Codewort Tripolis - Will Jordan - E-Book

Codewort Tripolis E-Book

Will Jordan

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Beschreibung

Ryan Drake auf unerwarteter Mission – der Geheimagent soll nach Libyen und einen hochrangigen Offizier von Gaddafis gefürchtetem Nachrichtendienst kidnappen. Im Gegenzug wird er jedes Mittel an die Hand bekommen, um seinem Gegner Marcus Cain, dem korrupten Vize-Chef der CIA, das Handwerk zu legen. Zusammen mit ein paar wenigen Eingeweihten macht sich Drake auf den Weg zu seinem bislang gefährlichsten Einsatz – doch in der Hitze der libyschen Wüste und vor dem Hintergrund eines drohenden Bürgerkriegs geraten die Ereignisse schnell außer Kontrolle …

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Buch

Der britische Geheimdienst MI-6 bietet dem CIA-Operator Ryan Drake einen unerwarteten Deal an. Drake soll in Libyen einen hochrangigen Offizier von Gaddafis gefürchtetem Nachrichtendienst kidnappen. Im Gegenzug wird er jedes Mittel an die Hand bekommen, um seinem Gegner Marcus Cain, dem korrupten Vize-Chef der CIA, das Handwerk zu legen. Drake wittert die große Chance, endlich reinen Tisch zu machen und sammelt sein altes Team um sich. Doch in der Hitze der libyschen Wüste und vor dem Hintergrund eines drohenden Bürgerkriegs geraten die Ereignisse schnell außer Kontrolle. Denn nichts ist, wie es scheint – und wirklich niemand sagt die Wahrheit …

Autor

Will Jordan lebt mit seiner Familie in Fife in der Nähe von Edinburgh. Er hat einen Universitätsabschluss als Informatiker. Wenn er nicht schreibt, klettert er gern, boxt oder liest. Außerdem interessiert er sich sehr für Militärgeschichte. Will Jordan hat bereits jede Waffe abgefeuert, die in diesem Roman erwähnt wird.

Die Ryan-Drake-Romane bei Blanvalet:

1. Mission: Vendetta

2. Der Absturz

3. Gegenschlag

4. Operation Blacklist

5. Codewort Tripolis

6. Das CIA-Komplott

7. Kommando Black Site

8. Projekt Pegasus

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WILL JORDAN

CODEWORT

TRIPOLIS

Thriller

Aus dem Englischen

von Wolfgang Thon

Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»Deception Game« bei Canelo, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Will Jordan

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Blanvalet

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlagmotiv: Umschlaggestaltung und -abbildung:

© Johannes Frick, Neusäß, unter Verwendung von Motiven

von Getty Images/Paul Bowen und Shutterstock.com

Redaktion: Rainer Michael Rahn

HK · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-20023-7V002

www.blanvalet.de

PROLOG

Dehiba, Tunesien – 10. Mai 2009

Drake holte tief Luft. Die glühend heiße, trockene Luft dörrte seine Kehle aus. Der Wind peitschte kleine Sandkörnchen vor sich her, die ihm in die Augen stachen. Über ihm brannte die Sonne gnadenlos aus dem wolkenlosen Himmel und trieb ihm Schweißperlen auf die verbrannte, gerötete Haut. Über den belebten Hauptplatz flanierten Einheimische und kleine Touristengruppen, die dem Westler kaum Beachtung schenkten, der in abgerissen wirkender Kleidung neben einem kleinen Café an der Wand lehnte. Vielleicht waren es die Verletzungen und Blutergüsse, die ihm in den Augen der anderen das Aussehen von jemandem verliehen, dem man tunlichst aus dem Weg gehen sollte. Vielleicht hielt sie aber auch das gefährliche Flackern in seinem Blick auf Abstand. Was auch immer der Grund sein mochte, der Menschenstrom schien um ihn herumzufließen wie ein Fluss um ein unverrückbares Hindernis.

Drake hob den Kopf und richtete den Blick auf einen niedrigen Hügel in etwa einem Kilometer Entfernung, der das geschäftige Stadtzentrum überragte und auf dem sich noch die Reste verwitterter und eingestürzter Mauern der antiken Siedlung in den makellos blauen Himmel reckten und schwere Steinblöcke aus der verdorrten Erde ragten.

Dies war der Ort, wo es passieren sollte. Der Ort, an dem die aufreibenden Ereignisse der vergangenen Woche ihren endgültigen, tödlichen Höhepunkt erreichen sollten. Alles, wofür er gekämpft und wofür er so viele Opfer gebracht hatte, jeder Kompromiss, den er eingegangen war: All das hatte ihn hierher geführt.

Was heute hier geschah, entschied darüber, ob er leben oder sterben würde.

Sein Puls pochte laut und schnell in seinen Ohren und hätte fast das leise Signal des Handys übertönt, das er sich an den Kopf drückte. Der Mann, den er zu erreichen versuchte, reagierte gewöhnlich argwöhnisch auf Anrufe wie diesen. Er würde nicht gleich an den Apparat gehen – wenn überhaupt. Beeinflussen konnte Drake seine Entscheidung jedoch ohnehin nicht.

Er konnte nur warten und hoffen.

Das Klingeln verstummte unvermittelt. Die Verbindung war hergestellt.

»Sie leben also noch, Ryan«, bemerkte eine Stimme am anderen Ende der Leitung. Eine sanfte, selbstbewusste und kontrollierte Stimme. Es war nicht die Stimme eines Mannes, dessen Schicksal derart auf Messers Schneide stand wie das von Drake. »Sie sind spät dran. Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt, was auf dem Spiel steht?«

»Doch, haben Sie«, erwiderte Drake und hielt die Menschenmengen, die um ihn herumströmten, im Blick. »Ich habe, was Sie wollen.«

»Dann schlage ich vor, Sie bringen es mir, damit wir unser Geschäft abschließen können.«

Drake war klar, dass er sich jetzt entscheiden musste. Dies war seine letzte Chance, den Schwanz einzuziehen.

»Nein«, sagte er mit ruhiger Entschiedenheit.

Es gab eine kleine Pause. Ein Augenblick der Verwirrung und des Zweifels, und für einen kurzen Moment spürte Drake eine Schwäche hinter der undurchdringlichen Fassade. »Wie bitte?«

»Wir wissen beide, dass ich tot bin, sobald die Übergabe vollzogen ist. Weil ich zu viel gesehen habe und zu viel weiß, würden Sie mich niemals am Leben lassen.« Er war jetzt fest entschlossen. Der Rückweg war verbaut – er hatte keine andere Wahl, als nach vorne zu sehen. »Deshalb empfehle ich Ihnen, diesen Moment gut in Erinnerung zu behalten, denn so nah wie jetzt werden Sie nie wieder an das herankommen, was Sie wollen.«

Man musste seinem Gegner zugutehalten, dass er trotz des Widerstandes, der ihm entgegenschlug, erstaunlich gefasst blieb. Jemand anders hätte womöglich getobt und ins Telefon gebrüllt, dass Drake sich idiotisch verhielt und dafür büßen würde.

Dieser Mann aber war aus einem anderen Holz geschnitzt.

»Ryan, vielleicht haben Sie vergessen, warum wir überhaupt in dieser Lage sind«, fuhr die ruhige, sonore Stimme fort. »Falls ich Sie noch einmal daran erinnern muss: Ich bin durchaus willens, ein Stück von ihr für Sie an unserem Treffpunkt zu hinterlegen. Und Sie können mir glauben, es wäre ein Stück, das ihr schmerzlich fehlen würde.«

Drake schloss kurz die Augen und unterdrückte die Angst und den Horror, den diese Worte in ihm heraufbeschworen. Er wusste nur zu gut, dass sein Gegner diese Drohung wahr machen würde. Er war ein Sadist, der Gefallen daran fand, anderen Schmerzen zuzufügen. »Das würde ich Ihnen nicht raten«, erwiderte er und klang dabei selbstbewusster, als er sich fühlte.

»Ach, wirklich nicht? Klären Sie mich bitte auf.«

»Ich biete Ihnen etwas Besseres an.«

»Und das wäre?«

»Es gibt drei Möglichkeiten, wie diese Sache weitergehen kann. Erstens: Sie bringen sie um, ich veröffentliche die Dateien im Internet und beschäftige mich dann nur noch damit, Sie aufzuspüren. Und Sie können mir glauben: Ich bin gut darin, Leute zu finden, und willens, jeden wachen Moment meines Lebens der Suche nach Ihnen zu widmen. Wenn ich Sie dann gefunden habe, wird Ihnen alles, was Sie ihr angetan haben, wie ein Spaziergang vorkommen, verglichen mit dem, was ich Ihnen antun werde. Zweitens: Sie bringen mich um, bevor ich Sie erwische. Die Dateien wurden auf einen automatischen E-Mail-Server hochgeladen, und sollte ich es nicht mehr verhindern können, weil ich tot bin, wird innerhalb von zwei Stunden alles veröffentlicht, was Sie so mühsam zu vertuschen versuchen.« Er ließ diese Ankündigung wirken. »So oder so, Sie verlieren.«

»Genau wie Sie, Ryan«, erinnerte er ihn.

»Was hier auf dem Spiel steht, betrifft nicht nur Sie und mich: Wir wissen beide, worum es Ihnen in Wirklichkeit geht. Wollen Sie wirklich auf all das verzichten und zusehen, wie um Sie herum alles zusammenbricht?«

Wieder herrschte eine Pause. Der Spieler auf der anderen Seite wog die Risiken gegen die möglichen Vorteile ab. »Ich vermute, es gibt noch eine dritte Option?«

Drake sog noch einmal die staubige, stickige Luft ein. »Sie übergeben sie mir unverletzt. Dafür bin ich bereit, Ihnen nicht in die Quere zu kommen und niemandem zu verraten, was wir entdeckt haben. Und Sie sichern mir im Gegenzug zu, nicht nach mir zu suchen. Danach geht jeder seiner Wege. Ganz einfach.«

»Sehr heldenhaft von Ihnen«, bemerkte der andere sarkastisch.

»Ich bin kein Held und war noch nie einer«, sagte Drake, und das meinte er ernst. »Das hier ist nicht mein Krieg. Ich will nur, dass er aufhört.«

Das war’s. Er hatte alles gesagt und getan, was er konnte. Jetzt hing alles von dem Mann am anderen Ende der Leitung ab.

Und dann hörte er es. Keinen wilden Fluch, kein wütendes Knurren und auch kein zorniges Versprechen, dass er eines Tages dafür bezahlen würde.

Was Drake stattdessen hörte, war ein leises, amüsiertes Lachen. Es war das Lachen eines Mannes, der endlich die Falle zuschnappen ließ, die er so sorgfältig geplant hatte.

»Kommen Sie, Ryan. Wir wissen beide, dass diese Sache nur auf eine einzige Art enden kann.« Er hielt einen Moment inne und ließ seine Worte wirken. »Sehen Sie nach unten.«

Drake senkte den Blick und bemerkte etwas auf seinem fleckigen, zerknitterten Hemd. Einen kleinen roten Lichtpunkt, der sich vorher noch nicht dort befunden hatte. Der Punkt eines Ziellasers.

»An Ihrer Stelle würde ich nicht versuchen wegzulaufen. Sie werden aus zwei verschiedenen Richtungen anvisiert, und meine Freunde brennen förmlich darauf, den Abzug zu drücken.«

Sie hatten ihn entdeckt, irgendwie hatten sie es geschafft, ihn hier aufzuspüren, hatten vorhergesehen, wohin er gehen würde, und genau gewusst, was er als Nächstes vorhatte. Jetzt hatten sie ihn im Visier, und er steckte in der Falle.

Kaum war ihm dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, hielt ein Stück vor ihm ein schwarzes SUV. Die Hintertüren wurden aufgerissen, und ein paar Männer sprangen heraus. Männer, denen Drake bereits begegnet war. Männer, die in den vergangenen paar Tagen bereits mehrfach versucht hatten, ihn umzubringen, und die nicht zögern würden, es zu tun, wenn sie den Befehl dazu bekamen. Sie hielten die Waffen umklammert, die von ihren Jacken verdeckt wurden, und würden nicht zögern, auf ihn anzulegen, wenn er auch nur mit der Wimper zuckte.

»Wie schon gesagt, Ryan«, der Tonfall der Stimme am anderen Ende der Leitung verriet das Selbstvertrauen eines Mannes, der die volle Kontrolle hatte. »Diese Sache kann nur auf eine Art enden.«

Drake ließ sein Handy sinken, als das Zugriffsteam näher rückte.

TEIL EINS

AUSLIEFERUNG

Zurzeit ist von mindestens fünfundvierzig Ländern bekannt, dass sie am CIA-Programm zur Auslieferung von Terrorverdächtigen teilgenommen haben. In vielen dieser Länder gab es Geheimgefängnisse, in denen Inhaftierte unbefristet festgehalten und verhört wurden, ohne Rechtsmittel einlegen zu können. Die Zahl der Menschen, die auf diese Weise gefangen gehalten wurden, wird vermutlich niemals bekannt werden.

1

Arlington-Nationalfriedhof, Virginia – zwei Wochen zuvor

Die enorme Größe des Friedhofs von Arlington versetzte Drake jedes Mal aufs Neue in Erstaunen. Er erstreckte sich über mehr als sechshundert Hektar am Westufer des Potomac und war vom Weißen Haus aus in zwanzig Minuten zu Fuß zu erreichen. Der riesige Komplex befand sich sowohl geografisch als auch symbolisch dicht am Herzen der Nation. Seine Monumentalität und Ausdehnung dienten der ewigen Erinnerung an die Opfer, die seit den Zeiten des Bürgerkriegs bis heute von Generationen von Amerikanern gebracht wurden. Hier, unter dem wohltuenden Schatten blühender Bäume, hatten über vierhunderttausend amerikanische Kriegstote ihre letzte Ruhestätte gefunden. Ihre Gräber erstreckten sich in ordentlichen Reihen aus weißen Grabsteinen fast bis zum Horizont.

Es war ein ernüchternder Ort, der einen nachdenklich machte. Drake hatte ihn im Laufe der letzten Jahre mehr als einmal besucht – entweder, um gefallenen Kameraden die Ehre zu erweisen, oder auch nur, um mit seinen Gedanken allein zu sein.

Heute hatte ihn jedoch ein anderer Grund hierher geführt.

Am Roosevelt Drive wandte er sich nach links, dann stieg er einen grasbewachsenen Hügel zu einer Gedenkstätte auf der Anhöhe empor. Dabei kam ihm eine kleine Gruppe entgegen, die in die entgegengesetzte Richtung strebte. Es waren Männer und Frauen aller Altersgruppen, aber sie schienen so vertraut miteinander, dass sie höchstwahrscheinlich einer großen Familie angehörten. Ein alter Mann im Zentrum der Gruppe, der sich beim Abstieg vom Hügel schwer auf einen Wanderstock stützte, war vermutlich der Grund ihres Besuches. Er trug eine dunkelblaue Marinemütze, auf der in verwitterten goldenen Buchstaben der Name eines Kriegsschiffes zu lesen stand. Der Mann war an Drake vorbeigegangen, bevor der einen genaueren Blick darauf hatte werfen können.

Aber es spielte auch keine Rolle. Die Mütze bedeutete ihrem Träger etwas, und nur das zählte.

Ist schon seltsam, wie anders Amerika mit seinen Kriegsveteranen umgeht, dachte er mit leisem Bedauern, während er die Treppenstufen hinaufstieg. Hier behandelte man sie mit Respekt, sogar ehrfürchtig. Das alte Klischee, dass ein Uniformierter irgendwo im Land in eine beliebige Bar treten und sofort wenigstens eine Person finden würde, die ihm ein Bier ausgab, traf, jedenfalls Drakes Erfahrung nach, immer noch zu. Drüben im Vereinigten Königreich konnten Veteranen allenfalls auf eine lächerliche staatliche Pension und Bingo-Nächte im Kriegsveteranenclub hoffen.

Er bemühte sich, diese Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen, als er das obere Ende der Treppe erreichte und einen Blick auf die Szenerie warf, die unter ihm lag. Im Zentrum des breiten, offenen Platzes stand ein gewaltiger Marmorsarkophag, dessen weiße Oberfläche im Licht der Nachmittagssonne strahlte.

Das Grabmal des Unbekannten Soldaten war einer der heiligsten Orte in ganz Arlington, ein Monument für die Ewigkeit, ein Symbol für Tausende unbekannter Soldaten, die auf den Schlachtfeldern dieser Welt gefallen und deren Namen für alle Zeit verloren waren.

Es wurde rund um die Uhr und bei jedem Wetter bewacht – von Elitesoldaten des dritten US-Infanterieregiments, das auch unter dem Namen »Old Guard« bekannt war. Auch der heutige Tag stellte keine Ausnahme dar. Ein Soldat mit einem alten M14-Gewehr patrouillierte langsam vor dem Sarkophag auf und ab. Seine Uniform war ebenso makellos wie seine kerzengerade Haltung, und die verspiegelte Sonnenbrille reflektierte das Sonnenlicht. Seine Bewegungen waren so präzise wie die jedes anderen Wachsoldaten, der vor ihm Dienst getan hatte, sodass sich nach jahrzehntelanger Wache ein perfektes Quadrat in den Marmor gegraben hatte.

Ein paar Touristen fotografierten die Vorführung, die für sie vermutlich nur eine Sehenswürdigkeit darstellte, ähnlich wie bei den Wachposten der Queen, die reglos vor dem Buckingham-Palast standen.

Einem flüchtigen Beobachter wäre Drakes Verhalten kaum anders vorgekommen als das von Hunderten anderer Besucher, die an jenem Tag den Friedhof bevölkerten. Er ging mit dem leichten, entspannten Schritt eines Mannes, der ohne Hast und doch zielstrebig auf sein Ziel zusteuert. Seine Miene zeigte kaum mehr als das oberflächliche Interesse eines Durchschnittsbesuchers.

Nur seine Augen hinter der dunklen Sonnenbrille, die an jenem Nachmittag keineswegs unangemessen wirkte, verrieten den hellwachen Blick eines ausgebildeten Kämpfers, der jedes Detail seiner Umgebung registrierte, einschließlich der Menschen. Sein Blick zuckte von Gesicht zu Gesicht und suchte nach einem Hinweis, einem verräterischen Indiz, dass das eine oder andere nicht das war, wofür es sich ausgab.

Drake verdiente seinen Lebensunterhalt damit, Leute aufzuspüren, von denen die meisten nicht gefunden werden wollten. Deshalb war er recht gut darin geworden, sehr schnell zu spüren, wenn etwas nicht stimmte. Einen Blick, der ein wenig zu lange verharrte, ein Zucken, das ungewöhnliche Anspannung und Nervosität verriet, eine unwillkürliche Gewichtsverlagerung, mit der das lästige Gewicht einer verborgenen Waffe ausgeglichen werden sollte. Es gab nichts, was er in seiner Dienstzeit noch nicht gesehen hätte, und seine Sinne waren in diesem Augenblick im Alarmzustand.

Er entspannte sich ein wenig, als er sich dem Amphitheater näherte, und gab sich fürs Erste damit zufrieden, dass keiner der Besucher ein unangemessenes Interesse an ihm gezeigt hatte. Natürlich bedeutete das nicht, dass er von niemandem beobachtet wurde – Drake hatte sich im Laufe der letzten Jahre daran gewöhnt, ständig auf der Hut zu sein.

Es gab etliches, woran er sich im Laufe der letzten Jahre gewöhnt hatte.

Das große Freilufttheater, das für gewöhnlich Gottesdiensten am Veteran’s Day und anderen öffentlichen Veranstaltungen diente, war jetzt ungenutzt und nahezu verlassen. Für Touristen gab es drinnen nicht viel zu sehen, und in den Säulengängen der Mauern befanden sich auch keine Denkmäler, weshalb sich nur wenige Menschen darin aufhielten.

Kurz gesagt, es war ein guter Ort für Gespräche, bei denen man nicht unterbrochen oder abgehört werden wollte. Und hier ging es um eine Unterredung genau dieser Art.

Drake bog um eine der großen Steinsäulen, die die äußere Grenze des Theaters bildeten. Dann hielt er einen Moment inne, um den Innenraum zu inspizieren. Von der Hauptbühne aus stiegen Bankreihen bis zu den äußeren Begrenzungen des Theaters empor.

Keine der Bänke war besetzt.

Drake sah auf seine Uhr, holte tief Luft und überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Er konnte die Deckung verlassen und ins Zentrum des Theaters gehen, um sich dem, der auf ihn wartete, zu erkennen zu geben. Damit würde er sich jedoch auch angreifbar machen. Es widersprach seinem Instinkt, in einer solchen Situation aus einer schlechteren Ausgangsposition heraus zu agieren.

Er konnte ebenso gut bleiben, wo er war, und abwarten, ob seine Kontaktperson die Initiative ergriff. Allerdings hing bei Treffen wie diesen oft alles vom gegenseitigen Vertrauen ab, und es war möglich, dass seine Kontaktperson dieselben Zweifel hegte wie er selbst. Er wollte auf keinen Fall riskieren, dass sie kalte Füße bekam und wegging, zumal es ihn erhebliche Mühen gekostet hatte, dieses Treffen überhaupt zu arrangieren.

Er wollte gerade einen Rundgang entlang der Außenmauern des Theaters beginnen, als er Schritte auf dem Steinboden hörte, die auf ihn zukamen. Sie waren langsam, schwer und von einem etwas angestrengten Schnaufen begleitet. Ein übergewichtiger älterer Mann, möglicherweise von angeschlagener Gesundheit.

Drake griff zur Browning-Automatik in dem Pancake-Holster auf seinem Rücken. Er stellte sich innerlich auf die unzähligen Möglichkeiten ein, wie diese Sache schiefgehen konnte, und schlüpfte hinter der Säule hervor.

Der Mann, der ihm gegenüberstand, war schwarz, Anfang sechzig, in einen teuren Anzug gekleidet, von durchschnittlicher Körpergröße und überdurchschnittlichem Gewicht. Sein kurz geschnittenes Haar und der Schnurrbart waren grau meliert. Ein kurzer Blick machte klar, dass diesem Mann das Alter deutlich zugesetzt hatte; er ließ die Schultern hängen, und seine Stirn war von jahrelangen Mühen und Sorgen zerfurcht. Der oberste Knopf seines Hemds war offen, und seine Stirn glänzte von Schweiß.

Der Aufstieg hierher war anscheinend nicht sehr angenehm für ihn gewesen.

Er verspannte sich bei Drakes plötzlichem Auftauchen, fasste sich jedoch rasch, als er begriff, dass Drake der Mann war, den er treffen wollte: den jungen Leiter eines Shepherd-Teams, der konspirativ über einen Mittelsmann mit ihm in Kontakt getreten war, auf einem Gespräch unter vier Augen außerhalb Langleys bestanden und ihm versichert hatte, über Informationen zu verfügen, die für die Agency von größter Wichtigkeit seien.

»Ich hoffe, Sie haben mich nicht nur aus dem Grund hier heraufgelockt, um mich zu erschießen, mein Sohn«, bemerkte er reserviert, blickte mit seinen dunklen Augen kurz hinab und deutete auf die Hand, die Drake hinter seinem Rücken verborgen hielt. »Ich bin mir sicher, dass man hier in Arlington schon ein nettes Plätzchen für mich bereithält, aber ich möchte es im Moment noch nicht beziehen.«

Drake lockerte den Griff, mit dem er die Waffe hielt, und seine Anspannung legte sich ein wenig, doch er blieb auf der Hut. »Director Hunt.«

»Das ist mein Name.«

Charles Hunt war der Leiter der CIA-Abteilung zur Kontrolle des Waffenhandels, deren Aufgabe darin bestand, den internationalen illegalen Waffenhandel zu beobachten und zu unterbinden. Das begann mit verschwundenen Munitionskisten aus russischen Militärbeständen und reichte bis zu den iranischen Versuchen, an Nukleargeheimnisse zu kommen. Aufgabe seiner Abteilung war es zu verhindern, dass den Feinden Amerikas Waffen in die Hände fielen.

»Sind Sie allein gekommen?«, fragte Drake.

»So allein, wie man heutzutage noch sein kann«, erwiderte Hunt und blickte nach oben, als wäre dort eine Überwachungsdrohne zu entdecken, die über ihnen ihre Kreise zog.

Drakes Blick verhärtete sich. »Ich meine es ernst. Falls man Ihnen hierher gefolgt ist …«

Hunt runzelte die ergrauenden Brauen und verzog das Gesicht. »Mister Drake, es gehört nicht zu meinen Gepflogenheiten, Leute zu belügen. Ebenso wenig neige ich dazu, meinen fetten Hintern aus meinem sehr gemütlichen Büro zu schleppen, um mit jedem Spinner, der Kontakt mit mir aufzunehmen versucht, konspirative Treffen an nationalen Gedenkstätten abzuhalten. Nun weiß ich, wer Sie sind, und habe mich deshalb entschlossen, Ihnen zu vertrauen, einstweilen jedenfalls. Vielleicht sollten Sie sich an mir ein Beispiel nehmen, sich nicht so albern aufführen und Ihr Schießeisen stecken lassen.«

Drake nahm zögernd die Finger von der Waffe.

»Schon besser«, bemerkte Hunt.

»Sie sagten, Sie wissen, wer ich bin?«, hakte Drake nach.

»Mit dem, was Sie da letztes Jahr in Russland abgezogen haben, haben Sie sich einen Namen gemacht. Ob das gut ist oder schlecht, wird sich noch zeigen, aber Sie können davon ausgehen, dass so etwas nicht unbemerkt bleibt. Das macht Sie entweder zu einem Feind, der ausgeschaltet werden muss, oder zu einer Ressource, derer man sich bedienen sollte.« Er musterte Drake kritisch. »Ich persönlich bin mir nicht sicher, ob Sie für den Aufruhr, den Sie dort veranstaltet haben, eine Belobigung verdienen, oder ob man Sie vor ein Militärgericht stellen sollte.«

Drake beschloss, nicht weiter darauf einzugehen. Was er im letzten Jahr getan hatte, lief eigentlich auf Verrat hinaus. Er hatte unautorisiert mit dem Geheimdienst einer ausländischen Macht zusammengearbeitet, von seiner Unterstützung für einen gesuchten Terroristen einmal ganz abgesehen. Schon oft hatte er darüber nachgedacht, wie viele Feinde er sich in den letzten Jahren wohl gemacht haben mochte.

»Mir reichen bereits zehn Minuten Ihrer Zeit«, antwortete er. Ungeachtet der Spannungen, die es in den ersten Momenten ihrer Begegnung gegeben hatte, war ihm durchaus bewusst, dass man einen Direktoratsleiter der CIA nicht mit Bagatellen belästigen sollte. Schon an diesen Mann heranzukommen, ohne dabei ein Dutzend anderer Abteilungsleiter auf den Plan zu rufen, hatte sich als Herausforderung erwiesen. Drake war gezwungen gewesen, ein Minenfeld von Dienstanweisungen und geheimen Hierarchien zu überwinden und die Hilfe einiger Kontakte in Anspruch zu nehmen, die ihm noch den einen oder anderen Gefallen schuldig waren.

Ob sich die ganze Anstrengung gelohnt hatte, hing allein davon ab, was in den nächsten zehn Minuten geschah.

Hunt blickte auf seine Uhr – ein altes Modell mit dem Wappen der US-Marines –, dann richtete er seine dunklen Augen wieder auf Drake. »In Ordnung, Mister Drake. Zehn Minuten. Ich hoffe, Ihr Anliegen lohnt diese Mühe.«

Das konnte Drake natürlich nicht versprechen. Er konnte ihm höchstens garantieren, dass es sich lohnte anzuhören, was er zu sagen hatte.

Er holte ein elektronisches Gerät aus seiner Tasche, das einem kleinen Sprechfunkgerät glich und an dem mehrere Antennen befestigt waren. Er betätigte einen Schalter am Rand des Gehäuses, und eine grüne Leuchtdiode lieferte den Hinweis darauf, dass der Störsender aktiv war – was im Umkreis von fünfzig Metern ohnehin niemandem entgangen wäre, der versucht hätte, sein Mobiltelefon oder ein anderes elektronisches Kommunikationsmedium zu benutzen.

Hunt betrachtete das Gerät mit hochgezogener Braue. »So schlimm, hmm?«

Drake deutete auf eine Bank in der Nähe. »Vielleicht sollten Sie sich lieber setzen.«

Hunt folgte dem Vorschlag und hörte sich weitaus länger als zehn Minuten an, was Drake über die Ereignisse der letzten beiden Jahre berichtete. Seine Geschichte reichte von der Operation zur Befreiung einer Gefangenen namens Maras aus einem russischen Gefängnis, über den schmutzigen Krieg, den ein privatwirtschaftlicher Vertragspartner der US-Army in Afghanistan führte, bis zum Tod des russischen Geheimdienstchefs im letzten Jahr. Alle diese Ereignisse ließen sich auf einen einzigen Mann zurückführen: Marcus Cain.

Cain war zurzeit stellvertretender Direktor der CIA und dazu bestimmt, die Führungsposition einzunehmen, sobald der jetzige Chef seinen Posten aufgab.

»Das ist ja eine tolle Geschichte, mein Sohn«, bemerkte Hunt, als Drake schließlich am Ende seiner ausführlichen Schilderung angelangt war. Trotz seiner flapsigen Wortwahl war nicht zu übersehen, dass ihn Drakes Ausführungen beeindruckt hatten. »Aber warum erzählen Sie mir das alles?«

Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Ein sehr altes Sprichwort, das oft bei trivialen Streitereien missbraucht wird. In diesem Fall musste Drake aber darauf hoffen, dass sich der Spruch als wahr erwies.

Falls dem so war, konnte er sich keinen würdigeren Gegner für Cain vorstellen als den Mann, den Cain vor zwei Jahren von seinem Posten verdrängt hatte. Hunt hatte die Position des stellvertretenden Direktors innegehabt, und man war allgemein davon ausgegangen, dass er in nicht allzu ferner Zukunft den Chefsessel des mächtigsten Nachrichtendienstes der Welt übernehmen würde. Dann wurde die Führungsetage überraschend umstrukturiert und Hunt de facto zum Direktoratsleiter degradiert. Selbstverständlich war auch dies eine Position, die mit Macht und Einfluss verbunden war, doch die Botschaft war klar: Ein neuer Spitzenspieler war auf dem Spielfeld aufgetaucht. Sein Name lautete Marcus Cain.

Drake war sich sicher, dass Hunt eine solche Herabstufung, insbesondere gegen Ende seiner Karriere, nicht so leicht weggesteckt hatte. Vielleicht war er sogar so hart angezählt, dass er Drake bei dem Versuch unterstützen würde, den Mann unschädlich zu machen, der seine eigenen Pläne durchkreuzt hatte. Es war ein mieser Trick, sich die Verbitterung und die Enttäuschung eines Mannes für die eigenen Zwecke nutzbar zu machen, doch die Chance, einen Verbündeten in der höchsten Führungsebene der Agency zu gewinnen, konnte Drake sich nicht entgehen lassen.

»Weil ich nicht der Einzige bin, der Cains Sturz will«, erwiderte Drake. »Ich weiß, dass er Sie als stellvertretenden Direktor abgelöst hat, und ich gehe davon aus, dass Sie den Posten nicht freiwillig geräumt haben. Er hat Sie reingelegt, so wie er jeden reingelegt hat, mit dem er jemals zu tun hatte. Es ist seine Schuld, dass Ihnen die Möglichkeit genommen wurde, das zu tun, was Sie sich vorgenommen hatten. Und jetzt haben Sie die Chance, das Heft wieder in die Hand zu nehmen. Helfen Sie mir dabei, seine Machenschaften publik zu machen. Helfen Sie mir, ihn aufzuhalten, bevor noch mehr Unschuldige ihr Leben verlieren. Ich kann Ihnen zwar nicht versprechen, dass Sie zurückbekommen, was Sie verloren haben, doch ich kann Ihnen garantieren, dass seine Verluste am Ende erheblich größer sein werden, als Ihre es je waren.«

Drake hatte noch nie ein Talent für aufrüttelnde Reden oder leidenschaftliche Monologe gehabt. Er konnte nur darstellen, was er wusste, was er erreichen wollte und womit Hunt ihn beim Erreichen dieses Zieles unterstützen konnte. Es war ein Glücksspiel, so viel stand fest. Im Grunde basierte das ganze Treffen auf einem Vertrauensvorschuss – ein Risiko, das Drake hier aber für unumgänglich hielt.

Nachdem er alles gesagt hatte, was zu sagen war, konnte er nur noch Hunts Antwort abwarten. Er musste sich nicht allzu lange gedulden.

Er war auf einiges gefasst gewesen, nicht aber darauf, dass der Mann neben ihm sich vor Lachen förmlich schüttelte. »Und das alles soll ich Ihnen jetzt einfach so abkaufen? Ich soll das einem Kerl von der operativen Ebene glauben, der aus heiterem Himmel auf mich zukommt, mir wilde Verschwörungstheorien serviert und mir darüber hinaus auch noch anbietet, meine Karriere zu befördern? Darauf soll ich mich jetzt also Hals über Kopf einlassen und darauf hoffen, dass es irgendwie gut ausgehen wird?« Hunt schüttelte ungläubig den Kopf. »Mister Drake, Sie sind noch ein junger Mann, deshalb sehe ich Ihnen eine gewisse Naivität nach, doch was Sie da von mir verlangen, ist einfach lächerlich.«

Drake war nicht entgangen, dass Hunt keinen Versuch unternommen hatte, Cain zu verteidigen oder ihn davor zu warnen, Vorschläge zu unterbreiten, die auf Verrat hinausliefen. Deshalb wertete er den ausbleibenden Widerspruch als ein unterschwelliges Eingeständnis, dass seine Anschuldigungen nicht völlig aus der Luft gegriffen waren.

»Sie hatten gesagt«, erwiderte er, »Sie wären bereit, mir einen Vertrauensvorschuss zu gewähren.«

»Vertrauen und blinde Gefolgschaft sind zwei verschiedene Paar Schuhe, mein Sohn. Bis jetzt haben Sie mir noch nichts Vernünftiges an die Hand gegeben, das mein Vertrauen rechtfertigen würde.«

Dieses Resümee konnte Drake ihm nicht vorwerfen. »Ich bin hier. Wir wissen beide, dass Sie mich nach allem, was ich Ihnen berichtet habe, festnehmen lassen könnten. Ich bin trotzdem gekommen, weil ich bereit bin, mein Leben aufs Spiel zu setzen, um diesen Mistkerl zur Strecke zu bringen. Das ist mein Ziel, aber allein schaffe ich das nicht. Ich brauche dazu Leute in einflussreichen Positionen. Leute, die über genug Macht verfügen, um ihm wirklich wehzutun. Leute, auf die ich mich verlassen kann – Leute wie Sie.«

»Rührend, aber wie kommen Sie auf die Idee, dass Sie mir vertrauen können, falls – und dieses ›falls‹ möchte ich betonen – ich mich wirklich dazu bereit erklären sollte, Ihnen zu helfen?«, wollte Hunt wissen.

Drake deutete mit einer Kopfbewegung auf die Armbanduhr an Hunts linkem Handgelenk. »Eine hübsche Uhr haben Sie da. Sie waren mit dem 2. Bataillon der 7. Marinedivision in Vietnam. Sie hatten zwei Einsätze. Sie wurden in Khe Sanh verwundet, als Sie versuchten, eine Patrouille herauszuhauen, die von ihren Kameraden abgeschnitten und vom Feind umzingelt war. Und das, obwohl Sie den Befehl erhalten hatten, auf Unterstützung zu warten. Und davor haben Sie sich dafür eingesetzt, einen Kameraden von den Marines vors Kriegsgericht zu bringen, weil er vietnamesische Zivilisten terrorisiert hatte, obwohl Sie damit einem Ihrer eigenen Leute in den Rücken fielen.«

Es war wichtig, seine Feinde zu kennen, noch wichtiger war es jedoch, über einen potenziellen Freund Bescheid zu wissen – wie Drake aus bitterer Erfahrung wusste. Als er begonnen hatte, seinen Plan auszuarbeiten, hatte er zunächst Wochen darauf verwandt, jedes Detail in Hunts Leben und Karriere auszuleuchten, und war dabei so gründlich wie möglich vorgegangen, ohne die Agency auf sich aufmerksam zu machen. Inzwischen hatte er das Gefühl, Hunt so gut zu kennen wie dieser sich selbst.

Der Direktoratsleiter griff in seine Jackentasche, zog ein Taschentuch hervor und wischte sich damit den Schweiß von der Stirn. »Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht. Schön. Worauf wollen Sie hinaus?«

»Worauf ich hinauswill? Alles, was ich bisher über Sie in Erfahrung bringen konnte, hat mich davon überzeugt, dass Sie ein guter Mann sind. Sie sind bereit, sich für die Gerechtigkeit einzusetzen, und schrecken auch nicht davor zurück, dafür Ihren Kopf hinzuhalten. Dass Sie diese Uhr noch tragen, sagt mir, dass Sie sich treu geblieben sind. Deshalb bin ich das Risiko eingegangen, Sie zu kontaktieren. Und deshalb sind Sie nicht einfach weggegangen, und ich glaube, dass Sie genau deshalb auch bereit sind, mir Ihr Vertrauen zu schenken.«

»Ein guter Mann«, wiederholte Hunt und schnaubte höhnisch. »Wirklich schmeichelhaft, aber das ist verdammt lange her. Damals herrschten noch andere Zeiten. Es gab Regeln, an die man sich hielt, einen Verhaltenskodex und eine klare Trennlinie zwischen Gut und Böse. Es stimmt, wir haben sie manchmal überschritten, doch sie war immer da, ganz egal was passierte.«

Dann seufzte er. Es war das müde Seufzen eines Mannes, der schon viel zu lange auf einem Schlachtfeld kämpfte, das er unmöglich als Sieger verlassen konnte. »Dann wechselt man … in diesen Aufgabenbereich und stellt fest, dass es diese Linie, an die man so fest geglaubt hat, nie wirklich gab. Man hat sich das alles nur eingebildet, weil man daran glauben wollte. Man musste einfach daran glauben. Aber eine Sache wird nicht wahrer dadurch, dass man verzweifelt daran glaubt. Im Grunde kann man machen, was man will, und kommt damit durch. Das ist die Wahrheit. Dazu braucht man nur drei Dinge: den Willen, den Verstand und die richtigen Freunde. Und das eine können Sie mir glauben: Marcus Cain verfügt reichlich über alle drei Dinge.« Er verzog die Mundwinkel zu einem kurzen, bitteren Grinsen. »Was glauben Sie denn, wie er es geschafft hat, stellvertretender Direktor zu werden?«

Drake ballte die Fäuste und betrachtete den Mann, der neben ihm saß. »Er kommt also davon – mit allem, was er auf dem Kerbholz hat? Wollen Sie mir das sagen?«

Hunt bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick, als wolle er ihn daran erinnern, wer von beiden mehr Autorität besaß. »Nein, das behaupten Sie. Ich sage nur, dass Sie nicht mit ein paar halbgaren Anschuldigungen gegen einen Mann wie Cain antreten und dann erwarten können, dass sich Gott und die Welt auf Ihre Seite schlägt.«

»Gott und die Welt müssen mir nicht helfen«, betonte Drake. »Aber Sie brauche ich.«

»Wofür genau?« Schon wieder dieses müde Grinsen. »Soll ich vielleicht den Präsidenten anrufen und dafür sorgen, dass Cain noch heute Nachmittag gefeuert wird? Oder soll ich ihn womöglich vor einen Untersuchungsausschuss des Kongresses zerren und vor den Augen der ganzen Welt unsere schmutzige Wäsche ausbreiten?«

»Das wäre schon mal ein guter Anfang.«

»Das wäre es, aber wir wissen beide, dass es nicht dazu kommen wird. Falls diese ganze Sache überhaupt etwas bringen soll, muss ich wissen, was Sie wissen. Jetzt verraten Sie mir zunächst einmal, welche handfesten Beweise Sie gegen Cain haben.«

»Es gibt Aussagen von Augenzeugen, operativen Einsatzkräften und Mitarbeitern der Agency, die er unter Druck gesetzt hat, damit sie schweigen. Alle sind bereit, gegen ihn auszusagen.«

»In einer solchen Situation ist das alles Bullshit!«, konterte Hunt. »Die Glaubwürdigkeit von Zeugen kann man erschüttern, man kann sie erpressen oder einfach verschwinden lassen. Ich brauche etwas Handfestes.«

Drake schwieg einige Sekunden und wog ab, wie viel er preisgegeben und riskieren durfte. Er hatte noch ein letztes Ass im Ärmel, doch einen Trumpf wie diesen konnte er nur einmal ausspielen. Welche Reaktion er damit provozieren würde, war unvorhersehbar, doch er hatte das Gefühl, an einem kritischen Punkt angelangt zu sein. Hunts Glaube an ihn schwand, und allmählich traten Skepsis und Zweifel an die Stelle seines ursprünglichen Interesses.

Er musste etwas Überzeugenderes anbieten, deshalb blieb ihm keine Wahl.

»Ich habe Anya«, sagte er schließlich.

Von diesem Moment an änderte sich Hunts Verhalten schlagartig, und die Stimmung kippte plötzlich. »Sie lebt noch?«, fragte er hastig.

Drake nickte.

»Jesus Christus!«, keuchte er, dann seufzte er tief. »Wo ist sie?«

Drake warf dem Mann einen Blick zu, der ihm unmissverständlich klarmachte, dass er diese Information nicht an jemanden weitergeben würde, den er gerade erst kennengelernt hatte. Ganz gleich wie untadelig sein Charakter sein mochte. Davon abgesehen hätte er es Hunt nicht einmal verraten können, wenn er es gewollt hätte. Anya war wie ein Geist – sie erschien, wo und wann es ihr beliebte, und verschwand wieder in der Versenkung, wenn sie sich von ihrer Präsenz nichts mehr versprach. Sie war zwar eine mögliche Verbündete, spielte jedoch nach ihren eigenen Regeln.

»Gut, das verstehe ich«, pflichtete Hunt ihm bei. »Aber wird sie auch helfen?«

Drake wich seinem Blick aus und strich sich mit der Hand durchs Haar. »Ihr ist wie uns viel daran gelegen, Cain zur Strecke zu bringen.«

»Das ist nicht dasselbe.«

»Sie wird uns helfen«, versicherte ihm Drake.

Hunt betrachtete ihn eine Weile nachdenklich. »Angenommen, Sie hätten recht, und alles, was Sie mir erzählt haben, wäre wahr, und ich würde Ihnen vertrauen. Sie wissen doch selbst am besten, dass es nicht darum geht, ob Sie recht haben oder nicht – es kommt ausschließlich darauf an, wer bestätigt, dass Sie recht haben. Wer wird sich auf Ihre Seite schlagen und wer auf die Seite Cains? Diejenigen, die wissen, dass sie viel zu verlieren haben, wenn es mit Cain zu Ende geht, werden alles in ihrer Macht Stehende tun und jedes Risiko eingehen, um seinen Sturz zu verhindern. Denn sie wissen genau: Werden seine Lügen und Geheimnisse öffentlich aufgedeckt, fliegen sie selbst auch auf.«

Drake hörte solche ernsten Warnungen nicht zum ersten Mal. »Ich weiß, dass Cain Freunde in der Agency hat …«

»Ich rede nicht von der Agency«, unterbrach ihn Hunt, »ich meine auch nicht den Kongress oder das Pentagon, das Weiße Haus oder sonst eine Institution, die Sie noch anführen könnten.«

»Dann verraten Sie mir, wovon Sie sprechen.«

»Wachen Sie auf, Mister Drake! Die wahre Macht finden Sie in diesem Land nicht in Gebäuden, für die man Besichtigungstouren buchen kann, oder bei Männern, die sich vor Kontrollgremien zu verantworten haben, oder vor Wählergruppen. Die wahren Strippenzieher sind die, die sie nicht sehen können und von denen Sie auch nichts wissen, weil das genau die Art ist, wie sie agieren wollen! Für diese Leute steht am meisten auf dem Spiel, wenn Cain stürzt, und genau sie werden alles tun, um seinen Sturz zu verhindern.«

Drake schwieg einen Moment und suchte nach einer Möglichkeit, seine Gedanken diplomatisch auszudrücken. Das Spielchen, das Hunt hier mit ihm abzog, ging ihm zusehends auf die Nerven. Er war hierhergekommen, um sich der Hilfe dieses Mannes zu versichern, nicht, um sich seine rätselhaften Andeutungen und seinen Fatalismus anzuhören.

»Von welchen Leuten reden Sie?«

»Eins nach dem anderen, Mister Drake«, warnte ihn Hunt. »Ich kenne nicht alle, und ich bin ganz bestimmt nicht so dumm, Ihnen die paar Namen zu verraten, die ich weiß. Ich rede von Leuten, die sich einem Fall Cains am heftigsten widersetzen werden, und genau vor diesen Leuten sollten wir beide extrem auf der Hut sein.«

Drake blickte ihn an. »Trotzdem sind Sie immer noch hier.«

»Das bin ich«, räumte Hunt ein. »Denn trotz allem, trotz all der Kompromisse, die mir aufgezwungen wurden, und trotz all der Prinzipien, die ich im Laufe der Jahre über den Haufen geworfen habe, erinnere ich mich immer noch an jene Linie. Ich glaube … nein, ich will glauben, dass es sie immer noch gibt. Und ich habe den Eindruck, dass Sie das auch so sehen.« Er richtete sich auf, mit all der Mühe, die ein Mann seines Alters und seines Gewichts dafür aufbringen musste. »Bringen Sie mir etwas Handfestes, etwas, das ich verwenden kann. Dann reden wir weiter, Mister Drake. Mehr kann ich Ihnen im Moment nicht anbieten.«

Drake seufzte und nickte. Er nahm Hunts Angebot als das, was es war. Er hatte einen Verbündeten, der zögerte und noch nicht bereit war, den eigenen Hals zu riskieren – der aber dessen ungeachtet auf seiner Seite stand. Er hatte sich etwas anderes erhofft, doch mehr konnte er zurzeit nicht erwarten.

Es musste fürs Erste reichen.

»Ich halte Sie auf dem Laufenden«, versprach Drake und setzte seine Sonnenbrille wieder auf.

2

Vereinigtes Königreich – 1. Mai

Freya Shaw blinzelte und kam allmählich wieder zu sich.

Sie lag auf der Seite im Frachtraum eines kleinen Lieferwagens. Es gab keine Fenster, die Seitenwände und der Boden bestanden aus einfachem Blech, das auf ein verstärktes Stahlgerüst genietet worden war. In regelmäßigen Abständen gab es kleine Löcher, an denen man Packbänder oder andere Stauhilfen befestigen konnte, die die Fracht daran hindern sollten zu verrutschen. Über ihrem Kopf leuchtete grell und unbarmherzig eine einzelne Glühbirne.

Anscheinend handelte es sich um ein viel genutztes Fahrzeug. Die Lackierung der Seitenwände war angeschlagen und an vielen Stellen bis auf das nackte Metall darunter zerkratzt. Der Boden war mit getrocknetem Schlamm, weggeworfenen Zigarettenkippen und Papierschnipseln bedeckt, die im Laufe der Zeit zu einer vergilbten Masse zerfallen waren. An mehreren Stellen breitete sich Rost aus und zerfraß langsam das Chassis des Fahrzeugs wie ein Krebsgeschwür.

Doch trotz des verwahrlosten Zustands des Lieferwagens hatte ihr Entführer offensichtlich darauf geachtet, nichts im Frachtraum zu hinterlassen, das ihr bei einem Fluchtversuch dienlich sein konnte. Keine scharfkantigen Metallteile, um die Kabelbinder, mit denen ihre Hände gefesselt waren, aufschneiden zu können, keine Gegenstände, die als improvisierte Waffe taugten – einfach nichts.

Noch ein heftiger Stoß, diesmal so stark, dass ihr Kopf schmerzhaft auf den Boden geschlagen wurde. Um eine Wiederholung zu vermeiden, richtete sie mühsam ihren Oberkörper auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Seitenwand des Lieferwagens. Zwar schien sich jede Erschütterung sofort bis in ihre Wirbelsäule fortzusetzen, doch das war besser, als erneut durch einen Schlag das Bewusstsein zu verlieren.

Sie strich sich mit der Zunge über die Unterlippe und schmeckte Blut. Der dumpfe Schmerz eines Blutergusses pochte in ihrer linken Gesichtshälfte, wo sie von dem schweren Gegenstand getroffen worden war, mit dem man sie niedergeschlagen hatte. Das war das Letzte, an das sie sich noch erinnern konnte, bevor alles dunkel geworden war.

Für einen Moment schloss sie die Augen und stieß einen stummen Schrei aus, in dem sich alle Frustration, alle Angst und ohnmächtige Wut entlud. Sie ahnte, worauf das alles hinauslief, spürte das Ende, das ihr bevorstand, und wusste, dass sie nichts tun konnte, um es zu verhindern.

Schließlich stoppte der Lieferwagen mit rutschenden Reifen. Einen Augenblick später verstummte das dumpfe Grollen des Motors, und das Licht ging aus, sodass der Frachtraum in völlige Dunkelheit getaucht war.

Freya hielt den Atem an, um ihren rasenden Puls zu beruhigen, und strengte sich an, um etwas zu hören. Sie vernahm Schritte draußen, dann hörte sie das Klimpern eines Schlüsselbundes, den jemand aus der Tasche zog. Mit einem Klicken wurde das Schloss entriegelt und die hintere Tür aufgerissen. Sie quietschte in den Angeln. Kühle Nachtluft drang hinein, und Freya konnte die Feuchtigkeit auf der bloßen Haut spüren.

Eine dunkle Gestalt kletterte in den Frachtraum, starke Hände packten sie unter den Achseln und hievten sie auf die Füße. Sie konnte sich kaum widersetzen, als man sie zwang, den Lieferwagen zu verlassen und in die Dunkelheit zu gehen, die sie draußen erwartete.

Sie hatten auf einem alten, verlassenen Abbruchgelände angehalten. Freya erkannte es sofort an den hoch aufragenden Mauern einer alten Fabrik in der Ferne und dem bröckelnden Beton, unter dem verrostete Stahlarmierungen zum Vorschein kamen. Kies und lose Steine knirschten unter ihren Füßen, als man sie vom Wagen weg einen Hang hinabführte. Der Boden war tückisch, und sie verlor kurz den Halt, als die Steine unter ihr wegrutschten. Nur ihrem Entführer war es zu verdanken, dass sie nicht hinfiel, weil er sie wieder hochzog.

»So muss das nicht enden, wissen Sie. Sie müssen das nicht tun. Ich bin für Sie viel wertvoller, wenn ich am Leben bin«, sagte sie und wusste, wie sinnlos und jämmerlich ihre Worte sich anhören mussten. Wie oft schon mochte ihr Entführer genau diese Worte gehört haben, wenn verzweifelte Männer und Frauen sie in den letzten Augenblicken ihres Lebens stammelten.

Am Fuße des Hanges schimmerte dunkles, schlammiges Wasser im blassen Mondlicht. Regenwasser, das sich im Laufe der Zeit in der Vertiefung angesammelt hatte. Auf halber Höhe riss er an ihrem Arm, damit sie anhielt.

»Auf die Knie!«, befahl eine kalte, gefühllose Stimme.

Freya schluckte angestrengt, denn sie wusste, was ihr bevorstand. Es war ihr in dem Augenblick klar geworden, als sie in dem Lieferwagen zu sich kam. Man hatte sie zum Sterben hergebracht.

Sie dachte kurz darüber nach, wer wohl später ihre Leiche hier draußen finden würde. Ein Arbeiter auf dem Weg zur Schicht? Ein Kind, das hier mit seinen Freunden spielte? Jemand, der mit seinem Hund eine Runde drehte?

Sie wusste, dass es idiotisch war, darüber nachzudenken, konnte aber trotzdem nicht damit aufhören. In ihrem langen und ereignisreichen Leben hatte sie der Gefahr mehr als einmal ins Auge gesehen, sogar den Tod aus nächster Nähe miterlebt, doch trotz all dieser Erfahrungen hätte sie nie gedacht, dass ihr selbst ein solches Ende bevorstand.

Hier draußen neben irgendeinem Schlammloch zu sterben, als Unbekannte ohne Identifikationsmerkmale und ohne jeden Beistand, das wirkte völlig surreal auf sie. Es war ein Traum, ein Albtraum, die Fieberfantasie eines rastlosen Geistes.

»Nein«, sagte sie und presste das Wort durch ihre zusammengebissenen Zähne, auch wenn ihr das Herz bis zum Hals schlug. »Das werde ich nicht tun.«

Freya riss ihren Arm los und drehte sich, um ihrem Gegner ins Gesicht zu sehen. Ihre Augen glühten vor Todesverachtung. Sie wollte ihm nicht die Genugtuung geben, ihr von hinten eine Kugel durch den Kopf zu jagen.

»Schau mir in die Augen, du Feigling«, sagte sie und starrte ihn an. »Schau mir in die Augen, wenn du abdrückst.«

Falls sie erwartet hatte, mit ihren Worten irgendeine Reaktion hervorzurufen, wurde sie enttäuscht. Eine Sekunde verstrich. Eine Sekunde, in der man nichts als den Hauch des Abendwindes hörte, den fernen Schrei einer Eule und das Hämmern von Freyas Herzen.

»Du hättest nicht nach mir suchen dürfen.«

Sie sah, wie sich der Lauf einer Waffe hob, erkannte den langen Aufsatz eines Schalldämpfers, der im fahlen Mondlicht schimmerte.

Freya stieß die Luft aus. »Ich hätte niemals gedacht, dass ausgerechnet du …!«

Eine Neun-Millimeter-Salve, die ihre Brust durchschlug, brachte sie zum Verstummen, bevor sie ihren Satz beenden konnte. Sie stieß ein ersticktes, fast überrascht klingendes Röcheln aus, dann fiel sie nach hinten und sackte zu Boden. Ihr Körper rutschte den steinigen Abhang hinunter und blieb schließlich in der großen Pfütze liegen.

Freyas letzter Gedanke, bevor sie ins Dunkel sank, war ein einfaches, tiefes Bedauern.

Ryan, es tut mir leid.

George-Washington-Universitätsklinik, Virginia

Wie die meisten Menschen hatte Drake nur wenig für Krankenhäuser übrig. Er hatte im Verlauf seiner Karriere reichlich Zeit in ihnen verbracht, weil er mehrfach im Einsatz verwundet worden war, und verknüpfte keine angenehmen Erinnerungen mit diesen Aufenthalten.

Heute ging es jedoch nicht um ihn, denn sein Besuch galt einem Freund.

»Weißt du, es ist völlig egal, wie viele Schönheitsoperationen du noch über dich ergehen lässt«, sagte er mit aufgesetzter Jovialität, als er das Privatzimmer betrat. »Du wirst immer ein hässlicher Mistkerl bleiben.«

Dan Franklin, gegenwärtig Chef der Abteilung für Spezialeinsätze der Agency und ein Mann, den Drake schon seit Langem zu seinen besten Freunden zählte, saß, von einigen Kissen gestützt, aufrecht im Bett und zappte beiläufig durch die Kanäle des an der gegenüberliegenden Wand befestigten Fernsehers. Er wirkte so gelangweilt und lustlos wie nur irgend möglich, schien bei Drakes Ankunft jedoch sofort aufzuleben.

»Oh Mist. Und ich hatte gerade überlegt, wie viele Leute ich umlegen würde, nur um ein interessantes Gespräch führen zu können. Bitte schick doch jemanden vorbei, wenn du wieder gehst, okay?«

Drake grinste über die scherzhafte Attacke, doch er konnte sehen, wie sich der Schmerz in die Gesichtszüge seines Freundes eingegraben hatte. Er schien in den letzten Jahren zu seinem dauerhaften Begleiter geworden zu sein, und man konnte immer weniger darüber hinwegsehen, welchen Preis er dafür zahlen musste.

»Wird erledigt.« Drake griff in die mitgebrachte Plastiktüte und legte einige Ausgaben der Time und der Newsweek auf den Nachttisch. »Hier, damit solltest du dich eine Zeit lang beschäftigen können. Darin findest du aber auch ein paar komplizierte Wörter – also, wenn du nicht weiterkommst, kannst du ruhig eine Krankenschwester rufen, damit sie dir hilft.«

Franklin verzog das Gesicht. »Eigentlich hatte ich nicht vor, so lange hierzubleiben.«

Drake zog einen Stuhl heran und setzte sich ihm gegenüber.

»Aber jetzt mal im Ernst: Wie geht es dir, mein Freund?«, fragte er und besah sich Dan zum ersten Mal seit langer Zeit genauer. Fast überrascht stellte Drake fest, dass er sichtlich gealtert war. Franklin war nur ein paar Jahre älter als er selbst, sah aber aus, als wären es mindestens zehn. Da waren Falten an den Mundwinkeln und rings um die Augen, die es dort vor wenigen Jahren noch nicht gegeben hatte. Das dunkelblonde Haar war jetzt an den Seiten von silbrigen Strähnen durchzogen, und sein kürzlicher Gewichtsverlust ließ sein Gesicht eingefallen und ausgezehrt wirken.

Franklin zuckte die Schultern und setzte eine finstere, resignierte Miene auf. »Heute war Visite. Anscheinend habe ich die Wirbelsäule eines Neunzigjährigen mit Arthritis. Sie empfehlen eine operative Wirbelversteifung.«

Drake spürte, wie ihn der Mut verließ. Sie beide hatten früher gemeinsam in Afghanistan gedient. Damals waren sie jung und stark gewesen, hatten große Ziele gehabt und nicht davor zurückgescheut, sich mit anderen zu messen, bis ein Sprengsatz am Straßenrand Franklins Militärkarriere ein Ende setzte. Bombensplitter in seiner Wirbelsäule hatten stundenlange Operationen und Monate komplizierter Physiotherapie nötig gemacht. Am Ende litt er fast ständig an Schmerzen, die sich in den letzten Jahren noch spürbar verschlimmert hatten.

Stolz bis zum Schluss und der Therapieversuche überdrüssig, hatte er weitere medizinische Eingriffe abgelehnt, bis es nicht mehr anders ging. Erst als seine Beine taub zu werden begannen und er beim Gehen Schwierigkeiten bekam, hatte er sich schließlich dem Unvermeidbaren gebeugt und sich behandeln lassen.

»Wirst du danach wieder gesund sein?«, fragte Drake, obwohl er wusste, wie dumm und naiv eine solche Frage klingen musste – als wäre der menschliche Körper so etwas wie ein Automotor, bei dem man bloß schadhafte Teile auszuwechseln brauchte.

Franklin schenkte ihm ein müdes Lächeln. »Vielleicht, haben sie gesagt. Vielleicht. Es könnte aber auch sein, dass ich danach von der Brust abwärts gelähmt bin. Auf jeden Fall muss ich der Agency über Wochen, wenn nicht Monate fernbleiben.«

Bei diesen Worten lachte Drake tatsächlich auf. »Dan, die freie Welt wird es auch ohne dich noch ein paar Wochen schaffen. Falls du dir darüber Sorgen gemacht haben solltest, kannst du sie dir gleich wieder aus dem Kopf schlagen.«

»Und was wird dann aus dir?«, fragte Franklin jetzt mit leiser Stimme. »Wir wissen beide, was auf dem Spiel steht. Wenn ich hier im Krankenhaus herumliege, kann ich dich nicht schützen.«

Drake war sich nur zu bewusst, dass der Mann hier vor ihm der einzige Grund war, der Cain in den letzten paar Jahren davon abgehalten hatte, ihn ermorden zu lassen. Sie hatten sich darauf eingelassen, über Cains Beteiligung an der Entführung amerikanischer Drohnen und der anschließenden Ermordung unschuldiger Zivilisten Stillschweigen zu bewahren, und auf diese Weise einen wackligen Status quo aufrechterhalten. Doch allmählich wurde beiden Parteien klar, dass das so nicht ewig weitergehen konnte.

Falls Franklin etwas zustieß, würde es nicht mehr lange dauern, bevor sich das Fallbeil über ihm senkte.

Drake beugte sich vor und blickte seinem Freund fest in die Augen. »Alter Freund, jetzt hör mir mal ganz genau zu. Es geht hier überhaupt nicht um mich. Es hat nichts mit der Agency zu tun oder mit Cain oder mit sonst irgendwas – es geht hier nur um dich. Es geht dir schlecht, das kann ich sehen, und du brauchst Hilfe. So kannst du nicht weitermachen. Also kümmere dich in Gottes Namen darum, dass sie dich wieder hinkriegen, bevor es zu spät ist. Alles andere kann warten.«

Franklin schluckte und sah einen Augenblick lang zur Seite. »Das ist nicht der einzige Grund, Ryan«, gab er zu. »Seit diese Sache passiert ist, habe ich das Gefühl, von geborgter Zeit zu leben. So als würde eine Bombe in mir ticken, die jeden Tag hochgehen könnte. Ich habe ständig damit gerechnet. Und wenn wir schon mal dabei sind: … Mir geht der Arsch auf Grundeis. Nicht weil ich sterben könnte, sondern weil ich als Krüppel leben und für den Rest meiner Tage in einen Beutel pissen und mich von den Leuten bemitleiden lassen müsste. So kann ich nicht leben. Ich habe … einfach nicht die Kraft, so etwas durchzustehen.«

Drake litt entsetzlich am Zustand seines Freundes. Er teilte dessen Begeisterung für neue Herausforderungen und konnte die Frustration nachempfinden, mit der er seine körperlichen Kräfte langsam schwinden sah. Aber ganz tief in seinem Innern verspürte er etwas anderes: Schuldgefühle. Schuldgefühle, weil Franklin und nicht er selbst dran glauben musste. Schuldgefühle, dass es das Humvee seines Freundes gewesen war, das den Sprengkörper ausgelöst hatte. Schuldgefühle, weil Franklin seine Operation aus Loyalität und Pflichtgefühl so lange aufgeschoben und Drake so wenig unternommen hatte, um es wiedergutzumachen.

Was sollte er dem Mann noch sagen? Würde er selbst wohl den Mut aufbringen, sich der Operation zu unterziehen, nach der er vielleicht für den Rest seines Lebens gelähmt war? Welchen Trost konnte er ihm anbieten?

»Du hast es verdient, wieder anständig leben zu können, mein Freund«, sagte er schließlich. »Und wenn dies deine beste und einzige Chance ist, es zurückzubekommen, dann gibt es doch gar nichts zu überlegen, oder?«

Franklin blickte ihm lange in die Augen, als würde er mit sich selbst um eine Entscheidung ringen. Dann griff er zögernd nach den Zeitschriften, die Drake ihm mitgebracht hatte.

»Jetzt wollen wir doch mal sehen, was du mir da für einen Schund mitgebracht hast«, gab er schließlich nach. Seine Stimme hatte einen Unterton von grimmiger Entschlossenheit. »Vielleicht kann ich sie ja doch gebrauchen, wenn ich noch eine Weile hierbleibe.«

Drakes Stimmung war alles andere als heiter, als er abends in seine Wohnung in Fairfax zurückkehrte, nur wenige Kilometer westlich von Washington, D.C. Er hatte unterwegs haltgemacht, um einen Kasten Bier und so viele Burger, Steaks und Würstchen einzukaufen, dass sie für eine kleine Armee ausgereicht hätten, worauf es im Grunde auch hinauslief.

Ein geschäftiger Tag in Langley, der auf seinen Besuch bei Franklin gefolgt war, hatte seinen Zeitplan durcheinandergebracht, sodass er verspätet in seine Einfahrt bog. Er stöhnte überrascht auf, als er feststellte, dass bereits zwei Autos und ein Motorrad vor seinem Haus parkten.

»Mist.«

Von den Fahrern war keine Spur zu entdecken, und er fragte sich kurz, ob seine Teamkollegen die ganze Sache inzwischen abgeblasen und sich stattdessen zur nächsten Bar aufgemacht hatten. Nachdem er den Motor ausgeschaltet hatte und ausgestiegen war, verriet ihm jedoch die dröhnende Musik, die aus der Richtung des nach hinten gelegenen Gartens kam, dass sie sich entschlossen hatten, schon ohne ihn mit der Party zu beginnen.

Er stapelte das eingewickelte Junkfood vorsichtig auf den Bierkasten auf dem Beifahrersitz, hob alles hoch, hastete damit seitlich ums Haus herum und stieß das Gartentor mit dem Fuß auf.

Wie nicht anders zu erwarten, waren Cole Mason, Samantha McKnight und Keira Frost bereits auf dem verwahrlosten Rasenstück versammelt, das er seinen Garten nannte. Sie hatten sich mit Drinks versorgt. Die Hintertür des Hauses stand sperrangelweit offen, und auf einem wackligen Stuhl stand seine Stereoanlage aus der Küche, von der ein Kabel ins Haus führte.

»Ja, sieh mal einer an, wer uns da noch die Ehre gibt!«, sagte Mason, als er Drake entdeckte. Er salutierte spöttisch mit seinem Bier. »Wie nett von dir, so spät noch zu deiner eigenen Party aufzukreuzen, Mann. Ich wollte gerade beim Lieferservice etwas zu essen bestellen.«

»Und ich wollte gerade deinen Kühlschrank plündern«, schaltete sich Frost ein.

»Wie es aussieht, habt ihr schon angefangen«, erwiderte Drake und blickte auf das Bier, das sie sich anscheinend auch schon ohne sein Zutun verschafft hatten. »Ich kann mich nicht erinnern, euch einen Schlüssel gegeben zu haben.«

Die junge Frau zuckte völlig unbeeindruckt mit den Schultern. »Einzubrechen ist schließlich unser Job. Was bei dir übrigens ziemlich leicht war. Du solltest mal jemanden einen Blick auf dein Sicherheitssystem werfen lassen.« Sie nahm einen kräftigen Schluck Bier, wie um ihre Aussage zu bekräftigen. »Ach übrigens, deine Musiksammlung ist dermaßen öde, das ich aufs Radio zurückgreifen musste.«

Drake neigte den Kopf und lauschte dem Geplärre der Black Eyed Peas. »Und so was hören sich die Kinder heutzutage an?«, erkundigte er sich mit einem spöttischen Grinsen.

Er sah, wie bei seinen anzüglichen Worten ihre Augen zornig aufblitzten. »Woher zum Teufel soll ich das wissen, Ryan?«

Keira Frost war Anfang dreißig, doch sie war so klein und zierlich, dass sie deutlich jünger wirkte. Zu ihrem großen Verdruss fragte man sie oft nach ihrem Ausweis, wenn sie Alkohol kaufen wollte – ein Umstand, über den sich Drake immer wieder aufs Neue köstlich amüsierte und mit dem er sie gerne bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit aufzog.

»Jedenfalls warst du es, der die Sache hier angezettelt hat«, erinnerte sie ihn. »Und dann verschwindest du einfach und gehst nicht mehr ans Handy. Was ist passiert?«

Drake blickte betroffen zur Seite. Er hatte sein Handy im Krankenhaus ausgeschaltet und musste vergessen haben, es wieder einzuschalten. »Ich habe Dan besucht.«

McKnight kam einen Schritt näher. »Wie geht es ihm?«

»Frag mich das in ein paar Tagen, wenn er aus der Chirurgie herauskommt«, erwiderte er und aktivierte sein Handy wieder.

»So schlimm, hmm?«, fragte Mason. Er war selbst an der Front verwundet worden und hatte sich einer schwierigen und langwierigen Therapie unterziehen müssen, deshalb verstand er Franklins Situation besser als die meisten anderen.

Drake verzichtete auf einen Kommentar.

»Na, jedenfalls bist du jetzt hier«, sagte McKnight, die spürte, dass es ihm bei dem Thema nicht gut ging, und deshalb ein anderes anschlagen wollte. »Was meinst du: Wollen wir uns betrinken und Kalorien vernichten?«

Trotz der Anspannung, die er nach der Begegnung mit seinem Freund verspürte, konnte sich Drake ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Nach dem heutigen Tag kam ein Drink wirklich sehr gelegen.

Im Handumdrehen entzündete er das gasbetriebene Barbecue-Set, das vor der Gartenmauer stand, und packte Fleisch auf den Grill. Er hätte sich kaum als Gourmetkoch bezeichnet, doch selbst er kam ohne größere Schwierigkeiten mit einem Grill zurecht, und es dauerte nicht lange, bis sich die Gruppe auf das Grillfleisch stürzte, als hätten sie alle die ganze Woche nichts zu essen bekommen.

Essen, Trinken und lockere Sprüche waren eine ausgezeichnete Kombination, und die Stimmung wurde bald entspannt und heiter. Drakes Verspätung war schnell vergessen. Bei dem feuchtfröhlichen Gelage dauerte es nicht lange, bis sie alte Geschichten von vergangenen Abenteuern zum Besten gaben. Viele davon hatten bereits öfter die Runde gemacht, aber trotz alledem schienen sie mit steigendem Alkoholpegel immer unterhaltsamer zu werden.

Selbst Drake spürte, wie er die Gesellschaft genoss, und begann zu schätzen, wie befriedigend es sein konnte, Gastgeber eines solchen Treffens mit den Teamkollegen zu sein. Es war eine Idee, die sie ihrem gefallenen Kameraden John Keegan zu verdanken hatten, der ein Jahr zuvor bei einem Einsatz in Afghanistan ums Leben gekommen war.

Keegan hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, das Team zum Dinner zu sich nach Hause einzuladen. Sei es, um den erfolgreichen Abschluss eines Einsatzes zu feiern, oder auch nur, um einen Vorwand zu haben, gemeinsam zu essen und zu trinken. Eigentlich sah das Essen, das er servierte, immer so aus, als wäre es zu lange dem Dauerfeuer eines Flammenwerfers ausgesetzt gewesen, womit er sich regelmäßig den Spott und die Häme des restlichen Teams einhandelte. Doch vielleicht hatte gerade das immer zum Gelingen des Abends beigetragen. Möglicherweise hatte es Keegan sogar genau darauf angelegt, sinnierte Drake, als er, angenehm satt und leicht angetrunken, auf der Türschwelle zum Garten saß und in den Nachthimmel hinaufblickte.

Er wurde beim Philosophieren von McKnight unterbrochen, die plötzlich auftauchte und sich neben ihn setzte.

»Und, wie lautet das Urteil?«, fragte Drake.

»Bis jetzt ist noch niemand gestorben«, räumte sie mit einem verschmitzten Grinsen ein. »Es hätte schlimmer sein können.«

Drake musterte sie. »Zu gütig. Aber ich glaube, Jamie Oliver braucht sich noch nicht nach einem neuen Job umzusehen.«

»Wer?«

»Das ist ein britischer …«, fing Drake an, besann sich dann jedoch eines Besseren. »Ach, vergiss es.«

McKnight schien sich damit zufriedenzugeben und ließ die Sache auf sich beruhen. Stattdessen nahm sie einen Schluck Bier und blickte zu Mason und Frost hinüber, die sich gerade in einer angeregten Unterhaltung befanden, die irgendwo zwischen dem gemeinsamen Nacherzählen einer Anekdote und einem ausgewachsenen Streit hin- und herzupendeln schien. Wenn man Frost kannte, wusste man, dass es wahrscheinlich ein bisschen von beidem war.

Dennoch schienen beide ihren Spaß daran zu haben.

»Danke, dass du das gemacht hast, Ryan«, sagte McKnight leise. »Dass hier alle zusammengekommen sind, das … na ja, das ist schon etwas Besonderes.«

»Ihr habt alle viel für mich getan – mehr, als ich jemals verlangen durfte.« Er deutete ein Lächeln an. »Da kann ich doch wenigstens ein paar billige Burger für euch verbrennen.«

McKnight lachte schallend darüber, aber ihr Gelächter verstummte rasch, und ihre Miene wurde wieder ernst. Sie rückte ein Stück näher und sah ihn mit ihren haselnussbraunen Augen an. »Hast du etwas von Hunt gehört?«

Drake schüttelte den Kopf. Seit seinem Treffen mit dem ehemaligen stellvertretenden Direktor in Arlington waren bereits mehrere Tage vergangen – Tage, die für sie alle ungewöhnlich ruhig verlaufen waren. Im Grunde rechnete er auch nicht damit, allzu viel von dem Mann zu hören. Schließlich hatte er klargemacht, dass er untätig bleiben würde, solange ihm Drake keine konkreten Beweise vorlegen konnte.

»Vertraust du ihm wirklich? Was ist, wenn er versucht, uns reinzulegen?«

Dieser Gedanke war ihm bereits mehrfach durch den Kopf gegangen. Obwohl er ihn penibel ausgeleuchtet hatte, trotz aller Recherchen, trotz seines persönlichen Eindrucks und trotz seines Bauchgefühls, das ihm sagte, dass Charles Hunt ein anderes Kaliber als Cain darstellte – er konnte nicht ausschließen, dass die ganze Geschichte furchtbar in die Hose gehen konnte.

»Er glaubt, dass ich allein arbeite«, sagte er, obwohl er genau wusste, dass es nicht das war, was sie von ihm hören wollte. »Ich bin der Einzige, den er reinlegen kann.«

»Du weißt aber, dass du nicht allein bist, oder?«, fragte sie nun in einem sanften und ruhigen Tonfall.

Er spürte McKnights Blick auf sich, aber er versuchte, sie nicht anzuschauen. Er wusste, dass sie mit seiner Antwort nicht zufrieden sein würde und seinen Versuch, sie zu schützen, auch für einen Ausdruck von Misstrauen halten konnte. Dennoch war diese Lösung besser als die Alternative. Solange er sich unsicher war, wie sich die Dinge mit Hunt entwickeln würden, hielt er den Rest des Teams aus der Sache heraus.

McKnight wollte gerade noch etwas sagen, doch in dem Moment spürte Drake, wie das Handy in seiner Tasche vibrierte. Er fischte es heraus. Eigentlich beabsichtigte er, das Gespräch abzuweisen, wenn es irgendetwas mit der Arbeit zu tun hatte, doch als er sah, wer ihn anrief, verzog er das Gesicht.

»Was gibt’s, George?«, meldete sich Drake, ohne sich Mühe zu geben, seine Gereiztheit zu verbergen.