Couchmanns Brainstorming - Sven Billwitz - E-Book

Couchmanns Brainstorming E-Book

Sven Billwitz

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Beschreibung

Udo Schmidt sitzt auf einer abgewetzten Couch und lässt seine Gedanken schweifen. Über Ereignisse aus der Vergangenheit, eindrucksvolle Begegnungen und das Leben selbst. Verwirrende Träume scheinen wichtige Hinweise zu enthalten, aber die Deutung ist schwierig. Wer oder was ist dieser Protagonist Udo, der über den Sinn des Lebens nachgrübelt … ein verkappter Alkoholiker, eine gescheiterte Existenz, ein Träumer? Vielleicht ist er ganz einfach ein Mensch, ein bisschen wie wir alle. Es ist die Suche nach einem Sinn im Leben, die uns über alle Kontinente hinweg vereint. Glauben Sie, dass philosophische Werke stets von hochdotierten Akademikern stammen und in geschraubtem Deutsch abgefasst sein müssen, damit sie als tiefgründig gelten können? Lesen Sie in den Gedanken des krisengeschüttelten »Couchmannes« Udo, und lassen Sie sich vom Gegenteil überzeugen!

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Seitenzahl: 201

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Couchmanns Brainstorming
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Schlusswort
Der Autor

Sven Billwitz

Couchmanns Brainstorming

Roman

XOXO Verlag

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-137-5

E-Book-ISBN: 978-3-96752-637-0

Copyright (2020) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung des Bildes: Stockvektor-Nummer: 680546140

von www.shutterstock.com

Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Ich widme dieses Buch all Jenen,

die sich ein wenig in dieser Geschichte wiedererkennen

Kapitel 1

Der Typ auf der Couch

Was wird das hier? Mal sehen, vielleicht eine Geschichte über Bewusstseinsspaltung, da ich nicht als ich schreiben will.

Manchmal ist es wohl besser, man schaut von einem imaginären ›Außen‹ auf sich drauf. Dadurch erlangt man eine gesunde Distanz zu sich selbst. Die Gefahr dabei ist – ehrlich gesagt, passiert dies tatsächlich sehr häufig – dass man genervt mit dem Kopf schüttelt und denkt: ›Was für ein Vollidiot!‹, bevor man realisiert, dass es hier um einen selber geht.

Es ist dabei unwichtig, ob die dadurch entstehende Geschichte schnurgerade einer autobiografischen Linie folgt. Man spaltet sich schließlich von der betrachteten Figur ab und glättet, bastelt, erfindet und übertreibt. Ein wenig Spaß beim Schreiben gehört schließlich dazu. Wer sich nach der Lektüre allerdings einbildet, er würde Tatsache von Fiktion sicher unterscheiden können, kennt mich wesentlich besser als ich mich selbst. Das Recht, das Gelesene als erfunden und erlogen zu betrachten, gestehe ich jedem Leser zu … und warum auch nicht?

Jedenfalls beginnt die heutige Sitzung der Selbstbetrachtung mit einer Couch. Es ist ein relativ altes Möbel aus derbem, hellem Stoff. Sie ist durchaus bequem – aber leider nur im Sitzen, da es sich um einen steifen Zweisitzer handelt. Ansehnlich ist sie nicht wirklich, da die Seitenteile zerschlissen sind und diese den darunterliegenden Rahmen durchscheinen lassen.

Möglicherweise steht sie bloß deswegen immer noch da, weil der Besitzer ein Gewohnheitstier ist. Auch die Faulheit, sich um etwas Besseres zu kümmern, steht hier zur Debatte. Einen nostalgischen Wert könnte dieses Möbelstück womöglich besitzen, obgleich dies bei einer Couch völlig bescheuert wäre. Jedenfalls steht sie da – und das ist Tatsache!

Davor befindet sich ein Tisch, dieser ist voller Gebrauchsspuren. Die Höhe taugt nicht dazu um darauf zu essen, auch wenn die mit Furnier überzogene Platte gut und gerne die Größe eines Esstisches aufweist. Dennoch steht dort ein Teller herum, auf welchem schmierige Flecken darauf hinweisen, dass vor kurzer Zeit eine Mahlzeit verdrückt wurde. Dazu gesellen sich eine Packung Saft, zwei Weinflaschen und passende Gläser.

Ach ja, natürlich darf man in der Beschreibung den Aschenbecher nicht vergessen, welchen die zum Rauchen notwendigen Utensilien umringen. Um ein Wort der Rechtfertigung dazwischen zu quetschen, bestehe ich darauf, vor dem geistigen Auge bitte nicht die Vorstellung eines schmuddeligen ›Kippenigels‹ aufkommen zu lassen. Das wäre nämlich im Falle dieser Geschichte eine hintergründige, aber irreführende Annahme, die jenes zu zeichnende Bild gleich in eine falsche Schublade schubsen könnte.

Um das ganze Szenario abzurunden bleibt noch zu erwähnen, dass es einen Bodenbelag aus abgetretener Auslegeware in diesem Zimmer gibt, dazu ein Regal mit einer wilden Mischung aus Büchern, Filmen und Nippes, einen wüst aussehenden Schreibtisch, auf dem ein Computer sein Zuhause gefunden hat, ein paar halb vertrocknete Zimmerpflanzen und zwei durch Jalousien verhangene Altbaufenster. Mehr braucht man nicht zu wissen. Und fertig ist die Kulisse für den Typen auf der Couch!

Halt, etwas habe ich noch vergessen. Wie konnte mein inneres Auge nur jenen Fernseher übersehen, welcher auf einem kleinen Schränkchen gegenüber der Couch vor sich hin dudelt. Dabei handelt es sich nicht um eine der in der Gegenwart so weit verbreiteten Mega-Bildschirmwände, die an Bradburys Fahrenheit 451 erinnern, sondern um ein kleineres Gerät alter Bauart. Aber wie habe ich es überhaupt geschafft, das Ding zu ignorieren? Ganz einfach: Weil es hier im Raum nicht selten nebenbei vor sich hinläuft, wie etwas weitgehend Überflüssiges, das bloß die unheilvolle Stille aus dem Hintergrund vertreiben soll.

Eine deprimierende Kulisse, meinen Sie? Na ja, das liegt sicher im Auge des Betrachters. Aber das Leben ist nun mal nicht nur ein schicker Ponyhof voller braver, hübscher und gutbürgerlicher Vorzeigekinder.

Jetzt zu dem Typen auf der Couch, der soll ja schließlich die Leitrolle übernehmen und stellt den Drehund Angelpunkt dieser ganzen Angelegenheit dar. Nein, er hat keine Jogginghose und auch kein fleckiges Unterhemd an. Sicher sind seine Klamotten nichts, was ein Snob oder Spießer als seriös einstufen würde, aber auch nicht das glatte Gegenteil. Letztendlich spielt das keine Rolle, denn dem Typen sind solche Spitzfindigkeiten herzlich egal. Warum müsste irgendjemanden auch modische Uniformierung interessieren? Man sollte doch meinen, ein lässiger Wohlfühlstatus täte es in dieser Situation auch.

Da sitzt er nun … nennen wir ihn der Einfachheit halber Udo Schmidt, natürlich mit gebührender Verfremdung. Also … da sitzt er nun, unrasiert und mit eigengetrimmtem Haar, schlank, doch nicht wirklich sportlich, mit undefinierbarer Denkfalte auf der Stirn. Sein starrer Blick ist auf den Fernseher gerichtet, wo das übliche überflüssige Zeug läuft.

Vielleicht fungiert die Flimmerkiste ja als hypnotischer Verstärker. Jedenfalls nimmt Udo die Bilder nicht wirklich bewusst wahr. Er ist viel zu sehr damit beschäftigt, sich in seinem neuesten Tiefpunkt zu wälzen. Dabei geht es nicht um eine Depression, sie schwingt höchstens im Hintergrund mit. Es ist eher eine zeitweilig angelegte Schwermütigkeit, so etwa nach dem Motto: Streichle dich ein wenig mit Selbstmitleid!

Wer jetzt die Augen verdreht, dem sei gesagt, dass kleinere und größere Krisen, sowie alle Stufen dazwischen, unser Leben erst zu dem machen, was es wirklich ist. Und nochmal: KEIN PONYHOF!

Gibt es ein bestimmtes Ereignis, das dem Ganzen zugrunde liegt? Nicht wirklich. Es ist eher eine Summe von allem Möglichen, mit dem unangenehmen Gefühl garniert, offenbar einen Hang zum Versagen zu haben. Dies ist einer der Momente, in denen man merkt, dass man nicht einfach so bekommt, was man will – sofern man überhaupt genau weiß, was man begehrt. Das Schicksal (oder was auch immer) zeigt manchmal den Stinkefinger, anstatt einen zu verhätscheln. Am Ende kommt es in den meisten Fällen sowieso anders als man denkt.

Alles Existierende steigert sich in Udos Kopf zu einer zirkulierenden Lethargie aus grauen Bildern. Es sind nur Momentaufnahmen, die winzige, noch erträgliche Stiche verabreichen. Leider bleibt oft nur die Frage nach deren Sinnhaftigkeit übrig.

Da wäre die vor kurzem verlorene Arbeitsstelle. Für sich genommen nicht wirklich ein Grund zur Trauer, denn Udo kann nicht von sich behaupten, dass er die Arbeit erfunden hätte. Aber es wäre dennoch grundsätzlich maßlos übertrieben, ihn ein faules Schwein zu nennen. Letztendlich war es bloß eine Anstellung bei einem geldgierigen, autoritätssüchtigen Wichser gewesen. Man verbrachte den Tag zwischen Kollegen, deren gewichtige Meinungen zumeist aus der bunten Presse stammten, auch wenn einige von ihnen ganz in Ordnung waren.

Dieses grob umrissene Bild der jüngsten Vergangenheit trägt selbstverständlich auch ein wenig zur negativen Gegenwartssituation bei. Wenig später werden die Aspekte der Arbeitslosigkeit immer mehr in den Hintergrund rutschen, verdrängt von lustigen Begebenheiten, die man in geselliger Runde darüber zum Besten geben wird. Auch ist die Sache nicht wirklich etwas von Belang, da sie sich alsbald in die starren Gründe der Vergangenheit verkriecht. Udo weiß das.

Ein viel größeres Problem stellte das zu Kreuze kriechen beim Sozialstaat dar. Man muss ja schließlich weiterleben. Ein Ereignis dieser Art lag gerade hinter Udo und hatte einen faden Beigeschmack hinterlassen. Jetzt befindet er sich in der Maschinerie der Bittsteller, die nach gewisser Zeit von der arroganten Bürgerschaft ausgegrenzt werden würde, um zu betonen, dass man gerade selbst nicht in dieser unangenehmen Lage ist. Dass solch eine Situation von einem Zustand der persönlichen Instabilität herrühren kann, liegt für den konformen Bürger als eine unbestreitbare Tatsache auf der Hand. Es riecht nach eigener Schuld und dem nahen Rand zum Absturz. Dies ist die Zeit für Seelenfänger, die einem die Schuldfrage aufdrücken oder die Möglichkeit zur Sühne frei Haus präsentieren, um einen damit als williges Opfer in die Reihen der politisch oder religiös motivierten Wirrköpfe zu zerren.

Zum Glück ist der goldene Kelch des bürgerlichen Opportunismus an Udo weiträumig vorbei gereicht worden. Der Gleichklang irgendeiner von Massen getragenen Sache ist gar nichts für ihn. Er hat sogar eher eine Abneigung, irgendeiner Schublade des menschlichen Seins entsprechen zu müssen.

Zudem hat Udo Schmidt einen ganz persönlichen Sündenbock für all seine Miseren parat, und zwar in Gestalt eines ganz eigenen Dämons namens Mokta, den man im Zuge dieses Geschreibsels noch kennenlernen wird.

Vielleicht noch etwas gewichtiger scheint die Tatsache, dass Udo gerade als Single lebt. Sehnt er sich nach einer Beziehung? Er weiß es selbst nicht mit letzter Sicherheit. Fehlender Sex, macht ihm die Abstinenz etwas aus? Definitiv! Sie war für ihn in solchen Zeiten immer ein Thema gewesen. Das begründet sich nicht nur mit Geilheit, die unbefriedigt bleibt, sondern auch mit dem Ärger darüber, dass dieser animalische Zwang überhaupt eine derartig einnehmende Rolle zu spielen vermag.

Der alles überschattende Punkt ist abstrakterer Art. Es handelt sich um jenes Loch, welches die Ziellosigkeit im Alltag zu reißen vermag. Wenn geschmiedete Pläne aufgrund bestimmter Ereignisse, auch nicht selten selbstverschuldet, ad acta gelegt werden müssen, kann das schon tierisch reinhauen.

Vielleicht ist das Wort Pläne auch unglücklich gewählt, da diese nicht selten auf Träumereien und sehnsüchtig herbei gewünschter Zukunft beruhen. Für ein strukturiertes Vorhaben fehlten Udo einfach eine detaillierte Ausarbeitung sowie die Geduld zu jedem einzelnen Schritt, um danach den angepeilten Weg zielstrebig zu gehen.

Solche Momente sind es, für die es durchaus die unterschiedlichsten Strategien gibt. Udo nagelte sich da eben traditionell auf der Couch fest, im Hinterkopf ein einsames Besäufnis. Doch so richtig will ihm auch das nicht gelingen. Wein war insofern wohl die falsche Wahl gewesen. Vielleicht ist es ja auch der lethargischen Starre und dem hypnotischen Fernseher geschuldet, dass er keinerlei Motivation verspürt, zum Glas zu greifen.

Jeder, der dies hier liest, wird sich jetzt die Frage stellen, ob es darum geht, überzogenes Mitleid für den Kerl zu provozieren. Ich kann dazu nur sagen: Wenn es euch ein Bedürfnis ist, mit Udo zu leiden, bitteschön! Aber ist dies notwendig? Mit Sicherheit nicht! Das hier soll lediglich eine nüchterne Zustandsbeschreibung werden.

Bevor wir jetzt endgültig zu unserem Antihelden kommen, noch eine Warnung. Wer glaubt, beim Lesen dieses Buches die Grundfesten des Universums anzukratzen oder gar nach einem erleuchtenden Sinn forscht, der hat eindeutig die falsche Geschichte zur Hand. Vielleicht zeigt sich hier einfach nur, dass der Mensch (insbesondere Udo) dazu neigt, Lücken mit einer sinnfreien Suche nach etwas Unbekanntem zu füllen – oder so ähnlich.

Aber genug der Vorrede, beginnen wir dann mal langsam mit der eigentlichen Geschichte ...

Kapitel 2

Brüste im Genick

Bilder, die sich im Kopf hartnäckig wiederholen, pflegen irgendwann zum Stillstand zu kommen. Man schaut sich schließlich auch nicht zehnmal hintereinander die gleichen Urlaubsbilder an … na ja, manche Leute vielleicht doch – bedenklicher Weise – aber nicht Udo. Aus der so entstehenden Leere wabern dann die unterschiedlichsten Dinge hervor. Man könnte sagen, der Urschleim für etwas Neues bilde sich, ohne jedoch vorläufig viel mit dem Endprodukt zu tun zu haben; es ist dies ein notwendiges Übel einer persönlichen mentalen Evolution.

In diesem Moment tauchte eine Erinnerung auf, die, ohne eine Erklärung für den Grund abzugeben, aus den Tiefen seines Unterbewusstseins emporstieg. Der menschliche Geist überwindet die Schranken von Zeit und Raum, indem er klare Bilder lange vergangener Momente reproduziert, so als wäre das zugehörige Ereignis erst gestern geschehen. Eine erstaunliche Erkenntnis, die Udo im Hintergrund registrierte und wahrscheinlich zum wiederholten Male in seinem geistigen Archiv ablegte.

Apropos … hier ein paar erklärende Worte zwischendurch, die das geistige Archiv betreffen:

Es handelt sich hierbei um etwas, das sich Udo genau während und wegen solcher Momente extra zugelegt hatte. Daran ist gleichwohl nichts zu finden, was einer ausgereiften Psychomethodik entspringt. Also liebe Leser, jetzt bitte bloß keine Hoffnung auf Erkenntnisse, die geistige Überlegenheit bringen könnten, hegen!

Erinnerungen sind ein chaotisches Durcheinander im unendlichen Raum des Unterbewusstseins. Verliert man die Codierung, verschwindet alles in die dunklen Abgründe, um mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vergraben zu bleiben – oder in willkürlichen Momenten wieder an der Oberfläche aufzublitzen.

Das geistige Archiv ist eigentlich das Gleiche wie das Lernen einer neuen Sache. Man legt es fein säuberlich in eine imaginäre Ablage, in der Hoffnung, jederzeit wieder darauf zugreifen zu können. Tja, mehr ist es tatsächlich nicht …

In diesem Moment betraf es eine Situation aus der Schulzeit. Udo saß in der Schulpause mit anderen Jugendlichen zusammen und spielte Skat. Wann dies genau passierte? Das ist nicht wirklich wichtig! Den Umständen entsprechend in der neunten oder zehnten Klasse. Auf jeden Fall ging es in dieser Erinnerung um eine turbulente Zeit der totalen Unerfahrenheit, welche von im Gehirn tanzenden Hormonen gekennzeichnet gewesen war.

Dieser unwillkürlich rekonstruierte Augenblick enthielt für Udo eine Erfahrung, die für seinen pubertierenden Geist damals mehr als wichtig erschienen war. Hinter seinem Stuhl stand das für ihn ansehnlichste Mädchen der Klasse, die Hände an der Stuhllehne, den Oberkörper leicht vorgebeugt. Udo spürte ihre vollen Brüste in seinem Nacken, was ihm die eigentlich notwendige Konzentration für das Spiel kostete. Es war ihm egal! All das wurde von seinen Mitspielern mit einem wissenden Lächeln quittiert.

Die Erinnerung fiel sehr stark aus, gerade so, als würde er diese Berührung im gegenwärtigen Moment noch einmal erleben. Er spürte die leichten Bewegungen der weichen Lustobjekte an Schultern und Hals. Noch einmal durchliefen ihn die gleichen Gedanken: ›Kann die Kleidung dazwischen nicht einfach verschwinden? … Anfassen!‹

Zusätzlich tauchte das Bild dieses Mädchens vor dem geistigen Auge auf, ohne dass er jenes angenehme Gefühl im Nacken deswegen verscheuchen musste. Sie trug ihr Haar blond gefärbt, hatte große dunkle Augen und einen verführerisch geschwungenen Mund. Die zugehörige Figur war herrlich ausladend, wenn nicht sogar ein wenig drall. Alles in allem strahlte sie eine für einen pubertierenden Jungen nahezu unwiderstehliche Anziehungskraft aus, die sich in der Erinnerung auch auf den erwachsenen Mann übertrug.

Während Udo in diesem gedanklichen Relikt der Vergangenheit schwelgte, schrie ein hysterischer junger Kerl draußen auf der Straße nach seiner Angebeteten, die im obersten Stockwerk des gegenüberliegenden Hauses wohnte und ihn offenkundig ignorierte. Diese unwürdige Szene außerhalb seiner Wohnzimmerkulisse spielte sich alle paar Tage wieder von neuem ab und ließ Udo zwischen Amüsiertheit und Genervtsein schwanken.

Das attraktive Bild der ehemaligen Klassenkameradin bekam Risse und wurde durch das Bild des liebestollen Narren unten auf der Straße ersetzt. Es war mehr als mitleiderregend! Eine Nymphe gräbt ihre gnadenlosen Krallen in das Herz eines unschuldigen Jünglings, um ihn dann wie ein ungeliebtes Spielzeug in die Ecke zu schmeißen. Das gnadenlose Spiel der geschlechtlichen Entdeckungsreise kannte viele Opfer.

Udo fühlte durchaus mit dem jaulenden Kerl da draußen. Doch nicht an diesem Tag, da wollte er sich nicht damit befassen! Udo hatte schließlich imaginäre Brüste im Genick, die alles andere in der Umgebung zu etwas Unerwünschtem machten! Und so wendete er alles Verfügbare an Willenskraft auf, um den Störfaktor auszublenden.

Die Erinnerung wollte von selbst fortfahren, die Geschichte zu erzählen. Udo wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen, denn mehr war zwischen dem Mädchen und ihm damals nicht passiert. Er wollte nicht darüber nachdenken, dass es schon in so früher Jugend verpatzte Chancen gegeben hatte; gescheitert am Kindskopf eines pubertären Jungen, wegen dessen Ambition, sich wie ein affektierter Gorilla aufzuführen.

Dennoch blieb die Szene für ihn wichtig. Sicher, er hatte vor diesem brustbewehrten Ereignis schon ein, zwei Freundinnen gehabt, die aber eher alles abblockten, was erwachender Sexualität zuträglich sein hätte können. Und dann – dann war dieses lebensverändernde Skatspiel gekommen.

Immer wieder hatte sich Udo gefragt, warum gerade diese Erinnerung etwas so Prägendes in sich trug. Doch hier auf der Couch, das fast noch unberührte Glas Wein vor sich stehend, erkannte er endlich den Sinn. Es war das erste Mal gewesen, dass er erfahren durfte, dass Geilheit offenbar gelegentlich auch vom anderen Geschlecht ausging. Bis dahin war es für ihn fast eine Überzeugung gewesen, die Männer in die Rolle des absoluten Initiators zwang. Die Widerlegung dieses Verdachts hatte schon irgendwie etwas Beruhigendes.

Jawohl! Mädchen haben diesen Zug auch in sich. Zurückhaltung bedeutete also oft bloß eine Art Schutzverhalten. War dies alles nur Tarnung? ›Bei manchen trifft das bestimmt zu‹, grübelte Udo. Die sich durch diesen neuen Gedankengang auftuende Schwierigkeit bestand allein darin, sicher zu erkennen, bei welchen Frauen dies der Fall war und bei welchen nicht.

Udo kitzelte die Versuchung, genau dies zu analysieren, aber er kratzte sich schnell und verwarf die Idee, denn alles was dabei herauskommen würde, konnte nur Unsinn sein. Das andere Geschlecht war und blieb ein Buch mit sieben Siegeln. Die Erkenntnisse aus derartigen Überlegungen wären etwas rein Männliches gewesen, das nicht viel mehr als ein Selbstbetrug beinhaltet hätte. Und jede gefundene Antwort bringt stets leider neue Probleme mit sich …

Die Szenerie auf der Straße vertrieb die letzten Reste dieses angenehmen Erinnerungsmomentes jetzt doch und drang auf eine massive Art und Weise in Udos Bewusstsein vor. Der Lärm des liebestollen Kerls war angeschwollen zu einem disharmonischen Crescendo und überlagerte alles. Sein heimisches Nest mutete an, als wäre es neben einem Folterkeller erbaut und der ausführende Knecht hätte gerade seine Musestunden.

Ein aufbrausendes Seufzen ausstoßend, riss sich Udo aus der Starre und ging die wenigen Schritte zum Fenster, um es dann, ohne zu zögern, aufzureißen. Er war nicht der Einzige; andere Mieter forderten bereits aus der Sicherheit ihrer Behausungen heraus Ruhe, mit teilweise gutbürgerlichen Argumenten, jedoch hervorgebracht mit denkbar unbürgerlicher Aggressivität. Normalerweise hätte dieses Paradoxon Udo köstlich amüsiert, doch in diesem Moment verlagerte sich dieser Aspekt des Schauspiels weit in den Hintergrund.

Die Rufe des jungen Mannes, der mitten auf der Straße stand und seine Aufmerksamkeit ganz dem Zielfenster widmete, erinnerte mittlerweile an einen verwundeten Hund, der von seinem autoritären Herrchen noch getreten wird. Ebendieses ›Herrchen‹, oder vielmehr ›Frauchen‹, zeigte seine wahrscheinliche Anwesenheit nur durch eine dunkle Bewegung am Rand des zugezogenen Vorhangs.

Eine kurze Überlegung versicherte Udo, dass er selbst sich zum Glück noch niemals in eine derart peinliche Situation begeben hatte. Lustig daran war eigentlich ein automatisches Fremdschämen, das ihn nicht selten bei solch seltsamen Entgleisungen von anderen Zeitgenossen überfiel.

Plötzlich hörte Udo sich selber schreien: »Mann, verpiss dich Alter, und such‘ dir endlich ‘ne Neue! Andere Mädels haben auch tolle Möpse!«

Noch bevor er das Fenster wieder schließen konnte, erntete Udo einen verzweifelten Blick des Liebestollen, bevor dieser mit gesenktem Kopf von dannen trottete. Hatte er das soeben wirklich gesagt? Ja, wenn auch fast wie ferngesteuert! Dazu kam noch der scheinbar richtig getroffene Ton, der in dieser seltsam primitiven Aussage mitgeschwungen war.

Udo war sich aus unerfindlichen Gründen sicher, das schon fast routinemäßig auftretende Schauspiel mithilfe seines spontanen Ausbruchs beendet zu haben – und zwar endgültig.

Genau diese erschreckende Erkenntnis leitete den Beginn der nächsten Gedankenflut ein. Hatte Udo nicht gerade von Brüsten geträumt und dieses Bild zur Klärung eines nervigen Spektakels verwendet? Gab es da einen geheimen Zusammenhang? Zufall? Udo mochte nicht so recht an die geläufige Definition des Zufalls glauben.

Wenn es das nicht war, was war es dann? Hatte sein Unterbewusstsein ihn auf die folgende Situation vorbereitet? Nun, diese Eingebung sprach zu einem gewissen Prozentsatz dafür. Sollte er sich jetzt wie ein Kandidat aus einer Uri Geller Show fühlen? Udo hasste diesen eitlen Kerl zutiefst!

Zumindest sorgte diese lapidare Situation für den Umstand, dass sein Kopf etwas zu tun bekam. Irgendwie löste dies alles eine gewisse Aufregung in ihm aus. War er womöglich einem universellen Geheimnis auf der Spur?

Ja, die universellen Geheimnisse! Udo liebte solche Mysterien. Sie füllten Löcher von Stillstand und Ratlosigkeit.

Es ist nicht unbedingt so, dass beim Sinnieren darüber jemals etwas von Bedeutung herausgekommen wäre. Niemals leiteten sie einen Wendepunkt im Leben ein. Meistens war es irgendwelcher verworrene Unsinn, der danach auch noch für längere Zeit sein gedankliches Archiv verklebte. Zusätzlich war es jene Stunde, in welcher der persönliche, imaginäre Dämon Mokta, der in einem Winkel von Udos Gehirn hauste, gern die Kontrolle für eine unbestimmte Abfolge von Sequenzen an sich riss. Unsinnige Szenen brachen in diesen Momenten in Udos Geist ein und machten alles zu absurdem Mumpitz.

Doch einen positiven Aspekt hinterließ die ganze Sache. Irgendwie schienen sie das tröstliche Gefühl, am Leben zu sein, zu fördern. Wenn der psychische Schmerz, welcher nicht selten damit verbunden war, nachließ, schöpfte der Couchmann häufig neue Triebkraft – für was auch immer.

Andere Leute machten Motivationsschübe durch, indem sie mit Schmerz, Sex oder Adrenalin hantierten. Bei Udo gelang das rein mit abstraktem Gedankenschrott, der aus dem Nichts zu kommen schien, alsbald dorthin zurückkehrte und nur wenig Spuren hinterließ, außer eben durch dessen eigentlicher Präsenz. Vielleicht könnte man dies mit einer Art persönlicher Religion vergleichen, obwohl Udo jegliche Frage nach Religiosität strikt verneinen würde. Sein Standardspruch lautete: »Ich bin Agnostiker!«, was heißt, dass er sich zwar nicht als Atheist sah, aber jegliche Form von reguliertem Gotteskult ablehnte. Eine große Ausnahme von dieser stoischen Regel bildete eben dieser imaginäre Dämon, den er ständig im Nacken spürte. Seine Existenz gehörte zu den wenigen Themen, die Udo niemals nach außen trug, niemals thematisierte.

Würde man bei Udo wegen der Religionssache weiter bohren, bekäme man zu einem hohen Prozentsatz die Antwort serviert:

»Was sollte es einen Schöpfer mit Allmacht interessieren, nach welchen Regeln wir Menschen leben? Wir interessieren uns doch auch nicht dafür, ob eine Made rechtschaffen ist.«

Jedenfalls brachte dieser Zufall – oder worum es sich auch immer handelte – Udo aus dem Konzept seines Denkens. Es war eine gewisse Aufregung damit verbunden, die ihm die apathische Ruhe nahm. So musste er sich fast zwingen, sich wieder in seine zerschlissene Couch sinken zu lassen; natürlich nicht, ohne eilig zwei Gläser seines Rotweines hinunterzustürzen. Ein leichtes Schütteln verhinderte eine spontane Übelkeit in Bezug auf das Getränk. Dieser Wein schmeckte wirklich nicht gut!

Wo war er also stehengeblieben? Ah ja, Brüste in seinem Nacken! Leider kam die Intensität dieser Erinnerung nicht zurück. Der absichtliche Zwang, sich auf das damalige Skatspiel zu konzentrieren, ließ ihn zwar in die Vergangenheit zurückkehren, das weiche Gefühl im Genick wollte sich jedoch einfach nicht wieder einstellen. Es war, als hätte der intensive Ausbruch, der den liebestollen Kerl vor seinem Fenster schließlich weggehen hatte lassen, auch eine Wirkung auf ihn selbst entfaltet. Scheinbar musste sein Geist jetzt einfach weiterziehen.

Plötzlich stand die gute Frage im Raum, warum er es nicht geschafft hatte, aus dieser doch recht offensichtlichen Situation etwas Brauchbares zu machen. Die Bilder in seinem Kopf spulten ein wenig vor und zeigten dasselbe Mädchen ein Dreivierteljahr später. Udo glaubte sich daran zu erinnern, dass sie da dann schon mit einem wesentlich älteren Kerl zusammen gewesen war. Auch sein eigenes Bild tauchte kurz auf, was ihm sogleich einen Schauer über den Rücken jagte.

In so kurzer Zeit hatte sich die scharfe Braut in etwas annähernd Gruseliges verwandelt. Strebsam, mit dicker Brille, sackartigen Klamotten und aus dem Leim gegangener Figur, spazierte sie in Udos Kopf durch die Vergangenheit.

Gab es womöglich eine Art Schutzmechanismus, der ihn vor so etwas bewahren konnte? Ein Ansatzpunkt, mehr nicht! Es hatte zweifellos noch mehr verpatzte Gelegenheiten in seinem Leben gegeben. Vielleicht ließ sich also dahingehend noch etwas anderes finden.

Kapitel 3

Eine Krux im Dasein

Wie ein Bluthund suchte Udo nach weiteren Anhaltspunkten aus dem zurückliegenden Dasein seiner Person, die jene Erkenntnis bestenfalls noch untermauern konnten. Doch genau hierfür versagte sein Wille. Die kopftechnische Anstrengung schien mehr als hinderlich zu sein.

Alles, was in seinen Gedanken auftauchte, war zusammengewürfelter Schwachsinn. Vielleicht versuchte etwas in Udos Geist einen Blick auf spezielle Erinnerungen zu verhindern. Dafür gab es zwar keinen plausiblen Grund, aber manchmal steckte man halt nicht drin.

Das Fazit aus dieser Blockade bestand darin, dass sie die Suche noch interessanter machte. In solchen Momenten kam ein Aufgeben nicht infrage. Also galt es, einen gangbaren Weg um die Blockade herum zu finden.