Como. 30 Tage. - Srdan Valjarevic - E-Book

Como. 30 Tage. E-Book

Srdan Valjarevic

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Beschreibung

Eine vornehme Villa am Comer See, bevölkert von ebenso illustren wie elitären Gästen aus Kunst und Wissenschaft von allen Kontinenten. Die Einheimischen haben nur Zutritt, wenn sie hier putzen oder bedienen. In diese unangefochtene Ordnung platzt ein neuer Gast: ein junger serbischer Schriftsteller, der sich dem Personal und den Dorfbewohnern viel näher fühlt als seinen Mitstipendiaten. Er wird zum Wanderer zwischen den Welten, zum geistreichen Beobachter. Mit Hilfe der Ornithologie, einer Melodie aus der Vergangenheit und einem Heft voller Zeichnungen gelingt ihm schließlich eine kleine Revolution.

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Seitenzahl: 328

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Srdan Valjarevic

Como. 30 Tage.

Aus dem Serbischen von Susanne Böhm

Deutsche Ausgabe© Schruf & Stipetic GbR, Berlin 2021www.schruf-stipetic.de

Titel der Originalausgabe: Komo(Samizdat B92, Beograd 2006)© 2006 Srdan Valjarevic und Samizdat B 92

Covergestaltung: JBCKorrektorat: Sabine Gomm

eISBN: 978-3-944359-01-4

Das Zitat aus Efim Etkinds »Zapiski nezagovoroscika«, ©1977 Oxford University Press, wurde für diese Ausgabeneu ins Deutsche übersetzt.

Vervielfältigung und gewerbliche Nutzung nur nachausdrücklicher Genehmigung der Schruf und Stipetic GbR.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Über den Autor

1

Es war Dienstag. Anfang November. Ein sonniger und warmer Tag. Und ich wusste gar nicht so genau, weswegen und warum und wie das alles passiert war. Gar nichts wusste ich damals, nur dass ich tatsächlich in einem Flugzeug nach Zürich saß, auf einem Platz, der bei einer Schweizer Fluggesellschaft auf meinen Namen reserviert worden war, und von Zürich aus würde ich nach Mailand weiterfliegen. Das wusste ich. Und in Mailand sollte mich ein Fahrer abholen und nach Bellagio bringen, an den Comer See. Mehr wusste ich nicht.

In meinem Pass war ein italienisches Visum, das ich in Belgrad problemlos erhalten hatte, in der Hosentasche etwas Geld und das Einladungsschreiben dieser ausländischen Stiftung; für die war ich damals immer noch irgend so ein junger Schriftsteller aus Serbien, einem Land, das sich in einem hoffnungslosen Zustand befand und in dem das Leben schwer war. Ich weiß bis heute nicht wie, aber ich hatte dieses Stipendium bekommen, um einen Monat am Comer See zu verbringen und dort in aller Ruhe zu arbeiten und zu schreiben. Das war allerdings deren Vorstellung, nicht meine. Ich wollte damals weder in aller Ruhe arbeiten noch schreiben. Ich wollte eigentlich gar nichts tun. Ich hoffte auch schon längst nicht mehr, dass meine Bücher veröffentlicht würden. Die Situation in Serbien war wirklich übel, es war furchtbar; na gut, für mich jetzt nicht allzu sehr, weil ich immer mal wieder kleinere Jobs hatte und es mir gelang, mich nicht unterkriegen zu lassen und irgendwie über die Runden zu kommen. Manchmal schrieb ich auch, aber nur Kurzgeschichten für eine Tageszeitung, und von dem Honorar zahlte ich dann meine Miete und was ich so zum Essen und Trinken brauchte, wobei ich in erster Linie trank und wirklich nur ganz wenig schrieb. Ein bisschen was schrieb ich so für mich selbst, ganz normale Schulhefte, aber auch dabei hatte ich keinen großen Ehrgeiz oder ernsthafte Absichten. Als ich überraschend Bewerbungsunterlagen der Rockefeller-Stiftung in der Post hatte, nahm ich das Formular, füllte alles ordentlich aus und auf die Frage, was ich in Como tun würde, gab ich an, dass ich einen Roman schreiben wolle. Bei einem Bierchen dachte ich mir eine ungefähre Handlung für diesen Roman aus und mein Freund Vlada übersetzte alles ins Englische. Er gab sich für mich aus, schickte das Formular ein und antwortete ihnen noch ein paar Mal, alles in meinem Namen. Ich leistete ihm dabei Gesellschaft, trank Bier und lernte Englisch von ihm. Wir mussten nicht lange auf die Antwort warten, und als die offizielle Einladung kam, war ich bereit. Zu der Zeit verließ ständig irgendjemand das Land. Und überhaupt hatten auch sonst schon immer alle möglichen Leute dieses Land verlassen. Ständig. Ich würde nur für einen Monat weg sein, und selbst das hätte eigentlich eher mein Freund Vlada verdient, der das alles durchgezogen hatte.

Am Flughafen gab ich meine Reisetasche auf, ohne genau zu wissen, was ich alles hineingestopft hatte. Beim Packen war ich betrunken gewesen. Im Kopf zählte ich einen Haufen Sachen auf, von denen ich jetzt schon wusste, dass ich sie vergessen hatte: ein Buch, die Adressen einiger Leute, ganz bestimmt so einige Toilettenartikel, eine Jacke und einen Pullover. Erst wenn ich dort irgendwo untergekommen wäre, würde ich merken, was ich sonst noch alles vergessen hatte. Es war mir egal.

Ich war verkatert und furchtbar müde und hielt die Augen geschlossen. Es ist wirklich gut, dass einem im Leben solche unerwarteten Sachen passieren, denn sonst würde man durchdrehen. Ganz sicher würde man durchdrehen. Die letzte Nacht hatte ich mit Freunden in einer Kneipe abgehangen, im Boulevard in der Nähe vom Markt. Wie immer hatten wir getrunken, aber diesmal viel mehr als sonst, und weil ich verreisen würde und wir also einen Grund hatten, wurde es ein richtiges Abschiedsbesäufnis; damals verreiste kaum einer von uns, wir gehörten nicht zu denen, die wegwollten, und wir gehörten nicht zu denen, die Geld zum Reisen hatten, und deshalb tranken wir bis spät in die Nacht. Als wir uns voneinander verabschiedeten, kippte ein Freund nach altem Brauch einen Wassereimer hinter mir aus, um mir Glück für die Reise zu wünschen. Daran erinnerte ich mich im Flugzeug, und gerade da, als ich begann, mich an alles aus der vergangenen Nacht zu erinnern, schnappte ich das Gespräch von zwei Mädchen auf, die in der Reihe vor mir saßen. Sie waren zusammen in die Schweiz unterwegs, und ich bekam mit, dass die eine Sängerin war und dort in Kneipen auftrat, in denen sich unsere Landsleute trafen. Sie erzählte, dass ihr noch genau vierzigtausend Franken fehlten, dann habe sie alles: ein Haus und eine Garage und ein Auto und einen Pool … Und dann sagte sie: »Aber, verdammte Scheiße, mein Typ lässt sich einfach nicht von seiner dämlichen Frau scheiden …«

Irgendwann kam die Stewardess und brachte Essen in einer Plastikdose und ich bat sie um ein Bier, aber sie sagte, sie hätten keins, nur Saft, Wasser, Tee und Kaffee. Ich erklärte ihr, dass mir ein Bier wirklich helfen würde und dass der Preis keine Rolle spiele, ich würde bezahlen. Ich brauchte wirklich ein Bier, weil ich einen furchtbaren Kater und einfach große Lust auf ein Bier hatte. Wir unterhielten uns auf Englisch. Sie wiederholte, dass sie kein Bier hätten, sie hätten aber Tabletten gegen Flugangst, wenn es darum gehe. Ich war verkatert und hatte Schiss vor allem und brauchte dringend ein Bier, und das sagte ich ihr auch so, und dass ich keine Tabletten bräuchte, dass mir nur ein Bier helfen könne, aber sie hörte sich das alles nur an und musterte mich ratlos. Sie sagte etwas auf Deutsch, ging weg und kam mit einem großen Mann mit Schnurrbart zurück, der mich freundlich lächelnd auf Englisch fragte, was mein Problem sei.

»Es gibt kein Problem, überhaupt keins, ich würde nur gerne ein Bier trinken«, sagte ich.

»Wir haben Weißwein und Whiskey und Wodka in kleinen Flaschen, wenn es unbedingt Alkohol sein muss, aber das muss extra bezahlt werden«, sagte er.

»Nein, Geld ist nicht das Problem, und auch der Alkohol ist nicht das Problem, ich hab einfach einen ziemlichen Kater und da hilft mir nur ein Bier, das ist wirklich alles«, sagte ich ehrlich.

Er musste lachen. Als er etwas zu der Stewardess sagte, die neben ihm stand, musste sie auch lachen.

»Also ein Kater. Wenn ich einen Kater habe, brauche ich auch ein Bier. Ich könnte Ihnen ein paar Flaschen Heineken zukommen lassen«, sagte er.

»Wenn ich drei Flaschen kriegen könnte, das wäre klasse.«

»Sicher nicht mehr?«, fragte er leise.

»Nein, bestimmt nicht, drei Flaschen sind genug«, sagte ich.

»In Ordnung. Wir regeln das. Und genießen Sie Ihren Flug«, sagte er lächelnd.

»Das werde ich, ganz bestimmt«, antwortete ich.

Ich bekam drei Flaschen Bier, bezahlte, und dann war wirklich alles in Ordnung, sogar die Stewardess lächelte mich an. Das erste Bier trank ich sofort auf ex, dann aß ich etwas aus dieser Plastikdose und danach trank ich langsam das zweite Bier. Ich entspannte mich. Das Flugzeug schwebte durch die Luft. Ich blickte in die Wolken. Der Tag war heiter. Der Flug war ruhig. Ich trank auch die dritte Flasche leer. Dann landete das Flugzeug.

Auf dem Züricher Flughafen hatte ich nicht viel Zeit, ich saß ungefähr zwanzig Minuten in der Wartehalle rum und ich war wahrscheinlich der Einzige ohne Handy am Ohr. Außer mir waren da nur Geschäftsleute, aber vielleicht kam es mir auch nur so vor oder sie schlugen einfach die Zeit mit Telefonieren tot, egal. Mir war langweilig, deshalb ging ich drei Mal zur Toilette: Einmal hatte ich ein dringendes menschliches Bedürfnis zu verrichten, zweimal ging ich einfach nur so, um Wasser zu trinken und mir das Gesicht zu waschen. Als ich beim dritten und letzten Mal von der Toilette kam, musterten mich einige der Geschäftsleute genauer. Niemand mag es, wenn sich jemand in seiner Nähe anders benimmt als die anderen, erst recht nicht auf einem Flughafen; Terrorismus und Bomben waren wohl der Grund, aber vielleicht haben Menschen auch einfach nur Angst vor dem Fliegen. Dabei war ich nur aus Langeweile zur Toilette gegangen, nur dreimal, das ist nicht mal besonders oft. Bald darauf stieg ich ins Flugzeug, das Flugzeug hob ab, ich trank ein Mineralwasser und das Flugzeug landete auf dem Mailänder Malpensa-Flughafen. Es war ein wirklich kurzer Flug. Ich holte meine Tasche und kam ohne Probleme durch Passkontrolle und Zoll. Ich zeigte einfach die Einladung der Stiftung, und alles war in Ordnung. He, das war immerhin die Rockefeller-Stiftung und natürlich war alles in Ordnung. Dann bemerkte ich einen Mann mit einem Schild, auf dem Bellagio Center stand. Und darunter in großen Buchstaben mein Vor- und Nachname. Ich winkte ihm, er kam zu mir und bückte sich, um meine Tasche zu nehmen.

»Nein, ist schon in Ordnung, das kann ich selbst«, sagte ich.

»Nein, nein, das ist meine Aufgabe«, sagte er.

»Ach was, ist schon in Ordnung, die Tasche ist nicht schwer, das ist gar kein Problem.«

»Nein, Verzeihung, das ist meine Aufgabe«, sagte er mit ernstem Gesicht.

Ich ließ ihn machen. Er hängte sich die Tasche über die Schulter und zeigte mir den Weg. Wie ich so hinter diesem Mann herging, der meine Sachen trug, fühlte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben vornehm und gleichzeitig albern. Was zusammengenommen ganz außerordentlich albern ergibt. Aber es war kein richtig schlechtes Gefühl, eher als ob er und ich ein Spielchen spielten und uns um die Tasche stritten. Es war in Ordnung. Wir kamen zu einem Kombi, er hielt mir die Tür auf und ich setzte mich hinein. Der Sitz war genauso bequem wie der im Flugzeug. Wir fuhren ungefähr eineinhalb Stunden und während der Fahrt wurde es stockdunkel und sehr neblig. Es nieselte, und abgesehen vom Schweinwerferlicht entgegenkommender Autos konnte man nichts erkennen, also dämmerte ich einige Male weg. Zwischendurch erhaschte ich den Blick des Fahrers im Rückspiegel. Mein Benehmen erschien ihm bestimmt seltsam, denn immer wieder sackte mein Kopf vor Müdigkeit vornüber. Aber vielleicht hatte er auch jemanden erwartet, der anders war, älter. Wir sprachen die ganze Zeit nicht miteinander, nur als wir ankamen, sagte er:

»So, das ist Bellagio.«

»Schöner Ort, sieht schön aus«, sagte ich.

So etwas in der Art musste ich einfach sagen, aber es waren nur leere Worte und völlig unsinnig, weil man überhaupt nichts sehen konnte. Unser ganzes Gespräch war unsinnig. Es war stockdunkel. Einen großen dunklen Hügel, Hausdächer, das dunkle Wasser des Comer Sees konnte man erahnen, und hier und da war der trübe Schein einer Straßenlaterne zu sehen. Es war Nacht und kein Mensch auf der Straße. Wir kamen am Fuß dieses großen Hügels an, fuhren durch ein riesiges schmiedeeisernes Tor, das sich hinter uns sofort wieder schloss, und hielten vor einem großen Haus, an dem Villa Maranese stand. Dort erwartete mich Signora Bella, so stellte sie sich mir vor, eine winzige ältere Dame mit kurzem Haar, die Herrin des Hauses und des ganzen Hügels. Ich stellte mich auch vor. Sie zeigte mir das Arbeitszimmer im Erdgeschoss und dann gingen wir in den ersten Stock hoch, zu meinem Appartement, das man mir einen ganzen Monat lang zur Verfügung stellte. Sie lud mich noch zum Abendessen in die Hauptvilla, die Villa Serbelloni, ein, erklärte mir, wie ich am einfachsten dorthin käme, und ließ mich allein. Alles ging ziemlich schnell. Ich räumte meine Sachen ein, stellte die Tasche weg und sah mich um. Das Zimmer war komplett weiß, alles darin war weiß, das Bett, der Schrank, die Wände, die Sessel. Es sah schön aus. Es duftete nach Lavendel. Oder nach Pfefferminztee. Da war ich mir nicht ganz sicher. Ich zog mich um und ging zu dieser Villa Serbelloni. Dort wurde ich bedient, ich bekam und aß ein Schnitzel mit Reis und Möhren, trank ein paar Gläser Rotwein und danach ein paar Gläser Mineralwasser. Ich hatte meinen eigenen Kellner, der mir sagte, ich müsse mich nicht beeilen; da bestellte ich noch mehr Wein, er schenkte mir nach und erklärte mir, wann die Mahlzeiten serviert wurden, aber auch, dass ich das alles innerhalb weniger Tage schon selbst rausbekäme und dann keine Hilfe mehr bräuchte. Wir verabschiedeten uns voneinander und ich kehrte in mein Appartement zurück.

Ich war froh, dass ich mein kleines Radio nicht vergessen hatte, ging ins Bad, fand einen Sender mit anständiger Musik, ließ heißes Wasser in die Wanne und legte mich hinein. Ich streckte mich aus. Die Wanne war länger als ich. Sogar untertauchen konnte ich, sodass ich mit dem ganzen Körper im heißen Wasser lag und nur die Füße am Rand anstießen. Ich wusste so oft nichts mit mir und meinem Leben anzufangen, also dachte ich jetzt, na gut, dann schauen wir mal, wie es hier so ist, in dieser Villa Maranese am Comer See.

Später streckte ich mich auf dem großen Doppelbett aus und drehte am Suchknopf des Radios, bis ich auf Langwelle einen kroatischen Sender fand. Partizan aus Belgrad hatte Zagreb aus Zagreb im Basketball besiegt, was mich jetzt nicht sonderlich berührte, abgesehen davon, dass ich endlich wieder jedes Wort verstand. Das war meine Sprache. Selbst nach all den Kriegen verstand ich jedes Wort, das hatten sie nicht ändern können.

Das ist eine komische Sache mit diesen kleinen Radios, die man sich auf die Brust oder nah ans Ohr legt und dann das Gefühl hat, dass einem einer was zuflüstert, in welcher Sprache auch immer, ganz egal, und einem beim Einschlafen hilft.

Und dann hörte ich verschiedene Sendungen mit unterschiedlichen Moderatoren und noch viel Musik aus Kroatien, alles ganz leise, und so schlief ich ein.

2

Ich schlief bis zehn Uhr, weil ich von dem total verkaterten Tag und von der Reise müde war. Alles war so plötzlich gekommen, aber jetzt war ich endlich wieder völlig nüchtern und steckte in etwas ganz Neuem. Alles roch anders. Und war so sauber. Ich hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Das Zimmermädchen stand in der Tür und fragte, ob sie hereinkommen könne. Ich drehte mich schnell auf die Seite, schloss die Augen und stellte mich schlafend. Sie ging leise wieder hinaus. Frühstück wurde bis neun Uhr serviert, und mir war da schon klar, dass ich mit Sicherheit nicht ein einziges Mal zum Frühstücken aufstehen wollte, weil mir hier die besten Voraussetzungen der Welt geboten wurden, um nicht früh aufzustehen. Ich ging hinunter ins Arbeitszimmer, machte mir Kaffee und setzte mich an den Tisch. Ich öffnete das Fenster und blickte auf den großen, jetzt blauen See, in den riesigen grünen Park der Villa Serbelloni und durch Lücken zwischen den dichten dunklen Wolken auf die weißen Gipfel der grauen Berge im Hintergrund. Alles voller Farben. Die Luft feucht. Es war friedlich und ruhig; ich drehte das kleine Radio lauter, fand einen italienischen Musiksender und trank meinen Kaffee.

Und dann kam mir auf einmal alles so komisch, so lächerlich vor: Ich saß in einem Studio, wie sie das Arbeitszimmer nannten, im Erdgeschoss dieser Villa, ich hatte einen Computer, einen Drucker, eine kleine, überwiegend aus Enzyklopädien bestehende Bibliothek, in der sich aber auch noch ein paar andere Bücher fanden, und ich hatte eine Kaffeemaschine, einen Kühlschrank voller Saft und Mineralwasser und eine Schale mit frischem Obst. Ich schaltete den Computer ein und rief mir Schritt um Schritt in Erinnerung, wie man dieses Ding benutzte. Vor einigen Jahren hatte ich zwar gelernt, damit zu schreiben, aber ich zog die Schreibmaschine vor, überwiegend schrieb ich sogar von Hand. Mit Kugelschreiber oder meinem Parker. Alles eine Frage der Gewohnheit, aber auch des Geldes, denn mit dem Schreiben hatte ich noch nie so viel verdient, dass ich mir neben all den anderen Sachen, die mir im Leben wichtig waren, auch einen Computer hätte leisten können. Alles, was ich bisher mit dem Schreiben verdient hatte, und das war eine anständige Summe, hatte ich bei zwei Gelegenheiten ausgegeben: das erste Mal auf den griechischen Inseln und beim Vagabundieren durch Athen und Piräus und beim zweiten Mal mit einem guten Freund, mit dem ich mich in Andalusien herumgetrieben hatte. Das war mir damals wichtiger als ein Computer. Aber das war auch schon alles, was ich mit dem Schreiben verdient hatte. Mir war lieber, meine Erzählungen, die in Zeitschriften abgedruckt wurden, mit dem Füllfederhalter zu schreiben, mit dem Kugelschreiber oder mit der Schreibmaschine, und mein Honorar für die Miete auszugeben. Und irgendwohin zu fahren, wenn was übrigblieb. Das war mir lieber. Und jetzt fand ich dies hier lächerlich und ein bisschen sinnlos. In Belgrad war ich mit meiner Miete einen Monat im Rückstand, und das für ein winziges Appartement, in das es im Übrigen reinregnete, und vielleicht, dachte ich, schüttete es gerade in Belgrad und vielleicht kam es in meiner winzigen Wohnung gerade zu einer Überschwemmung, weil niemand da war, um Töpfe und Eimer aufzustellen, aber letztlich war mir das alles doch nicht wichtig. Die Wohnung gehörte mir nicht, und es stand auch nichts Wertvolles darin. Ich hatte auch Schulden, keine hohen, aber immerhin Schulden. Und dann, während ich noch darüber nachdachte, schaute ich aus dem Fenster dieser Villa und bemerkte zwei Krähen, die über den Park und über die flachen Hügel voller Olivenbäume und hoher Zypressen davonflogen, und hier, genau unter meinem Fenster, stand sogar ein Orangenbäumchen. Die Krone war grün und es trug Früchte, die fast reif waren. Ich war so weit weg von allem.

An diesem Tag aß ich zum ersten Mal in der Villa Serbelloni zu Mittag. Ich teilte den Tisch mit Herrn Menhudi Winter von der Brandeis University in Amerika, Professor für Komposition an der Fakultät für Musik, und Frau Jarkin Kirskilowa, Professorin für Literatur aus Kirgisien und Gastprofessorin an der Universität in Rom, die, wie sie mir erzählte, gerade an einer komparatistischen Studie zum Roman des zwanzigsten Jahrhunderts arbeitete. Ich war frisch rasiert und gekämmt, trug das einzige Sakko, das ich besaß, und setzte mich zu ihnen an den riesigen runden Tisch. Als die aus Kirgisien stammende Professorin hörte, dass ich aus Serbien kam, erzählte sie mir, sie sei seit ihrer Ankunft in Bellagio jeden Morgen aufs Neue verwundert und verwirrt und frage sich, was sie eigentlich hier zu suchen habe. Darauf entgegnete ich, mir sei es an diesem Morgen genauso ergangen. Mit Sicherheit würde auch ich mir diese Frage den ganzen kommenden Monat stellen. Professor Menhudi, ein offenbar gesprächiger Herr, bemerkte, dies hier sei in jedem Fall ein hervorragender Ort, um zu arbeiten und sich zu entspannen. Ich konnte mir nicht vostellen, wie man an einem solchen Ort überhaupt arbeiten konnte. Herr Menhudi erzählte dann noch ein paar Witze, von denen ich nicht einen witzig fand, vielleicht verstand ich sie aber auch nicht, weil er sie für meine Englischkenntnisse viel zu schnell erzählte. Ich trank ein Glas Weißwein und ging hinaus, um eine Zigarette zu rauchen. In der Villa war das nicht erlaubt. Im Übrigen war das eine gute Ausrede, dem geselligen Beisammensein im Salon bei Kaffee und Tee zu entkommen.

Obwohl es feucht und kühl war, lief ich eine Weile durch die Gegend, über schmale Waldwege bis zu einem Turm, der von einer alten Befestigung auf der Hügelkuppe oberhalb des Dorfs Bellagio übriggeblieben war. Irgendwann hatte ich mich natürlich verlaufen, ich war, genauer gesagt, im Kreis gelaufen und zweimal an derselben Stelle vorbeigekommen, an einem Brunnen. Und weil es ein Zeichen von Müdigkeit ist, wenn man anfängt, die Orientierung zu verlieren, kehrte ich in meine Wohnung zurück, ging hinunter in mein Studio, kochte mir einen Tee und fand eine Zeitung, die International Herald Tribune auf dem Tisch. Ich bekam also sogar Post. Der französische Fußballklub Lyon hatte Belgrads Crvena Zvezda 3:2 besiegt, und im Kosovo waren wieder Zivilisten zu Tode gekommen. Ich legte die Zeitung weg und setzte mich an den Tisch. Ich wollte diese Zeitung nicht lesen. Vielleicht hätte ich etwas arbeiten sollen, aber an einem solchen Ort war mir das unmöglich. Ich schlief ein, weil ich von der Reise immer noch müde war. Schon lange war ich nicht mehr an einem so friedvollen und so ruhigen Ort gewesen. Ich schlief bis zum Abend.

Um halb acht ging ich zum Abendessen. Es herrschte Krawattenzwang, so hatte man es mir gesagt. Ich hatte mich entschuldigt und erklärt, ich trüge nie Krawatten, ich hatte auch nur eine einzige, eine gelbe mit roten Punkten, sehr exzentrisch, die ich in der bierseligen Nacht vor meiner Abfahrt von meinem Freund Chucky zum Abschied geschenkt bekommen hatte, damit ich für genau solche Gelegenheiten gewappnet wäre. Ich band sie nicht um, weil sie für meinen Geschmack zu schrill war, aber anstandshalber knöpfte ich mein Hemd bis oben hin zu. Vor dem Abendessen trank ich einen doppelten Bourbon und dann noch einen zweiten, und als ich mich gerade noch einmal bedienen wollte, nahm mir der Kellner das Glas aus der Hand und sagte freundlich, es sei jetzt Zeit, mich im großen Speisesaal an die Tafel zu setzen, weil gleich das Abendessen serviert werde. Ich antwortete zwar: »In Ordnung«, natürlich auf Englisch, aber insgeheim fürchtete ich, dass das Trinken vielleicht zum Problem werden könnte. Den Kellner hatte ich schon am ersten Abend kennengelernt, gleich nach meiner Ankunft, und er hatte mir erzählt, seine Frau sei Ungarin, sie seien schon einmal in Belgrad gewesen und das hätte ihnen sehr gut gefallen. Na ja, er hatte wohl Anweisung, den Gästen gegenüber freundlich zu sein. Während des Abendessens leerte ich mehrere Gläser Wein und der Kellner schenkte mir lächelnd immer wieder nach, hervorragenden Rotwein aus der Toskana. Später erklärte ich ihm, dass auch dies, neben vielem anderen, etwas sei, das es in Belgrad nicht gebe: guter Wein. Und damit gab ich ihm zu verstehen, dass ich eine Schwäche dafür hatte und dass er, was mich betraf, nicht am Wein sparen musste. Der Kellner nickte nur lächelnd, er hatte verstanden.

Im Laufe des Abends schilderte ein Typ aus Ghana, ein Schwarzer natürlich, wie er und seine Kollegen die Malaria erforschten und warum die Eindämmung dieser ansteckenden Krankheit in manchen afrikanischen Ländern unmöglich sei. Ich konnte nicht alles bis ins Kleinste verstehen, aber ich hörte auch nicht sehr aufmerksam zu. Malaria. Da konnte ich nun wirklich nichts tun, und außerdem starrte mich ein Mann von der anderen Tischseite ständig an. Er beobachtete, wie ich ein Glas Rotwein nach dem anderen leerte. Der alte Herr war Professor an der Universität Toronto, wir hatten uns vor dem Abendessen bekannt gemacht, und ich hatte seinen Nachnamen noch im selben Moment wieder vergessen, dafür aber behalten, dass er an einer Studie über Spanien vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert arbeitete. So hatte er es mir erklärt. Ein feiner Herr, vielleicht hatte er noch nie gesehen, dass jemand mehr als ein Glas Wein trinkt. Sobald ich alles aufgegessen und ausgetrunken hatte, musste ich raus, um eine Zigarette zu rauchen. Mir wurde klar, dass ich von den insgesamt etwa zwanzig Gästen in der Villa der einzige Raucher war. Niemals hatte ich mich irgendwo so sehr von allen anderen unterschieden und dabei erschien mir, was ich tat, völlig normal: Zigaretten rauchen, Wein trinken, keine Krawatte, aber immerhin ein Sakko tragen, alles ganz normal. Aber ich war der Einzige, der rauchte. So war das. Ein älterer Herr erschien im Garten und fragte, ob mir draußen nicht kalt sei, und als ich sagte, dass ich nur eine Zigarette rauchen wollte, lachte er laut auf. Weil ich rauche, seit ich sechzehn bin und noch nie versucht habe aufzuhören, fand ich daran gar nichts lustig. Er vermutlich schon, nämlich, dass da jemand wegen einer Zigarette in der Kälte stand. Und das war auch ganz in Ordnung, ich konnte ihn verstehen. Einige sehen keinen Sinn darin, ich schon. Sehr viel Sinn sogar, besonders an solchen Orten, in Rockefellers Garten. Später ging ich wieder in den Salon zurück, in dem alle beisammenstanden und plauderten. In einer Ecke bemerkte ich ein Rolltischchen mit Getränken. Ich goss mir ein Glas Cognac ein. Und dann nahm ich die ganze Flasche mit und leerte sie nach und nach, während ich mir im Salon die Bilder, die Möbel und die Menschen ansah und sogar mit einigen von ihnen plauderte.

Später, vor dem Einschlafen, drehte ich an den Knöpfen meines Radios und empfing Voice of America auf Serbisch. Ich hörte, dass die Tageszeitung Danas, in der ich seit ihrer Gründung und bis zum kürzlich erlassenen faschistischen Informationsgesetz Erzählungen und Texte veröffentlicht hatte, jetzt in Montenegro gedruckt wurde, und dass die Lieferung an der serbischen Grenze beschlagnahmt worden war. Danach wurde der Empfang schlechter, zwei Sender funkten durcheinander und ich konnte nicht mehr hören, ob sich in dieser Hinsicht noch etwas ereignet hatte. Vielleicht müsste ich mir eine andere Arbeit suchen, wenn ich nach Belgrad zurückkehrte, aber vielleicht könnte ich auch hier arbeiten, dachte ich, ich könnte die Blätter im Park zusammenfegen, das wäre wirklich eine schöne Beschäftigung. Gärtner sein. Schön. Dann hörte ich Radio Monte Carlo, die spielten die beste Musik, und so schlief ich ein, wieder mal. Zum dritten Mal innerhalb von so kurzer Zeit. Ich war müde. Alles wirkte einschläfernd auf mich, diese Stille über dem See und in der Villa Maranese, dieser Frieden, die plötzliche Umgebungsveränderung, eine große Veränderung. Alles war so anders, dass es mich betäubte.

3

Die Sonne weckte mich. Hell drang sie durch das große Fenster ins weiße Zimmer und schien mir genau ins Gesicht. Ich stand auf und riss das Fenster weit auf. Noch nie hatte ich beim Aufwachen einen schöneren Ausblick gehabt als den durch dieses Zimmerfenster an diesem wundervollen Morgen. Nein, bestimmt nicht, niemals. Es war warm und die Luft war klar, frisch, aber warm. Am Himmel stand nicht eine einzige Wolke. Ich sah den blauen See und die dunklen Gipfel der umliegenden Berge. Einige Gipfel schimmerten weiß im Schnee. Das waren die Alpen. Die Farben waren klar, kräftig, eine Augenweide, so viel Grün um den dunkelblauen See. Ich beeilte mich hinauszukommen.

Ich wollte Richtung Dorf, aber kaum war ich im Garten vor der Villa, da lief mir einer dieser Schwarzen aus Ghana über den Weg, die ich damals noch nicht auseinanderhalten konnte. Er hielt mir seinen Fotoapparat hin und bat mich, ihn mit der Villa Serbelloni im Hintergrund zu fotografieren. Er zeigte mir, wie man seinen Apparat bediente, und stellte sich dann in Positur; mit den Händen an den Hüften und einem versonnen in die Ferne gerichteten Blick wartete er darauf, dass ich auf den Auslöser drückte. Er bewegte sich nicht, bis ich geknipst hatte, dann veränderte er seine Pose, breitete die Arme aus und streckte sie der Sonne entgegen, wobei er lachend in die Kamera schaute. Mir wurde klar, dass er das bewusst machte, diese beiden Posen direkt hintereinander, und dass es damit irgendetwas auf sich hatte, vielleicht war es ein Brauch oder ein Ritual. Ich fotografierte ihn zweimal, dann verabschiedeten wir uns und ich ging zum Dorf hinunter, wofür ich erst einmal das mit der Aufschrift private property versehene Tor aufschließen musste, durch das man auf den Hügel gelangte; als ich es hinter mir zuschlug, fühlte ich mich albernerweise wieder irgendwie vornehm. Genau in diesem Augenblick gingen zwei junge Mädchen vorbei, deshalb blieb ich kurz stehen, streckte mich und ging dann in die Hocke, um mir die Schnürsenkel zuzubinden. Und um den beiden nachzusehen. Sie hatten hübsche Hintern.

Bellagio ist ein schöner kleiner Ort am Fuß der Alpen und ziemlich mediterran, von engen Straßen durchzogen, die man schnell, innerhalb einer halben Stunde, abgelaufen hat. Am Kai entlang des Ufers stehen viele Palmen, und es war seltsam, unter Palmwedeln zu stehen und auf die verschneiten Alpen in der Ferne zu sehen. Die teuren Geschäfte, Luxuswagen und gut angezogenen Menschen, die ich bemerkte, machten mir klar, dass dies kein normales Dorf war, sondern ein Ort, an dem reiche Menschen lebten. Es ist nicht schlecht, reich zu sein, dachte ich, eine Jacht zu besitzen, ein Haus an diesem See, all diese Mäntel, Hemden, Jacken, Schuhe und Pullover für mehrere hundert oder gar tausend Dollar zu kaufen. Aber es ist auch nicht schlecht, wenn man nicht reich ist und nichts von all dem hat, weil all das nicht wirklich etwas mit dem Leben an sich zu tun hat. Deshalb machte ich vor dem Schaufenster einer Weinhandlung Halt, denn hier fand ich, was mich wirklich interessierte und was mit meinem Leben zu tun hatte, nämlich Wein: italienischen, aus den unterschiedlichsten Regionen, aber auch französischen, chilenischen, kalifornischen, deutschen, australischen, portugiesischen … Das interessierte mich. Ich hätte gern alle diese Weine probiert. Sie waren wahnsinnig teuer. Ich war schwer in Versuchung, aber ich ging nicht hinein, sondern nahm mir nur vor, mir zu merken, wo sich dieses Geschäft befand, und wenn ich einmal alles satt hätte, dort oben in der Villa, so dachte ich, weil man ja alles irgendwann mal satt haben kann, dann würde ich zu diesem Geschäft gehen und mir eine Kiste guten Rotwein kaufen, und ich würde auf den Hügel steigen, den Ausblick genießen und mich betrinken. Da war mir irgendwie wieder leichter ums Herz und ich konnte auch zur Villa zurückgehen, zum Mittagessen.

Beim Essen wurde mir klar, dass mich noch etwas von den anderen unterschied: Ich aß viel schneller als alle anderen Gäste. Und danach rülpste ich als Einziger, aber so, dass es keiner merkte. Schon als Kleinkind hatte ich die Angewohnheit, mir Mund und Bauch vollzustopfen, ohne das Essen besonders zu genießen, sozusagen, um die Angelegenheit schnell hinter mich zu bringen und Zeit für anderes zu haben. Ein paar Spiegeleier und gut ist’s. Das ist heute noch so. Diese Literaturprofessorin aus Kirgisien, Frau Kirskilowa, die so um die fünfzig war, fragte mich, ob der Roman, den ich schreibe, politisch oder psychologisch sei.

»Welcher Roman?«, fragte ich.

»Nun ja, ich habe gelesen, dass Sie Ihr Stipendium bekommen haben, um hier einen Roman zu schreiben«, sagte sie.

»Ach ja, das hab ich in das Anmeldeformular geschrieben. Sicher, den werde ich schreiben, ich schreibe schon«, sagte ich.

»Und?«

»Was?«

»Na, ist er politisch oder psychologisch?«, hakte sie nach.

»Keine Ahnung. Psychologisch wahrscheinlich«, sagte ich.

Ich merkte, wie mir die Brust eng wurde. Ich kannte das, es passiert mir immer in solchen Situationen, bei solchen Gesprächen, dann schnürt es mir alles zu, alles wird zu eng, nicht nur die Brust, selbst die Schuhe fangen an zu drücken. Ich öffnete den obersten Hemdknopf. Dann fragte mich die Professorin plötzlich, ob ich an Gott glaube, und ich antwortete, dass ich auch das nicht wisse. Oh Mann, warum musste ich ausgerechnet neben dieser Frau sitzen? Sie erzählte, dass sie früher nicht an Gott geglaubt habe, aber im Laufe der Zeit sei sie religiös geworden. Ich sagte, das sei interessant, und fragte sie, ob es mit dem Zerfall der Sowjetunion zusammenhänge. Das kam wohl blöd und unverschämt rüber, obwohl ich es nicht so gemeint hatte. Sie sagte, dass es natürlich nicht damit zusammenhänge. Im Scherz fügte ich noch hinzu, bei mir sei es umgekehrt, ich sei früher religiös gewesen und jetzt nicht mehr. Das fasste sie zuerst als ernst zu nehmendes Problem auf, weil ich gut zwanzig Jahre jünger war als sie, aber dann deutete sie es als Zeichen meiner Unreife und begann zu lachen, und ich war sehr damit einverstanden, dass sie mich für unreif hielt und mich nun in Ruhe lassen würde. Genau das wünschte ich mir. Dumm und unreif sein, das war die ideale Ausgangsposition für mich, solche Leute werden nicht genervt. Und so konnte ich schön weiteressen, hervorragende Spinat-Käse-Klößchen, und dazu natürlich wieder hervorragenden Rotwein trinken. Die Dame gab allerdings nicht auf.

»Ich glaube, jeder Mensch sollte sich mit seiner eigenen Religiosität auseinandersetzen«, sagte Frau Kirskilowa ausgesprochen ernst.

»Ich glaube, mich interessiert es mehr, die Menschen zu beobachten, von mir aus auch ihr Verhältnis zu welcher Religion auch immer«, antwortete ich.

»Aber muss sich denn nicht jeder für die Existenz Gottes interessieren?!«

»Es sollte niemanden interessieren, ob ein anderer gläubig ist oder nicht. Ehrlich gesagt ist es doch wirklich absolut bescheuert, sich dafür zu interessieren, jeder sollte sich um seinen eigenen Kram kümmern«, sagte ich. Ich hatte genug von diesem Gespräch und musste es irgendwie beenden.

Dann schwiegen wir beide, sie dachte nach und kaute auf dem Essen herum, ich trank meine Flasche Wein aus und ging hinaus.

Nach dem Mittagessen beschloss ich, zum ersten Mal auf den Hügel zu steigen. Er hieß Tragedia. Ich wusste nicht, warum. Und ich hatte auch noch niemanden danach gefragt. Für mich war alles unbekannt, und irgendwie wünschte ich mir, dass einiges zumindest vorläufig so blieb, unbekannt.

Zunächst ging ich zurück in die Wohnung, steckte eine kleine Landkarte ein, die ich in der Bibliothek gefunden hatte, und packte meinen Pullover in einen Rucksack. Dann stieg ich über steile und enge Waldpfade bergauf. Ganz oben wehte ein heftiger und kalter Wind von der Schweiz über den See herüber. Ich blieb eine Weile dort sitzen, weil der Blick auf die Berggipfel und den darunterliegenden riesigen See sehr schön war. In der Ferne waren auch Schneegipfel zu sehen, in zweiter Reihe, viel höher als die anderen, aber auch sie gut zu erkennen. Es wurde kalt und ich zog den Pullover über. Ich blieb lange sitzen. Es war seltsam, der Hügel war nicht hoch, aber tatsächlich war es hier sehr viel kälter als unten im Garten der Villa. Das kam vom Novemberwind, der von den Alpengipfeln herüberwehte.

Später ging ich auf noch steileren und engeren Pfaden an der Rückseite des Hügels auf einem anderen Weg hinunter und gelangte direkt zum Seeufer. Das Wasser lag so ruhig da. Ich stand auf einem nassen Felsbrocken und es schwappte sacht über meine Schuhe. Es war sauber und klar, unterschied sich nicht von Meerwasser. Ich tauchte meine Hand hinein. Es war eisig. Dann beobachtete ich, wie ein Schiff mit aufgeblähten Segeln über den See jagte. Ich stand auf meinem Felsen und beobachtete das alles.

Schließlich hatte ich genug von dem ganzen Beobachten und Laufen für diesen Tag. Ich hatte es reichlich ausgekostet, wirklich.

Ich ging zurück in mein Zimmer und streckte mich auf dem Bett aus; genau das wollte ich, um nichts zu vergessen, über alles nachzudenken, alles irgendwo aufzubewahren, für Zeiten im Leben, in denen ich es bräuchte. Und ich würde es brauchen, so etwas braucht man immer mal wieder, dachte ich und wartete darauf, dass es dunkel wurde.

Abends wollte ich gern das Fußballspiel Partizan Belgrad gegen Lazio Rom sehen und hatte vor dem Abendessen mit dem Kellner abgesprochen, dass er im Fernsehzimmer, das sich im zweiten Stock der Villa befand, alles dafür herrichtete. Gegen halb neun, während des Essens, kam er zu mir und flüsterte mir ins Ohr, dass das Spiel beginne. Ich stand hastig auf, wischte mir den Mund mit der Serviette ab und entschuldigte mich bei den anderen Gästen, sodass es aussah, als müsste ich dringend ans Telefon. So hatten wir es verabredet, der Kellner und ich. Er war ein prima Kerl, dieser Kellner, sein Name war Gregorio. Er war ganz anders als die Gäste. Mit ihm konnte ich leichter kommunizieren. Er brachte mich ins Fernsehzimmer im zweiten Stock, ich ließ mich in den Sessel fallen und schaltete den Fernseher ein. Als das Spiel angepfiffen wurde, gab der Professor für Komposition, Herr Menhudi Winter, gerade ein Solokonzert in einem der Säle der Villa Serbelloni. Ich hatte mich trotzdem für das Fußballspiel entschieden und dafür, mit einem Glas Rotwein in der Hand in einem Sessel zu sitzen. In der Halbzeit wanderte ich durch die Korridore, sah mir alte Bilder an, Skulpturen, Vasen und goldene Kerzenhalter. Der Marmorboden glänzte. Leise Musik war zu hören, und in den Pausen gab es im Konzertsaal lauten Applaus. Sie hörte sich gar nicht schlecht an, diese Musik. Ich blieb ein wenig im Korridor stehen. Lauschte der Musik. Die Töne wehten durch die langen und leeren Korridore der großen Villa. Niemand war da außer mir, auch niemand vom Personal. Nur die Musik. Das war nicht schlecht. Ich hörte eine Weile zu. Dann ging ich zurück ins Fernsehzimmer und stellte den Ton lauter. Im Stadion riefen die Fans: »Srbija! Srbija!« Und die Italiener gewannen.

4

Ich hatte noch nie in meinem Leben eine Krawatte getragen und beschloss trotzdem, am nächsten Abend genau dies zu tun. Nicht dass ich diesbezüglich eine besondere Überzeugung hätte, ich bin nicht stolz darauf und bedauere es auch nicht, ich war einfach nur noch nie, noch niemals in der Situation gewesen, eine tragen zu müssen. Ich musste es auch jetzt nicht, aber als ich wach wurde, rechnete ich ein bisschen herum. Von Rockefeller hatte ich 500 Dollar bekommen, als Taschengeld sozusagen, das legte ich zu dem Geld, das ich mitgenommen hatte, und zählte alles zusammen. Ich hatte genug. Dann zog ich mich an, ging ins Dorf, in eine dieser Boutiquen, in denen die Preise nicht so überteuert waren, obwohl in Bellagio einfach alles teuer war, und kaufte dort sogar ein neues Hemd, aber eben auch eine Krawatte. Die Verkäuferin war freundlich, eine Frau mittleren Alters. Sie wartete geduldig, während ich eine Krawatte aussuchte. Es gab Dutzende, und am Schluss entschied ich mich für eine dunkelblaue mit noch dunkleren, fast unsichtbaren, violetten Punkten. Ich überlegte kurz, mir von der Verkäuferin zeigen zu lassen, wie man eine Krawatte bindet, aber dann war es mir doch zu peinlich, sie darum zu bitten. Ich ging schnell zur Villa zurück und in mein Zimmer, zog das neue bordeauxrot und blau gestreifte Hemd an und versuchte, mir die Krawatte selbst zu binden. Erst gelang es mir nicht, obwohl ich mir wirklich große Mühe gab, doch dann bekam ich plötzlich etwas hin, das fast wie ein ordentlicher Krawattenknoten aussah. Na ja, vielleicht sah es auch nur für mich so aus, jedenfalls ließ ich den Knoten so, zog mir die Krawatte vorsichtig über den Kopf und warf sie, für den Abend vorbereitet, über die Sessellehne.

Beim Mittagessen saß ich mit einer Frau und drei Männern zusammen. Die schwarzen Wissenschaftler aus Ghana, die Infektionserkrankungen im ruralen Afrika erforschten. Einer von ihnen riss die ganze Zeit Witze, knabberte Grissini und spielte an den kleinen Gewürzstreuern herum. Das schien der Schwarzen, die neben ihm saß, nicht zu gefallen. Während des Essens hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, dass sie mich musterten. Es musste an ihren Augäpfeln liegen, die sich strahlend weiß vom Schwarz ihrer Haut abhoben. Der, der die Witze riss, fragte mich, ob ich schon einmal in Afrika gewesen sei. Ich sagte nein, noch nie, aber dass ich gern einmal dorthin wolle. Das war, ehrlich gesagt, eine Höflichkeitsfloskel. Daraufhin lud er mich ein, jederzeit, wann immer ich wolle, zu ihnen nach Ghana zu kommen. Das war auch eine Höflichkeitsfloskel. Und dann folgte eine dritte, als ich sagte, dass ich das wirklich gerne tun würde.

Der Kellner fragte mich, wie mir das gestrige Fußballspiel gefallen habe. Ich antwortete, es sei gut gewesen, und bat ihn, mir Wein einzuschenken. Das tat er.