Collapse - Tom Cain - E-Book

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Tom Cain

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Beschreibung

Früher war Samuel Carver einer der besten Geheimagenten der Welt, heute arbeitet er ausschließlich auf eigene Rechnung - und auch nur, wenn es ihm passt. Doch dann wird Carver plötzlich erpresst: Entweder er tötet einen prominenten Milliardär, oder London wird Ziel eines Anschlags. Carver bleiben nur fünf Tage, um das Schlimmste zu verhindern ...

beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung!


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Inhalt

Cover

Tom Cain bei beTHRILLED

Über dieses Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

Vorspiel

Freitag, 24. Juni

1

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Samstag, 25. Juni

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Sonntag, 26. Juni

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Montag, 27. Juni

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Dienstag, 28. Juni

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Mittwoch, 29. Juni

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Donnerstag, 30. Juni

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Freitag, 1. Juli

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Zehn Tage später

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Tom Cain bei beTHRILLED

Die Samuel-Carver-Reihe:

Band 1: Target

Band 2: Survivor

Band 3: Assassin

Band 4: Collateral

Band 5: Collapse

Über dieses Buch

Früher war Samuel Carver einer der besten Geheimagenten der Welt, heute arbeitet er ausschließlich auf eigene Rechnung – und auch nur, wenn es ihm passt. Doch dann wird Carver plötzlich erpresst: Entweder er tötet einen prominenten Milliardär, oder London wird Ziel eines Anschlags. Carver bleiben nur fünf Tage, um das Schlimmste zu verhindern …

beTHRILLED – mörderisch gute Unterhaltung!

Über den Autor

Tom Cain ist Journalist und wurde für seine Arbeit mit vielen Preisen ausgezeichnet. Er hat jahrzehntelang für bekannte Zeitungen und Zeitschriften in den USA und Großbritannien geschrieben und als investigativer Journalist über Finanzskandale an der Wall Street berichtet. In seinen Action-Thrillern um den fiktiven ehemaligen Geheimagenten Samuel Carver kombiniert er packende Spannung mit realen Ereignissen wie den Tod von Prinzessin Diana oder die Finanzkrise um die Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers.

TOM CAIN

COLLAPSE

THRILLER

Aus dem Englischen vonAngela Koonen

beTHRILLED

Digitale Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2011 by Tom Cain

Titel der englischen Originalausgabe: „Carver“

Originalverlag: Bantam Press

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2013/2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Gerhard Arth

Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von © OSTILL/iStock/Getty Images Plus; aga7ta/iStock/Getty Images Plus; alptraum/iStock/Getty Images Plus; Vladimir18/iStock/Getty Images Plus; Zenobillis/iStock/Getty Images Plus; rabbit75_ist/iStock/Getty Images Plus; ESOlex/iStock/Getty Images Plus

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-1752-6

be-thrilled.de

lesejury.de

Vorspiel

East Hampton, New York, 5. Juni 2007

Malachi Zorn trat aus seinem Haus an der Lily Pond Road und schlenderte über den Rasen zu dem Weg, der zum Strand hinunterführte. Er war ein mittelgroßer, schmal gebauter Mann mit wirren, schmutzig blonden Haaren, der das ganze Jahr über braun war, weil er schon sein Leben lang regelmäßig Sport trieb. Die Frühsommersonne gab seinem Dreitagebart einen goldenen Schimmer. Er trug ein altes hellblaues Button-Down-Hemd von Brooks Brothers, das stellenweise verschossen und an den Kragenspitzen ausgefranst war. Es hing ihm lose über die khakifarbenen Cargohosen. Er war barfuß.

Kurz blieb er stehen und sah angewidert zu dem Gebäude, das auf dem Nachbargrundstück hochgezogen wurde. Ein Hedgefondsmanager hatte das elegante, achtzig Jahre alte Haus, das vorher dort gestanden hatte, abreißen lassen und baute sich nun einen Tempel der Geschmacklosigkeit und des Übermaßes. Zorns mit Schindeln verkleidetes Strandhaus mit dem Giebeldach und der gemütlichen, seeseitigen Veranda, das 1896 ein Schüler Stanford Whites entworfen hatte, wirkte dagegen zwergenhaft. Das Monstrum des Nachbarn stand für alles, was Zorn an diesen amoralischen, raffgierigen, vulgären Typen verabscheute. Sie hatten die Wallstreet in eine gigantische Melkmaschine verwandelt, um den gewöhnlichen Amerikanern das Geld abzuknöpfen und sich mit dem Profit die eigenen Taschen zu füllen.

Mühsam drängte er seine schäumende Wut zurück und ging weiter. Er wollte sich nicht den Tag verderben lassen, und schon gar nicht sollte das seine Gedankengänge stören. Am Strand genoss er den warmen Sand unter den Füßen und ließ sich die anrollenden Wellen um die Knöchel wirbeln. Eine Weile stand er da und schaute aufs Meer hinaus, ohne den Ausblick wirklich wahrzunehmen. Schließlich nickte er entschieden, machte kehrt und lief zum Haus zurück.

Fünf Minuten später, nachdem er sich eine Tasse starken Kaffee gekocht und zwei selbst gebackene Kekse aus der großen Glasdose genommen hatte, saß er wieder an seinem Arbeitsplatz, vor sich acht Flachbildschirme in zwei Reihen übereinander. Darauf liefen Dauerstreams von Real-Time-Marktdaten, in- und ausländischen Nachrichtensendungen und Newssites. Auf seinem Schreibtisch lag ein gelber Notizblock neben dem alten Kaffeebecher aus Harvard, in dem lauter gespitzte Bleistifte des Härtegrades HH standen. Zorn setzte den Bluetooth-Telefonhörer auf und blickte auf den einzigen anderen Gegenstand auf dem Schreibtisch: ein zwanzig Jahre altes Foto seiner Eltern. »Das ist für euch«, murmelte er und drückte eine Kurzwahltaste.

Als der Anruf entgegengenommen wurde, gab es weder Begrüßung noch Smalltalk, sondern nur eine simple Anweisung. »Ich möchte einen Short Call auf Lehman«, sagte Zorn. »Beginnen Sie mit einhundert in Drei-Monats-Optionen. Halten Sie sich bereit, mehr zu zeichnen.«

»Sind Sie sicher, Mal?«, fragte der Angerufene dezent überrascht. Diesen Ton behielt ein Broker seinen Kunden vor, wenn sie sich auf etwas Verrücktes einlassen wollten. »Lehman-Aktien stehen bei knapp achtzig und steigen weiter. Sie haben hundert Millionen Dollar und sagen, es geht in die andere Richtung?«

»Ja.«

»Okay. Es ist Ihr Geld, und Sie haben bisher immer richtiggelegen, aber …«

»Kein Aber. Tun Sie es. Und noch etwas: Wie hoch ist im Augenblick die Prämie bei Lehmans Kreditausfall-Swaps?«

»Weniger als ein Basispunkt, paar Zehntel vielleicht … Aber warum wollen Sie das wissen? Sie wollen wetten, dass eine hundertfünfzig Jahre alte Bank –«

»»Hundertsiebenundfünfzig Jahre, um genau zu sein.«

»Wie auch immer … Sie meinen, dass diese altehrwürdige Institution, die viertgrößte Bank der amerikanischen Finanzindustrie, kurz vor dem Zusammenbruch steht?«

»So ist es. Irgendwann in den nächsten ein, zwei Jahren, behaupte ich. Investieren Sie zehn Milliarden Dollar in Lehmans Kreditausfall-Swaps. Wenn sie Ihnen mehr verkaufen wollen, kaufen Sie. Hören Sie nicht auf.«

»Sie riskieren Millionen, wissen Sie das?«

»Ich riskiere zwei Zehntel von einem Prozent auf zehn Milliarden. Das ist kein schlechtes Geschäft. Also machen Sie’s.«

»Alles klar …«

»Und mein Name erscheint nirgendwo. An keiner Stelle.«

Penthouse Executive Club, 45th Street, New York City: 18. September 2008

»Wie haben Sie das gemacht, Mal? Mensch, Sie haben mir angekündigt, dass Lehman Brothers abstürzt. Ich dachte, Sie sind total verrückt geworden. Und dann passiert genau, was Sie gesagt haben. Wie kommt es, dass Sie recht hatten und jeder andere in der Branche falschlag?«

Drei Tage waren vergangen, seit Lehman Brothers Konkurs angemeldet hatte und die Aktie ins Bodenlose gefallen war – innerhalb eines guten Jahres von zweiundachtzig Dollar auf nur drei Cent. Nachdem die Vorstände der großen Wall-Street-Banken sowie der amerikanische Finanzminister Hank Paulson, der britische Schatzkanzler Alistair Darling und Führungskräfte der Bank of America (BoA) und Barclays, die beide Interesse gezeigt hatten, die angeschlagene Bank zu kaufen, ein Wochenende lang verhandelt hatten, musste der Vorstandschef von Lehman Brothers, Richard Fuld, sein Scheitern eingestehen. Fulds Ruf als Größe der Finanzwelt war zerstört, genau wie die Institution, für die er verantwortlich gewesen war. Er machte geltend, ebenfalls mittellos zu sein, doch seine Kritiker glaubten ihm nicht. Sie wiesen auf die geschätzte halbe Milliarde Dollar hin, die er zwischen 2000 und 2007 von der Lehman-Bank erhalten und deren Rückgabe niemand verlangt hatte.

Malachi Zorn jedoch hatte durch seine Spekulation gegen Lehman Brothers einen noch besseren Schnitt gemacht. Er hatte gut 10,7 Milliarden eingestrichen.

Jetzt saß er mit seinem Börsenmakler Donny Trimble, zwei von dessen besten Mitarbeitern und drei Stripperinnen, die sie mit Fünfzig-Dollar-Scheinen überhäuft und mit Unmengen Crystal gelockt hatten, im Penthouse Executive Club an einem Tisch und blickte in die Runde.

Weil es an der Wall Street lauter Kerle wie dich gibt, dachte Zorn bei Trimbles Frage.

Er war ganz sicher nicht prüde, aber er hielt nichts davon, für weibliche Gesellschaft zu bezahlen, und hatte das auch nicht nötig. Aber die Steaks im Club gehörten zu den besten in der Stadt, und er wollte seinen Brokern nicht verwehren, einen Coup zu feiern, bei dem auch sie Millionen verdient hatten. Also hatte er sich angeschlossen und gab sich Mühe, höflich zu sein.

»Wissen Sie, Don, was ich unglaublich finde, ist nicht die Tatsache, dass ich sehen konnte, wie sehr dieses ganze System am Ende war«, sagte Zorn, »sondern dass es so viele andere nicht sahen. Ich meine, drei Jahre vorher stand in einem FBI-Bericht, dass der Hypothekenbetrug um fünfzig Prozent zugenommen hat. Eine Rekordzahl von Leuten kam mit ihren Immobilienraten in den Rückstand oder wurde zahlungsunfähig. Und nur zweierlei hielt die ganze Sache noch in Gang. Erstens die ganzen Trottel, die sich einbildeten, ihr Haus könne im Wert nur steigen, und zweitens die Kreditgeber, die jedem, aber auch wirklich jedem Geld gaben, der sie darum bat. Und selbst wer sie nicht darum bat, bekam es in den Rachen gestopft. Ich meine, haben Sie mal von einer Subprime-Hypothek mit Einfachverzinsung, Nulltilgung und variablen Raten gehört?«

»Äh, nein, nicht dass ich wüsste«, antwortete Trimble, der augenscheinlich weniger an obskuren Hypothekenarten als vielmehr an den hübschen jungen Brüsten seiner Sitznachbarin interessiert war.

»Na, dann sage ich es Ihnen, Don. Das war eine Hypothek, bei der der Kreditnehmer vom Kapital nichts zurückzahlen muss und wo es okay ist, wenn er mit den Zahlungen in Verzug kommt, weil die entsprechende Summe einfach auf die Hypothekenschuld wieder aufgeschlagen wurde. Folglich ist der arme Blödmann, der wahrscheinlich keinen Job hatte, geschweige denn genug Einkommen, um ein Haus zu kaufen, immer tiefer ins Schuldenloch gerutscht, bis er schließlich sagte: Scheiß drauf, und das Haus, die Hypothek und den ganzen Kram einfach aufgegeben hat. Und was er hinter sich ließ, war ein Haufen Schulden, der mit einer wertlosen Immobilie abgesichert war.«

Eine der Stripperinnen, die sich Misti nannte, bezahlte ihr Studium an der Columbia University Business School, indem sie für hundertfünfundzwanzig Dollar pro Strip bei Privatleuten auftrat. Sie konnte in einer Nacht mehr Geld verdienen als ihre kellnernden Freundinnen in einem Monat. Jetzt blickte sie Zorn nachdenklich an. Wenn sie nur den betrunkenen Widerling, der sie für ihre Gesellschaft bezahlte, für ein paar Minuten zum Schweigen brächte, könnte sie hier sogar etwas lernen.

»Aber was ist mit dem Management der Lehman-Bank?«, fragte sie. »Ich meine, hätten die nicht eher etwas an der Situation ändern können, also, bevor es total kritisch wurde? Und wenn ja, hätten Sie dann nicht Ihr Geld verloren?«

»Gute Frage, Misti.« Zorn lächelte, weil die Kleine ihren scharfen Verstand bisher hinter der professionellen Dummchenmaske verborgen hatte, und gab ihr durch seinen Tonfall zu verstehen, dass er das wusste.

»Wären diese Leute mit der Situation ehrlich umgegangen – indem sie zunächst einmal ehrlich zu sich selbst sind –, hätten sie das Unternehmen vielleicht retten können. Sie hätten ihre Posten einem Verantwortungsbewussteren zur Verfügung stellen können. Sie hätten überprüfen können, welche Risiken ihre Angestellten eingehen, um dann die Praxis zu ändern. Sie hätten sich um geschickte Deals bemühen können, die auf wirklich unterbewerteten Anlagegütern basieren – und übrigens hätten sie damit auch mehr Geld gemacht. Sie hätten sich nach einem Käufer umsehen können, als sie noch in einer starken Verhandlungsposition waren. Sie hätten eine ganze Menge tun können, und, klarer Fall, das hätte mich einen Haufen Kohle gekostet. Aber wissen Sie was? Es war klar, dass sie dergleichen gar nicht tun, weil sie allesamt arrogante Arschlöcher sind – wie die meisten Leute in den Vorstandsetagen. Und sie hätten auf keinen Fall zugegeben und werden es auch nie, dass sie an der Entstehung dieses Desasters schuld sind.«

»Aber was ist mit BoA und Barclays? Wie konnten Sie wissen, dass die die Verhandlung scheitern lassen und die Lehman-Bank nicht kaufen?«

Zorn griff in sein Jackett, zog die Brieftasche heraus und entnahm ihr tausend Dollar. Die schob er über den Tisch zu Mistis Galan, einem dreisten jungen Broker namens Luis Ferrone, und sagte: »Kaufen Sie sich eine andere Freundin.« Dann blickte er Misti an und winkte sie auf den freien Platz neben sich. Im Nu saß sie bei ihm.

»Also«, sagte Zorn, »Sie fragen nach den anderen Banken? Tja, das ist schnell zu beantworten. Die Abschlüsse wären überhaupt nicht zustande gekommen. In dem Augenblick, wo die Käufer in die Bücher der Lehman-Bank guckten, war klar, dass deren Vermögenswerte beileibe nicht so hoch waren wie behauptet. Offiziell besaß Lehman Brothers vierzig Milliarden in Einlagen. Soweit ich weiß, liegt die wahre Zahl eher bei fünfundzwanzig. Da entschied die Bank of America, lieber Merrill Lynch zu kaufen. Blieb also noch Barclays. Doch Barclays hatte ein Problem. Die Lehman-Bank war bankrott. Die konnte keine Geschäfte mehr tätigen oder auch nur als Unternehmen existieren ohne frisches Kapital, und Barclays konnte keines geben, ehe der Vertrag unterschrieben war. Am Montagmorgen würde also jemand mit einem Überbrückungsgeld einspringen müssen, um einen Kauf zu decken, der noch gar nicht sicher war. Und wer kam dafür in Frage?«

»Uncle Sam?«, schlug Misti vor.

»Komisch, dass Sie das sagen. Dick Fuld hatte dieselbe Idee, bis Paulson ihm klarmachte, dass Washington keinen einzigen Steuergroschen herzugeben bereit sei, um seine Bank zu retten. Dann versuchten sie’s auf der persönlichen Ebene. Bei Lehman Brothers gab es einen gewissen George Herbert Walker, der ein Cousin des Präsidenten ist. Es heißt, dass er gebeten wurde, im Oval Office anzurufen. Tja, wenn er es getan hat, ist der Präsident jedenfalls nicht rangegangen. Dann sagten die Leute: Barclays ist ja eigentlich eine britische Bank, vielleicht wird deren Regierung uns das Geld geben. Die Briten machten gleich klar, dass eher die Hölle einfriert, als dass sie ihre Steuerzahler Milliarden riskieren lassen, um eine amerikanische Bank zu stützen. Glauben Sie mir, ich hatte keine einzige schlaflose Nacht deswegen. Und wissen Sie was? Barclays auch nicht. Gestern haben sie den Trümmerhaufen von Lehman Brothers durchwühlt und die meisten der US-Sparten für unter zwei Milliarden erworben. Ich schätze, sie zahlten etwa zehn Cent pro Dollar. Ich hätte zu gern Fulds Gesicht gesehen, als er das erfuhr.«

Misti bedachte ihn mit einem warmen, ungekünstelten Lächeln, das von ihr selbst kam, nicht von der Stripperin.

»Sie klingen dabei so emotional, als ginge es nicht nur ums Geschäft. Es scheint eher etwas Persönliches zu sein.«

»Ja, auch da liegen Sie richtig. Das ist etwas sehr, sehr Persönliches.«

»Dann war das ja eine ziemliche Show für Sie.«

Malachi Zorn schüttelte säuerlich lächelnd den Kopf. »Nein«, widersprach er. »Das war nicht die Show.« Dann lachte er, sodass Misti ebenfalls lachte und es als Scherz auffasste, als er sagte: »Das war erst die Generalprobe.«

Washington, D.C.: 17. März 2011

Drei Jahre danach waren die Auswirkungen der Bankenpleite noch nicht behoben. Bei einer Kongressanhörung über Praxis und Regulierung von Leerverkäufen zeigte Malachi Zorn den Mitgliedern des Finanzausschusses, die ihn als skrupellosen Profiteur hinstellen wollten, mühelos ihre Grenzen auf. Zorn stellte, diesmal ungewohnt förmlich gekleidet, seinen Standpunkt dar, ohne witzige oder spöttische Pointen zu versprühen, sondern redete vielmehr mit einem Ernst, der suggerierte, dass die ihn befragenden Politiker sich einer ausbeuterischen Haltung schuldig machten und leichtfertig mit dem Thema umgingen, wohingegen er aufrichtig im öffentlichen Interesse handelte.

Zorn wurde gefragt, ob an den jüngsten, in der Finanzwelt kursierenden Gerüchten etwas wahr sei, wonach er eine Anzahl sehr signifikanter Leerverkäufe bei führenden Energie- und Ölkonzernen getätigt habe. Zorn antwortete: »Ich gebe grundsätzlich nicht preis, welche Finanztitel ich gekauft habe, solange diese noch laufen. Dafür gibt es viele Gründe. Kaufmännische Verschwiegenheit ist der ersichtlichste. Aber ich möchte auch nichts herbeireden. Ich habe, wie Sie andeuteten, in meiner Branche einen gewissen Ruf. Ich möchte nicht übermäßig arrogant klingen, aber wenn meine Abschlüsse öffentlich bekannt würden, würden andere sie höchstwahrscheinlich nachmachen, um auf meinen Rockzipfeln zu reiten sozusagen. Das hätte zweierlei Folgen. Erstens würde das genau den Abwärtsdruck auf das fragliche Unternehmen erzeugen, den Sie, meine Herren, so eifrig verhindern wollen. Und zweitens würde das tatsächlich den Markt vernichten. Schließlich kann ich nur verkaufen, solange auch jemand kaufen will. Ich bin angewiesen auf echte und gesunde Meinungsunterschiede innerhalb des Marktes – auf eine Demokratie des Marktes, wenn Sie so wollen –, damit die Spielräume entstehen, von denen ich profitiere.

Aber eines möchte ich zum allgemeinen Thema der Energieindustrie in allen ihren Formen noch sagen. Meine persönliche Ansicht ist, dass es viele Mitglieder extremistischer Gruppen gibt, die auf die Wirkung islamistischen Terrors blicken und versucht sein werden, die Methoden zu übernehmen. Mit den Begriffen der Wirtschaft gesprochen: Terror ist ein Produkt, das läuft. Darum rechne ich damit, dass Umweltaktivisten das Vorgehen von Gruppen wie al-Quaida nachahmen und Ziele wie Bohrinseln, Kernkraftwerke oder Umspannwerke angreifen werden, um nur drei Beispiele zu nennen. Wenn ich durch meine Investitionen die gegenwärtige Verwundbarkeit eines bestimmten Sektors aufzeige, tue ich meiner Ansicht nach nicht nur ein gutes Werk, sondern erfülle auch meine patriotische Pflicht.«

Mehr als einer der anwesenden Journalisten griff den Satz »Terror ist ein Produkt, das läuft« auf und kontaktierte seine Zeitung oder seinen Sender, um die Redakteure auf das Schlagzeilenpotenzial aufmerksam zu machen. Doch leider fuhr einer von Hollywoods angesagtesten Actionhelden, ein harter, aber empfindsamer Australier, der wegen seines sauberen, familiären Lebensstils beliebt war, seinen Ferrari 458 Italia auf dem Parkplatz des Hideaway Inn in Malibu zu Schrott, weil er unter starkem Drogeneinfluss stand. In seinem Wagen befanden sich außerdem eine junge Asiatin und eine kleine Lederreisetasche mit einigen Plastiktüten voll Kokain, Marihuana und diversen illegalen sowie verschreibungspflichtigen Pillen. Auf dem Polizeirevier stellte sich dann heraus, dass seine Begleiterin in Wirklichkeit eine neunzehnjährige thailändische Transfrau war. Ein Mitschnitt mit der hitzigen, kaum schlüssigen Behauptung des Stars, er habe über das wahre Geschlecht seiner Beifahrerin nicht Bescheid gewusst, stand innerhalb einer Stunde im Netz. Die Zeile »Ich dachte, sie sei eine Sheila!« war an dem Abend in sämtlichen Talkshows die Pointe.

Niemand wollte in den darauf folgenden Nachrichtensendungen etwas über Terroristen hören.

Zorn wiederholte seine Warnung in einem Fachblog für Hedgefondsmanager und Investoren und auch in privaten Gesprächen mit einer Reihe äußerst wohlhabender Persönlichkeiten. Doch seine Warnung drang nicht ins öffentliche Bewusstsein vor und blieb ohne Einfluss auf Politik und Wirtschaft. Es schien also, dass es Malachi Zorn zum ersten Mal in seinem Leben verwehrt war, die von ihm gewünschte Wirkung zu erzielen.

Freitag, 24. Juni

1

Mykonos

Samuel Carver war es völlig neu, dass Pelikane solche Schreie ausstießen. Doch vor ihm stand einer mit hellrosa Gefieder und kreischte.

»Ich will ihn fotografieren. Kommst du mit?«

Sie hieß Magda, aber alle nannten sie Ginger, was bei ihren Sommersprossen und den feuerroten Haaren sofort einleuchtete. Sie hatte weit auseinanderstehende graublaue Augen, weiche, leicht aufgeworfene Lippen und ein Grübchen an der Nasenspitze. Sie gestand, »um die vierzig« zu sein, sah aber nicht älter aus als achtundzwanzig und arbeitete, wie sie sagte, in der Unternehmensfinanzierung. Carver fuhr einen Leihwagen, einen kleinen japanischen Jeep. Er hatte in der Autoschlange im Hafen von Piräus, die auf die Fähre nach Mykonos wartete, neben Gingers Porsche Boxster gestanden, beide Wagen mit offenem Verdeck. Nach ein paar interessierten Blicken hatten sie eine Unterhaltung angefangen und festgestellt, dass sie beide, zwei ungebundene Erwachsene, ein paar Wochen auf den ägäischen Inseln Urlaub machten. Da bot es sich an, sich zusammenzutun und mal zu sehen, wie das funktionierte. Bislang schien es ziemlich gut zu laufen.

»Danke«, sagte Carver, »aber ich bleibe hier und genieße das Panorama.«

»Ah ja«, sagte Ginger verständnisvoll lächelnd. »Die berühmten Windmühlen.«

»Genau.« Carver hielt seine kühlen grünen Augen auf Ginger gerichtet, während sie in knappen Daisy-Duke-Shorts, die kaum eine Frau ihres Alters so gut tragen konnte, zwischen den Tischen des Freiluftrestaurants hindurchging. Er schmunzelte, als ihm auffiel, dass noch andere Männer hinter ihr hersahen. An der offenen Tür, die zur Küche führte, stand ein Kellner gegen das Aquarium gelehnt, in dem Fische und Hummer schwammen, und nickte Ginger zu.

Das Lokal, in dem sie zu Mittag aßen, hieß Little Venice. Die Tische standen direkt an der hüfthohen Ufermauer, wo ihnen ab und zu Gischttröpfchen ins Gesicht spritzten. Ginger war jetzt fünfzehn Meter weit weg, hockte mit der Kamera vorm Gesicht vor dem Pelikan. Den schien ihre Gegenwart nicht im Geringsten zu beunruhigen. Ein paar Sekunden lang posierte er wie ein erfahrener Profi, dann riss er den Schnabel auf, unter dem der ledrige Kehlsack hing wie das Doppelkinn eines fetten Menschen, und wartete auf eine Belohnung.

Die erste Kugel durchschlug seinen Hals und riss ihm den Kopf weg. Die zweite, dritte und vierte trafen Ginger unter leuchtend roten Eruptionen in die Brust und warfen sie zu Boden, wo sie reglos auf dem Rücken liegen blieb. In den Nachhall der Schüsse mischten sich panische Zurufe und Schreie und das Klappern von Stühlen und Tischen, als die Gäste hastig flüchteten. Carver blieb ruhig und prägte sich die zwei Schützen ein: einer groß, blond, weites blaues Hemd, Jeans; der andere kleiner, dunkler, ganz in Schwarz; beide mit Handfeuerwaffe. Carvers erster Impuls war, zu Ginger zu laufen, doch die Schützen waren jetzt nur noch ein paar Meter von ihr entfernt, sodass es glatter Selbstmord wäre. Sie würden ihn niederschießen, ehe er auch nur in Gingers Nähe gelangte.

Die beiden Männer sahen sich auf der Restaurantterrasse um, als suchten sie jemanden, und Carver wartete nicht ab, ob es dabei um ihn ging. So langsam und unauffällig wie möglich duckte er sich und kroch unter dem Tisch hindurch, der direkt hinter ihm stand. Ringsherum drängten sich kriechende Leute in Richtung Ausgang. Männer stießen Frauen und sogar Kinder gedankenlos beiseite, wenn die Patina zivilisierten Verhaltens aufbrach und der Selbsterhaltungstrieb durchkam.

Eine khakifarbene Baseballkappe lag verloren am Boden. Carver riss sie an sich und setzte sie auf, um seine kurzen dunklen Haare zu verdecken und seine Silhouette zu verändern. Als Verkleidung war das nicht viel. Aber alles, was das Wiedererkennen unter den vielen Touristen auch nur geringfügig erschwerte, würde ihm nützen.

Natürlich konnte er nicht wissen, ob sie es wirklich auf ihn abgesehen hatten. Vielleicht war Ginger das primäre Ziel gewesen oder auch einfach nur die Unglückliche, die am nächsten gewesen war, als die Täter das Restaurant betraten. Doch das Leben hatte Carver gelehrt, immer das Schlimmste anzunehmen und danach zu handeln. Auf diese Weise wurde er nur angenehm überrascht.

Zwei weitere Schüsse fielen. Die Fluchtbewegungen der Leute wurden verzweifelter. Wie es sich anhörte, waren die Täter bis unter die Markise vorgedrungen, die die Tische zwischen dem Küchentrakt und der Ufermauer überspannte. Sie trieben, wie er gerade begriff, die Menschenmenge in eine bestimmte Richtung. Demnach hatten sie ein Ziel im Kopf, eine Stelle, wo die Schar sich teilen und die Zielperson ausgesondert werden sollte. Carver hatte andere Pläne. Er stand auf, schwenkte nach rechts und drängte sich mit eingezogenem Kopf durch den Strom der Flüchtenden auf die Küchentür zu.

Plötzlich brach er aus der Menge hervor und lief ein, zwei Sekunden lang ohne Deckung. Lange genug. Er hörte jemanden rufen: »Da drüben!« Daraufhin rannte er in vollem Tempo auf die Tür zu, hinter sich den Klang hastiger Schritte.

Das war die Antwort auf seine Frage. Die Männer waren hinter ihm her. Fragte sich nur noch, warum.

Er erreichte das Aquarium, duckte sich dahinter und stemmte sich mit ganzer Kraft gegen das Glas. Erst neigte es sich nur ein paar Zentimeter, dann mehr, bis es umkippte und am Boden auseinanderbrach. Fische und Schalentiere ergossen sich mit dem Wasser in den Weg seiner Verfolger und bildeten eine glitschige Masse zappelnder und mit den Scheren schnappender Leiber.

In der Sekunde, die ihm die Ablenkung einbrachte, flitzte Carver durch die Tür und einen kurzen Gang entlang auf die Küche zu. Hinter ihm wurde geschossen. Er fühlte die Kugeln an sich vorbeizischen und sah die Scheibe eines Weinkühlschranks zersplittern.

Mit einem Sprung über die Scherben schlitterte er in die eigentliche Küche. Am Herd standen zwei Frauen, eine ältere in schwarzen Kleidern und eine junge, knapp Zwanzigjährige. Sie schrien ihn an, während er sich nach einem Fluchtweg umsah.

Seine Verfolger waren nur Sekunden hinter ihm. Die Frauen kreischten. Vor Stress war er wie benommen und konnte nicht klar sehen. Er zwang sich zur Ruhe, konzentrierte sich auf die vor ihm liegende Aufgabe und ignorierte die innere Stimme, die ihm vorhielt, er sei verweichlicht und außer Übung, und die ihn an die Zeit erinnerte, wo er nirgends unbewaffnet oder unvorbereitet hingegangen war.

Die Küche hatte doch sicher einen Hinterausgang? Wenn nicht, war er ein toter Mann.

2

Ja, da war sie, eine Tür, halb hinter leeren Kisten verborgen. Carver sprintete durch den Raum, trat die Kisten beiseite, torkelte durch die Tür und fand sich am Ende einer Gasse wieder, die zwischen zwei anderen Häusern verlief. Sie öffnete sich auf eine der schmalen Geschäftsstraßen, die sich durch Mykonos wanden wie verhedderte Spaghetti.

Die Inselbräuche schrieben vor, dass man sein Haus in jeder Farbe streichen durfte, solange sie weiß war. Aber niemand schrieb vor, welche Farbe die Türen und Fenster und die an jedem Haus vorhandenen Veranden und Treppen haben sollten. Leuchtende Farbkleckse in Blau, Türkis und Hellrot trafen auf das schreiende Magenta der Bougainvilleas, die aus jedem Spalt wuchsen.

Auf der Straße wimmelte es von Touristen, die von dem panischen Durcheinander in dem Uferrestaurant nichts ahnten: Pärchen, Freundinnen beim Shoppen, Männer, die Arm in Arm gingen und damit bewiesen, dass man auf Mykonos dem Ruf der Insel gemäß alles durfte, solange dabei niemand verletzt wurde. Carver tauchte ins Gewühl und bewegte sich möglichst schnell, aber unauffällig voran, eine schlanke, durchtrainierte Gestalt in olivgrünen Cargoshorts und hellblauem Baumwollhemd, die zielstrebig zwischen den Flanierern durchschlüpfte, ein Raubtier unter Pflanzenfressern.

Dabei nahm Carver ständig die Gesichter der Umgebung auf, achtete mit allen Sinnen scharf auf jedwedes Zeichen für Gefahr, während er unbewusst analysierte, was er sah. Zwei junge Frauen kreischten vor Lachen über eine Bemerkung: ungefährlich. Ein junges Paar schmiegte sich beim Gehen aneinander und war nur an der eigenen Verliebtheit interessiert: ungefährlich. Zwei Männer nebeneinander, beide kahlrasiert, schauten über die Köpfe der Passanten … einer bemerkte Carver … fing seinen Blick auf … griff ins Jackett … gefährlich! Gefährlich!

Carver rannte los, stieß taumelnd die Verliebten beiseite, sauste zwischen den Freundinnen hindurch, die empört aufschrien, und hastete eine hellblaue Treppe hoch. Dabei blickte er über die Schulter und sah die zwei Kahlrasierten, denen sich gerade die Schützen aus dem Restaurant anschlossen und auf ihn zeigten. Carver kam auf dem oberen Treppenabsatz an. Rechts neben ihm führten zwei mit Holzläden versehene französische Fenster ins Haus. Er sah nach links die Straße entlang. Am Gebäude gegenüber verlief eine Treppe nach oben. Deren Absatz war nur knapp zwei Meter entfernt. Die Haustür darunter stand offen. Carver stieg auf das Geländer des Treppenabsatzes, hockte dort für eine Sekunde auf den Fußballen, und dann, als die ersten Schüsse von unten kamen, sprang er zum anderen Gebäude hinüber. Er setzte über das dortige Geländer hinweg, landete auf den Holzdielen und rollte sich zusammengekrümmt durch die offene Tür in den Raum dahinter.

Ein grauhaariger Mann lag dort auf einem großen Messingbett und machte seinen Mittagsschlaf. Er brummte schläfrig unwirsch, ließ sich aber wieder aufs Kissen sinken, als Carver aus dem Zimmer auf den Flur rannte. Am Ende führte eine Treppe ins Erdgeschoss und eine zum Dach hinauf. Carver lief nach oben und gelangte auf ein großes, blendend weißes Flachdach. Zwischen zwei Schornsteinen an den Dachecken war eine Wäscheleine gespannt. Carver band ein Ende los und rannte zum anderen.

Er wollte sich gerade an der Seite des Hauses abseilen, als er bei einem Blick nach unten einen schwarz gekleideten Mann mit einer Pistole in der Hand von der Rückseite des Hauses in die Seitengasse einbiegen sah. Mit einem scharfen Ruck an der Leine probierte Carver, ob sie halten würde, dann band er das Ende zu einer Lassoschlinge.

Vorsichtig spähte er über die Dachkante.

Der Killer war jetzt nicht mehr weit weg, näherte sich leicht geduckt mit zögerlichen Schritten und schaute von rechts nach links in Türöffnungen nach seinem Opfer, selbst ebenfalls nervös mit einem Hinterhalt rechnend.

Die Kopfhaltung war ideal, aber Carver würde nur eine einzige Chance haben. Er legte die Leine aus, um abzuschätzen, wie viel er brauchte. Als der Killer unten vorbeiging, ließ Carver die Schlinge hinab und versetzte ihr einen leichten Schwung, sodass sie über dem Kopf des Mannes pendelte, aber nicht so stark, dass sie die Luft in Bewegung brachte. Dabei betete er, der Mann möge nicht nach oben sehen. Der Killer war zwei Schritte an Carver vorbei, dann drei …

Carver ließ die Leine zu ganzer Länge auslaufen, schwenkte sie an dem Mann vorbei und wieder zurück, senkte sie tiefer hinab, bis er ihm die Schlinge um den Kopf legen konnte, und zog daran.

Da erst wurde der Killer sie gewahr.

Er fuhr sich mit der linken an den Hals, um an der Schlinge zu zerren, blickte nach oben und zielte auf Carver, der jetzt vollkommen zu sehen war und ungeschützt an der Dachkante stand.

Bevor der Killer schießen konnte, zog Carver die Schlinge weiter zu wie ein Henker den Galgenstrick. Jetzt war die Pistole vergessen. Sie landete am Boden, als der Mann mit beiden Händen an der Schlinge zerrte. Carver zog wieder und noch ein drittes Mal, um den Druck auf den Hals zu erhöhen, was den Kehlkopf quetschte und sein Opfer zwang, rückwärts auf die Hauswand zuzutaumeln in der Hoffnung, der Leine Spiel zu geben. Doch Carver zog sie immer strammer, biss unnachgiebig die Zähne zusammen, während die Gegenwehr des Killers schwächer wurde und schließlich aufhörte. Der Körper am Ende der Leine sackte kraftlos zusammen. Vorerst war der Mann bewusstlos. Es würde ein paar Minuten dauern, bis der Tod eintrat, aber er war unausweichlich.

Nun gebrauchte Carver die Leine für den ursprünglich gedachten Zweck und seilte sich daran in die Gasse ab. Er warf einen Blick auf das violette Gesicht des Killers und die herausgequollene Zunge.

»Das war für Ginger«, sagte Carver. Er hob die Pistole auf und suchte in den Kleidertaschen nach dem zweiten Munitionsclip. Dann sah er sich um. Zehn Meter weiter die Gasse hinunter, am Hinterausgang eines Restaurants, stand ein Müllcontainer. Carver schleifte den Körper dorthin, hievte ihn hinein und deckte ihn mit stinkenden Küchenabfällen, leeren Flaschen und Kartons zu. An einem alten, ausrangierten Tischtuch wischte er sich die Hände ab, schloss den Containerdeckel und ging die Gasse entlang.

Allein gegen vier und unbewaffnet, das hatte ihm gar nicht gefallen. Aber jetzt war er bewaffnet und der Feind hatte einen Mann verloren. Die Chancen entwickelten sich zu Carvers Gunsten.

3

MI6-Zentrale, Vauxhall, London

»Na schön, dann mal raus damit«, sagte Jack Grantham, als er in das Besprechungszimmer kam. »Was hat der grinsende Geldraffer jetzt wieder vor?«

Er klatschte eine Akte auf den Tisch, zog sich seinen Stuhl so energisch darunter hervor, dass man einen Abgrund voll aufgestauter Gereiztheit ahnte, und setzte sich.

Ein halbes Dutzend Kollegen hatten sich bereits eingefunden. Sie sahen sich mit hochgezogenen Brauen fragend an. Nachdem zehn Jahre lang die Leiter des MI6 im Grunde politische Posteninhaber gewesen waren, die sich jedes Wort genau überlegten, damit man ihnen nichts anlasten konnte, und der Downing Street ungeachtet der Tatsachen immer genau das mitteilten, was man dort hören wollte, mussten sich die Mitarbeiter an Granthams übellaunige Offenheit erst noch gewöhnen.

»Meinen Sie damit unseren früheren Premierminister?«, fragte der zweitälteste Mitarbeiter, Piers Nainby-Martin, in amüsiert gelangweiltem Ton. Er war seit dreißig Jahren beim Secret Service und hatte seine Erziehung in Eton und am New College in Oxford erhalten.

»Aber ja, Piers, natürlich meine ich Right Honourable Nicholas Orwell, einstmals Mitglied für den Wahlkreis Blabey und Trimingham, nunmehr vollauf damit beschäftigt, sein Nest auszupolstern. Was höre ich da über sein neues Unternehmen? Ein Investmentfonds für die Stinkreichen … Na los, wir wollen es wissen.«

Elaine McAndrew, ein bebrillter, mausgrauer Blaustrumpftyp in den Dreißigern, stand auf und zeigte mit einer Fernbedienung auf einen großen Plasmabildschirm. »Das ist die Aufnahme von gestern Abend.«

Auf dem Bildschirm erschienen körnige Bilder von einer Gartenparty. Ein großer runder Speisetisch mit üppiger Blumendekoration in der Mitte stand an einem beleuchteten Swimmingpool, an dessen anderem Ende zwei Pavillons aus Seidenvorhängen aufgebaut waren. In einem davon warteten zwei Chefköche hinter einem Buffet mit ganzen Hummern, prächtigen Riesengarnelen, einem perfekt rosa gebratenen Roastbeef, goldgelb glacierten Hühnchen, Silberschüsseln voll Pasta, Reis und Salaten aller Art und zwei Rechauds, die einen Duft verbreiteten, der einem Dreisternerestaurant alle Ehre gemacht hätte. Im angrenzenden Pavillon hielt ein Barmixer Premier-Cru-Weine und Jahrgangschampagner, europäische, asiatische und amerikanische Biere und für die Liebhaber hochgeistiger Getränke eine Auswahl Single Malt Whiskys bereit.

»Das ist das Castello di Santo Spirito, ein Anwesen in der Toskana, etwa zehn Kilometer von Siena entfernt. Gehört einem Amerikaner namens Malachi Zorn«, erklärte die Frau.

»Diesem Spekulanten?«, fragte Grantham.

»Ganz recht, Sir, ja.«

Grantham brummte missbilligend. »Seine Spekulationen scheinen wohl recht erfolgreich zu sein.«

»Ja, Sir, angeblich besitzt er über fünfzehn Milliarden Dollar.«

Am Tischende raschelte Papier, und jemand meldete sich zu Wort. »Nach der Liste der reichsten Personen der Welt in der jüngsten Forbes-Ausgabe sind es fünfzehn Komma drei.«

Grantham hatte mit gleichgültigem Gesicht und einer Spur Ekel zugehört. »Was für ein Anlass war das?«

»Eine Dinnerparty, Sir«, sagte McAndrew. »Für ähnlich vermögende Gäste.«

Die Kamera schwenkte in die entgegengesetzte Richtung auf eine Steintreppe, die zu einem Landhaus führte. Nach den Champagnergläsern zu urteilen, die ab und zu am unteren Rand ins Bild hineinragten, war die Kamera am Jackett eines Kellners befestigt. Sie richtete sich nun auf einen Mann. Sein schwarzer Anzug war makellos geschnitten und kunstvoll zerknittert, sein weißes Hemd ohne Krawatte, die obersten drei Knöpfe geöffnet, sodass eine gebräunte, haarlose Brust zu sehen war. Eine Gruppe von Gästen – Grantham zählte neun Männer und Frauen – folgte ihm die Stufen hinunter wie die Kinder dem Hamelner Rattenfänger.

»Mr Zorn, nehme ich an«, sagte Grantham.

»Ja, Sir.«

»Und was haben wir über ihn?«

Nainby-Martin ergriff das Wort. »Würden Sie bitte den Film einen Augenblick anhalten, Elaine?« Sowie das geschehen war, blickte er auf die vor ihm liegende Akte. »Malachi Vernon Zorn. Geboren 1970 in Westchester, New York. Sein Vater war Bankangestellter, seine Mutter Hausfrau. Malachi war das einzige Kind. Er besuchte die Phillips Exeter Academy, dann ging er nach Harvard und studierte Mathematik, wofür er eine phänomenale Begabung hatte. Bereits als Junge konnte er ausgezeichnet reiten, spielte viel Tennis und war ein tüchtiger Segler. So weit ein ganz gewöhnlicher Privilegierter. Dann nahm sein Leben eine überraschende Wende. Beide Eltern starben, zuerst die Mutter, dann der untröstliche Vater.

Zorn absolvierte gerade sein letztes Jahr in Harvard, verließ die Universität jedoch ohne Abschluss. Er trieb sich permanent in den New Yorker Partykreisen herum, offenbar bestrebt, das geerbte Vermögen so schnell wie möglich durchzubringen. Ab und zu wurde er in der Klatschpresse erwähnt, aber davon abgesehen hörte man nichts von ihm bis 1995, als er eine kleine Firma gründete: Zorn Financials. Es war ein Einmannunternehmen: Zorn in seinem Büro, umgeben von Computerbildschirmen, wo er im Wesentlichen in die Finanzmärkte selbst investierte.«

»Bevorzugt er einen?«, fragte Grantham. »Solche Leute spezialisieren sich doch stark, soweit ich weiß, auf bestimmte Rohstoffe, Währungen und so weiter.«

»Völlig richtig«, bestätigte Nainby-Martin. »Und außerdem neigen sie dazu, anderer Leute Geld zu benutzen. Der junge Zorn jedoch kaufte Finanztitel augenscheinlich unabhängig vom Typ des Marktes oder des Wirtschaftsstandortes oder der dort geltenden Spielregeln. Und dabei riskierte er jeden Penny, den er hatte, jedes Mal.«

»Klingt nach einem Lebensmüden«, meinte Grantham. »Von den Eltern allein zurückgelassen, das Leben sinnlos. Er forderte das Schicksal heraus, ihn ebenfalls zu vernichten.«

»Das ist sicherlich eine Theorie«, räumte Nainby-Martin ein. »Und sein übriges Verhalten scheint das so weit zu bestätigen. Sowie Zorn anfing, das große Geld zu machen, gab er es für gefährliche Hobbys aus: für schnelle Autos, Rennboote, Fallschirmspringen, Bergsteigerexpeditionen im Himalaya und dergleichen. Er wurde zum Adrenalinjunkie, könnte man sagen.«

»Und wie erschien Nicholas Orwell auf der Bildfläche?«

»Ah ja, vor einem Jahr ließ Zorn verlautbaren, er trage sich mit dem Gedanken, auf konventionellere Art Geschäfte zu machen, und gründete einen Hedgefonds namens Zorn Global, der Investments von außerordentlich betuchten Privatpersonen akzeptiert. Er zog eine Mindestbeteiligung von einer Milliarde Dollar in Betracht. Und der Mann, von dem er sich vorstellte, er solle sein persönlicher Botschafter bei den Superreichen werden, war Nicholas Orwell.«

Grantham lachte in sich hinein. »Orwell muss von der Idee begeistert gewesen sein.«

»Er machte nicht die geringsten Einwände«, sagte Nainby-Martin trocken. »Nach unserer Information bot Zorn ihm ein Honorar von fünf Millionen Dollar plus noch einmal dieselbe Summe für dessen wohltätige Stiftung.«

»Er tut das demnach aus reiner Wohltätigkeit? Wie edel.«

Der beißende Sarkasmus löste rund um den Tisch leises Kichern aus.

»Ganz recht«, sagte Nainby-Martin und bewahrte ein ausdrucksloses Gesicht. »Aber wie dem auch sei, in der Schickeria gingen augenblicklich Gerüchte über Zorns neuen Fonds um. Schon nach kürzester Zeit flehte ihn jeder an, ihm sein Geld geben zu dürfen.«

»In diesem wirtschaftlichen Klima? Klammern die sich nicht alle mit Klauen und Zähnen an ihr Geld?«

»Offenbar nicht. Die Reichen scheinen das Problem zu haben, dass sie nicht wissen, wohin mit dem Geld. Aktien und Rohstoffe gibt es an jeder Ecke, Immobilienwerte steigen nicht weiter, und die Zinsen auf Ersparnisse sind seit Jahren auf Tiefststand. Die Leute suchen nach einem Magier, der weiß, wie man in den Märkten noch einen Dollar machen kann.«

»Und Zorn stellt sich nur zu gern zur Verfügung.«

»Exakt.«

»Diese Party in Italien, ich nehme an, die zielte auf potenzielle Investoren? Orwell schmiert ihnen Honig ums Maul, und Zorn nimmt das Geld entgegen?«

»So ähnlich.«

Grantham nickte gedankenvoll. »Verstehe. Machen wir weiter mit dem Film.«

Zorn und seine Gästeschar stiegen weiter die Treppe hinunter. Die Männer waren konservativer gekleidet als Zorn, die Frauen trugen elegante Couturekleider aus Seide und Spitze und waren mit kostbaren Juwelen behängt, die aus der Schatztruhe eines Piraten hätten stammen können; ein Vergleich, der in einigen Fällen der Wahrheit ziemlich nahekam, eingedenk der zweifelhaften Mittel, mit denen ihre Gatten zu ihrem Vermögen gekommen waren. Durch diese erlesene kleine Gruppe bewegte sich ein Mann, der in der ganzen Welt für sein strahlend charmantes Lächeln und die täuschende Plausibilität seiner Worte bekannt war, munter nach vorn und wechselte ein paar Worte mit Malachi Zorn.

»Aha!«, sagte Grantham. »Nicholas Orwell persönlich, genau der, den ich …«

Grantham verstummte stirnrunzelnd und sah genauer hin. Er gab McAndrew ein Zeichen. »Halten Sie mal an!« Dann stand er auf und ging zum Bildschirm. Ein paar Sekunden lang starrte er angestrengt auf eine Bildstelle, dann tippte er mit dem Zeigefinger auf eine schlanke Blondine, die durch ihre Eleganz unter den anderen Frauen hervorstach, obwohl diese so viel Geld in ihre äußere Erscheinung investiert hatten.

»Da hol mich doch der Teufel«, murmelte Grantham.

Hinter ihm raschelte jemand mit Papier und sagte: »Wenn Sie mir einen Moment Zeit geben, Sir, sollte ich ihre Identität feststellen können.«

»Nicht nötig«, erwiderte Grantham. »Das ist Alexandra Vermulen, geborene Petrowa, auch Alix genannt. Sie ist Russin und um die vierzig. Faszinierende Frau.«

»Das klingt, als ob Sie sie gut kennen«, bemerkte Nainby-Martin.

Grantham schwieg. Er dachte an das eine Mal zurück, als er ihr persönlich begegnet war: bei einer Beerdigung in Norwegen, wo man Abschied nahm von einem guten Mann, der einen schlimmen Fehler gemacht hatte. Und dann dachte er an weiter zurückliegende Ereignisse und an den Mann, durch den er Alix kennen gelernt hatte und der sie liebte: Samuel Carver.

»Nein«, sagte Grantham schließlich. »Ich könnte nicht behaupten, dass wir gut miteinander bekannt sind.« Einen Moment lang klang er ganz untypisch wehmütig. Doch zur Erleichterung seiner Mitarbeiter fiel er sogleich in seine bissige Art zurück. »Aber eins weiß ich aus Erfahrung: Wenn diese Frau die Bildfläche betritt, lassen die Probleme nicht lange auf sich warten.«

4

Mykonos

Im Laufe der Jahre hatte Carver sich mehr Feinde als Freunde gemacht. Das brachte sein Beruf so mit sich. Wer sein Leben damit zubringt, Kriminelle, Terroristen und Psychopathen jeglicher Beschreibung zu beseitigen, wird unausweichlich den ein oder anderen Groll auf sich ziehen.

Carver war nicht sein wirklicher Name. Nachdem seine Mutter ihn als Säugling verlassen hatte, wurde er von zwei Eheleuten adoptiert, die ihn Paul nannten und ihm ihren Nachnamen gaben: Jackson. Seine berufliche Laufbahn begann er als Second Lieutenant bei den Royal Marines und wurde später für den Special Boat Service ausgewählt, die Elite innerhalb der Elite. Nach zwölf Jahren quittierte er den Dienst und träumte von einem friedlichen, normalen, bürgerlichen Leben, bis seine Verlobte auf der Straße überfahren wurde. Das warf Carver aus der Bahn, und häufig schlief er nach einer Schlägerei in einer Zelle seinen Rausch aus. In dieser Zeit bot ihm Quentin Trench, sein ehemaliger Vorgesetzter beim SBS einen Job an, für den er aufgrund seiner speziellen Ausbildung perfekt geeignet war.

Er wurde freiberuflicher Attentäter, und sein Hauptauftraggeber war eine Gruppe, die sich selbst als das Konsortium bezeichnete. Es bestand aus Männern, deren Reichtum und Einfluss es ihnen ermöglichte, für gewisse Dienste zu bezahlen, mit denen keine gewählte Regierung in Verbindung gebracht werden durfte: für die Beseitigung von Personen, deren Schuld längst zweifellos bewiesen war, ohne Rückgriff auf Richter oder Geschworene. Carver benutzte ausgeklügelte Methoden, durch die seine Anschläge wie Unfälle aussahen oder einem anderen Täter angelastet werden konnten.

Er war sehr gut in seinem Job und wurde entsprechend bezahlt, aber solange er noch einen Rest Menschlichkeit in sich hatte, machte es ihm unvermeidlich zu schaffen, dass er anderen Menschen das Leben nahm, egal wie schlecht sie sein mochten. Er versuchte sein Tun durch Aufrechnen zu rechtfertigen: die Vernichtung eines schuldbeladenen Lebens rettete viele Unschuldige. Diese Rationalisierung konnte jedoch seine seelische Erosion nicht aufhalten und auch seine innere Einsamkeit nicht lindern.

Und dann, während einer Augustnacht in Paris in einer Unterführung an der Seine, beging Carver eine Tat, für die es keine Rechtfertigung gab. Er war in eine Falle gelaufen und nahm schreckliche Rache an den Männern, die ihn getäuscht und verraten hatten. Dennoch wusch das den Fleck auf seinem Gewissen nicht weg, und sein Verlangen nach Wiedergutmachung wurde nicht gestillt.

Allerdings war das kein Thema, mit dem er sich gern befasste. Er betrachtete es als sinnlos, die Vergangenheit nachbessern zu wollen oder sich über die Zukunft den Kopf zu zerbrechen. Er lebte im Hier und Jetzt und sparte seine mentale Energie für Probleme auf, die er lösen konnte, wie zum Beispiel die zwei, mit denen er gerade konfrontiert war. Zuerst würde er jedoch mit den drei verbliebenen Killern fertigwerden müssen, die ihn durch die Straßen von Mykonos verfolgten. Und danach musste er schnellstmöglich von der Insel verschwinden.

Er hatte mit Gingers Tod nichts zu tun, und ein ordentlicher Anwalt würde hinsichtlich des Toten in der Gasse sicher erfolgreich mit Notwehr argumentieren können. Doch es war nicht absehbar, wie viel Druck man auf die Strafverfolgungsbehörden ausüben würde, mit einem Schuldigen aufzuwarten, damit die Touristen durch dessen Festnahme und Verurteilung beruhigt wären. Carver hatte nicht die Absicht, dieser Mann zu sein.

Er trat aus der Gasse auf eine belebte Einkaufsstraße, die sich von der vorigen nicht unterschied. Auch der Strom der Menschen sah nicht anders aus. Der einzige Unterschied war das Fehlen einer Bedrohung. Carver blickte sich aufmerksam um, ob von seinen Verfolgern etwas zu sehen war, entdeckte jedoch keine Spur von ihnen. Er ging zur Straßenmitte, wo er für jeden Beobachter zu sehen war. Nichts passierte.

Er zog die Brauen zusammen. Da er von den Killern nichts sah – Hunde, die nicht bellen … –, war ihm mulmiger zumute als vorhin, als er um sein Leben gerannt war. Wohin waren sie verschwunden? Und warum hatten sie ihn eigentlich nicht umgebracht, als sie die Gelegenheit dazu gehabt hatten? Diese Männer hatten ohne Zögern eine unschuldige Frau niedergeschossen. Doch bei der Jagd durch die Restaurantküche hatten sie es irgendwie geschafft, seinen ungeschützten Rücken praktisch aus nächster Nähe zu verfehlen. Und jetzt waren sie nirgends zu sehen.

Carvers Telefon klingelte.

Er zog es aus der Tasche, während er überlegte, ob er drangehen sollte.

Beim Blick aufs Display erkannte er die Nummer sofort.

Er drückte den grünen Knopf, hielt sich das Gerät ans Ohr und hörte eine Stimme, die ihm in jüngster Zeit sehr vertraut geworden war.

»Hallo, Süßer«, sagte sie. »Hier ist Ginger. Wenn du heil von der Insel runterkommen willst, tu genau das, was ich dir sage …«

5

MI6-Zentrale

Jack Grantham stieß einen Seufzer aus, der sich nach Enttäuschung anhörte. »Hm … Ich glaube nicht, dass man sich hier groß Sorgen machen muss. Orwell scheint sich ein paar Shilling dazuzuverdienen, indem er diesem Malachi Zorn – und diversen ähnlich plutokratischen Typen – hilft, noch reicher zu werden. Das sind allesamt mündige Erwachsene. Wenn etwas schiefgeht, können sie keinem anderen die Schuld geben als sich selbst. Wer sind wir, dass wir dagegen etwas einwenden könnten?«

Piers Nainby-Martin räusperte sich. »Nun, da ist nur eine einzige Sache.«

»Tatsächlich?« Grantham merkte sofort auf wie ein Hund, der einen fernen Fuchs gewittert hat. »Und das wäre?«

»In New York gibt es eine freie Journalistin namens Camilla DaCosta, die uns ab und zu aushilft. Ich habe sie gebeten, zu recherchieren. Sie sollte vorgeben, sie schreibe einen Zeitungsartikel über ihn. Sie hat einiges an Material aufgetrieben und lieferte auch ein Interview mit einer alten Freundin Zorns …« Nainby-Martin blickte auf seine Notizen. »Eine gewisse Domenica Cruz, ehemalige Stripperin.«

»Sie meinen, er ist pervers? Wenn er erpressbar ist, könnte das ein Problem sein.«

»Nein, das ist es nicht. Die Frau hat bloß in einem Club gearbeitet, um ihr Studium zu finanzieren. Inzwischen ist sie Versicherungsmaklerin.«

»Eine unehrenhaftere Tätigkeit als Strippen.«

»Durchaus möglich. Ihre Ansichten über Zorns persönliche Dämonen erregten jedenfalls meine Aufmerksamkeit. Und dabei gibt es etwas, das auch Sie interessieren könnte.«

»Nämlich?«

»Nur eine Bemerkung, die sie gemacht hat. Es ist nichts Konkretes, hat mich aber im Hinterkopf beschäftigt. Mal sehen, was Sie davon halten. Ich muss mich übrigens entschuldigen, wenn Miss DaCostas Befragungstechnik für Ihren Geschmack ein wenig oberflächlich ist.«

Rings um den Tisch verkniff man sich mühsam das Lachen. Grantham war der böse Cop schlechthin und bekannt für die Schnelligkeit und Härte, mit der er Informationen aus jemandem herausholte. Er holte tief Luft, wie um sich auf das Schlimmste vorzubereiten, und sagte: »Dann zeigen Sie mal her.«

Wieder erschien ein körniges Video auf dem Bildschirm, aufgenommen in einem Straßencafé im belebten Manhattan, auf dem Tisch zwei Kaffeetassen. Eine attraktive Brünette im strengen Kostüm schaute besorgt in die Linse.

»Sie versprechen mir, keine hässlichen Dinge über Mal zu schreiben? Ich meine, ich möchte nicht in einer Klatschzeitung im Supermarktregal landen«, sagte sie.

Die Stimme, die ihr antwortete, gehörte einer jungen Engländerin der gehobenen Mittelklasse. »Oh nein, ich verstehe das voll und ganz. Das wäre peinlich. Machen Sie sich keine Sorgen. Bei der Times können Sie völlig sicher sein. Wir wurden vor über zweihundert Jahren gegründet und sind schrecklich respektabel. Die meinungsbildende Zeitung und so weiter.«

»Du lieber Himmel«, stöhnte Grantham.

»Sie weiß, was sie tut«, versicherte Nainby-Martin.

Auf dem Bildschirm sah man, wie sich Domenica Cruz ein wenig entspannte, aber sie fuhr dennoch ein bisschen zögerlich fort. »Na, in dem Fall ist es wohl in Ordnung, wenn ich Ihnen helfe.«

»Also, erzählen Sie mir von Mr Zorn. Sie haben ihn im Penthouse Club kennen gelernt, nicht wahr?«

Cruz machte schon wieder ein erschrockenes Gesicht und schlug sich die Hand vor den Mund. »Oh mein Gott! Ich habe damit nur mein Studium finanziert und –«

»Ich finde Stangentanz unheimlich sexy«, sagte Camilla DaCosta ermutigend. »Ich habe selbst mal Unterricht genommen. Mein Freund war absolut begeistert.«

»Oh! Ich hoffe, er war netter als manche von den Arschlöchern, für die ich tanzen musste!«

»War Mr Zorn ein Arschloch?«

»Überhaupt nicht, Mal war großartig!«, sagte Cruz und lächelte zum ersten Mal. »Er war wirklich intelligent, wissen Sie. Er … ich weiß nicht … Er hatte es einfach raus. Besaß Menschenkenntnis. Es war, als wüsste er genau, was die Leute als Nächstes tun oder sagen. War manchmal ein bisschen unheimlich.«

»Wie meinen Sie das?«

Cruz suchte stirnrunzelnd nach den richtigen Worten. »Ich schätze, er konnte eine unglaubliche Menge an Informationen aufnehmen und analysieren und dann schneller als jeder andere daraus schließen, was zu tun war. Und glauben Sie mir, er hatte eine Menge Informationen. Er hat überall auf der Welt Leute, die für ihn arbeiten.«

»Etwa Spione?«

»Vielleicht so was Ähnliches. Er ist anderen immer einen Schritt voraus, das steht jedenfalls fest.«

Ein kleines Lachen von DaCosta, dann: »Ich bin mir nicht sicher, ob mir ein Mann gefiele, der weiß, was ich als Nächstes tue!«

Cruz lachte mit. »Auf jeden Fall!«

»Das klingt, als hätten Sie eine echte Beziehung gehabt. Ich meine, ich kann verstehen, warum ein Mann Sie anschmachtet. Sie sind einfach hinreißend!«

»Oh Mann, gebt mir eine Kotztüte!«, warf Grantham ein.

»Warten Sie!«, beschwor Nainby-Martin seinen Chef. »Sie holt etwas Interessantes aus ihr heraus.«

Cruz gab die unausweichlichen, selbstironisch herabsetzenden Bemerkungen über ihren Körper von sich, die Frauen untereinander austauschen, wonach ihre Oberarme und Fußgelenke besonderen Grund zur Sorge gaben. »Aber ja, ich weiß, die meisten Typen scheint das nicht zu kümmern. Sie wollen einfach eine Tänzerin vögeln.«

»Aber Zorn gehört nicht zu dieser Sorte Mann?«

»Nein, und das mochte ich an ihm. Er blickte tiefer. Er war an mir interessiert, an der ganzen Person. Ich denke, uns verband auch das Schicksal unserer Eltern, wissen Sie?«

»Was meinen Sie?«

»Na ja, ich wurde von meiner Großmutter aufgezogen, weil meine Eltern beide bei einem Autounfall ums Leben kamen.«

»Oh, das tut mir leid …«

»Danke, aber das ist okay. Ich meine, es ist lange her.«

»Sind nicht Mr Zorns Eltern ebenfalls gestorben, als er noch ein Kind war?«

»Genau. In dem Punkt kamen wir uns wirklich näher. Und für Mal war der Verlust ein Riesenproblem.«

»Sie meinen, er ist nicht drüber weggekommen?«

Cruz seufzte. »Sie haben ja keine Ahnung … Es war nämlich so: Mals Mutter bekam einen seelischen Knacks. Sie war immer nur den ganzen Tag zu Hause. Ihr Mann arbeitete in der Stadt, machte Überstunden ohne Ende, und sie war einsam und langweilte sich. Es ging ihr immer schlechter. Sie wissen ja, wie es ist, wenn man für eine dieser großen Banken arbeitet. Man ist deren Eigentum. Bei der Entscheidung, etwas für die Bank zu tun oder für seine Familie zu tun, gewinnt immer die Bank. Und die kleine Frau zu Hause muss die hübsche, lächelnde Gattin spielen. Es ist wie in Mad Men. Wer kann Mals Mutter einen Vorwurf machen, wenn sie zu trinken anfing und ständig Tabletten einwarf?«

»Das hat sie getan?« Camilla DaCostas Hand kam ins Bild und hob eine Tasse hoch.

»Ja. Und Mals Vater versuchte ihr zu helfen. Ich glaube, er liebte sie wirklich. Aber er konnte sich nie die Zeit nehmen, um wirklich für sie da zu sein, weil Lehman Brothers immer an erster Stelle kam, und das hat ihm schwer zugesetzt. Nach allem, was ich gehört habe –«

Die Tasse wurde hart auf den Tisch zurückgestellt. »Verzeihung, sagten Sie gerade, sein Vater war bei der Lehman-Bank beschäftigt?«

»Ja, wussten Sie das nicht? Mal hasste diese Bank … Seiner Ansicht nach war sie am Tod seiner Eltern schuld. Es war nämlich so: Sein Vater musste die Mutter in eine Entzugsklinik bringen, weil er nicht zu Hause sein konnte, um auf sie aufzupassen. Sie blieb dort ein paar Monate lang, dann wurde sie für ein Wochenende nach Hause entlassen. Aber ausgerechnet da wurde Mals Vater zu einer Besprechung in die Bank gerufen und musste sie allein lassen. Nur für den Nachmittag, soviel ich weiß. Als er zurückkam, war sie tot. Hatte eine Überdosis Tabletten genommen. Mal hat sie gefunden.«

»Wie schrecklich.«

»Ich weiß. Mals Vater lebte noch ein paar Jahre, aber er war todunglücklich und fühlte sich schuldig, weil er sich nicht um seine Frau gekümmert hatte. Er starb an einem Herzinfarkt, als Mal auf dem College war.«

»Der arme Junge, er muss am Boden zerstört gewesen sein.«

Cruz nickte. »Oh ja … aber auch total motiviert.«

»Wie meinen Sie das?«

»Na ja, das trieb ihn an, erfolgreich zu sein. Er wollte sich an allen Leuten rächen, die seine Familie zerstört hatten. Und ich schätze, das hat er getan.«

»Sie meinen, als die Lehman-Bank pleiteging?«