Projekt Pegasus - Will Jordan - E-Book

Projekt Pegasus E-Book

Will Jordan

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Beschreibung

Das Team um den ehemaligen CIA-Operator Ryan Drake zerbricht – denn einer von ihnen ist ein todbringender Feind.

Der einstige CIA-Spezialist Ryan Drake ist ausgebrannt. Ihm fehlt die Kraft, um sein Team anzuführen. Als dann auch noch jemand in seinem Namen die Verantwortung für einen Terroranschlag übernimmt, verlässt er seine Freunde, um sie zu schützen. Doch der Anschlag war nur ein Köder, um Drake aus seinem Versteck zu locken. Anya und der Rest des Teams erkennen das und folgen Drake nach Südamerika. Sie ahnen nicht, dass ihnen ihr Feind weit voraus ist – und dass die größte Gefahr von einer Person ausgeht, der sie blind vertrauen!

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Seitenzahl: 977

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Buch

Der einstige CIA-Spezialist Ryan Drake ist ausgebrannt. Ihm fehlt die Kraft, um sein Team anzuführen. Als dann auch noch jemand in seinem Namen die Verantwortung für einen Terroranschlag übernimmt, verlässt er seine Freunde, um sie zu schützen. Doch der Anschlag war nur ein Köder, um Drake aus seinem Versteck zu locken. Anya und der Rest des Teams erkennen das und folgen Drake nach Südamerika. Sie ahnen nicht, dass ihnen ihr Feind weit voraus ist – und dass die größte Gefahr von einer Person ausgeht, der sie blind vertrauen!

Autor

Will Jordan lebt mit seiner Familie in Fife in der Nähe von Edinburgh. Er hat einen Universitätsabschluss als Informatiker. Wenn er nicht schreibt, klettert er gerne, boxt oder liest. Außerdem interessiert er sich sehr für Militärgeschichte.

Weitere Informationen unter: www.willjordanbooks.co.uk

Die Ryan-Drake-Romane bei Blanvalet:

1. Mission: Vendetta

2. Der Absturz

3. Gegenschlag

4. Operation Blacklist

5. Codewort Tripolis

6. Das CIA-Komplott

7. Kommando Black Site

8. Projekt Pegasus

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WILL JORDAN

Projekt

Pegasus

Thriller

Aus dem Englischen

von Wolfgang Thon

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel

»Downfall (Ryan Drake 8)« bei Canelo, London.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright der Originalausgabe © 2019 by Will Jordan

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Rainer Michael Rahn

Umschlaggestaltung: © Johannes Frick

unter Verwendung von Motiven von © Tom Weber,

milpictures.com und iStock.com

(© Pixzum, © Gaihong Dong, © dalebor, © Antiv3D, © klikk)

HK · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-23348-8V001

www.blanvalet.de

PROLOG

Afghanistan – 14. Januar 2011

Drake sog die kühle Morgenluft tief in seine Lunge und betrachtete die beeindruckende Landschaft, die sich vor ihm ausbreitete. Im Norden ragten die schneebedeckten Höhenzüge des Pamirgebirges in den Morgenhimmel; seine Gipfel glühten im ersten Licht des neuen Tages. Das mächtige Karakorumgebirge im Süden war noch in Schatten gehüllt. Hinter ihm lag die offene Grenze zu Pakistan.

Zwischen den beiden großen Felsmassiven mäanderte das Flusstal des Wakhan-Korridors. Über 1000 Jahre lang war dies eine wichtige Handelsstraße zwischen Ost und West gewesen, über die Gewürze und Seide aus China, aber auch Händler und Forscher aus Europa strömten. Sogar Marco Polo war bei seiner berühmten Reise in den Osten über diese Bergpfade gezogen. Jahrhunderte später wurde die Gegend zum Spielball konkurrierender Interessen zwischen Russen und Briten, zweier Weltreiche, die miteinander um die Vorherrschaft rangen, wobei Afghanistan zwischen die Fronten geriet.

Die Konflikte zogen sich über Generationen hin und bewirkten die Schließung der einst florierenden Route. Die Ostgrenze wurde abgeriegelt, und von der früher wohlhabenden Bevölkerung blieben nur noch einzelne verarmte Siedlungen übrig.

Doch trotz der dunklen Vergangenheit und belasteten Gegenwart war es eine der beeindruckendsten und schönsten Gegenden, die Drake jemals gesehen hatte.

»Ich wünschte, du könntest das sehen«, sagte er leise. »Ich habe mich immer freiwillig zur letzten Nachtwache gemeldet, um den Sonnenaufgang über den Bergen zu erleben. An einem klaren Morgen war es so ruhig und menschenleer. Man hätte fast vergessen können, dass es auf der Welt noch andere Menschen gibt.«

Er sah zu der Frau, die neben ihm stand.

»Hast du das auch so erlebt?«

Sie antwortete nicht, und er wusste, dass sie es nicht konnte. Doch er stellte die Frage trotzdem, weil er wollte, dass sie darüber nachdachte. Er wollte, dass sie sich an die Ereignisse erinnerte, die sie beide hergebracht hatten: zwei sehr unterschiedliche Leben, die beide mit diesem Ort verknüpft waren. Zwei Menschen, die an diesem wunderschönen, bedrängten und einsamen Ort gekämpft und geblutet hatten. Zwischen ihren Taten lag eine Generation, und ihre Erfahrungen waren durch zwei unterschiedliche Kriege geprägt worden.

Er wollte, dass sie darüber und über ihn nachdachte.

Dann war ein vertrautes Geräusch vernehmbar, das die Stille vor dem Morgengrauen störte: das ferne, rhythmische Dröhnen von Rotoren.

Drake war mit den akustischen Launen von Gebirgen wie diesem vertraut und wusste deshalb nicht nur, dass zwei Hubschrauber im Anflug waren, sondern auch, aus welcher Richtung sie sich näherten.

Tatsächlich tauchten die Helikopter wenige Sekunden später hinter einem steilen Felshang im Westen auf. Sie röhrten mit hoher Geschwindigkeit durch das Tal. Einer flog weiter hinten und höher, um dem ersten Chopper Deckung zu geben.

Drake erkannte sofort die breite und kompakte Form des UH-60 Black Hawk. Durchs Fernglas sah er, dass der Geleitschutz gebende Hubschrauber mit dem vollen Waffenarsenal ausgestattet war: Raketenwerfer, Luft-Boden-Raketen und rotierende Kanonen für Hochgeschwindigkeitssalven. Die beiden Chopper waren mit genug Kämpfern und Geschützen bestückt, um eine ganze Kompanie auszulöschen.

Und das alles nur seinetwegen.

Es war ziemlich wahrscheinlich, dass sie ihn und seine Begleiterin bereits ausgemacht hatten; schließlich waren sie auf der freien Ebene weithin sichtbar. Falls noch keine unbemannten Drohnen über ihnen kreisten, wäre er sehr überrascht gewesen.

Aber es war unnötig, sich auf Vermutungen zu verlassen. Er holte eine Signalrakete aus der Tasche, zielte damit in den Himmel und zog den Auslösestift.

Ein einzelnes rotes Projektil schoss in die Höhe und stieg bis auf circa dreißig Meter, bevor es zündete und Funken und orangefarbenen Rauch ausstieß, während es an seinem Miniaturfallschirm langsam zu Boden schwebte.

Die Hubschrauber änderten sofort den Kurs, der führende Chopper flog schnell auf ihn zu, während sein Begleiter wegen der schweren Bewaffnung und Panzerung etwas behäbiger den neuen Kurs einschlug.

»Das war es dann«, sagte Drake, als die Chopper immer näher kamen. »Gleich ist alles vorbei.«

Die Frau unternahm keinen Versuch, zu fliehen oder Widerstand zu leisten, als der erste Hubschrauber die Nase hochzog, die Geschwindigkeit verringerte und sie der Luftdruck der Rotoren in einen Wirbelsturm aus Staub und kleinen Steinchen hüllte.

Drake hielt sich schützend den Unterarm über die Augen und beobachtete, wie der große Chopper in etwa fünfzig Metern Entfernung langsam aufsetzte.

Das schroffe Bergland, das die östlichen Teile des Landes bestimmte, war schon immer schwer zu befrieden gewesen. Seine Berge und verwinkelten Täler boten hervorragende Bedingungen für Hinterhalte und den Guerillakrieg, mit denen die Einwohner schon seit Jahrhunderten Invasionsheeren zusetzten. Tod durch 1000 Schluchten.

Nichts anderes hatte sich seine Begleiterin zum Beruf gemacht, aber das waren andere Zeiten gewesen. Ein anderer Krieg.

Hinterhalte waren momentan jedoch das Letzte, was Drake vorschwebte. Er hatte eigens ein breites, relativ flaches Plateau ausgesucht, weil er wusste, dass ein Helikopter dort problemlos aufsetzen konnte.

Der zweite schwarze Black-Hawk-Kampfhubschrauber kreiste über ihnen. Seine Kanonen und Raketen waren feuerbereit, um jeden Feind zu dezimieren, der es wagen sollte, sich zu zeigen. Drake konnte tatsächlich beobachten, wie die Läufe der 20-mm-Kanonen immer wieder neu justiert wurden, um ihn im Visier zu behalten.

Dann wurden die Haupttriebwerke des ersten Black Hawk heruntergefahren, und Drake sah, wie eine Seitenluke aufglitt und sechs Männer in voller Kampfmontur herausstürmten und sofort die Umgebung des Landeplatzes absicherten; die Mündungen ihrer M4-Sturmgewehre schwenkten über die Felsen und Kliffs der Umgebung. Drake konnte ihre knappen Durchsagen hören, als sie einander über Funk bestätigten, dass die Umgebung sauber war.

Er rührte sich nicht vom Fleck und ließ sie ihren Job erledigen. In seinem Leben war er oft an ihrer Stelle gewesen und wusste deshalb, dass sie, vom Adrenalin aufgeputscht, nervös und gereizt waren und mit dem Schlimmsten rechneten. Es war sinnlos, einen Kampf zu provozieren, den er nicht gewinnen konnte.

Abgesehen davon achtete er kaum auf den Trupp. Es waren nur Infanteristen, die die Lage sondieren und das erste Feuer auf sich ziehen sollten, falls es dazu kommen sollte. Drake interessierte sich mehr für die kleine Gruppe, die im Chopper geblieben war und von der gepanzerten Hülle geschützt wurde, während ihre Untergebenen die Umgebung sicherten.

Sekunden verstrichen, während er darauf wartete, dass sie sich in Bewegung setzten und sich endlich der Chef dieser exzellenten Demonstration militärischer Macht zeigte.

Es geschah eine ganze Minute nach der Landung des Choppers. Die Seitentür schob sich wieder auf, und zwei Personen kamen zum Vorschein.

Zuerst stieg ein Soldat aus, der wie die anderen vor ihm aussah. Er war groß und muskulös; seine imposante Präsenz wurde von einer Kevlarweste und Gurten verstärkt, die seinen Oberkörper überzogen. Er bewegte sich mit dem natürlichen Selbstvertrauen eines Raubtiers. Dieser Mann war wie dafür geschaffen, anderen das Leben zu nehmen.

Man hätte sein Gesicht attraktiv nennen können, wäre da nicht jene auffällige Narbe gewesen, die sich auf einer Gesichtshälfte in einer einzigen durchgezogenen Linie von seinem Kinn bis über sein linkes Auge zog. Die Folge eines Messerkampfes, der zu Ende gegangen war, bevor er oder seine Widersacherin einen Sieg erringen konnte.

Der M4-Karabiner an seiner Schulter war abgesenkt, doch er hielt ihn fest in den Händen, um ihn jederzeit einsetzen zu können. Seine Miene, auf der sich so oft ein bösartiges Grinsen gezeigt hatte, war in diesem Moment kalt und versteinert. Er war hoch konzentriert.

Selbst er schien zu fürchten, was als Nächstes kommen konnte.

Jason Hawkins war hochgefährlich und Drake nur allzu vertraut, doch sie beide wussten, dass hier in Wahrheit die Frau, die er beschützte, das Sagen hatte.

Die Frau, die dem Chopper nicht mit dem standfesten sicheren Sprung eines ausgebildeten Agenten, sondern mit dem vorsichtigeren und zaghafteren Schritt einer Zivilistin entstiegen war. Die Frau, die einen teuren, maßgeschneiderten Anzug anstelle eines Tarn-Overalls trug, und die sich in ihrer Kevlarweste und der Winterjacke so unwohl zu fühlen schien, wie jeder Prominente oder Regierungsvertreter, der gezwungen war, ein Kriegsgebiet zu besuchen.

Die Miene der Frau, die ihn jetzt beobachtete, drückte eine Mischung von Vorsicht, Neugierde und Vorfreude aus. Schon ihr Anblick reichte, um bei Drake ähnliche Gefühle hervorzurufen.

Sie war groß, hatte einen dunklen Teint, und ihr schulterlanges Haar wurde von einem eleganten Seitenscheitel geteilt. Sie wirkte wie eine ruhige, präzise und bedachtsame Intellektuelle. Ihr schlanker Körperbau, der gerade Rücken und der selbstbewusste Gang kündeten von einem aktiven Leben, das kaum Schwächen zuließ. Sie musste inzwischen mindestens fünfzig sein, dennoch haftete ihr eine Alterslosigkeit an, die nicht auf Eitelkeit, Kosmetik oder Schönheitsoperationen beruhte, sondern auf einer großen inneren Stärke, Disziplin und der Entschlossenheit, sich bei allem, was sie tat, immer wieder selbst zu übertreffen.

Das Paar blieb in etwa fünf Metern Entfernung stehen. Hawkins richtete sein Sturmgewehr auf Drake. Er wollte für den Fall, dass Drake eine Sprengstoffweste anhatte oder zwei Handgranaten ohne Sicherungsstifte in den Händen hielt, kein Risiko eingehen.

»Sie wissen, wie es läuft«, sagte der große Mann. »Ich will Ihre Hände sehen. Aber schön langsam.«

Drake grinste amüsiert. »Nervös, Jason?«

»Sollte ich das sein?«

»Hängt ganz davon ab, was Sie vorhaben.«

Darauf erwiderte er nichts, hielt die Mündung aber weiterhin auf ihn gerichtet. Drake konnte jedoch sehen, wie sein Finger etwas näher an den Abzug rückte. Er suchte nur nach einer Rechtfertigung, ihn abzuknallen.

Drake ließ ihn noch einen kleinen Moment schwitzen, dann hob er die Hände, die Handflächen nach außen, die Finger ausgestreckt. Er war fast nackt zu diesem Treffen gekommen. Keine versteckten Schusswaffen, keine Messer, kein versteckter Körperpanzer, nichts, mit dem er angreifen oder sich schützen konnte.

Keine Tricks. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

»Das reicht«, herrschte die Frau Hawkins an. »Wir wollen nicht gleich auf dem falschen Fuß anfangen. Ryan ist mit den besten Absichten hergekommen, so wie wir. Nehmen Sie die Waffe runter.«

»Ryan hat uns eine Menge Probleme gemacht.«

Sie warf ihm einen scharfen Blick zu und wiederholte ihren Befehl. »Senken Sie Ihre Waffe.«

Widerstrebend gehorchte der Einsatzleiter.

Drake grinste wieder, ihn amüsierte diese Demonstration aufgezwungenen Gehorsams. Wie ein Kampfhund, der gerne zugebissen hätte, aber vor seinem Herrchen mehr Angst als vor seinem potenziellen Feind hatte. Und das sollte er auch.

Drake und Hawkins wussten beide, wozu sie imstande war.

Zufrieden nickte sie in Richtung Drakes Gefangener. »Gut, schauen wir sie uns an.«

Ihr Kopf war mit einer schwarzen Haube bedeckt, die ihr die Sicht nahm und natürlich auch ihr Gesicht verhüllte. Drake hob den Arm, nahm den Stoff und riss die Kappe mit einer schnellen, effizienten Bewegung herunter.

Es gab einen angespannten Moment, als die Haube entfernt wurde, und Drake sah, dass Hawkins trotz des Stillhaltebefehls instinktiv die Waffe hob. Er beobachtete, wie der überraschte Ausdruck, der für einen kurzen Moment im Gesicht des Mannes sichtbar wurde, sehr schnell zu einem ungläubigen Blick wurde, als er sah, wer ihm da gegenüberstand, und er schließlich begriff, was dieser Moment wirklich bedeutete.

Drake war gerade seinem Ruf gerecht geworden; er hatte darüber hinaus das Vertrauen gerechtfertigt, das ihm entgegengebracht worden war, und es hundertfach zurückgezahlt. Und er kehrte mit der größten Trophäe überhaupt zurück. Die Frau, die selbst den effektivsten Jägern der CIA immer wieder entwischt war und der Hawkins die Narbe im Gesicht verdankte, die ihn heute zierte. Die Frau, die sich bisher aus jeder Falle hatte freikämpfen können, die man ihr stellte, und jeden Versuch vereitelt hatte, sie zu vernichten.

Anya.

»Da hol mich doch der Teufel«, sagte Hawkins tonlos, und der spöttische Ton, den man von ihm kannte, kehrte zurück. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass wir uns einmal wiedersehen werden.«

Anya konnte nichts anderes tun, als ihn mit ohnmächtiger Wut anzustarren. Ihr Mund war geknebelt, ihre Hände gefesselt. Die Platzwunden und blauen Flecke in ihrem Gesicht legten Zeugnis davon ab, dass sie sich nicht kampflos ergeben hatte. Und da stand sie nun und hatte keine Chance mehr; alle ihre Karten waren ausgereizt, ihre Zeit war abgelaufen.

Anya war von dem Mann geschlagen worden, dem sie mehr als jedem anderen vertraut hatte.

»Oh, Ryan«, flüsterte die ältere Frau und schüttelte ungläubig den Kopf, als sie die gefesselte und geknebelte Gefangene musterte, die vor ihr stand. »Schön, dass Sie wieder zurück sind.«

Drake lächelte triumphierend, als er die Haube wegwarf.

»Schön zurückzukehren, Elisabeth.«

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ERINNERUNG

1953 startete die CIA ein streng geheimes Projekt namens MK-Ultra, um den Einsatz von psychoaktiven Drogen, psychischer Konditionierung und Hypnose zum Zwecke der Gedankenkontrolle, zur Informationsgewinnung und für psychische Folter zu erforschen. Das Programm wurde 1973 offiziell eingestellt.

Kandidat B-16 wartete auf sie, als die Tür aufglitt und in der Wand verschwand. Sie betrat den stillen, leeren Raum dahinter. Dort saß er geduldig an dem Metalltisch im Zentrum des perfekt quadratischen, weißen Würfels. Noch eine leere Leinwand, die darauf wartete, von ihr bemalt zu werden.

Der hier sieht vielversprechend aus, dachte sie. Sie hatte seine Akte gelesen und seine Beurteilungen analysiert, doch sie wartete mit ihrem endgültigen Urteil immer, bis sie die Gelegenheit hatte, von Angesicht zu Angesicht mit ihnen zu reden. Dreißig Jahre alt, in exzellenter körperlicher Verfassung, intelligent und von schneller Auffassungsgabe. Ein Mann im Zenit seines Lebens und auf dem Gipfel seiner körperlichen Leistungsfähigkeit.

Doch sie würde ihm dabei helfen, noch viel mehr zu werden.

»Guten Morgen, Kandidat«, sagte sie und glitt auf einen Stuhl, der ihm gegenüberstand. Ihre Stimme wurde auf eine merkwürdige Weise von den schallschluckenden Materialien gedämpft, mit denen sämtliche Oberflächen überzogen waren, die alle Umgebungs- und Störgeräusche herausfiltern sollten, damit sie wirklich ungestört sein konnten.

Er sah sie an. Seine Miene war weder feindselig noch freundlich. Er schätzte sie ab, so wie auch sie ihn abschätzte. »Eigentlich ist Nachmittag.«

Das ignorierte sie.

»Dies hier wird unsere erste gemeinsame Sitzung sein. Die erste von vielen, hoffe ich. Für uns ist es die Gelegenheit, einander … etwas besser kennenzulernen. Bevor wir anfangen, möchte ich Ihnen gern ein paar Fragen stellen, und es ist wichtig, dass Sie sie vollständig und wahrheitsgemäß beantworten. Geht das in Ordnung?«

Er zuckte mit den Schultern. »Fragen Sie.«

Sie lächelte kühl und legte einen Aktenordner auf den Tisch. Darin befand sich eine Zusammenfassung sämtlicher Aspekte der Persönlichkeit dieses Mannes, systematisch zusammengestellt, analysiert und auf Daten, Tabellen, trockene Fakten und Zahlen heruntergebrochen. Sie hatte eine Auswahl vorformulierter Fragen, aus der sie sich bedienen konnte, aber die brauchte sie nicht. Sie hatte die Liste selbst geschrieben und kannte jede einzelne Frage auswendig.

»Welches Datum haben wir heute?«

»Den 4. Februar 2002.« Kein Zögern, keine Schwierigkeit, sich zu erinnern. Noch nicht, jedenfalls.

»Und wer ist der Präsident der Vereinigten Staaten?«

»Ist das Ihr Ernst?«

»Beantworten Sie die Frage, Kandidat.«

Er stöhnte ungeduldig. »Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, war es George W. Bush.«

»Gut.« Selbstbewusst, ein bisschen trotzig und ungeduldig, wenn es um Trivialitäten ging, genauso wie sein psychologisches Profil es erwarten ließ. »Wissen Sie, wo Sie sind?«

»Fort Bragg, North Carolina.« Er legte den Kopf schräg. »Wollen Sie auch noch meine Lieblingsfarbe wissen, Doktor?«

»Ich stelle hier die Fragen.« Sie beugte sich etwas nach vorn und beobachtete seine Reaktionen genau. »Können Sie mir sagen, weshalb Sie hier sind?«

»Ich soll mit dem Training für eine neue Spezialeinheit beginnen, die gerade zusammengestellt wird. Aber bisher habe ich nur in Krankenhäusern und Gummizellen herumgesessen. Also habe ich entweder den Verstand verloren, und das alles ist nur eine Riesenfarce, oder es gibt etwas, dass ihr mir nicht erzählt.« Er beugte sich jetzt auch nach vorn und nahm ihre Haltung ein. »Das ist meine Story. Aber jetzt erzählen Sie mir doch einmal, weshalb Sie hier sind?«

Sie lächelte wieder und sah ihn über den Tisch hinweg an. Die angespannte Haltung, der kraftvolle Körper, die leuchtend grünen Augen, die sich auf sie fokussierten. Der wache und überlegene Verstand, der sie zu durchschauen versuchte.

Nun, er würde sie noch früh genug verstehen. Dafür wollte sie sorgen.

»Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, Kandidat«, erwiderte sie. Ja, der hier ist bestens geeignet, befand sie. »Ich bin hier, um mehr aus Ihnen herauszuholen, als Sie sich jemals hätten träumen lassen. Und ich glaube, wir werden sehr gut miteinander auskommen.« Sie griff nach dem Ordner, der vor ihr lag, und klappte ihn auf. »Also, fangen wir an.«

1

CIA Hauptquartier, Langley – 8. Januar 2011

Als amtierendem CIA-Direktor widerfuhr es Marcus Cain dieser Tage eher selten, dass man ihn zu einem Meeting einbestellte. In Wirklichkeit gab es jetzt in der Agency nur einen Einzigen, der die Autorität besaß, ihn zu sich zu zitieren.

Dieser Mann war Generalinspektor Frank Hogarth.

In den vergangenen sechs Monaten hatten Hogarth und ein eigens zusammengestelltes Team aus seiner Abteilung wegen des plötzlichen Todes von Cains Vorgänger Robert Wallace ermittelt. Das Justizministerium und das FBI hatten selbstverständlich eigene Ermittlungen angestellt, aber die Bestimmungen und der Stolz verlangten, dass die CIA selbst überprüfte, ob alles mit rechten Dingen zugegangen war. Es war schließlich nicht alltäglich, dass ihr ranghöchster Mitarbeiter im Dienst starb.

Heute war der Tag, an dem Hogarths Team seinen Abschlussbericht vorlegte.

»Direktor Cain, danke, dass Sie vorbeigekommen sind«, sagte Hogarth, erhob sich von seinem Stuhl und umrundete den kleinen Konferenztisch, um Cains Hand zu schütteln.

Hogarth war alles andere als groß, Cain überragte ihn sogar gute fünfzehn Zentimeter. Er war kurz und stämmig, versteckte sein rundes Gesicht hinter einem dichten Bart und einer Drahtbrille; sein lockiges dunkles Haar hatte sich auf ein paar ausgedünnte drahtige Strähnen oben auf dem Kopf reduziert. Hogarth wirkte wie der Filialleiter einer Bank irgendwo auf dem Land, der gemütlich seinen Ruhestand abwartete, ohne weiter aufsteigen zu wollen. Cain kannte ihn bereits seit vielen Jahren, seit mehr Jahren, als er sich erinnern mochte, und obwohl er ihre Beziehung als ziemlich herzlich einschätzte, war ihm stets bewusst, dass man Hogarth keinesfalls unterschätzen durfte.

Er war geradezu obsessiv detailversessen, und wenn es um Ermittlungen bei möglichem Fehlverhalten ging, überließ er absolut nichts dem Zufall. Jede Zeugenaussage und jedes Beweisstück wurden gnadenlos abgeklopft, sämtliche Schwächen in der Beweisführung ausgeleuchtet und gegengecheckt. Und politischer Druck oder Bestechung hätten ihn niemals dazu bringen können, eine Untersuchung zu beschleunigen oder einzuschränken.

»Ist mir wie immer ein Vergnügen, Frank«, log Cain, dem durchaus bewusst war, wie viel von dem abhing, was heute in diesem Raum geschah.

Formal war der CIA-Direktor Hogarths Vorgesetzter und dieser eigentlich Cain unterstellt. Aber ihm waren bei seiner Aufgabe, potenzielle Verbrechen, Korruption oder Fehlverhalten innerhalb der Agency zu ermitteln, praktisch keinerlei Grenzen gesetzt, sodass er Zugang zu jeder Person, jeder Abteilung oder Information hatte, die er für relevant hielt. Wenigstens in diesem Zimmer hatte Hogarth mehr zu sagen als Cain.

Erschwerend kam hinzu, dass Cain trotz seines ausgedehnten Netzwerks von Informanten und loyalen Untergebenen in der Agency vergeblich versucht hatte, dunkle Flecken bei Hogarth zu entdecken: keine Leichen im Keller, nichts, das sich als Druckmittel einsetzen ließ. Er war als eine Ausnahmeerscheinung innerhalb der Welt der Geheimdienste sowohl unbestechlich als auch unantastbar, was ihn extrem gefährlich machte.

»Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte Hogarth, nahm sich wieder einen Stuhl und setzte sich seine Lesebrille auf, um in die Akte zu sehen, die aufgeschlagen vor ihm lag. Ein zweiter Beamter, sein Adjutant, hatte ebenfalls Platz genommen. Er sollte dem Treffen als Zeuge beiwohnen.

Cain hätte ebenfalls einen Vertreter seiner Wahl mitbringen können, doch er hatte das Angebot zurückgewiesen. Je weniger Menschen dabei waren, desto besser.

»Ich würde am liebsten gleich zur Sache kommen, wenn Sie nichts dagegen haben.« Als Hogarth über den Rand seiner Brille blickte, fügte Cain hinzu: »Ich habe auf dem Schreibtisch noch einen Stapel von Berichten, die ich durcharbeiten muss.«

Der Generalinspektor lächelte, aber das Lächeln erreichte seine eingesunkenen Augen nicht. »Gut, wir werden versuchen, die Sache schmerzlos über die Bühne zu bringen.« Er sah zu seinem Adjutanten hinüber und fügte hinzu: »Steven, schalten Sie bitte das Tonbandgerät ein.«

Sämtliche Befragungen, denen sich Cain zuvor unterzogen hatte, waren auf die gleiche Weise aufgezeichnet worden. Er hatte freiwillig an ihnen teilgenommen, deshalb war der Ton nicht so scharf gewesen wie bei einer offiziellen Befragung, dennoch hatte man ihm mit einigen Fragen sehr auf den Zahn gefühlt. Cain war der Letzte, der Direktor Wallace lebend gesehen hatte, weshalb die Untersuchung zum Tod des Mannes sich auf ihn konzentriert hatte.

Sobald der Digitalrekorder lief, erhob Hogarth die Stimme und schlug einen offizielleren Ton an. »Fürs Protokoll: Besprechungstermin S1224/7, Präsentation der Untersuchungsergebnisse und Empfehlungen. Heute ist der 9. Januar 2011. Anwesend sind der amtierende Direktor Marcus Cain, Generalinspektor Frank Hogarth und Sonderermittler Steven Burke.«

Nach dieser kleinen Einleitung, die den Formalitäten Genüge tat, wandte sich Hogarth an Cain. »Also, Direktor Cain, den Bestimmungen nach sollte dieses Treffen von einem Beamten geleitet werden, der mindestens eine Rangstufe höher steht als der Mann, dem diese Untersuchung gilt. Das ist nicht möglich, da Sie zurzeit der amtierende Direktor sind. Wollen Sie deshalb bitte für die Akten bestätigen, dass Sie in diesem Fall auf die Einhaltung dieser Regel verzichten.«

»Das tue ich«, pflichtete Cain bei.

»Gut, dann können wir weitermachen.« Hogarth sah in den Ausdruck des Berichts, der vor ihm lag, und las vor: »In der Sache der Sonderermittlung 224 wegen des Todes des früheren CIA-Direktors Robert Wallace ist das Ermittlerteam zu dem Schluss gekommen, dass es am Schauplatz seines Todes einige Anomalien bei den forensischen Befunden gab. Diese Anomalien werden im Abschnitt 3 des Berichts zusammengefasst. Das Ermittlerteam stellte außerdem kleinere Unstimmigkeiten in den Zeugenaussagen des amtierenden Direktors Marcus Cain fest, was den Gesundheitszustand von Direktor Wallace zum Zeitpunkt ihres letzten Treffens anbetrifft, das an seinem Todestag etwa gegen 14 Uhr stattfand. Diese Unstimmigkeiten werden in Abschnitt 4 zusammengefasst.«

Cain spürte seine zunehmende Anspannung, als Hogarth fortfuhr. Er hatte jeden möglichen Schritt unternommen, um Wallaces Tod wie einen Unfall aussehen zu lassen, er hatte ein Putzteam damit beauftragt, seine Leiche sicherzustellen, sie zu präparieren und so in Szene zu setzen, dass es aussah, als wäre der Mann bei einem Autounfall gestorben. Aber solche Dinge mussten naturgemäß in aller Eile erledigt werden, bevor das Opfer vermisst gemeldet und eine Suche gestartet wurde. Und im Fall eines hochrangigen Regierungsbeamten wie Wallace war die Zeit wirklich ihr Gegner gewesen.

Im Gegensatz dazu verfügten Hogarth und seine Leute über alle Zeit der Welt, um jedes Detail genau zu untersuchen, jede Faser und jedes kleine Beweisstück zu analysieren. Sie mussten unweigerlich Schwachstellen in der Geschichte finden. Jede Täuschung, ganz gleich, wie gut sie konstruiert war, brach irgendwann zusammen, wenn man nur lange genug daran rüttelte und darin herumstocherte. Jetzt blieb nur noch die Frage, ob eine der Schwachstellen gravierend genug war, um die Geschichte zu untergraben, die er konstruiert hatte.

Hogarth machte eine Pause, weil er wusste, dass dies der kritische Moment war.

»Wenn all diese Faktoren berücksichtigt werden, ergibt sich aus keiner dieser Ungereimtheiten eine überzeugende alternative Erklärung für den Tod von Direktor Wallace. Zieht man außerdem den persönlichen Verlust in Betracht, den Direktor Cain kurz vor dem Zwischenfall erlitt, wäre es unangemessen, von ihm zu erwarten, dass er sich perfekt an alle Vorkommnisse erinnerte«, kam er zum Schluss und nickte Cain ganz leicht zu.

»Aus diesen Gründen kommt diese Untersuchung zu dem Schluss, dass Direktor Wallace kurz nach seinem Treffen mit Direktor Cain einen schweren Herzinfarkt erlitt, die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor und in eine Schlucht stürzte, die parallel zu der Straße verlief, die er zu jenem Zeitpunkt befuhr. Diese Hypothese passt zu den Ergebnissen der Autopsie, die kurz nach seinem Tod durchgeführt wurde, und zu den medizinischen Beurteilungen bezüglich der Gesundheit von Direktor Wallace in den Monaten, die seinem Tod vorangingen und darauf schließen lassen, dass er wegen seines Amtes sehr angespannt und gestresst war. Seine Todesursache wurde als eine Kombination des eingangs erwähnten Herzinfarkts und stumpfer Gewalteinwirkung bestimmt, die durch den Unfall hervorgerufen wurde. Unsere Untersuchung entspricht deshalb den Ergebnissen unserer Kollegen beim FBI, dass es sich bei Direktor Wallace’ Tod um einen Unfall gehandelt hat. Wir empfehlen, zu diesem Zeitpunkt keine weiteren Untersuchungen durchzuführen.«

Er legte seinen Bericht auf den Tisch und betrachtete Cain kühl und abschätzend. »Haben Sie diesen Erkenntnissen etwas hinzuzufügen, Direktor Cain?«

Cain schüttelte den Kopf und achtete darauf, eine neutrale Miene zu präsentieren. Jetzt auch nur das geringste Anzeichen von Erleichterung zu zeigen hätte Hogarth durchaus Anlass geben können, seine Erkenntnisse zu überdenken.

»Es sei vermerkt, dass Direktor Cain die Frage verneint hat.« Hogarth zog eine Braue hoch, dann fügte er hinzu: »Und sind Sie mit der Empfehlung dieses Untersuchungsberichtes einverstanden?«

»Das bin ich.«

»In diesem Fall ist die Angelegenheit für uns erledigt, Sir. Sämtliche Erkenntnisse der Ermittlungen befinden sich in dem Bericht, der vor Ihnen liegt. Falls Sie noch weitere Fragen dazu haben, setzen Sie sich bitte mit meinem Büro in Verbindung. Das Meeting endete gegen 10:30 Uhr.«

»Wie immer gute Arbeit, Frank«, sagte Cain und stand auf. Er hielt den Bericht, der mehrere Hundert Seiten umfasste, unter seinen Arm geklemmt. Beide wussten, dass er ihn nie von vorne bis hinten durchlesen würde, aber Hogarth war der Typ von Mann, der keinen i-Punkt ausließ, auch wenn niemand jemals einen Blick darauf warf. »Richten Sie Ihrem Team meine Anerkennung aus.«

»Das werde ich, Marcus. Aus dem Mund des amtierenden Direktors bedeutet das eine Menge«, bemerkte Hogarth, der jetzt einen etwas lockeren Ton anschlug, weil es nicht mehr um Offizielles ging. Cain war jedoch nicht entgangen, dass er das Wort »amtierend« betonte, um ihn daran zu erinnern, dass er sein neues Amt keineswegs dauerhaft bekleidete. Aber das war eine Auseinandersetzung, an der er heute kein Interesse hatte.

Er wollte gerade aufbrechen, als Hogarth einen Schritt näher kam und mit leiser Stimme sagte: »Da ist nur eine Sache, die mich noch … stört.«

»Tatsächlich? Was denn?«, fragte Cain und heuchelte unschuldiges Interesse.

»Ach, nichts Besonderes. Nur eine jener offenen Fragen, die wir nie vernünftig klären konnten. Ich meine, davon steht nichts in den Akten …«

Er stocherte herum; Cain spürte einen Anflug von Wut auf den stämmigen Mann, der einfach nicht lockerlassen konnte. Selbstverständlich hätte er das Gespräch an dieser Stelle abbrechen, sich entschuldigen und weggehen können, als ob nichts geschehen wäre. Es war aber geschehen. Und er wusste, dass ein solch abrupter Abgang bei Hogarth Zweifel schüren konnte. Nur eine kleine Spur davon, kaum wahrnehmbar, doch im Laufe der Zeit hätte er immer stärker werden können.

Ihm blieb keine andere Wahl, als sich jetzt damit zu befassen.

»Schießen Sie los.«

»Nun, es geht um Wallace’ Privatsekretärin«, räumte Hogarth ein. »Sie gehörte zu den letzten Menschen, die mit ihm gesprochen haben, bevor er sich am Tag seines Todes in Langley abmeldete. Er hat ihr aufgetragen, für den Rest des Nachmittags keine Gespräche mehr zu ihm durchzustellen, und erzählt, dass er für einige Zeit nicht in der Stadt sein würde.«

Cain zuckte mit den Schultern. »Das klingt logisch. Er kam, um sich mit mir zu unterhalten. Ich glaube, er wollte nicht gestört werden.«

»Genau, aber was mich beschäftigt, ist die Anweisung, die er ihr danach gegeben hat. Er sagte ihr, dass er für den Folgetag möglicherweise ein Treffen mit dem NSA-Direktor anberaumen müsse. ›Je nachdem, wie die Sache läuft.‹ So lauteten seine Worte. Haben Sie eine Ahnung, was er damit gemeint haben könnte?«

Cain ahnte, was der Chefermittler dachte. Hogarth war bekannt, dass die beiden Männer eine turbulente Arbeitsbeziehung hatten, und er argwöhnte, dass hinter ihrem Treffen mehr als nur ein einfacher Privatbesuch stand. Aber er konnte es nicht beweisen. Er tastete nur herum und gab Cain einen letzten Stups, um herauszufinden, ob er vielleicht ins Trudeln geriet.

Cain schaffte es, einen geduldigen, verständnisvollen Gesichtsausdruck aufzusetzen. »Das sind wir doch schon bei meiner Abschlussbesprechung durchgegangen, Frank«, stellte er ruhig und sachlich fest. »Wie ich es bei meiner Stellungnahme bereits darlegte, sprachen wir nicht über die Arbeit. Er kam, um mir zum Tod meiner Tochter zu kondolieren.« Cain riss sich zusammen und ausnahmsweise war sein schmerzerfüllter Gesichtsausdruck nicht ganz und gar geheuchelt. »Er sagte, ich solle mir so viel Auszeit nehmen, wie ich brauche. Dann ist er gegangen. Da habe ich ihn zum letzten Mal gesehen.«

Hogarth musterte ihn, dann nickte er und spreizte die Hände in einer abschließenden abwiegelnden Geste. »Na schön, wie ich schon sagte, es ist nur eines von diesen kleinen Dingen.«

Cain legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es gibt nicht auf jede Frage eine Antwort, Frank. Das wissen wir beide.«

Dann zog er die Hand wieder zurück, drehte sich um und ging mit dem Ordner unter dem Arm aus dem Zimmer. Er war fest entschlossen, ihn so bald wie möglich wegzuwerfen. Die Untersuchung war abgeschlossen, und er war endlich von jeglichem Verdacht freigesprochen. Jetzt konnte er den ganzen Mist hinter sich lassen und sich auf die eigentliche Arbeit konzentrieren, die vor ihm lag.

Mehr wollte er gar nicht.

2

Zürich, Schweiz

Alex Yates rannte. Er stampfte den verschneiten Hang hinauf, seine Beine trieben ihn mit grimmiger, fast verbissener Entschlossenheit voran. Das leise Knirschen des Neuschnees unter seinen Stiefeln mischte sich mit seinem Keuchen, als er gierig die frische, kalte Luft in seine Lunge saugte. Unter der schweren Winterjacke schwitzte er bereits, weil er seinem Körper mehr und mehr abverlangte und sich weigerte, der brennenden Erschöpfung in seinen Muskeln nachzugeben.

Da!

Er machte rechts von sich ein Ziel aus, wirbelte herum und ließ sich auf ein Knie fallen. Dann drückte er die MP5- Maschinenpistole an seine Schulter. Der auf den Lauf geschraubte, klobige Schalldämpfer machte sie schwerer, und sie war nicht mehr so gut ausbalanciert, wie es eigentlich gedacht war, doch er gewöhnte sich langsam daran, das auszugleichen.

Du musst das Ziel richtig im Visier haben. Schieß erst, wenn du bereit bist. Es ist wichtiger, gut zu schießen, als zuerst.

Sein Ziel – nichts weiter als ein Stück Papier, auf das der Umriss eines Menschen gedruckt war – schob sich ins Zentrum des stählernen Visiers seiner Waffe. Er machte sich bereit, drückte den Abzug und spürte den ratternden, markerschütternden Rückstoß, als die schallgedämpfte Waffe eine Salve von 9-mm-Kugeln ausspuckte. Das Zentrum seines Ziels verwandelte sich in ein ausgefranstes Loch, als die Kugeln hindurchschlugen, während die ausgeworfenen Patronenhülsen zischend neben ihm im Schnee verschwanden.

Gut getroffen. In Bewegung bleiben. Schneller!

Er kam wieder auf die Beine; sein Atem erzeugte weiße Wölkchen in der kalten Luft. Weiter ging es den Hügel hinauf. Schon fiel das nächste Ziel, von tödlich präzisem Feuer durchlöchert, als er weiter durch den Schnee lief. Er wurde nur langsamer, um das Magazin aus seiner Waffe auszuwerfen und ein neues einzuführen. Er konnte nicht sagen, wie viele Patronen noch im alten Magazin waren, aber nach dem Gewicht zu urteilen nicht mehr allzu viele. Es war immer besser, ein volles Magazin einsatzbereit zu haben.

Am Rand seines Blickfeldes bewegte sich etwas, und er drehte sich instinktiv danach um. Er war kurz davor abzudrücken, als er merkte, dass es nur ein Hase war, der vor dem Radau flüchtete. Das kleine Tier sprang wendig zwischen den Schneeverwehungen, in seinem weißen Fell verschmolz es bald mit dem winterlichen Gelände, schließlich verschwand es zwischen Kiefern, die den Hang säumten.

Bleib ruhig. Drück erst ab, wenn du genau weißt, was dein Ziel ist. Bewegung!

Schwitzend und keuchend setzte Alex den Aufstieg fort; immer wieder ging sein Blick nach links, nach rechts; er suchte fieberhaft nach dem nächsten Ziel.

Schon entdeckte er etwa 30 Meter weiter links nicht einen, sondern zwei Feinde. Einer kam hinter einem umgestürzten Baumstamm hervor wie ein Scharfschütze, der auf ihn feuern wollte, der andere stand rechts von ihm auf dem freien Feld.

Alex legte zuerst auf den Scharfschützen an. Es war einer von diesen harmlosen Pappkameraden, wie man sie auf Schießständen der ganzen Welt traf, mit Zielscheiben auf Brust und Kopf, um die Streuung der Schüsse zu kontrollieren. Doch Alex sah nicht einfach nur eine Schießscheibe. Das tat er nie.

Was Alex sah, war ein großer, muskulöser und mächtiger Mann. Sein Gesicht wurde von einer Narbe verunstaltet, die von seinem linken Mundwinkel ausging und sich mit einem höhnischen, abfälligen Grinsen bis nach oben zog.

Alex hob die Waffe noch einmal, nahm sein Ziel ins Visier und eröffnete das Feuer.

Zu früh! Du hast zu früh geschossen!

Seine Schüsse trafen zu niedrig, sie zersplitterten den Baumstamm, verfehlten aber das eigentliche Ziel. Er nahm es von Neuem aufs Korn, verfluchte seinen geistigen Aussetzer und verfeuerte den Rest seines Magazins in einer einzigen Salve automatischen Dauerfeuers, die ein Dutzend fingerdicker Löcher in den Karton schlug.

Klick.

Keine Munition mehr. Keine Zeit, das Magazin zu wechseln.

Er ließ die Maschinenpistole los, die an einem Gurt um seine Schulter hing, und griff nach der halbautomatischen 9-mm-Beretta an seiner Hüfte; er zog sie und ging in Schussposition. Mit dem Daumen legte er den Sicherungshebel um, wappnete sich für den Knall und den Rückstoß, dann feuerte er.

Anders als die MP5 war diese Waffe nicht mit einem Schalldämpfer versehen, und der Krach jedes einzelnen Schusses schien sich bis in seinen Schädel fortzusetzen; seine Ohren dröhnten, und der Kopf tat ihm weh. Aber das hielt ihn nicht vom Schießen ab. Wieder und wieder drückte er den Abzug, die Waffe hämmerte gegen seine Handgelenke, die Kugeln durchlöcherten sein Ziel und landeten in dem verschneiten Feld dahinter.

Aber das sah Alex nicht. Stattdessen sah er …

… den Lauf eines Sturmgewehrs, der sich auf ihn richtete. Sein Feind grinste und krümmte den Finger um den Abzug. Alex verkrampfte schreckensstarr und wartete, dass der erste Schuss seinen ungeschützten Körper traf.

Plötzlich eine Bewegung, jemand stellte sich genau in dem Moment vor ihn, als das Gewehr eine krachende Feuergarbe ausspuckte.

Die junge Frau wurde plötzlich steif und blickte überrascht auf die roten Flecken, die sich auf ihrer Brust ausbreiteten. Dann gaben langsam die Beine unter ihr nach, und sie stürzte.

»Lauren!«, schrie Alex entsetzt und …

… wütend, als er gegen das Ziel vorrückte. Die Beretta mit beiden Händen im Griff pumpte er einen Schuss nach dem anderen in seinen Gegner. Ohne auf den Krach zu achten, die Schmerzen im Handgelenk, das Herzklopfen oder die schmerzhafte Müdigkeit in seinem Körper.

Er sah den Feind mit dem vernarbten, schrägen Grinsen, das ihn verspottete, das sich über das junge Leben lustig machte, das er gerade beendet, über die Zukunft, die er gerade zerstört hatte …

Alex zuckte plötzlich zurück, als direkt vor ihm eine Gestalt hinter einem Baum hervorkam. Eine Hand schoss nach vorn und griff nach der Beretta, drückte sie nach oben und weg von seinem Ziel. Weg von seinem Feind.

»Das reicht!«, sagte Anya; ihr Befehlston war ebenso hart wie ihr ernster Gesichtsausdruck. »Feuer einstellen.«

Alex blinzelte, er schien wieder in der Realität anzukommen, als wäre er gerade aus einem Albtraum geweckt worden. Er versuchte sich zu beruhigen und wieder zu fassen.

»Ich bin okay«, erwiderte er, senkte die Waffe und sicherte sie so, wie die Frau es ihm beigebracht hatte. »Wechsle die Schießscheiben, dann mache ich es noch einmal.«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Du trainierst jetzt schon den ganzen Nachmittag, Alex. Du bist erschöpft, du musst dich ausruhen.«

»Soldaten können sich auch nicht aussuchen, wann sie kämpfen. Das hast du mir gesagt.«

Wenn es jemanden gibt, der meine eigenen Worte gegen mich wenden kann, dann wohl Alex, dachte sie. Aber das bedeutete nicht, dass er ihre Worte richtig interpretierte.

»Du bist kein Soldat. Und daran ändert sich auch nichts, wenn du dich bis zum Zusammenbruch auspowerst.«

Er hörte ihr gar nicht zu und konzentrierte sich stattdessen darauf, das leere Magazin aus der MP5 zu ziehen und ein neues aus dem Schultergurt zu holen, den er angelegt hatte. »Stell einfach die verdammten Ziele wieder auf.«

Er wollte gerade wieder den Hang hinunter, als sich Anya vor ihn stellte und ihm den Weg versperrte. »Das war kein Vorschlag«, sagte sie leise, aber bestimmt. »Das Training wird sofort beendet.«

Alex’ Frustration und Verbitterung drohten, außer Kontrolle zu geraten. Fast konnte sie die Wut und den Zorn spüren, die in ihm brodelten wie in einem Schnellkochtopf, nur ohne Ventil. Da braute sich schon seit einiger Zeit etwas zusammen, um das sie sich früher oder später kümmern musste – so viel war ihr klar.

Eigentlich konnte sie das auch sofort regeln.

»Komm mit mir zum Haus zurück«, sagte sie. »Ich will dir etwas zeigen.«

Der junge Mann zog eine Braue hoch. »Ist das ein Vorschlag?«

»Eine Einladung. Aber ich hoffe, du nimmst sie an.«

Alex fügte sich ins Unvermeidliche. »Na schön.«

Anyas Zuhause befand sich eine Viertelmeile weiter den Berg hinunter, mit Blick aufs Ufer eines Alpensees in der Nähe der Schweizer Grenze. Ein angenehmer, abgeschiedener Ort, der an klaren Tagen eine bemerkenswerte Aussicht bot und weit genug von der nächsten Stadt entfernt lag, um die dicht bewachsenen Waldgebiete als improvisierte Schießplätze nutzen zu können, ohne unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das Haus hatte in den vergangenen Jahren gute Dienste geleistet, weil es ihr nicht nur ein gewisses Maß an Sicherheit bot, sondern auch die dringend nötige Rückzugsmöglichkeit aus einer zunehmend feindseligen und chaotischen Welt.

Alex saß auf einem unbequemen Lehnstuhl in einer Ecke des Wohnzimmers, als Anya von ihrem kurzen Abstecher in den Keller zurückkehrte. Er brütete stumm vor sich hin und wirkte wie ein Schüler, der gerade wegen einer Missetat ins Büro des Schuldirektors zitiert worden war.

Anya schob einen Sessel vor ihn, griff in ihre Tasche und legte ein Foto auf seine Armlehne. Es war an den Ecken ein wenig ausgefranst und wellte sich schon leicht, aber das Bild selbst war noch ziemlich gut zu erkennen.

Es war die Fotografie einer jungen Frau in einem Kampfoverall für den Einsatz in Wüstengebieten, die mit einer Waffe im Schoß am Rand einer Sanddüne kauerte. Sie blickte in die Kamera, aber sie hatte kein charmantes Lächeln aufgesetzt. Stattdessen strahlte sie eine wilde Entschlossenheit aus, so als wollte sie gleich in die Schlacht ziehen.

Alex blickte auf das jugendliche, ernsthafte Gesicht und sah dann zu der Frau auf, die ihm gegenübersaß. Zwanzig Jahre voller Prüfungen und Entbehrungen mochten die beiden Gesichter trennen, aber die Ähnlichkeit war unverkennbar.

»Dieses Foto wurde während der Operation Desert Storm aufgenommen. Etwa ein Jahr später bin ich aus Afghanistan zurückgekehrt. Bei meiner Rückkehr wog ich keine 40 Kilo und konnte ohne Hilfe kaum einen Raum durchqueren.«

Anya lehnte sich in ihrem Sessel zurück und suchte nach den richtigen Worten, um das auszudrücken, was sie sagen musste. »Aber ich war entschlossen, wieder in den Kampf zu ziehen. Ich habe jeden Tag trainiert, ich habe so hart an mir gearbeitet, dass ich kotzen musste, habe ignoriert, was mir die Ärzte sagten, und mir eingeredet, dass ich besser sein müsste als zuvor. Ich dachte, wenn ich nur hart genug trainiere, könnte ich … alles auslöschen, was geschehen war, und es irgendwie hinter mir lassen.«

Alex blickte immer noch auf das Foto. »Warum zeigst du mir das jetzt?«

»Weil ich die junge Frau auf dem Foto gerade vor mir sitzen sehe«, erklärte sie. »Und ich möchte nicht, dass du dieselben Fehler machst wie ich damals.«

Ihr war bewusst, dass sie die jetzige Situation teilweise selbst zu verantworten hatte. Vor ein paar Monaten war Alex gekommen und hatte sie gebeten, ihm beizubringen, wie man kämpft und wie man sich schützt, um niemals wieder von anderen abhängig zu sein oder jemandem zur Last zu fallen. Nach reiflicher Überlegung hatte sie erkannt, dass seine Bitte sinnvoll war, und eingewilligt.

Zum Teil tat sie es, um ihm das Wissen und die Fähigkeiten zu vermitteln, die er brauchte, um in dieser gefährlichen und erbarmungslosen Welt zu überleben, zu der er jetzt gehörte. Vor allem aber hoffte sie, ihn so von den düsteren Gedanken abzubringen, die seit ihrer tödlichen Konfrontation mit Cain in Berlin im vergangenen Jahr auf ihm lasteten.

Wenigstens was das Erste anbetraf, war sie außerordentlich erfolgreich gewesen. Alex hatte sich nicht nur als williger, sondern auch als begabter Schüler erwiesen, und sich mit einer geradezu obsessiven Entschlossenheit auf sämtliche ihm gestellten Aufgaben gestürzt, wie man es ihm kaum zugetraut hätte.

Die Ergebnisse sprachen für sich. War er einst wegen seiner schlechten Ernährung und mangelnden Trainings schwach und nur wenig belastbar gewesen, so hatte sich sein Körper im Laufe der letzten Monate gestrafft und gestärkt. Er konnte Waffen zerlegen und wieder zusammenbauen, er war ein brauchbarer Schütze geworden und konnte sich nach vielen schmerzhaften, aber lehrreichen Lektionen sogar im Nahkampf behaupten.

Er hatte wirklich hart gearbeitet. Vielleicht ein bisschen zu hart.

»Und du meinst, ich versuche nur zu vergessen?«

Anya seufzte. »Ich weiß, was Lauren dir bedeutet hat. Ich weiß, dass du dir selbst die Schuld an dem gibst, was passiert ist …«

»Mir selbst die Schuld geben?« Er verzog die Lippen zu einem grimmigen, bitteren Grinsen. »Das verstehst du ganz falsch, Anya. Ich gebe mir keine Schuld. Ich gebe diesem verdammten, sadistischen Mistkerl Hawkins die Schuld daran, dass er sie direkt vor meinen Augen abgeknallt hat. Und ich werfe Cain vor, dass er sie überhaupt in diese Lage brachte. Früher oder später werde ich beide für das, was sie getan haben, umbringen.«

Da war es. Anya konnte ihm seine Empfindungen schwerlich verübeln, aber für jemanden wie Alex konnte ein solcher Weg nur auf eine Weise enden. Gegen solche Feinde hatte er nicht die geringste Chance, ganz gleich wie umfangreich sie ihn trainieren oder vorbereiten konnte.

»Alex, ich verstehe, weshalb du ihren Tod willst. Aber … das ist ein Kampf, den du nicht gewinnen kannst.«

»Das werden wir noch sehen.«

»Nein, das werden wir nicht, denn weiter geht es hier nicht«, informierte sie ihn mit Bestimmtheit. In welchen Fantasien er auch immer schwelgen mochte – jetzt war es an der Zeit, sie zu zerschlagen. »Dein Training ist beendet.«

»Aber was sollte das dann alles, verdammt?«, wollte er wissen. »Warum hast du mir das alles beigebracht?«

»Du hast um Hilfe gebeten, ich habe sie dir gegeben.«

»Du hast mich verarscht, damit ich etwas zu tun habe.«

Anya warf ihm einen strengen Blick zu. »Ich habe dir beigebracht, dich zu verteidigen, aber nicht, loszuziehen und Ärger zu suchen. Du kannst mir glauben, wenn du dich mit der Agency anlegst, hast du nicht die leiseste Chance.« Sie stöhnte. »Lauren hat ihr Leben gegeben, um deines zu retten. Du kannst sie auch nicht wieder zurückholen, wenn du es für eine aussichtslose Sache wegwirfst.«

Als Alex ihren Namen hörte, schien es, als würde er in sich zusammensacken. Anya spürte einen Augenblick des Zweifels in ihm, einen Moment zerknirschten Eingeständnisses. Aber er verbarg es schnell wieder und verwandelte sein Gefühl in etwas, das ihm bessere Dienste leistete. Trotz, Zorn und Widerspruchsgeist.

»Was hast du denn für einen Plan?«, provozierte er sie. »Warten? Wir haben seit sechs Monaten nichts anderes getan, als uns den Hintern platt zu sitzen, und was hat es uns gebracht? Cain ist jetzt amtierender Direktor der CIA. Verdammt, wahrscheinlich ist er nächstes Jahr um diese Zeit der Präsident. Was meinst du denn wirklich, wie lange es dauert, bis er uns findet?«

Darauf hatte Anya keine Antwort. Sie und der Rest der Gruppe waren bei der Konfrontation in Berlin nur um Haaresbreite davongekommen. Die traumatische Tortur hatte sie psychisch und körperlich gebrochen und es ihr eine Zeit lang unmöglich gemacht, eine Gegenoperation zu starten. Sie hatten sich stattdessen in ihre Verstecke zurückgezogen, um sich auszuruhen und neue Kräfte zu sammeln.

Doch in dieser Isolation entwickelte sich langsam eine gewisse Trägheit, während die Tage und Wochen verstrichen, der Sommer kam und ging, die Blätter an den Bäumen braun wurden und der erste Schnee des Winters fiel. Zeit war vergangen, und ihr Verlangen, zum Gegenschlag gegen ihre Feinde auszuholen, war verflogen.

Selbstverständlich hatten sie zunächst Pläne zu machen versucht, sich fast jeden Tag getroffen, um über die jüngsten Entwicklungen und einzelne Neuigkeiten zu diskutieren, von denen sie erfahren hatten, um ihre nächsten Schritte zu organisieren. Aber bei diesen Treffen kam es oft zu erbitterten Diskussionen und gegenseitigen Anschuldigungen, die zu nichts führten. Einen Konsens fanden sie nie.

Nach und nach wurden immer weniger Treffen anberaumt, weil deutlich wurde, dass sie nichts brachten, und jetzt kam es kaum mehr vor, dass sich die ganze Gruppe traf. Ihr war klar, dass sie auseinanderdrifteten und jeder seiner eigenen Wege ging, weil das gemeinsame Ziel und die Führung, die sie zusammenhielt, gescheitert waren.

Anya hatte den Verzicht auf weitere gemeinsame Aktionen nur selten infrage gestellt, doch tief in ihrem Inneren kannte sie die Wahrheit. Sie hatten Angst. Angst, etwas zu riskieren und wieder zu verlieren. Angst davor, dass es sie beim nächsten Mal alle erwischen könnte.

Gegen eine solche Furcht war nicht einmal sie selbst immun.

»Wir haben bis jetzt überlebt«, erwiderte sie. Es war eine schwache Antwort, und sie wussten es beide.

»Ist das alles, was wir jetzt tun? Überleben? Hat unser toller Anführer das so entschieden?«

Anya hatte keine gute Antwort für ihn parat. Was die Gruppe jetzt benötigte, war eine starke Führung, um sie wieder zu vereinen. Sie selbst kam dafür nicht infrage; von einer Außenseiterin wie ihr würden die anderen sich nichts sagen lassen.

Sie brauchten Ryan Drake.

Aber er war nicht mehr bei ihnen. Der Ryan Drake, den sie brauchten, hatte sich seit ihrer Flucht aus Berlin nicht mehr gezeigt. Von ihm war nur ein mürrischer, introvertierter und unkommunikativer Mann übrig geblieben, der die meiste Zeit allein in seiner Wohnung in Zürich verbrachte und über vergangene Entscheidungen und Misserfolge nachgrübelte.

»Es ist für uns alle keine einfache Zeit gewesen, und das gilt auch für Ryan.«

Alex’ Miene machte deutlich, dass ihn diese Bemerkung nicht überzeugte, ebenso wenig wie ihn Drakes bisheriges Verhalten beeindruckt hatte.

»Dann hilf ihm«, sagte er, als ob sie nicht gewusst hätte, dass es nötig war. »Oder trenne dich von ihm und zieh dein eigenes Ding durch. Aber tu etwas, denn so wie es jetzt läuft, können wir nicht weitermachen. Jemand muss uns aus dieser Sache herausführen, und wenn er es nicht mehr tun kann …« Alex zuckte mit den Schultern. »Gut, ich glaube, das brauche ich dir nicht zu sagen.«

Das konnte er sich wirklich sparen, und ihr gefiel auch nicht, dass er vorschlug, sie sollten sich einfach von Drake lösen, weil von ihm nichts mehr zu erwarten war. Sie hätte sich nie gestattet, so etwas zu denken. Was allerdings nicht bedeutete, dass sie es ganz von der Hand weisen konnte.

Alex hatte das Gefühl, gesagt zu haben, was er sagen wollte, und stand steif von seinem Stuhl auf. Weil er so lange bewegungslos gesessen hatte, verkrampften sich seine Beine allmählich. Er gab ihr das Foto zurück.

»Das ist eine hübsche Aufnahme«, sagte er leise. »Du solltest besser darauf achtgeben.«

Als Alex gegangen war, lehnte sich Anya zurück und richtete den Blick auf die schneebedeckten Berge vor ihrem Fenster, jedoch ohne sie richtig wahrzunehmen. Sie war in Gedanken und ließ sich noch einmal alles durch den Kopf gehen, was Alex gesagt hatte. Unter normalen Umständen hätte sie den jungen Mann nicht gerade als Quelle der Weisheit betrachtet, aber sie musste zugeben, dass er mit seiner Warnung nicht ganz falschlag.

Auch wenn es schwerfiel, es sich einzugestehen, wusste sie doch tief im Innern, dass etwas geschehen musste. Die Gruppe brauchte einen Anführer. Sie selbst konnte es nicht sein, also kam nur noch eine weitere Person in Betracht. Es war nur die Frage, ob er es noch draufhatte.

Na schön, das werden wir noch früh genug herausfinden, dachte sie, als sie nach ihrem Handy griff, um eine Nachricht zu verfassen.

3

Nach seinem Meeting mit Hogarth verging kaum eine Stunde, bis Cains privates Handy summte und eine neue Nachricht anzeigte. Es gab nicht viele Menschen, die diese Nummer hatten, und er ahnte, von wem sie stammen konnte.

Die Nachricht war kurz, direkt und präzise.

WIR MÜSSEN REDEN. ÜBLICHER TREFFPUNKT. 13:00.

Das war es auch schon. Der Absender gab sich nicht die Mühe, um Bestätigung zu bitten, weil keinerlei Zweifel daran bestand, wer in dieser speziellen Beziehung das Sagen hatte. Jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt.

Cain wusste genau, um welches Thema es beim heutigen Treffen gehen würde, und er hatte kein Problem damit. Er konnte endlich mit guten Nachrichten aufwarten.

Also fand er sich um 13 Uhr desselben Tages in einem zehn Meilen außerhalb Washingtons gelegenen Waldgebiet in Fairfax County ein. Es war ein ungewöhnlich milder Januarnachmittag in Virginia, die Sonne mühte sich tapfer, die niedrige Wolkendecke zu durchdringen, die fast den ganzen Morgen den Himmel bedeckt hatte. Es roch nach Moos und feuchter Erde, und noch bedeckte der Laubteppich des Vorjahrs den Boden.

Es war ein entlegenes Fleckchen Erde, und nur wenige Pfade schlängelten sich durch die Ranken unter dem Blätterdach. Darüber hinaus gab es nicht viel zu sehen, was die Gegend für Wanderer oder Touristen interessant gemacht hätte, weshalb sie für Treffen wie dieses prädestiniert war. Nur für den Fall der Fälle patrouillierten trotzdem bewaffnete Agenten diskret und in gebührendem Abstand durch den Wald.

Seine Verabredung kam wie immer zur rechten Zeit. Manche Männer hätten Cain vielleicht warten lassen, aber Richard Starke war aus einem anderen Holz geschnitzt. Er war so präzise und pünktlich wie eine Schweizer Uhr. Sein Intellekt war von Mathematik, Codes, Chiffren und Algorithmen geprägt. Für den Direktor der National Security Agency, dem wichtigsten amerikanischen Dienst zur elektronischen Überwachung und Entschlüsselung chiffrierter Nachrichten, waren solche Dinge im Alltag so lebensnotwendig wie die Luft zum Atmen.

Sein penibles Äußeres war ein Spiegelbild seiner Persönlichkeit. Weder groß noch klein, weder übergewichtig noch athletisch, sah er rein äußerlich so durchschnittlich aus, wie man es sich nur vorstellen konnte. Er präsentierte oft eine nachdenkliche, grüblerische Miene, als ob er sich geistig stets mit übergeordneten Dingen beschäftigte und nie ganz im Hier und Jetzt war. Ein Mann, der mehr zuhörte als redete, der nie das Rampenlicht suchte und am meisten leisten konnte, wenn er mit seinen Gedanken allein war.

Sein Anzug, die Schuhe und der Schlips waren von guter Qualität, aber konservativ und praktisch. Was ihnen fehlte, waren Stil, das gewisse Etwas, ein persönlicher Ausdruck. Selbst sein ergrauendes Haar, kurz geschnitten und gescheitelt, war stets korrekt frisiert.

Cain kannte Starke über ein Jahrzehnt, und sein Äußeres hatte sich so wenig geändert, dass er sich jedes Mal, wenn sie sich trafen, fühlte, als wäre er in der Zeit zurückgereist. Ein grauer Mann in grauer Kleidung. Für einen zufälligen Beobachter war er ein Niemand. Nichts weiter als eine jener anonymen Ameisen im Staatsdienst, die in einer Bürozelle oder einem fensterlosen Kellerbüro vor sich hin schufteten. Er war leicht zu übersehen, leicht zu vergessen und leicht zu unterschätzen.

Genau so wollte er es haben.

»Marcus«, sagte Starke beim Näherkommen, und mehr war zur Begrüßung auch nicht zu erwarten. Er reichte nicht die Hand zum Gruß, und Cain tat es auch nicht.

»Sie wollten reden«, sagte er.

Starke verlangsamte seinen Schritt nicht, sondern marschierte knapp an ihm vorbei. »Gehen wir ein Stück.«

Cain ging neben ihm den Waldweg entlang. Er sagte nichts mehr, weil er wusste, dass Starke nur dann etwas von sich gab oder handelte, wenn er so weit war.

Sie waren fast eine volle Minute gegangen, bis er den geeigneten Zeitpunkt für einen Gesprächseinstieg gekommen sah.

»Hogarth hat seine Untersuchung abgeschlossen.«

Starkes Tonfall ließ erkennen, dass es nicht als Frage gemeint war.

Cain nickte. »Wallace’ Tod war ein Unfall. Es wird keine weiteren Schritte geben.«

»Selbstverständlich nicht«, schnaubte Starke. Als Cain ihn ansah, fuhr er fort: »Wer glauben Sie, hat wohl dafür gesorgt?«

Cain erwiderte nichts.

»Die Gruppe hat Leute in seiner Abteilung. Schon immer«, erklärte Starke geduldig. »Wir haben dafür gesorgt, dass sie in seinem Ermittlungsteam saßen und ihm die richtigen Beweismittel vorgelegt wurden.«

»Die Gruppe«, wie Starke sie nannte, war eine Organisation aus führenden Köpfen der großen Geheimdienste des Landes, des Militärs und sogar der Exekutivbehörden. Ein mächtiges Netzwerk gleichgesinnter Individuen, die ein gemeinsames Ziel einte und das ebenso einflussreich und gefährlich war wie geheimnisvoll und abgeschottet.

Außenstehende oder solche, die naiv genug waren, sich einzubilden, sie begriffen das Wesen und den Zweck dieser Organisation, hatten viele verschiedene Namen dafür: die Sektion, der Kreis, ja sogar das Syndikat. Jeder Spitzname war so wahr und falsch wie der andere, weil genau dies den Charakter der Gruppe spiegelte. Täuschungen und Tricks entsprachen ihrer Arbeitsweise, Irreführung war ihre beste Waffe. Für ihre verunsicherten Verbündeten und die Menschen, die dazu genötigt wurden, ihren Wünschen entsprechend zu handeln, stellten sie ein wandelbares Gebilde mit ungewissen Zielen und wechselhafter Identität dar, eine gefährliche Kombination von Risiken und Nutzen, die Misstrauen und Paranoia säte. Für ihre Feinde und jeden sonst, der das Pech hatte, im Weg zu stehen, stellte die Gruppe einen furchterregenden Gegner dar, der aus jeder Richtung zuschlagen, jede Strategie durchkreuzen und jede Schwäche ausnutzen konnte.

Sie waren überall und nirgends, und es war ebenso schwer, sie zu lokalisieren wie sich vor ihnen zu schützen.

Cain stand bereits seit nahezu zwei Jahrzehnten mit der Gruppe in Kontakt und war mit geschickten politischen Schachzügen und zahlreichen Demonstrationen seines Geschicks langsam in ihren Rängen aufgestiegen, doch nicht einmal er war sich völlig über die Größe und Fähigkeiten der Gruppe im Klaren. Sie beschäftigte eine große Anzahl von Menschen, aber jedem einzelnen wurde nur gesagt, was er wissen musste, nicht mehr. Wenn überhaupt, dann gab es nur wenige, die ihre langfristigen Ziele und Absichten begriffen.

Für Männer wie ihn, die das Glück hatten, positiv aufzufallen und aus den untersten Rängen aufzusteigen, war es ein langer und mühsamer Prozess gewesen, ihr Vertrauen zu gewinnen. Erst jetzt, nach seinem Aufstieg zum CIA-Direktor, hatte Cain eine Chance, direkt mit dem inneren Kreis zu kommunizieren, mit den Männern an der Spitze der Pyramide, die die riesige Organisation darunter steuerten.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Loyalität«, sagte Cain schließlich pathetisch.

»Seien Sie das nicht«, erwiderte Starke. »Das war Schadensbegrenzung, mehr nicht. Wir wissen beide, dass Wallace an jenem Tag nicht zu Ihnen gekommen ist, um Ihnen sein Beileid zum Tod Ihrer Tochter auszusprechen. Die Putztruppe, die Sie eingesetzt haben, war nachlässig. Sie hat Spuren zurückgelassen, um die wir uns kümmern mussten. Sie hätten sich mit mir in Verbindung setzen sollen, dann hätten wir es besser vertuschen können.«

»Der Zeitfaktor bei der Sache war entscheidend. Ich wollte nicht …«

»Sie wollten nicht, dass wir es erfahren, wollen Sie sagen?«, unterbrach Starke. »Das eine wissen Sie doch inzwischen bestimmt schon über die Gruppe, Marcus. Wir erfahren alles.«

Cain versuchte es mit einer anderen Erklärung. Es brachte nichts, wenn er sich unschuldig gab. »Wallace hätte uns kompromittieren können. Ich musste handeln, und ich wollte nicht das Risiko eingehen, Sie zu kontaktieren.«

»Ich rate Ihnen, diesen Fehler nicht noch einmal zu begehen«, gab ihm Starke kühl zu verstehen. »Die Gruppe schätzt es nicht, wenn Mitglieder zu viel Eigeninitiative entwickeln. Wir hätten uns niemals so lange behaupten können, wenn wir spontane, individuelle Aktionen toleriert hätten.«

Es war eine ernüchternde Erinnerung daran, dass seine Position alles andere als gefestigt war, ganz gleich wie Hogarths Untersuchungsergebnis ausgefallen sein mochte. Cain wusste nur zu gut, dass als Strafe für Insubordination ganze Existenzen, selbst die von Mitgliedern der Gruppe, ausgelöscht wurden.

»Und warum haben Sie mir geholfen?«

Starke machte eine Pause. »Wir haben viel in Sie investiert. Zumindest für den gegenwärtigen Zeitpunkt sieht man Sie noch als nützlich an. Aber seien Sie auf der Hut, Marcus. Man investiert nur so lange, wie es sich lohnt.«

Cain ballte die Fäuste; die unterschwellige Drohung hatte er vernommen. Doch zugleich spürte er eine Anspannung in Starkes Körperhaltung, außerdem klang seine Stimme angestrengt – was vorher nicht an ihm wahrzunehmen war. Starke verfügte über viele bewundernswerte Fähigkeiten – einen überragenden Intellekt, die Begabung, unbarmherzig Probleme zu lösen, und ein bemerkenswertes politisches Geschick, um nur einige aufzuzählen –, aber in Cains geschulter Wahrnehmung war er stets ein schlechter Lügner gewesen, der es vorzog Dinge zu verschleiern oder umzudeuten, anstatt sich etwas ganz Neues einfallen zu lassen. Starke hatte einen Beruf, der mit Fakten, Zahlen, Berechnungen und Wahrscheinlichkeiten zu tun hatte, aber nicht mit aktiver Täuschung und List. Das war Cains Domäne, und er war sehr gut darin.

Er fing an, den Mann an seiner Seite in einem anderen Licht wahrzunehmen, und begriff, dass dessen Besorgnis eher persönlich, nicht durch das Kollektiv begründet war.

»Sie waren es, oder nicht?«, sagte er plötzlich, weil er es darauf ankommen lassen wollte. »Sie sind dafür verantwortlich.«

»Wie bitte?«

»Sie sind es, der zu viel in mich investiert hat, nicht die Gruppe«, sagte Cain, der jetzt härter und energischer klang. »Sie haben für mich votiert, Sie haben mich in die Gruppe gebracht und mir beim Aufstieg geholfen. Wenn ich untergehe, wird man letzten Endes Ihnen die Schuld dafür geben. Deshalb haben Sie diese Sache vor der Gruppe verborgen. Sie haben Schadensbegrenzung betrieben, um Ihren eigenen Ruf nicht zu gefährden, oder, Richard?«

Starke blieb stehen und wandte sich ihm zu. Er wirkte nicht mehr nachdenklich, sondern sah wütend aus. Und Cain wusste, dass er ihn erwischt hatte. Nach all den Jahren hatte er den Mann endlich zu fassen bekommen.

»Seien Sie vorsichtig, Marcus«, warnte ihn der NSA-Direktor. »Sie vergessen sich.«

Cain streckte das Kinn vor. »Ich weiß genau, wer ich bin. Ich bin der Direktor der CIA.«

»Der amtierende Direktor«, rief ihm Starke ins Gedächtnis. »Bis man den Richtigen gefunden hat.«

»Dieser Mann steht vor Ihnen.«

»Das Amt des CIA-Direktors ist ein politisches Mandat und keines der Exekutive«, klärte ihn Starke mit schroffen Worten auf. »Der Präsident und der Kongress müssen hinter Ihnen stehen. Es wird Anhörungen geben, Nachforschungen und Überprüfungen.«

»Na und? Meine Akte spricht für sich, und die Gruppe hat genug Einfluss im Kongress, um mich bestätigen zu lassen. Ich kann viel mehr erreichen, wenn mir kein Arschloch von Möchtegernpolitiker dabei über die Schulter blickt. Was ist das Problem, Richard?«

»Das Problem ist, dass wir Ihnen dafür keine Erlaubnis gegeben haben!«, knurrte Starke. »Nach all den Jahren begreifen Sie das immer noch nicht? Es steht Ihnen nicht zu, darüber zu entscheiden, wann so etwas geschehen soll – wir entscheiden das. Das haben wir schon immer getan. So läuft das. So arbeitet die Gruppe.«

»Ich diene seit zwanzig Jahren den Interessen der Gruppe, Richard«, sagte Cain und ging einen Schritt näher an ihn heran. Er war sich des Risikos durchaus bewusst, den Mann unverblümt herauszufordern, aber jetzt hatte er bereits damit angefangen, und es gab kein Zurück mehr. »Ich habe Ihnen verdammte zwanzig Jahre meines Lebens geopfert. Sie werden mir jetzt etwas zurückgeben.«

»Glauben Sie etwa, Sie sind der Einzige, der für uns Opfer gebracht hat?« Starke atmete tief durch. »Es gibt Männer, die länger als Sie gedient haben und mit weitaus weniger belohnt wurden.«

»Andere Männer, nicht ich. Ich will das Amt, Richard. Das habe ich verdient.«