der Vergangenheit miteinander geschlafen hatten. Nicht, dass das jetzt von Belang war. Cador konnte es Tag und Nacht mit ihr treiben, das interessierte Jem nicht. Ihr dunkles Haar war kurzgeschoren, so wie das für die Jäger üblich war, und die Muskeln in ihrem Nacken traten hervor, als sie mit den anderen an den Seilen zog. Ihre braune Haut glitzerte vor Schweiß. Neben dem Rauch waren nun auch Spuren von Asche in der Luft zu erkennen, die sich auf Kensas Weste sammelten.

Als Lusow einmal in der Luft schwebte, trat er verzweifelt um sich und Jory hörte nicht auf, ihm gut zuzusprechen. Allerdings musste er die beruhigenden Worte mittlerweile fast schreien. In seinen Lederhosen und der Weste sahen Cadors Muskeln noch kräftiger aus als gewöhnlich. Sie bewegten sich unter seiner Haut, als er an den Seilen zog.

Heilige Götter, er war immer noch der schönste Mann, den Jem je gesehen hatte.

Er hasste ihn.

Cador hatte ihn geheiratet mit dem Wissen, dass er entführt und verstümmelt werden sollte. Es hatte ihn nicht interessiert. Da tat es nichts zur Sache, dass er auf den Klippen von Glaw auf seine Knie gefallen und geschworen hatte, seine Rolle in der Verschwörung zu bereuen. Es war egal, dass er Jem seine Liebe beteuert hatte.

Immer wieder hatte Jem auf Ergh zu hören bekommen, dass die Festländer lächerlich und schwach seien. Er würde ihnen diesen Glauben nicht bestätigen. Wie könnte er sich selbst noch respektieren, wenn er einen solch gewaltigen Vertrauensbruch verzieh? War er nicht mehr wert?

Als er nach Ergh gereist war, hatte er sich vor allem gefürchtet. Dann hatte er sich selbst beigebracht mutig zu sein, als er sein Herz und seinen Körper an Cador vergab. Doch das war keines der romantischen Abenteuer, das auf den Seiten eines seiner fantasievollen Büchern geschrieben stand. Er hätte es besser wissen müssen. Es hätte ihm auffallen müssen, dass Cador ihn nur benutzte. Was für ein Idiot er gewesen war.

Auch, wenn der ursprüngliche Plan nur – nur! – beinhaltet hatte, seine Hand abzuhacken und nicht seinen Kopf, so hatten Cador und Delen dem zugestimmt. Cador hatte vor den Klerikern, vor den Göttern und Jems Mutter geschworen, dass er Jem beschützen würde. Er hatte ihm seine Jungfräulichkeit genommen. Er hatte ihn geküsst und ihn in den Armen gehalten und war überraschend sanft und zärtlich gewesen, für einen Barbaren.

Diese Erinnerungen waren nun nichts weiter als Asche, die vom Wind verweht wurde.

Hatte Cador ihn überhaupt jemals begehrt? Wie konnte Jem ihm glauben, dass er es hatte? Wieso sollte Cador, nachdem er bereits so viele attraktive und muskelbepackte Geliebte gehabt hatte, ausgerechnet ihn, schwächlich, wie er war, wollen? Es war ihm so real vorgekommen, doch nun hinterfragte er alles.

Allerdings musste er zugeben, dass Cador es nicht vorgespielt hatte, seinen Samen in Jems Körper zu pumpen. Er hatte es gespürt. Es geschmeckt. Ein erregter Schauder durchfuhr ihn, als er sich an ihr wildes Zusammenkommen erinnerte. Schnell dachte er an etwas anderes. Er durfte es nicht gestatten, dass Lust seine Sinne überlagerte. Auch, wenn er daran glaubte, dass es Cador wirklich leidtat, könnte er ihm wieder vertrauen?

Unmöglich.

Als Jem zugestimmt hatte, dass Delen und Cador sich zuerst mit Kenver alleine treffen konnten, hatte er natürlich gelogen. Was war ihm sonst übrig geblieben? Es war die Wahrheit gewesen, als er Cador gesagt hatte, dass er ihn verstand. Ja, er konnte nachvollziehen, wieso Cador dem Plan seines Vaters zugestimmt hatte. Das Leid der Kinder war nicht auszuhalten.

Doch wenn Jem in den Schuhen der Erghianer gesteckt hätte, so wäre er an das Festland mit der Wahrheit herangetreten und hätte Hilfe erbeten. Sicherlich machte ihn das naiv, doch nicht naiver als seine Mutter es gewesen war, als sie den leeren Versprechen der Erghianer geglaubt hatte.

Keiner von ihnen war sicher, wenn sie solche Menschen in ihr Leben ließen. Deshalb, auch wenn er Cador für seinen Verrat hasste, war er dankbar für diese furchtbare Lektion.

Er hatte daraus gelernt.

Doch waren Cador und seine Schwester nicht auch naiv? Offenbar vertrauten sie darauf, nicht für ihre Taten bestraft zu werden. Sie glaubten Jems Wort und doch durfte er es sich nicht erlauben, sich schuldig zu fühlen. Er würde es nicht gestatten. Nur durch Zwang konnte er lügen und sich seinem Instinkt widersetzen.

Das war der einzige Weg, um zu überleben.

Hedrok wimmerte und schlug plötzlich um sich. Jems Gedanken wanderten zu Austol und er fragte sich, wie es wohl seiner kleinen Schwester Eseld erging. Die Krankheit schritt auch in ihr voran und Jem konnte sich vorstellen, wie Austol darunter leiden musste, ihr hilflos dabei zuzusehen. Er konnte auch verstehen, wieso Austol bereit gewesen war, alles zu tun, um sie zu retten, auch wenn es Jem den Kopf gekostet hätte.

Vergeben konnte er es allerdings nicht.

Er hatte Austol für einen wahren Freund gehalten und Jem hatte davon noch nie viele gehabt, abgesehen von Santo, sein liebstes Geschwister. In seiner Jugend war er zufrieden damit gewesen, alleine zu sein. Er hatte sich um verletzte Vögel in seiner Vogelvoliere gekümmert und sich in seinen Büchern verloren. Jem dachte sehnsüchtig an seine Lieblingsheldin, Morvoren. Sie war ihm eine loyale Freundin gewesen, die ihn nie verraten oder enttäuscht hatte.

Weil sie nicht echt ist, du törichter Junge.

Austol war nur zu real gewesen. Er hatte Fehler gehabt. Nicht, dass Jem sich selbst für perfekt hielt, nicht einmal ansatzweise, doch hatte Austol auch nur ein Wort ernst gemeint? Er hatte ihm Ratschläge gegeben und ihm geholfen, das Reiten zu erlernen. Für keinen Moment hatte Jem sich vorstellen können, dass sein Freund ihn an Bryok übergeben würde und an die Menschen, die gewillt waren, ihn für ihre Zwecke umzubringen.

Wie konnte Jem irgendjemandem vertrauen? Er aß mit Jory und spielte Würfel. Er blieb still und freundlich zu allen, die sich auf dem Schiff befanden, auch zu Creeda. Schließlich waren sie weitaus in der Überzahl.

Sobald er zu Hause angekommen war, würde er die Oberhand erlangen. Dann würden sie alle feststellen, wie wahre Gerechtigkeit aussah.

Sein Blick wanderte zu Cador, so, wie er es immer tat. Seine mächtigen Schenkel waren angespannt und seine Zähne hatte er aufeinandergebissen, als sie immer noch daran arbeiteten, Lusow auf das Boot zu hieven. Jem konnte sehen, dass seine Hände von dem Seil aufgeschürft wurden und er wollte ihm sagen, er solle vorsichtiger sein. Sicherlich gab es ein Material, das man als Schutzschicht benutzen konnte.

Er zwang sich dazu, den Blick abzuwenden und sah stattdessen in die südliche Dunkelheit. Er wollte einfach nur nach Hause. Er war fest entschlossen, Erghs unschuldigen Kindern zu helfen. Das Letzte, was er wollte, war Krieg. Er war ein neuvellanischer Prinz, der mit dem zukünftigen Häuptling Erghs vermählt war, ob es ihm gefiel oder nicht. Er würde seiner Pflicht nachkommen. Er würde das Richtige tun. Er würde nach Gerechtigkeit streben und wenn das bedeutete, seinen Ehemann einsperren zu müssen, war er auch bereit, das zu tun.

Also konnte Cador sich auch die Hände an dem Seil verletzen! Und Jem würde es kein bisschen interessieren, ob er es tat! Dennoch schmerzte sein Herz, als würde ein Pfeil es unaufhörlich durchbohren.

Mit der Faust rieb er sich über sein Brustbein.

Er würde alles dafür tun, zurück in seiner Voliere am See hinter dem Schloss zu sein. Sein See, mit dem Duft der Heckenkirsche, der von dem Wind in alle Richtungen getrieben wurde und der die Blätter zum Rascheln brachte. Und mit einem süßen Kuchen in seiner Tasche. Gab es Küken, die seine Hilfe brauchten? Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, als das noch die größte Sorge in seinem Leben gewesen war.

Seine Gedanken schweiften zu dem Wald, in dem sich Cardors Hütte befand. Mit den immergrünen Bäumen und dem Teppich aus Tannennadeln. Die winzigen Knospen der weißen Blumen, die mittlerweile sicherlich aufgeblüht waren. Hüpfte Derwa von Ast zu Ast mit den anderen Askells?

Vermutlich wurde sie von einem Adler verspeist.

Auf einmal brannten ihm Tränen in den Augen, aber immerhin konnte er den Rauch als Ausrede benutzen.

Schon bald waren die Jäger dabei, Jory und Lusow an Land zu rudern, bevor sie zum Schiff zurückkehrten. Hedrok war hysterisch geworden, als Creeda versucht hatte, ihm ein kleineres Gurtwerk anzulegen, also hatte Cador ihn in die Arme genommen und Creeda geschworen, er würde nicht loslassen.

Der Junge wimmerte, seine Lippen aufeinandergepresst, als er versuchte, so tapfer zu sein und mit dem Weinen aufzuhören.

Mit einem starken Arm an der Strickleiter fing Cador an hinunterzuklettern. Hedrok hing um seinen Nacken. Wasser schwappte gegen den Rumpf und war das einzige Geräusch, abgesehen von Cadors angestrengtem Grunzen, in der sonst so gruseligen Stille.

Jem eilte zur Reling, als er Hedroks panischen Aufschrei hörte. Er blickte in die Dunkelheit, als auf einmal alle begannen zu schreien. Cador und Hedrok wurden von einer Lampe beleuchtet, die eine Frau auf dem wartenden Boot in den Händen hielt. Die Frau zeigte ihnen etwas, wobei die Lampe hin- und herschwenkte und ein ghoulisches, orangefarbenes Licht erzeugte.

Mit seiner linken Hand ergriff Cador das Seil, während seine Stiefel weiterhin fest auf der wackelnden Leiter standen. Hedroks Beine baumelten in der Luft, als er schrie und sich an Cadors Hals klammerte. Mit seiner freien Hand hielt Cador seinen Neffen fest. Einer der Jäger kletterte die wild hin und her schwingende Leiter von unten herauf.

Die Geräusche, die von Cador kamen, waren raue Atemzüge, er schnappte nach Luft. Hedrok würgte ihn und hing mit seinem gesamten Gewicht an Cadors Hals. Seine schrillen, angsterfüllten Schreie ließen Jem die Haare im Nacken zu Berge stehen. Es schien, als würde ihnen jeder Anweisungen oder Vorschläge zurufen, was dazu führte, dass keiner der Zurufe klar verständlich war.

Cadors Augen schienen hervorzuquellen, als er versuchte, Hedrok mit seiner freien Hand anzuheben und ihn am Rücken nach oben zog. Der andere Jäger erreichte sie und nahm ihm den Jungen ab. Einen Moment später war Cador mit einem lauten Platschen in dem dunklen Wasser verschwunden.

War er bei Bewusstsein? Konnte er überhaupt schwimmen? Was, wenn der Aufprall –

Diese Fragen schwirrten immer noch durch Jems Kopf, als er sich über die Reling stürzte und sich darauf vorbereitete, in das Wasser einzutauchen. Es war schockierend kalt, wenn man die Hitze der Luft bedachte, doch das war jetzt egal. In weiten Schwimmzügen fuhr er mit seinen Armen durch das Wasser. Seine Finger suchten nach harten Muskeln, die sinken würden wie Stein. Er trat aus und sein Fuß traf schmerzhaft auf die Unterseite des Bootes. Zwischen Boot und Schiff tauchte er wieder auf, genau da, wo Cador verschwunden war. Hastig holte er tief Luft und wollte gerade wieder abtauchen, als er realisierte, dass seine Augen auf Cador gerichtet waren, der ein paar Meter weiter auf der Stelle schwamm. Mit gerunzelter Stirn blinzelte Cador ihn an.

»Du kannst schwimmen?«, wollte Jem wissen. Hedrok schrie immer noch, war aber mittlerweile sicher auf dem Ruderboot gelandet.

»Natürlich, wir haben Wasserlöcher im Sommer. Die sind zwar eisig, aber für uns warm genug.«

Peinlich berührt kribbelte es Jem am ganzen Körper. Zu viele Augen waren auf ihn gerichtet. »Ich wollte helfen, falls Hedrok ins Wasser fällt«, murmelte er.

»Er ist nun sicher«, rief Delen ihm zu. »Vielen Dank, Prinz Jowan. Du bist unverletzt?«

»Ja, ja.« Mit hochrotem Gesicht schwamm er ein paar Züge zu dem Boot, nur um festzustellen, dass es keine Leiter gab. Wenn er kraftvoll ins Wasser trat, könnte er sich vielleicht genug hochhieven, um den Rand zu erlangen. Doch würde er sich hochziehen können? Die Erniedrigung, wieder ins Wasser zu fallen, wäre nicht auszuhalten.

Bevor er entscheiden konnte, ob er es versuchen sollte oder nicht, umfassten starke Hände seine Hüfte und hoben ihn hoch. Einer der Jäger griff nach Jems Handgelenk. Mittlerweile waren Cadors Hände auf seinem Hintern und Jem wurde zeitgleich hochgeschoben und auf das Boot gezogen.

Natürlich schaffte Cador es, sich ohne Hilfe hochzuziehen, und das, obwohl seine Stiefel voll Wasser waren und ihn sicherlich hinunterzogen. Jems Füße waren immer noch nackt. Seine seidiges Hemd und seine Hose klebten an ihm. Creeda kletterte die Leiter herunter und schob ihn zur Seite, um zu Hedrok zu gelangen, der mittlerweile nur noch leise wimmerte. Beruhigend schob sie seine Haare zurück und murmelte ihm sanft zu.

Mit einem Mal vermisste Jem seine Mutter. Ging es ihr und dem Rest seiner Familie gut? Waren sie sicher? Was war dieser Rauch? Immer wieder sagte er sich, er solle sich keine Sorgen machen. Ein Waldbrand im Sommer, das ist nichts Außergewöhnliches. Schon bald würde er zu Hause sein und dann würde er … alles … wieder zurechtbiegen. Seine Mutter würde wissen, was zu tun war.

Das Boot wurde ans Ufer gerudert und Cador hob Hedrok vorsichtig hoch, bevor er langsam den Strand betrat und und den Jungen auf dem Arm behielt. Creeda folgte und murmelte weiterhin beruhigend auf ihren Sohn ein. Jem fühlte sich nutzlos und ging zu Jory und einem immer noch nervösen Lusow hinüber.

»Ist bei dir alles in Ordnung nach deinem unerwarteten Abtauchen?«, fragte Jory.

Jem fuhr mit einer Hand durch seine nassen Locken und achtete darauf, seine empfindliche Kopfhaut nicht zu berühren. »Alles in Ordnung. Hedrok ist in Sicherheit, das ist das Wichtigste.«

»Hmm. Cador ist auch in Sicherheit.«

Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. Seine nasse Kleidung klebte an seiner Haut, doch es war warm genug, dass es ihm nichts ausmachte. Er näherte sich Lusow und streckte vorsichtig eine Hand aus. Zufrieden lächelte er, als Lusow seine Schnute an Jems Hand rieb, und streichelte ihm über den weiß-gefleckten Kopf.

Jahrelang hatte er sich vor Pferden gefürchtet, nachdem er einen Tritt von einem verpasst bekommen hatte. Nun wusste er aber, dass sie gutmütige, treue Geschöpfe waren, auch wenn sie furchteinflößend riesig waren.

Jory strich mit seiner Hand in regelmäßigen Bewegungen über Lusows Seite. »Jetzt, wo wir wieder auf dem Festland sind, musst du dich sehr freuen, deine Familie wiederzusehen.«

»Wahnsinnig.« Alles würde ihm zu Hause leichterfallen. Alles wäre in Ordnung und er wäre nicht mehr alleine. Eigentlich glaubte er, dass Jory ein guter Mann war, der stets die Wahrheit sagte, doch er war nunmal Erghianer.

Cador kam auf sie zu und fragte Jory: »Solltest du nicht bis zum Morgengrauen warten, um loszureiten?«

Warten? Sie konnten nicht warten! »Du musst sofort gehen!« Jems Familie war womöglich in Gefahr. Gefahr durch Kenver, durch Feuer, durch alles andere Erdenkliche.

»Und dabei riskieren, dass Lusow sich in dieser Dunkelheit das Bein bricht?«, fragte Cador.

Jem schluckte seine Frustration hinunter. »Natürlich nicht. Ich würde nie wollen, dass Lusow sich verletzt.«

Jory lächelte ihn an. »Ist in Ordnung. Bald geht die Sonne auf. Bis dahin können wir langsam losreiten und Lusow wieder an festen Boden unter den Füßen gewöhnen. In der Dämmerung können wir dann galoppieren.« Er sah Jem mit einem ernsten Blick an. »Ich werde so viel ich kann über das Feuer herausfinden und dir die Information mit den Pferden und dem Proviant zukommen lassen.«

Er nickte. Der orange-erleuchtete Himmel im Westen schien immerhin nicht näherzukommen.

»Danke. Sag –« Es gab so viel, was Jem sagen wollte und so viel, das er nicht aussprechen konnte. »Sag meiner Mutter, dass ich sie vermisse. Und dass ich sie und die anderen bald wiedersehen werde.«

Jory nickte ernst. Er und Cador ergriffen sich an den Unterarmen und Jory murmelte sanft etwas, das Jem nicht verstehen konnte. Dann drehte er sich um und lief voraus, Lusow hinter ihm, bis sie den steinigen Strand hinter sich gebracht hatten. Dann stieg er auf das Pferd auf.

Jem hatte sich mehrfach überlegt, Jory anzuflehen, er möge ihn mitnehmen. Doch das zusätzliche Gewicht würde Lusow nur beschweren und sie verlangsamen.