Coke - Michael Pilzweger - E-Book

Coke E-Book

Michael Pilzweger

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Beschreibung

»Mike ging ins Trade Vic's im Bayerischen Hof. Dort waren alle versammelt. Die Toten. Die Gierigen. Die Hässlichen. Thomas Gottschalk.« Ende der 2000er. Indie-Rock ist auf seinem kulturellen Höhepunkt. Mike Shannon ist Frontmann der Underground Newcomer Band ›The Babyboots‹. Zusammen mit seinem besten Freund Biggles und der toxischen On-off-Beziehung Sheena regiert er das Münchner Nachtleben. Durch einen Streit mit dem Sohn des libyschen Diktators Gaddafi geraten Mike und Biggles an eine Menge Kokain. Mithilfe von Mikes Kindergartenfreund aus dem Hasenbergl versuchen sie, die Drogen zu verkaufen. Ein Deal, der tragisch scheitert. Mike und Biggles bezahlen mit ihrer Freundschaft. Mike flieht regelrecht nach Hamburg. Dreizehn Jahre später treffen sie sich wieder. Mike ist erfolgreicher Venture-Capitalist, Biggles anerkannter Künstler, Sheena gefeierte Influencerin. Doch hinter den falschen Namen und Masken bröckelt es. Drogen, Alkohol und die Suche nach Anerkennung bestimmen seit jeher Mike Shannons Leben. Der Autor Michael Pilzweger skizziert an der Figur des Mike Shannon Anfang und Ende einer über fünfzehn Jahre dauernden Alkohol- und Drogensucht. Dabei stellt er die Identitätsfrage: Wer sind wir, wer wollen wir sein und wer können wir sein?

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Seitenzahl: 212

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Michael Pilzweger

COKE

Auch wenn einige der im Text auftauchenden Orte tatsächlich existier(t) en, so sind doch Handlung und Personen frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen o. Ä. wären rein zufällig.

Cover und grafische Gestaltung von Hirschkäfer Design/Coriander Pinxit

Coverfoto: Karl Kaufmann

© Hirschkäfer Verlag, München 2023

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-ISBN 978-3-940839-93-0

Besuchen Sie uns im Internet:

www.hirschkaefer-verlag.de

CD 1

1. VENUS IN FURS

2. LAST NITE

3. SEARCH AND DESTROY

4. FUCK FOREVER

5. ALORS ON DANSE

6. TIME TO PRETEND

7. ROCK AND ROLL STAR

8. LAST DAY OF MAGIC

9. WE ARE YOUR FRIENDS

10. POLICE & THIEVES

11. BANG BANG (MY BABY SHOT ME DOWN)

CD 2

1. JUNGE RÖMER

2. LIVE FOREVER

3. DON’T THINK TWICE, IT’S ALRIGHT

4. BOYS DON’T CRY

5. PRETTY VISITORS

6. LOVE IS NOISE

7. LOVE WILL TEAR US APART

8. LIFE ON MARS?

9. BRIANSTORM

10. TIME FOR HEROES

11. THERE IS A LIGHT THAT NEVER GOES OUT

»Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben; – diese Unmöglichkeit ist es, was uns verurteilt zu bleiben, wie unsere Gefährten uns sehen und spiegeln, sie, die vorgeben, mich zu kennen, sie, die sich als meine Freunde bezeichnen und nimmer gestatten, dass ich mich wandle […].«

Max Frisch, Stiller

1. VENUS IN FURS

SHEENA:

… wenn Sie mich so fragen: Anerkennung. Bei allem, was Mike gemacht hat, ging’s um Anerkennung. Ob es das Rockstar-Gehabe oder sein Job war. Ihm war es wichtig, von allen bewundert zu werden. Von seinen Freunden. Von Fremden. Von Ihnen. Von dir. Von mir. Und eins muss man ihm lassen. Wir wollten ihm glauben.

Mike Shannon. Rockstar. Poet. Lover. Heißes, blondes Girl im Arm. Skinny Bitch. Skinny Jeans. Zerrissenes Shirt. Black Leather Jacket. Vollgepumpt mit Drogen. Immer eine Kippe: zwischen den Lippen, zwischen den Fingern, hinter den Ohren. Jede Minute musste man aufpassen, nicht den einen genialen Satz von ihm zu verpassen. Triefend vor Romantik, Todessehnsucht und Weltschmerz. Hier ist er, Mister. Aus den Tiefen der Depression. Tanzend auf dem Untergrund.

Sie wollen eine typische Mike Shannon Geschichte? Bitte sehr.

Mike saß bei Biggles. Biggles war sein bester Freund. Biggles war sein Bassist. Die beiden waren gelangweilt. Tranken billigen Rotwein. Redeten über Burroughs, Dostojewski und Brecht. Immer wieder holten sie sich einen auf Pete Doherty runter. Biggles sagte: »Mike, wir brauchen Geld.« Mike sagte: »Ich habe da was bei Bukowski gelesen.« Die beiden schmiedeten einen Plan. Mike ging ins Trader Vic’s im Bayerischen Hof. Dort waren alle versammelt. Die Toten. Die Gierigen. Die Hässlichen. Thomas Gottschalk. Mike saß an der Bar. Mike erzählte etwas über Menehune, hawaiianische Ureinwohner und rassistische Karikaturen mit Plastikstab im Arsch. Mike sah sich um. Das Zippo klackte. Eine Kippe entflammte. Gelangweilt schnappte sich der Held sein Opfer. Ein einsamer Dienstreisender, in München verloren gegangen. Mike bot dem Nichtswissenden alles an, was ein Gestrandeter in einer Luxus-Bar sucht. Fünfzehnjährige Mädchen. Fantastisches vierundneunzigprozentiges Peruvian Flake Coke. Seinen eigenen Arsch. Der Typ, nennen wir ihn den Professor, entschied sich für das Coke. Mike sagte: »I got this. Zahl meine Rechnung. Heb fünfhundert Euro ab. Gib mir die Kohle. Wir fahren zum Leonrodplatz, der immerwährenden Baustelle. Dort treffen wir The Man.« Was der Professor nicht wusste: The Man war Biggles. Und der wartete hinter einer Ecke auf die beiden. Frierend, einen Baseballschläger in die offene Handfläche klatschend.

Das Geld wurde abgehoben. Taxi da. Tür auf. Alle rein. Taxi wieder da. Tür auf. Alle raus. Der Professor und Mike kamen an der Baustelle am Leonrodplatz an. Ein Sportwagen raste vorbei. Ein vom Zirkus geflüchteter Tanzbär rauchte Zigarren. Zwischen zwei leer stehenden Fabrikgebäuden lag ein Schuttberg. Wind zog durch die Schneise. Mike tingelte links. Der Professor torkelte rechts. Plötzlich sprang Biggles aus einem zerbrochenen Fenster. »Tötet Tyler Durden!«, schrie der Bassist und schwang den Baseball Bat. Was die beiden in ihrem genialen Plan vergessen hatten: die Seitenwahl. Und so bekam Mike Shannon nicht nur vom seitenverkehrten, blindwütenden Biggles einen eisernen Schlag in die Kauleiste, sondern auch die berühmtberüchtigte gezackte Oberlippe. Der Professor verschwand. Biggles rannte hoffnungslos hinterher. Als Mike am nächsten Tag im Dreck liegend aufwachte, war das gestohlene Geld schon wieder weg.

Wollen Sie die Wahrheit wissen?

Nie passiert.

Es war ein Sportunfall in der elften Klasse. Biggles war grobmotorisch eher fein betucht. Ihm rutschte während des undurchsichtigen Aufwärmens in der Dreifachturnhalle der Hockeyschläger aus den schwitzigen Teenager-Pfoten. Mitten in Mikes Kauleiste.

Erzählt sich aber nicht so gut.

2. LAST NITE

MIKE SHANNON:

Bevor ich meine Version der Geschehnisse berichte, möchte ich vorwegschicken, dass alles, wirklich alles hier Geschriebene genauso passiert ist. Bezüge mit realen Personen sind gewollt und extra hervorgehoben. Diese Geschichte ist so wahr, ich kann es selbst nicht glauben.

Und jetzt will ich keine weitere Zeit verlieren. Ich möchte beginnen, zufälligste Ereignisse aneinanderzureihen, die Ihnen helfen sollen, diese letztlich unausweichliche Tragödie besser zu verstehen. Eine Tragödie, dessen schicksalhafter Konflikt ein Streit ist, der dreizehn Jahre zuvor stattfand. Ein Streit zwischen vier besten Freunden, die immer mehr sein wollten. Vier beste Freunde, die sich andere Namen gaben. Die sich ihre Bestimmung selbst auferlegt und mit Masken kostümiert hatten. Sheena. Biggles. Megy. Mike. Masken, hinter denen es bröckelte.

Ende der Nullerjahre. Obama war Präsident geworden. Die Finanzmärkte hatten den härtesten Sturz seit neunzehnhundertneunundzwanzig hinter sich. Deutschland erwachte aus dem Sommermärchen. Saddam Hussein wurde hingerichtet. Wir waren Papst. Pete Doherty und Kate Moss füllten die Boulevardblätter. Die Fratellis liefen in der iPod Werbung. Kings of Leon besetzte zum zweiten Mal in Folge die Nummer eins der deutschen Billboard Charts. Die Arctic Monkeys waren das bestverkaufte Debütalbum in der britischen Geschichte. Das verfilmte Leben von Ian Curtis half uns über den Winter. Razorlight und Eight Legs eröffneten Runway Shows für Dior. Mando Diao kaperte Abend für Abend Antenne Bayern. In jeder Dorfdisco wurde Mr. Brightside gebrüllt. Meine Band The Babyboots war Platz sechs der meistgehörten Künstler ohne Vertrag auf Myspace. Und dort, mitten im schon längst vergessenen Kulturphänomen des Indie Rock & Rolls, beginnt mein Bericht.

Was ich zuvor erwähnen muss, wichtig für die kommenden Ereignisse: The Babyboots. Wie gesagt: Platz sechs der meistgehörten Künstler ohne Vertrag auf Myspace. Meine Band. Mein Ein und Alles. Meine Story:

Ich lernte Biggles in der zehnten Klasse kennen. Eine Begegnung, die alles veränderte. Jetzt waren wir zu zweit eigenartig. Fünfzehn, sechzehn, siebzehn. So alt ungefähr. Pickelige Teenager, eigenwillig gekleidet, schlecht kopiert, irgendwo zwischen Seth Cohen und Marilyn Manson. Wir hörten dieselbe Musik, hatten die gleichen Anti-Vorbilder, lasen dieselben Bücher, begeisterten uns für dieselben Filme. Schon am zweiten Tag hingen wir gemeinsam ab; zusammen mit meinem ältesten Freund Megy. Zu dritt fanden wir heraus, wie man Bier trank, wie man Zigaretten rauchte, wie man kiffte. Meistens in Megys elterlichem Keller; dort stand sein Schlagzeug, ein kleiner, aber feiner Proberaum. Die Drums waren Megys ganzer Stolz. Wenn er nicht bei ihnen war, vermisste er sie, musste immer auf irgendwas trommeln. Megy genoss eine musikalische Ausbildung; wer, wenn nicht wir drei, sollte eine Band gründen. Biggles lernte den Bass. Ich würgte krumm gegriffene Powerchords. Megy steuerte uns durch die Songs. Es reichte, um Nirvana und die Subways zu covern, es reichte, um scheiße zu sein. Scheiße, wie alle jungen Musiker. Die ersten Gehversuche. Wir nannten uns Babyboots.

Die Babyboots gründeten sich in München. Eine Stadt, die niemals aufwachte, deren Musikgeschichte bereits in den Siebzigern erzählt schien. Endlich, nach langer Stille, gedieh Mitte der Zweitausender Widerstand, gesät durch den weltweiten Indie Hype. Plötzlich strandeten die besten Bands aus UK und NYC an der Isar. Jeden Tag ein anderes musikalisches Highlight, manchmal mehrere am selben Abend. Eine Szene blühte auf, in welche wir verwuchsen. Schon bald waren Konzerte, Bier trinken, Zigaretten rauchen und kiffen nicht mehr alles. Wir wollten länger als Mitternacht wegbleiben. Mit den über Achtzehnjährigen feiern. In die Indie Discos der Stadt. Atomic Café. Keller. Backstage. Babalu. 59to1. Wir besorgten uns gefälschte Ausweise, schafften chemische Drogen ran. Wir waren high. Waren besoffen. Jeden Tag unterwegs. Was fehlte: Mädchen. Die hatten uns bislang ignoriert; mit jeder Woche fiel es den alternativen Damen aber schwerer. Auf Rock im Park merkte ich es das erste Mal, spürte es bei jedem Schritt. Wir waren jetzt cool. Hautenge Hosen. Schwarze Lederjacken. Lange Haare. Kaputte Chucks. Im Pit tauchte eine kleine Punkgöre auf. Bei den Hives küsste ich sie. Bei den White Stripes hatte ich bereits meine Finger in ihrem Höschen. Als Die Ärzte spielten, bekam ich in ihrem Zelt vor Aufregung keinen hoch. Ich hätte lieber Die Toten Hosen gesehen. Das Mädchen hieß Sheena. Sie war auf unserer Schule, tat dort lange so, als würde ich nicht existieren. Das war nun vorbei. Genauso wie Nirvana Covers. Wir lernten unsere Instrumente besser kennen. Ich begann eigene Songs zu schreiben. Was sich anfangs nach den Libertines oder The Clash anhörte, wurde irgendwann zu uns. Sheena sah Potenzial. Auf der Toilette der Münchner Freiheit schoss sie Bandfotos. Sheena legte ein Myspace Profil an. Zeichnete ein Logo. Gab uns den letzten Schliff, gab uns das fehlende Puzzleteil, nannte uns The Babyboots. Boom. Platz sechs auf Myspace. Unser Look, Auftreten und Drogenmissbrauch setzten neue Maßstäbe. Das Atomic Café gehörte uns. Die Mädchen suchten unsere Nähe. Wir waren im Internet erfolgreich. Über die Stadtgrenzen bekannt. Jede Woche ein Gig. Erste Plattenlabels kamen im Proberaum vorbei. Man beobachtete die Babyboots mit großem Interesse. Major und Indie.

Doch die alles entscheidende Frage:

»Hast du noch Zeug?«

»Ne man, wir haben am Wochenende alles weggeballert.«

»Scheiße, Mann. Und der Mongole?«

»Hat erst morgen wieder was.«

Ich war bei Biggles. Wir rauchten selbst gedrehte Zigaretten, sahen uns in seiner Wohnung um; so als wären wir hier nicht schon tausend Nächte ohne etwas zu tun gewesen. Ich saß auf splittrigen Europaletten. Genauer gesagt auf einem blauen Futon, der auf splittrigen Europaletten lag. Auf dem blauen Futon lagen Zeitschriften. NME. Rolling Stone. Nylon. INDIE. Vice. Ein antiquierter Reisekoffer mit aufgelegter Glasplatte diente als Wohnzimmertisch. Irgendwie war hier alles nur aufgelegt. Die Glasplatte hatte an der zur Couch gerichteten Seite eine milchig weiße Patina von über Monate immer wieder beim Hacken eingedrücktem Koks und Speed. An den Wänden lehnten mit Öl, Blut und Spraydosen beschmierte Leinwände von befreundeten Künstlern. Ein in die Ecke gerichteter Baustrahler sorgte für Lichtambiente. Aschenbecher wurden wie Schachfiguren versetzt. Gitarren herumgereicht. Aufgedunsene Bücher, überall. Bücher, die sich B aus den stadtverstreuten Bücherschränken angeeignet hat. Es wurde nie ein neues zurückgelegt, weshalb es Diebstahl war. Hier war nichts fest. Nichts hatte einen Platz. Alles immer in Bewegung.

Willkommen in der Abbey.

So nannte Biggles seine Zweizimmer-Wohnung mit Küche Bad. Er hatte als einer der wenigen, die ich kannte, eine eigene Anschrift. B war zu diesem Zeitpunkt zwanzig, ein Jahr älter als ich. Seine Eltern hatten ihn während der Schulzeit ausquartiert. Neuhauser Neubau; einsturzsicher. Genossenschaftswohnung. Wenn man in München die Chance auf so eine hat, muss man rein. Dann lebt man hier billig. Ansonsten lebt man nie alleine. Ich selbst lebte mit meiner Mutter im Hasenbergl. Ich weiß nicht, ob sie mich nicht auch gerne losgehabt hätte.

Wir waren Problemkinder.

»Mach mal Bad Kids von den Black Lips.«

»Ne man, ich muss dir was zeigen.«

Es war das erste Mal, dass ich The Violent Femmes mit Add It Up hörte. Ein Song so düster, brutal, schön und simpel, – als hätten Oscar Wilde und Günter Grass den Text Paul Celan auf einer Opiumpritsche diktiert. Biggles missfiel mein Vergleich. Ich sei ein Trottel, sagte er. Warum, konnte er nicht begründen. Ich glaube, er war eifersüchtig auf meinen Gedankenblitz.

Ich streifte über Bs Plattensammlung. In der Abbey durfte nur Vinyl gehört werden. Biggles ließ keine iPods oder MP3-Player zu. Sie würden die Kunstform eines Long Players zerstören. Wenn wir alle nur noch lose Songs von verschiedenen Künstlern auf unseren MP3-Playern hätten, würden wir uns des Gefühls berauben, sich mit einem Artisten, seiner Idee, seiner gelebten Zeit wirklich auseinandergesetzt zu haben. Er würde schon Anzeichen erkennen, dass Songs immer kürzer würden. Ich hielt das für Schwachsinn. The Doors, The End beschrieb gerade wegen seiner Länge das Gefühl meiner Generation. Blitzkrieg Bop von den Ramones durfte nicht länger als zwei Minuten dreizehn sein. Ich legte Tom Waits mit Heartattack And Vine auf. Das Album hat Tom mit einunddreißig geschrieben. Danach hat Tom dem Whiskey abgeschworen, mit den Zigaretten aufgehört, ausschließlich Rotwein getrunken. Grund war seine große Liebe Kathleen. Das wollte ich auch. Dachte ich.

»Sheena und ich sind nicht mehr zusammen.«

»Ihr wart wieder zusammen?«, fragte Biggles.

»Sie war vor zwei Wochen Backstage bei unserem Gig.«

»Haben wir da nicht Prostitute gespielt?« Prostitute, prostitute, Sheena became a prostitute. Einer unserer Klassiker.

»Ich glaube, ihr gefällt es, wenn wir über sie singen.«

Eine Spinne seilte sich herab. Gespannt beobachteten wir den Abgang.

»Und warum ist es jetzt wieder aus? Die Sache mit Cléa?«

»Yea.«

Die Sache mit Cléa.

Cléa war neu in der Stadt; ihr Vater ein großes Tier bei einem Investmentfonds. Er wurde von Paris nach München versetzt. Jetzt ging sie auf die École Française de Munich in Giesing. Sie hatte schon mit sechzehn für Yves Saint Laurent gemodelt. Ihr stand eine steile Karriere bevor, durfte sich dem Modezirkus aber erst nach dem Schulabschluss anschließen.

Cléa stach in der Szene sofort raus. Eins achtundsiebzig Zentimeter groß. Kleidergröße vierunddreißig. Die Figur eines Buben, die Brust einer Frau. Leicht angebräunte Haut. Lange Stirn, über welche ihr Pony wie aufgehängte Wäsche im Frühling fiel. Ihre Lippen waren dick, voll, glänzend gepflegt. Die Augen erinnerten an eiskaltes, morgendliches Waldgrün. Wenn ich mit ihr sprach, schlugen ihre Wimpern kleine Winde in mein Gesicht. Nur nicht an dem besagten Abend, der Sache mit Cléa.

Da waren die Augen verhangen. Mit Mühe und Not konnte sich die Pariserin am Glas festhalten. Das Sitzen auf dem Barhocker: ein Drahtseilakt. Sie sagte mir, dass sie jetzt mit mir schlafen würde. Ich sollte ihr Erster sein. Heute Nacht würde es passieren. Ich antwortete nichts, verfiel in eigensinnige Nachdenklichkeit. Alle sahen zu, wie ich sie mechanisch zum Taxi begleitete, mit ihr in der Dunkelheit verschwand. Als wir bei Cléa ankamen, klingelte ich an der Tür. Übergab sie ihrem Vater. Ein satter Mann mit fischigem Mund, zu vielen Zähnen, welcher mir aufrichtig samt Handschlag dankte. Danach widmete er sich seiner Tochter. Fassungslos. Enttäuscht. Wutschäumend. Vorwürfe verfärbten sein Gesicht. Als wir bei Purpur waren, übergab sich Cléa in einem gallegrünen Strahl. Direkt in das Blumenbeet vor dem Haus. Ich beobachtete währenddessen die unbeweglichen Sterne, versprach der Familie, nie ein Wort darüber zu verlieren.

»Wie war sie im Bett?«

»Ich hab dir gesagt, dass ich nicht über den Abend sprechen will.«

Sheena hatte uns im Taxi gesehen, mir während der Fahrt geschrieben. Ich sollte mich für immer verpissen. Ob ich mir Sorgen mache, Sheena zu verlieren, wollte Biggles wissen. »Für immer war bei uns noch nie sehr lang«, antwortete ich.

Nach ein paar Gläsern billigen Rotweins merkte ich, dass der Stachel der erneuten Trennung von Sheena tiefer saß, als ich es zugeben wollte. Dass ich zu selbstsicher war. Dass ich mir bei dieser Frau nur sicher sein konnte, niemals sicher zu sein. Während Biggles mit seinen Fingernägeln beschäftigt war, nutzte ich die Gunst, um eine neue Platte aufzulegen. The Libertines, Don’t Look Back into the Sun.

Sie wird dir niemals vergeben. Aber sie lässt dich nicht gehen.

Wir schenkten uns großzügig nach. Langsam konnte man das Zeug runterkriegen. Um mich abzulenken, blätterte ich in Biggles Tagebüchern. Das war kein Vertrauensbruch. Er gab sie mir oft zum Lesen. In Klammern sei gesagt, dass das Wort Tagebücher einen falschen Eindruck erwecken könnte. In den Kladden fanden sich keine Geschichten, sondern chronologisch aufbauende, datierte Skizzen. Fragmente. Und der Name Laura – über mehrere Seiten in fetten Druckbuchstaben. Auf einer Zeichnung umarmte er sie; ein Ideenpapier für eine Figur, wohl aus Stein.

Laura arbeitete im Ludwig Beck am Marienplatz. Sie war in der Jeansabteilung. Er fand sie süß. Charmant. Hübsch. Sie half ihm, seine erste Röhre zu kaufen. Leider hat er sich nicht getraut, sie anzusprechen. B kam am nächsten Tag wieder. Kaufte wieder eine Jeans. Traute sich wieder nicht, sie anzusprechen. Dritter Versuch. Die Auserwählte war nicht da. Selbst war der Mann. Schnell fand B ihren Dienstplan raus. Montag. Dienstag. Samstag. Laura. Von da an kaufte Biggles jeden Montag, Dienstag und Samstag eine Jeans bei ihr. Immer ohne Erfolg. Falls Sie sich fragen, wie Biggles sich das leisten konnte: Jeden Donnerstag brachte er die gekauften Jeans gesammelt zurück. Das ging ein paar Wochen so. Bis er sich traute. Und zwar richtig. Er kaufte bei Wempe einen Ring. Es war Samstag, B ging in den Ludwig Beck, fuhr hoch zur Jeansabteilung, selbstsicher, in altem Hemd, neuer Jeans, und dann, dann fragte Biggles Laura, ob sie ihn heiraten wolle. Vollkommen schockiert von der unerwarteten Größe dieser Liebe, rief Laura den Sicherheitsdienst. Die Securities begleiteten Biggles aus dem Kaufhaus. Der Ring landete im Fischbrunnen; liegt noch heute da.

Ich musste beim Gedanken daran schmunzeln. Sieben Tage heulte er in meinem Zimmer. Viel Alkohol, viel Gras, viel Tiefkühlpizza, viel O.C., California hat es gebraucht, um ihn wieder aufzupeppen. Ganz vergessen hat er sie nie.

Meine Gedanken machten halt. Es klingelte schrill und laut an der Tür. Als ich aufstand, um die murmelnden Geräusche im Gang zu begrüßen, sah ich Sheena. Mit marmorhafter Gelassenheit stand sie unter der nackten Glühlampe. Für immer war vorbei.

Sie trug geschnürte lederne Stiefel, hohe Absätze. Ihre Beine abgemagert, versehrt mit blauen Flecken. Immer wieder tauchten kleine, zufällige rote Schnittwunden auf. Verschmiertes Augen-Make-up, gewollte und provozierte Nachlässigkeit. Zerzaustes Haar, fleckig aufgetragenes Rouge, aufgebissene Lippen unter dem Lippenstift. Dreck unter den Fingernägeln, der unter dem abgeblätterten Nagellack zum Vorschein kam. Das T-Shirt trug sie schon den zweiten Tag in Folge. Sie hat nicht zu Hause geschlafen – das konnte man leicht riechen. Es war mein altes, weites und für sie viel zu großes schwarzes CBGB OMFUG Shirt, um die Hüfte mit einem Gürtel tailliert. Sie trug ihre schwarze Lederjacke. Am Revers hing mein Button. Sheena Who? Ihr Button war noch an meiner. Who the Fuck is Mike Shannon? Sie sah wunderschön aus. Die Haut schneeweiß. Das wasserstoffblonde schulterlange Haar, im natürlichen Seitenscheitel gekämmt. Fluffig. Voluminös. Ihre Schönheit konnte jeder sehen. Kleine schmale Stupsnase. Hohe Wangenknochen. Lippen, mit einem Stift gezeichnet. Ihre Rehaugen öffneten sich. Das Universum mit all seinen Sternen begann.

»Hast du noch Zeug?«

»Ne man, wir haben am Wochenende alles weggeballert.«

»Scheiße man. Und der Mongole?«

»Hat erst morgen wieder was.«

Ohne abzuwarten stöckelte Sheena ins Wohnzimmer. Um nicht in der Bewegungslosigkeit zu erstarren, zündete ich eine Zigarette an.

»Was machst du hier?«

»Meine Ma hat mich rausgeworfen, ich muss irgendwo pennen.«

»Und da hast du an Biggles gedacht?«

»Nein, du Idiot. Ich wusste, dass du hier bist.«

»Ach ja? Woher denn?«, sagte ich dumm.

»Du hast es Biggles auf die Wall geschrieben.« Gut kombiniert.

Sheena erklärte mir, dass sie nicht mehr mit mir reden würde. Dass ich für sie gestorben sei. Abschaum bin. Das Letzte. Eine Umdrehung später verwandelte sie sich. Jauchzend, frohlockend, die Augen aufgerissen. Diese Frau: immer so weit weg, doch so nah. Sie zauberte zwei Flaschen Chivas Regal aus ihrer Handtasche. Biggles nahm sie durstig entgegen. »Kleines Gastgeschenk für meinen besten Freund! Mit lieben Grüßen von meinem Stiefvater. Der säuft so viel, der merkt es sowieso nicht, wenn die Flaschen fehlen.«

»Was hast du wieder angestellt?«, wollte Biggles wissen.

»Das interessiert keinen … darf ich mal deinen Laptop?«

Sheena schnappte sich Bs weißes MacBook, warf sich auf den aufgelegten Futon. Ich hörte ihren Profilsong, The Ting Tings, That’s Not My Name, sie war auf Myspace. Sie änderte ihre Top Friends. Ich hätte da nichts mehr verloren, sagte sie mir. Ich kannte diese Sticheleien, hatte gelernt, sie mit der Zeit zu ignorieren. Meine Gedanken tropften wie Wasser, ich wartete, dass der Whisky floss. B besorgte saubere Gläser. Ich schenkte allen gleich viel ein, trank aus, schenkte mir nach; behandelte mich selbst mit Vorzug. Sheena kümmerte sich um ihre Korrespondenzen. Schrieb Nachrichten, postete auf Walls. Zu Hause hatte sie nur einen Familien-Rechner, deswegen nutzte sie Bs. Sie quasselten über allerlei. Die neue American Apparel Kampagne. Terry Richardson. Uffie. Sasha Grey. Karen O. Lily Allen. Jeremy Scott. Suicide Girls. Ich zerbrach mir den Kopf über die Musikauswahl. Ich entschied mich für die Strokes, rauchte Zigaretten, trank mehr Whisky.

Gestern Nacht sagte sie: »Ich bin so niedergeschlagen. Es turned mich ab, wenn ich mich ausgegrenzt fühle.«

Sie quasselten weiter. Über die Olsen Twins, Cory Kennedy, The Cobrasnake. Sheena selbst wartete auf einen Blog-Post vom Styleclicker. Er hatte sie fotografiert. Ihr Outfit sollte heute online gehen.

»Das ist ein Blog, den du auch lesen kannst. Das sind nur Fotos«, ätzte Sheena.

»Er kann lesen. Er kann nur nicht schreiben.«

»Danke Biggles, dass du meiner Freundin immer wieder meine Legasthenie erklärst.«

»Ex-Freundin.«

Gestern Nacht sagte sie: »Sei nicht so niedergeschlagen. Es turned mich ab, wenn ich mich ausgegrenzt fühle.«

Ziemlich schnell war die erste Flasche Whisky leer. Es war der Treibstoff, den die Runde brauchte. Die aufgebaute Wand bröckelte. Die Sache mit Cléa rückte in den Hintergrund. Alles andere auch. Irgendwann spielten wir Sheena unsere neuesten Aufnahmen vor. B und ich feierten uns selbst. Mehr, als es Fans je hätten tun können. Die Abbey wurde Glastonbury, ich entführte meine Freunde in meine Träume, welche mit jedem bitteren Schluck greifbarer wurden. Wir fantasierten: Babyboots als Headliner. Wir überlegten, welche Outfits wir tragen würden. Wir bräuchten etwas wie Liams weißen Parka. Zweitausendvier. Nerzkragen. Godlike. Ich tat so, als würde ich nachdenken, wusste es aber sofort. Schwarze Jeans. Black Chelsea Boots. Black Biker Jacket. Cowboyhut. Kein Shirt. Mit Blut über meine Brust geschrieben: S H E E N A. Biggles war vorsichtiger. Wollte sich auf keinen Look festlegen. Ich rätselte derweil, ob Markus Kavka in unserem MTV Masters auftreten würde. Biggles wollte wissen, was man denn über uns erzählen könne, ich half ihm auf die Sprünge. Mit salbungsvollem Genuss fasste ich die rückblickend maue Karriere in großen Worten zusammen, konnte damals schon eine gewisse Ironie nicht verbergen. In falcoesker Pose unterfütterte ich meine Geschichten mit Interview-Zitaten. Biggles forderte eine Werbepause, verschwand mit einem Buch unterm Arm, sagte, er müsse pinkeln gehen. Jetzt waren Sheena und ich zum ersten Mal alleine. Wir saßen uns gegenüber, tiefsinnig dreinschauend. Die heitere, ausgelassene Stimmung verwandelte sich in treibsandartige Melancholie. Der Chivas Regal bald alle. Ich konnte nicht mehr an mich halten. Erzählte die Sache mit Cléa. Erzählte, wie sie mit mir schlafen wollte, ich sie aber nicht ausnutzen konnte, wie ich nie eine Frau ausnutzen würde, wie ich sie nur nach Hause brachte. Ich erzählte vom Vater mit dem fischigen Mund, den zu vielen Zähnen. Erzählte, wie sich Cléa gallegrün ins Blumenbeet übergab. Erzählte, wie ich versprach, es niemandem zu erzählen. Erzählte, dass Biggles schon ziemlich lange auf der Toilette war.

»Vielleicht habe ich doch noch einen Platz für dich in meinen Top Friends.« Und bevor ich antworten konnte, lag mein Mund regungslos auf ihren Lippen.

»Für immer?«, fragte ich.

»Für heute.«

Biggles platzte herein.

»Ihr werdet es mir nicht glauben«, sagte B.

»Was ist passiert?«

»Ich hab mein Bar-Mizwa Geld wiedergefunden. Hier in dem Buch! Erich Kästner, Emil und die Detektive.«

Wir wussten wenig damit anzufangen.

»Ich hab das Geld seit Jahren gesucht. Seitdem ich dreizehn bin! Ich dachte, mein Bruder hätte es geklaut.«

Wir konnten es nicht glauben.

»Ich auch nicht. Aber hier. Da ist es!«

Fünfhundert Euro.

»Und jetzt?«

»Das wird der beste Tag unseres Lebens.«

»Wir müssen feiern.«

»Ich ruf den Mongolen an.«

»Der Mongole hat erst morgen wieder was.«

Biggles musste kurz überlegen.

»Dann wird morgen der beste Tag unseres Lebens.«

3. SEARCH AND DESTROY

Wir exten den restlichen Chivas, holten uns mit der Bar-Mizwa Kohle an der Tanke einen Jim Beam. Dazu eineinhalb Liter Cola. Weißwein für Sheena. Wir versuchten andere Dealer; es ließ sich nichts mehr auftreiben. Es war zu spät. Alle hatten ihre Arbeitszeiten. Ich sang die Toten Hosen, sang, dass Sheena und ich niemals einer Meinung sein. Ehrlicherweise machte ich mir trotzdem Hoffnung. Ich wollte die unantastbare Rock & Roll Queen; wollte sie zurück. Außerdem geschah bestimmt viel mehr. Ich erinnere mich an Gäste bei Biggles. Keine Ahnung, wer. An Fotosessions. Jemand war gestolpert; hatte sich verletzt; alle hatten gelacht. Umrisse. Irgendwann besinnungslos besoffen, sämtliche Details verloren.