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Hans Küng

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Beschreibung

Hans Küng interpretiert das apostolische Glaubensbekenntnis neu. »Auch als aufgeklärter Mensch des 20. Jahrhunderts, trotz aller Kritik an Kirche und Christentum, kann man mit Überzeugung sagen:Credo! Das heißt Ja sagen zu freilich verschieden gewichtigen Artikeln christlichen Glaubens: als Orientierung für das eigene Leben, als Hoffnung für das eigene Streben.« Hans Küng

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www.piper.de

ISBN 978-3-492-99126-1

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 1992, 2018

Covergestaltung: semper smile, München

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Cover & Impressum

Credo – heute?

Symbolum Apostolorum – Das Apostolische Glaubensbekenntnis

I. Gott der Vater: Gottesbild und Weltschöpfung

1. Kann man das alles glauben?

2. Was heißt »glauben«?

3. Gilt die moderne Religionskritik noch?

4. Schöpfungsglaube und Kosmologie – ein Widerspruch?

5. Glauben an den Schöpfergott im Zeitalter der Kosmologie?

6. Der Übergang zum Leben – ein Eingriff des Schöpfergottes?

7. Glauben an den Schöpfer im Zeitalter der Biologie?

8. Glauben an Gott, den »Vater«, den »allmächtigen«?

9. Der gemeinsame Gottesglaube der drei prophetischen Religionen

II. Jesus Christus: Jungfrauengeburt und Gottessohnschaft

1. Glauben an eine Jungfrauengeburt?

2. Christusglaube im Zeitalter der Psychotherapie

3. Jungfrauengeburt – ein biologisches Faktum?

4. Die politische Dimension von Weihnachten

5. Glaube an Christus oder Krischna – dasselbe?

6. Die Herausforderung des Buddha

7. Was Jesus und Gautama verbindet

8. Was Jesus und Gautama unterscheidet

9. Der Erleuchtete und der Gekreuzigte

10. Was heißt: Gott hat einen Sohn?

11. Der Sinn von Inkarnation

III. Der Sinn von Christi: Kreuz und Tod

1. Im Koordinatenkreuz der Weltreligionen

2. Das Bild des Leidenden schlechthin

3. Ein politischer Revolutionär?

4. Ein Asket und Mönch?

5. Ein frommer Pharisäer?

6. Nicht übliche Schulstreitigkeiten, sondern Konfrontation und Konflikt

7. In wessen Namen?

8. Wer ist schuld am Tod Jesu?

9. Ein gekreuzigter Gott?

10. Testfall der Theodizee-Frage: Gott in Auschwitz?

11. Sinnloses Leid nicht theoretisch verstehen, sondern vertrauend bestehen

IV. Höllenfahrt – Auferweckung – Himmelfahrt

1. Das Bild des Auferweckten

2. Abstieg zur Unterwelt?

3. Eine Himmelfahrt?

4. Ans leere Grab glauben?

5. Auferweckung von den Toten – unjüdisch?

6. Glauben an die Auferweckung des Einen?

7. Was »Auferweckung« meint und nicht meint

8. Ein einziges oder mehrere Leben?

9. Radikalisierung des Glaubensan den Gott Israels

10. Eine Entscheidung des Glaubens

V. Heiliger Geist: Kirche, Gemeinschaft der Heiligen und Vergebung der Sünden

1. Vergeistigte Malerei

2. Was heißt überhaupt Heiliger Geist?

3. Pfingsten – ein historisches Ereignis?

4. In der Kirche bleiben?

5. Was ist Kirche?

6. Kirche – apostolisch, aber undemokratisch?

7. Was heißt heute noch katholisch? Und was: evangelisch?

8. Eine »heilige« Kirche?

9. Was meint »Gemeinschaft der Heiligen«?

10. Was meint »Vergebung der Sünden«?

11. Warum im Apostolikum keine Rede von der Dreieinigkeit?

12. Wie von Vater, Sohn und Geist reden?

13. Geist der Freiheit

VI. Auferstehung der Toten und ewiges Leben

1. Der Himmel als künstlerische Illusion

2. Der Himmel des Glaubens

3. Weltuntergang physikalisch – vom Menschen gemacht

4. Die Weltgeschichte als Weltgericht?

5. An den Teufel glauben?

6. Eine ewige Hölle?

7. Das Fegefeuer und die unabgegoltene Schuld

8. Die Bestimmung des Menschen

9. Nur Gott schauen?

10. Eine andere Einstellung zum Sterben

11. Wozu sind wir auf Erden?

Anmerkungen

Guide

Credo – heute?

Wie viele Menschen interessieren sich überhaupt noch für das traditionelle christliche Glaubensbekenntnis? Viele nennen sich religiös, doch nicht christlich, viele christlich, doch nicht kirchlich. Aber heftige Auseinandersetzungen vor allem in der katholischen Kirche um einzelne traditionelle Glaubensaussagen erregen auch über die Kirchenmauern hinaus Aufmerksamkeit und zeigen, wie wenig »erledigt« die uralten Grundfragen des christlichen Glaubensbekenntnisses sind. Gestritten wird in aller Öffentlichkeit um das Verständnis von Schlüsselaussagen gerade des traditionellen Credo, des »Apostolischen Glaubensbekenntnisses«: »Geboren aus der Jungfrau Maria. Auferstanden von den Toten. Hinabgestiegen zu der Hölle. Aufgefahren in den Himmel«. Erbittert wird dann wieder einmal der Streit ausgefochten zwischen Lehramt und zeitgenössischer Theologie um die richtige Auslegung – und nicht selten ergeben sich falsche Alternativen zwischen »objektiver« kirchlicher Lehre und subjektiv-psychologischer Bildinterpretation.

Dabei ist klar: Zum Glauben kann heute – erfreulicherweise – niemand mehr gezwungen werden. Doch viele Zeitgenossen möchten gerne glauben, aber so wie man im Altertum, im Mittelalter oder in der Reformationszeit glaubte, können sie es nicht. Zu viel hat sich verändert in der Gesamtkonstellation unserer Zeit. Zu vieles im christlichen Glauben erscheint fremd, scheint der Natur- und Humanwissenschaft und auch den humanen Impulsen unserer Zeit zu widersprechen. Hier will dieses Buch helfen. Was Papst Johannes XXIII. 1962 in seiner berühmten Eröffnungsansprache den »springenden Punkt« des Konzils nannte, kann man auch als den springenden Punkt dieses Buches bezeichnen. Es geht nicht um »die Diskussion dieses oder jenes Grundartikels der Lehre der Kirche in weitschweifiger Wiederholung der Lehre der Väter sowie der alten und modernen Theologen, welche man unserem Geist immer gegenwärtig und vertraut voraussetzen darf«. Sondern es geht um »einen Sprung voran, hin auf eine Lehrdurchdringung und eine Bildung der Gewissen, gewiß in einer vollkommeneren Entsprechung und Treue zur echten Lehre, doch diese studiert und dargelegt in den Formen der Forschung und literarischen Formulierung eines modernen Denkens«.

Meine hier vorgelegte Erklärung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, des Apostolikums, fühlt sich diesem Geist des Konzils verpflichtet. Sie will

– nicht eine persönlich-willkürliche, sondern eine auf der Basis der Schrift formulierte Auslegung der in diesem »Credo« festgelegten christlichen Glaubensartikel sein;

– nicht eine esoterische oder steril dogmatische, sondern eine die Fragen der Zeitgenossen ernstnehmende Interpretation liefern: keine Geheimwissenschaft nur für schon Glaubende, sondern Verständlichkeit, möglichst auch für Nicht-Glaubende, ohne wissenschaftliches Imponiergehabe und sprachliche Gestelztheit; keine offensichtlich vernunftwidrigen Behauptungen, wohl aber Argumentation für Vertrauen in eine Wirklichkeit jenseits der Grenzen der reinen Vernunft;

– nicht irgendeine kirchliche Sondertradition favorisieren, aber auch umgekehrt sich nicht einer bestimmten psychologischen Denkschule ausliefern, sondern sich in unbedingter intellektueller Redlichkeit am Evangelium, das heißt an der ursprünglichen christlichen Botschaft orientieren, wie sie heute mit den Mitteln historisch-kritischer Forschung dargelegt werden kann;

– keiner konfessionellen Gettomentalität Vorschub leisten, sondern ökumenische Weite anstreben, bei der sich sowohl die drei großen christlichen Kirchen verstanden fühlen können als auch ein Brückenschlag zum Gespräch mit den Weltreligionen ermöglicht wird.

Die Einheit der christlichen Kirchen (Abschaffung aller gegenseitigen Exkommunikationen) ist notwendig, der Friede zwischen den Religionen (als Voraussetzung für einen Frieden zwischen den Nationen) ist möglich. Doch eine maximale ökumenische Offenheit schließt die Treue zur eigenen religiösen Überzeugung nicht aus. Gesprächsbereitschaft in Standfestigkeit ist erwünscht.

Vierzig Jahre theologischer Arbeit sind in dieses Buch eingegangen. Was an Glaubensüberzeugungen durch unermüdliches Studieren und Reflektieren in mir gewachsen ist, soll hier auf knappem Raum dargelegt werden. Die Wahrheit soll stets in Wahrhaftigkeit gesagt werden, wobei die historische Kritik nicht zugunsten eines individualistisch verengten Psychologismus aufgegeben wird. Selbstverständlich konnte in diesem kleinen Buch längst nicht alles angesprochen werden, was zum christlichen Glauben und Leben gehört, von all den Spezialfragen der Dogmatik angefangen bis zu Fragen der Ethik und der Spiritualität. Das liegt nicht zuletzt am »Credo« selbst, das nun einmal eine begrenzte »Auswahl« aus den möglichen »Artikeln« christlichen Glaubens bietet und auf die Fragen des christlichen Handelns gar nicht eingeht. Früher hätte man dies wohl einen »Kleinen Katechismus« des christlichen Glaubens genannt.

Für all die genannten Fragen, die ich hier nicht behandeln konnte, muß ich deshalb auf meine größeren Bücher verweisen, die den Hintergrund dieses Bändchens bilden, vor allem die Bücher über die Rechtfertigung, die Kirche, das Christsein, die Existenz Gottes, das ewige Leben, die Weltreligionen und das Weltethos. Auf diese Schriften, die ausführliche Literaturangaben enthalten, wird am Schluß – als Beleg und zur möglichen Vertiefung – noch eigens verwiesen. Auf die historische Entwicklung von Kirche und Dogma und die gegenwärtige Lage des Christentums hoffe ich im zweiten Band meiner Trilogie »Die religiöse Situation der Zeit«, im Band über das Christentum eingehen zu können, und zwar im gleichen Stil, wie ich dies im Band über das Judentum, der 1991 erscheinen konnte, bereits getan habe.

Obwohl das »Credo« aufgrund seiner Entstehungszeit in der ersten Jahrtausendhälfte unübersehbare inhaltliche Grenzen hat, empfand ich es doch als größere Herausforderung, mich gerade mit den traditionellen Glaubensformulierungen auseinanderzusetzen, statt mit eigenen Worten ein modernes Glaubensbekenntnis neu zu formulieren; an einer völlig diffusen, gar konfusen Frömmigkeit kann ja niemand interessiert sein. Und es haben nun einmal gerade diese Artikel – nicht zuletzt durch ihre Verwendung in Liturgie und Kirchenmusik bis auf den heutigen Tag – die Christenheit zutiefst geprägt und bis in den Raum der bildenden Kunst hinein Wirkungen erzielt. Aus diesem Grunde ist der bildenden Kunst diesmal besondere Aufmerksamkeit gewidmet, nachdem ich mir zuvor im Zusammenhang mit dem Namen Mozart Gedanken über die musikalische Gestaltung traditioneller Glaubensaussagen gemacht habe: In jedem der sechs folgenden Kapitel habe ich mich bemüht, die jeweiligen Glaubensartikel von einem klassischen Beispiel christlicher Ikonographie her einzuführen, um das Bild des traditionellen Glaubens mit der so verschiedenen Grundhaltung des heutigen Zeitgenossen vergleichen zu können.

Ein gebührendes Wort des Dankes für die Hilfe, die ich auch dieses Mal empfangen durfte, sei am Schluß ausgesprochen. Das ist alles andere als eine Formalität für mich. Denn ich bin mir im klaren darüber, daß ich mein enormes Arbeitspensum nicht ohne zuverlässige technische und wissenschaftliche Unterstützung bewältigen könnte. Die technische Betreuung des Manuskripts lag auch diesmal wieder in den Händen von Frau Eleonore Henn und Frau Margarita Krause, sorgfältig Korrektur gelesen haben mein Doktorand Matthias Schnell und stud. theol. Michel Hofmann. Die satztechnische Gestaltung hat wiederum Dipl.-Theol. Stephan Schlensog besorgt, der mir auch durch seine kritische Lektüre des Manuskripts eine Hilfe war. Für alle inhaltlichen und stilistischen Fragen aber danke ich insbesondere Frau Marianne Saur und dem stellvertretenden Direktor des Instituts für ökumenische Forschung, Privatdozent Dr. Karl-Josef Kuschel. Ihnen allen, die mir zum Teil schon so viele Jahre treu zur Seite stehen, sei so in aller Öffentlichkeit von Herzen gedankt.

Von keiner anderen Überzeugung als der folgenden wird diese Erklärung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses geleitet: daß man auch als Zeitgenosse des ausgehenden 20. Jahrhunderts, trotz aller Kritik an Christentum und Kirche, in einer Haltung vernünftigen Vertrauens sagen kann: Credo, ich glaube. Ich kann ja sagen zu den (gewiß recht verschieden gewichtigen) Artikeln des Apostolischen Glaubensbekenntnisses als Orientierung für das eigene Leben und Hoffnung für das eigene Sterben.

Tübingen, im Mai 1992

Hans Küng

Symbolum Apostolorum

Credo in Deum Patrem omnipotentem

creatorem coeli et terrae.

Et in Iesum Christum

Filium dus unicum, Dominum nostrum

qui conceptus est de Spiritu Sancto

natus ex Maria Virgine

passus sub Pontio Pilato

crucif xus, mortuus et sepultus

descendit ad infernos

tertia die resurrexit a mortuis

ascendit ad coelos

sedet ad dexteram Dei Pains omnipotentis

inde venturus est

iudicare vi vos et mortuos.

Credo in Spiritum Sanctum

sanctam Ecclesiam catholicam

sanctorum communionem

remissionem peccatorum

carnis resurrectionem

et vitam aeternam

Amen

Das Apostolische Glaubensbekenntnis

Ich glaube an Gott, den Vater, den allmächtigen,

den Schöpfer des Himmels und der Erde.

Und an Jesus Christus,

seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn,

empfangen durch den Heiligen Geist,

geboren von der Jungfrau Maria,

gelitten unter Pontius Pilatus,

gekreuzigt, gestorben und begraben,

hinabgestiegen in das Reich des Todes,

am dritten Tage auferstanden von den Toten,

aufgefahren in den Himmel;

er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters;

von dort wird er kommen,

zu richten die Lebenden und die Toten.

Ich glaube an den Heiligen Geist,

die heilige katholische Kirche,

Gemeinschaft der Heiligen,

Vergebung der Sünden,

Auferstehung der Toten

und das ewige Leben.

Amen

I.Gott der Vater: Gottesbild und Weltschöpfung

In sechs Kapiteln, klar gegliedert, möchte ich aufzuzeigen versuchen, wie man die zwölf Artikel des traditionellen Glaubensbekenntnisses verstehen kann: jenes Glaubensbekenntnisses, das zweifellos nicht auf die Apostel zurückgeht, aber von der apostolischen Botschaft inspiriert ist. Erst um 400 tauchen der Name »Symbolum Apostolorum« und die Erzählung vom apostolischen Ursprung auf. Erst im 5. Jahrhundert liegt es vollendet vor, und erst im 10. Jahrhundert wurde es von Kaiser Otto dem Großen in Rom anstelle des Nizäno-Konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnisses als Taufsymbol eingeführt. Bis heute aber hat es sich in der katholischen Kirche wie in den Kirchen der Reformation als einfach erzählende Zusammenfassung des christlichen Glaubens auf der Grundlage der apostolischen Verkündigung halten können. Es hat von daher auch eine ökumenisch wichtige Funktion. Und doch kommt jedem Zeitgenossen sofort die Frage: »Kann man das alles glauben?«

1. Kann man das alles glauben?

Direkt und persönlich die alte Tauffrage gestellt: »Glauben Sie an Gott, den Vater, den allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde?« Schon dieser erste Satz des Glaubensbekenntnisses mutet einem bereits viel »zu glauben« zu. »Gott« – »Vater« – »allmächtig« – »Schöpfer« – »Himmel und Erde«: Nichts ist mehr selbstverständlich an diesen Worten. Jedes von ihnen bedarf der Erklärung, der Übersetzung in unsere Zeit.

Nun lebt der Mensch gewiß nicht von Begriffen und Ideen allein, sondern von jedem Bild, das er seit seiner Jugend tief in sich aufgenommen hat. Und auch des Menschen Glaube lebt nicht nur von Sätzen, Dogmen und Argumenten, sondern von jedem großen Bild, das sich ihm als eine Glaubenswahrheit eingeprägt hat und das eben nicht nur Intellekt und kritisch-rationalen Diskurs, sondern auch seine Einbildungskraft und seine Emotionen anzusprechen vermag. Glauben wäre ja nur eine halbe Sache, wenn nur des Menschen Verstand und Vernunft und nicht der ganze Mensch, auch sein Herz, angesprochen wäre.

Vielen Zeitgenossen fällt denn auch beim Wort Gott, Schöpfergott, weniger ein Begriff oder eine Definition denn ein Bild ein, ein großes klassisches Bild von Gott und Welt, Gott und Mensch. Jene Fresken etwa, die der kaum fünfunddreißigjährige Michelangelo Buonarotti, der bis dahin fast nur als Bildhauer und Architekt gearbeitet hatte, im Auftrag von Papst Julius II. della Rovere an das riesige Gewölbe der päpstlichen Palastkapelle gemalt hat, 1508-12. Einzigartige Bilder stehen hier vor uns: einzigartig nicht nur wegen der unerhört dichten künstlerischen Gesamtkonzeption, der alles tragenden Scheinarchitektur, der kühnen Perspektivität und Monumentalität der Figuren und der jetzt wieder restaurierten leuchtenden Farben. Einzigartig auch wegen ihres theologischen Gehalts: Michelangelo selber wollte – statt der vom Papst gewünschten Apostel auf hohen Thronen in einem gemalten geometrischen Felderwerk – Schöpfungsgeschichte und Urgeschichte der Menschheit darstellen.

Etwas Unerhörtes entstand. Hatten die frühchristlichen Maler sich damit begnügt, Gott mit Chiffren und Symbolen darzustellen, so wagt Michelangelo, was vor ihm keiner wagte: den Schöpfungsprozeß und das Geschehen schon am ersten Schöpfungstag unmittelbar anschaulich zu malen:

Gottvater im leeren Raum schwebend und mit gewaltigem Gestus der Arme das Licht von der Dunkelheit scheidend.

Dann, auf dem zweiten Riesenfresko, Gott als Schöpfer heranbrausend, Sonne und Mond schaffend im Nu, so daß man ihn auf dem gleichen Bild vom Rücken her davonfliegen sieht.

Weiter – nach der Trennung des Landes vom Wasser auf dem vierten Mittelbild (an Pflanzen und Tieren war Michelangelo sein Leben lang nie interessiert) – Gottvater heranfliegend, in einer Engelschar die liebenswürdige halbwüchsige Gestalt der Eva mit sich führend. Vom rechten Zeigefinger Gottes springt der Lebensfunke auf die kraftlos entgegengestreckte Hand Adams über.

Nicht nur vorher, sondern auch nachher hat kein Mensch solche Bilder zu malen gewagt: sie blieben unübertroffen. Und doch brechen hier sofort Fragen des skeptischen Zeitgenossen auf: »Sollen wir das so glauben? Vor allem jene legendenhaften Erzählungen der Bibel von einem Schöpfungswerk in sechs Tagen, von einem Gott da oben in der Höhe, einem Übermenschen und Übervater, ganz und gar männlich von Gestalt und allmächtig dazu! Mutet uns das Glaubensbekenntnis nicht zu, das kritische Denken beim Eintritt in die Kirche abzugeben?«

Zugegeben: Wir leben nicht mehr in den Zeiten Michelangelos, der übrigens wie kaum einer in seinen späteren Jahren die Kunst zugunsten der Religion relativiert hat; leben auch nicht mehr in den Zeiten Luthers und Melanchthons, welche damals das wahrhaft revolutionäre Buch des katholischen Domherrn Nikolaus Kopernikus vom heliozentrischen Weltsystem in den Händen hatten und es – wegen seines klaren Widerspruchs zur Bibel – verwarfen, ohne allerdings Kopernikus den Prozeß zu machen wie später die Päpste dem Galilei. Rund 400 Jahre nach Kopernikus, 300 Jahre nach Galilei, 200 Jahre nach Kant und 100 Jahre nach Darwin (allesamt von einem lernunfähigen römischen »Lehramt« zunächst verurteilt) bin ich mir bewußt, daß buchstäblich jedes Wort des »apostolischen Glaubensbekenntnisses« in die nachkopernikanische, nachkantsche, auch nachdarwinsche und nacheinsteinsche Welt hinein übersetzt werden muß, wie ja auch frühere Generationen an entscheidenden Epochenbrüchen – Frühmittelalter, Reformation, Aufklärung – dasselbe Glaubensbekenntnis wieder neu zu verstehen hatten. Und leider: Jedes Wort dieses Credo – vom Wort »Ich glaube« und vom Wort »Gott« angefangen – ist im Lauf der Jahrhunderte ja auch mißverstanden, mißbraucht, gar geschändet worden.

Doch sollen wir diese Bekenntnisworte deshalb wegwerfen – fort damit auf den Abfallhaufen der Geschichte? Nein! Wir sollten Stück für Stück die Grundlagen theologisch neu legen und die skeptischen Fragen der Zeitgenossen ganz und gar ernst nehmen. Denn das Glaubensbekenntnis setzt ja allzu selbstverständlich voraus, was unter neuzeitlichen Bedingungen gerade zu beweisen wäre: daß es eine transzendente Wirklichkeit überhaupt gibt, daß Gott existiert. Aber beweisen? Heißt »glauben« beweisen?

2. Was heißt »glauben«?

Zugegeben: Glaubensaussagen haben nicht den Charakter mathematischer oder physikalischer Gesetze. Ihr Inhalt kann weder wie in der Mathematik noch wie in der Physik durch direkte Evidenz oder mit dem Experiment ad oculos demonstriert werden. Die Wirklichkeit Gottes aber wäre auch gar nicht Gottes Wirklichkeit, wenn sie so sichtbar, greifbar, empirisch konstatierbar, wenn sie experimentell verifizierbar oder mathematisch-logisch deduzierbar wäre. »Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht«, sagte der evangelische Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer einmal zu Recht. Denn: Gott – im Tiefsten und Letzten verstanden – kann nie einfach Objekt, ein Gegenstand sein. Ist er das, wäre dies nicht Gott. Gott wäre dann der Götze der Menschen. Gott wäre ein Seiendes unter Seiendem, über das der Mensch verfügen könnte, und sei es auch nur in seiner Erkenntnis.

Gott ist per definitionem das Un-definierbare, Un-begrenzbare: eine buchstäblich unsichtbare, unermeßliche, unbegreifliche, unendliche Wirklichkeit. Ja, er ist nicht irgendeine weitere Dimension unserer vieldimensionalen Wirklichkeit, sondern ist die Dimension Unendlich, die in all unserem alltäglichen Rechnen verborgen präsent ist, auch wenn wir sie nicht wahrnehmen – außer eben in der Infinitesimalrechnung, die bekanntlich zur höheren Mathematik gehört.

Die nicht nur mathematische, sondern reale Dimension Unendlich, dieser Bereich des Ungreifbaren und Unbegreifbaren, diese unsichtbare und unermeßliche Wirklichkeit Gottes läßt sich rational nicht beweisen, so sehr dies Theologen und manchmal auch Naturwissenschaftler immer wieder versucht haben – im Gegensatz zur Hebräischen Bibel, im Gegensatz zum Neuen Testament und im Gegensatz zum Koran, wo ja die Existenz Gottes nirgendwo argumentativ demonstriert wird. Philosophisch gesehen hat Immanuel Kant recht: So weit reicht unsere reine, theoretische Vernunft nicht. An Raum und Zeit gebunden, kann sie nicht beweisen, was außerhalb des Horizonts unserer raum-zeitlichen Erfahrung ist: weder daß Gott existiert noch – und das übersehen Atheisten meist – daß Gott nicht existiert. Auch für die Nichtexistenz Gottes hat bisher noch nie jemand einen überzeugenden Beweis geleistet. Nicht nur die Existenz Gottes, auch die Existenz eines Nichts läßt sich nicht beweisen.

Deshalb gilt: Niemand ist rein denkerisch-philosophisch dazu gezwungen, die Existenz Gottes anzunehmen. Wer die Existenz einer meta-empirischen Wirklichkeit »Gott« annehmen will, hat gar keine andere Möglichkeit, als sich ganz praktisch auf sie einzulassen. Auch für Kant ist die Existenz Gottes ein Postulat der praktischen Vernunft. Ich möchte lieber von einem Akt des Menschen insgesamt reden, des Menschen mit Vernunft (Descartes!) und Herz (Pascal!), genauer: ein Akt vernünftigenVertrauens, das zwar keine strengen Beweise, aber gute Gründe hat. Wie ja doch auch ein Mensch, der nach manchen Zweifeln auf einen anderen Menschen sich in Liebe einläßt, genau besehen keine strengen Beweise für sein Vertrauen hat, wohl aber – wenn es sich nicht um eine fatale »blinde Liebe« handelt – gute Gründe. Blinder Glaube aber kann ebenso verheerende Folgen haben wie blinde Liebe.

Insofern also ist des Menschen Glaube an Gott weder ein rationales Beweisen noch ein irrationales Fühlen noch ein dezisionistischer Akt des Willens, sondern ein begründetes und in diesem Sinn eben vernünftiges Vertrauen. Dieses vernünftige Vertrauen, das Denken, Fragen und Zweifeln einschließt und das zugleich Sache des Verstandes, des Willens und des Gemütes ist: dies heißt im biblischen Sinn »Glauben«. Kein bloßes Fürwahrhalten von Sätzen also, sondern ein Sicheinlassen des ganzen Menschen, und zwar nicht primär auf bestimmte Sätze, sondern auf die Wirklichkeit Gottes selbst. Wie es schon der große Lehrer der lateinischen Kirche Augustinus von Hippo unterschieden hat: nicht nur ein »etwas glauben« (»credere aliquid«), auch nicht nur »jemandem glauben« (»credere alicui«), sondern »an jemand glauben« (»credere in aliquem«). Dies meint das Urwort »Credo«: »Ich glaube«

– nicht an die Bibel (das sage ich gegen den protestantischen Biblizismus), sondern an den, den die Bibel bezeugt;

– nicht an die Tradition (das sage ich gegen den östlich-orthodoxen Traditionalismus), sondern an den, den die Tradition überliefert;

– nicht an die Kirche (das sage ich gegen den römisch-katholischen Autoritarismus), sondern an den, den die Kirche verkündet;

– also, und das ist unser ökumenisches Bekenntnis: »Credo in Deum«: ich glaube an Gott!

Auch das Glaubensbekenntnis ist nicht der Glaube selbst, sondern ist nur Ausdruck, Ausformulierung, Artikulation des Glaubens; deshalb spricht man von »Glaubensartikeln«. Und doch wird mich der Zeitgenosse fragen: »Macht nicht, wer heute noch an Gott glaubt, die Aufklärung rückgängig? Fällt er nicht, gewollt oder ungewollt, ins Mittelalter oder zumindest in die Reformationszeit zurück? Wird so die ganze Religionskritik der Moderne nicht schlechthin vergessen, ja verdrängt?«

3. Gilt die moderne Religionskritik noch?

Nein, ich habe sie nicht vergessen, die Kritik der Religion, habe sie jahrelang studiert, mit viel Passion und wahrhaftig nicht ohne Sympathie für die Großen dieses Genres, von Feuerbach über Marx bis Nietzsche und Freud. In allzu vielem hatten und haben sie recht, als daß man sie auch heute noch (oder heute wieder) ungestraft ignorieren könnte. Denn analysiert man das Persönlichkeitsprofil so mancher frommer »Gläubiger« – und dies wahrhaftig nicht nur im Christentum –, so wird man es mit Ludwig Feuerbach nicht bestreiten können: Der Glaube an Gott kann den Menschen von sich selber entfremden und verkümmern lassen, weil der Mensch Gott mit den Schätzen seines eigenen Innern ausgestattet hat. Zu wenig menschlich, zu wenig Menschen sind diese Gottgläubigen, als daß Gottlose sich von ihrem Gottesglauben anstecken lassen könnten! Ja, man kann den Republikaner Feuerbach verstehen, daß er die Menschen von Kandidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits machen wollte: aus den religiösen und politischen Kammerdienern der himmlischen und irdischen Monarchie und Aristokratie zu freien, selbstbewußten Bürgern.

Allerdings haben wir seit Feuerbach ein Doppeltes hinzugelernt:

1. Daß Gott nur das ins Jenseits hinausprojizierte, hypostasierte Spiegelbild des Menschen sei, hinter dem in Wirklichkeit nichts stehe, wurde von Feuerbach nie bewiesen, immer nur behauptet. Heute gibt es ungezählte Menschen, die freie, selbstbewußte Bürger der Erde sind, gerade weil sie an Gott glauben als den Grund und die Garantie ihrer Freiheit und Mündigkeit.

2. Auch der gott-lose Humanismus hatte allzu oft inhumane Folgen, und in den Schreckenserfahrungen unseres Jahrhunderts – zwei Weltkriege, Gulag, Holocaust, Atombombe – erwies sich der Weg von der Humanität ohne Divinität zur Bestialität oft als kurz.

Aber Rückfrage: Gilt die Aussage von den freien, selbstbewußten Menschen, die an Gott glauben, nicht bestenfalls für westliche Wohlstandsgesellschaften, kaum aber für Kontinente wie Lateinamerika? Hat man dort zur Analyse der unmenschlichen Verhältnisse, an denen nicht zuletzt Religion und Kirche schuld sind, nicht zu Recht Einsichten von Karl Marx herangezogen? Marx wollte die Kritik des Himmels in die Kritik der Erde verwandeln, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik. Wer die oft unmenschlichen Verhältnisse etwa in Lateinamerika kennt, kann kaum bestreiten, daß der herrschende Gott der Christen vielfach der Gott der Herrschenden war: eine Jenseitsvertröstung, eine Deformation des Bewußtseins, ein Schmücken der Ketten mit Blumen, anstatt sie zu zerbrechen.

Inzwischen hat sich allerdings auch für die bisher Unbelehrbaren unwiderlegbar gezeigt, daß bei allen richtigen Analysen die Marxschen Lösungen – Abschaffung des Privateigentums und Sozialisierung von Industrie, Landwirtschaft, Erziehung und Kultur – zu einer beispiellosen Ausbeutung der Völker und einer Zerstörung von Moral und Natur geführt haben. Zu einem automatischen Absterben der Religion aber kam es, wie Marx annahm, global gesehen nicht. Statt der Religion war zwar eine Zeitlang die Revolution das Opium des Volkes – von der Elbe bis Wladiwostok, auch in Kuba, in Vietnam, Kambodscha und China. Aber jetzt hat sich von Osteuropa und der DDR über Südafrika bis nach Südamerika und den Philippinen gezeigt, daß Religion nicht nur Mittel der sozialen Beschwichtigung und Vertröstung sein kann, sondern auch – so schon in der nordamerikanischen Bürgerrechtsbewegung – Katalysator der sozialen Befreiung: und dies ohne jene revolutionäre Gewaltanwendung, die einen Teufelskreis von immer neuer Gewalt zur Folge hat.

»Gewiß«, sagt da so mancher Zeitgenosse, »Gottesglaube mag Katalysator der äußeren, sozialen Befreiung sein. Aber die noch dringlichere innere, psychische Befreiung von Angst, Unreife und Unfreiheit?« Ich gebe zu: Mit vollem Recht kritisierte Sigmund Freud Machtarroganz und Machtmißbrauch der Kirchen, kritisierte er die Fehlformen der Religion, Realitätsblindheit, Selbsttäuschungen, Fluchtversuche und Verdrängung der Sexualität, kritisierte er aber auch ganz direkt das traditionelle autoritäre Gottesbild. In der Tat wird hinter der Ambivalenz dieses Gottesbildes sehr oft das ins Metaphysische, ins Jenseits oder in die Zukunft projizierte eigene frühkindliche Vater- oder Mutterbild sichtbar. Und selbst heute noch wird manchmal in religiösen Familien der strafende Vater-Gott von Eltern als Erziehungsinstrument zur Disziplinierung der Kinder mißbraucht, mit langfristigen negativen Folgen für die Religiosität der Heranwachsenden. Der Gottesglaube erscheint so als Rückwendung zu infantilen Strukturen, als Regression auf kindliches Wünschen.

In der Zwischenzeit hat sich freilich erwiesen,

daß nicht nur die Sexualität, sondern auch die Religiosität verdrängt werden kann,

daß die ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit, die Freud zufolge die Stärke der Religion ausmachen, besser nicht als reine Illusionen abqualifiziert werden sollten;

daß in einer Zeit allgemeiner Orientierungs- und vielfacher Sinnlosigkeit gerade der Gottesglaube zu definitiver Sinnerfüllung im Leben und auch im Sterben verhelfen kann, aber auch zu unbedingten ethischen Maßstäben und zu einer geistigen Heimat.

So kann denn der Gottesglaube nicht zuletzt im psychischen Bereich statt einer versklavenden eine befreiende, statt einer schädigenden eine heilende, statt einer labilisierenden eine echt stabilisierende Funktion haben.

Damit dürfte deutlich geworden sein: Wer heute an Gott glaubt – zunächst allgemein umschrieben als transzendent-immanente, allumgreifend allesdurchwaltende wirklichste Wirklichkeit im Menschen und in der Welt –, der braucht weder ins Mittelalter noch in die Reformationszeit noch in die eigene Kindheit zurückzufallen, der kann durchaus Zeitgenosse unter Zeitgenossen sein – gerade heute, im schmerzhaft langsamen Übergang zu einer nach-modernen Weltepoche.

Meine Antwort also auf die moderne Religionskritik zusammengefaßt:

– Der Gottesglaube war und ist gewiß oft autoritär, tyrannisch und reaktionär. Er kann Angst, Unreife, Engstirnigkeit, Intoleranz, Ungerechtigkeit, Frustration und soziale Abstinenz produzieren, kann geradezu Unmoral, gesellschaftliche Mißstände und Kriege in einem Volk oder zwischen Völkern legitimieren und inspirieren. Aber:

– Der Gottesglaube konnte sich gerade in den letzten Jahrzehnten wieder zunehmend als befreiend, zukunftsorientiert und menschenfreundlich erweisen: Gottesglaube kann Lebensvertrauen, Reife, Weitherzigkeit, Toleranz, Solidarität, kreatives und soziales Engagement verbreiten, kann geistige Erneuerung, gesellschaftliche Reformen und den Weltfrieden fördern.

»Aber die konkreten Aussagen unseres christlichen Glaubensbekenntnisses? Wie ist unter den Bedingungen der neuzeitlichen Religionskritik zu verstehen, daß Gott »Schöpfer« des Himmels und der Erde ist? Stehen nicht gerade die Erkenntnisse der modernen Kosmologie im Widerspruch zu einem Schöpfer-Glauben?« Viele Zeitgenossen fragen so.

4. Schöpfungsglaube und Kosmologie – ein Widerspruch?

»Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde«, so lautet der allererste Satz der Bibel. Diese Welt also hatte einen Anfang, gesetzt durch einen Akt Gottes. Auch viele Naturwissenschaftler nehmen ja heute durchaus an, daß die Welt nicht ewig, anfangslos ist, sondern einen zeitlichen Beginn hatte, der möglicherweise mit einem Ur-Knall zusammenfiel. Doch sofort höre ich den Einwand: »Wollen Sie den Satz der Bibel von einer göttlichen Weltschöpfung naturwissenschaftlich verifizieren? Ist für Sie der Zeitpunkt des Ur-Knalls (Big Bang), mit dem unsere Welt nach Meinung bedeutender Forscher angefangen hat, gar mit dem Zeitpunkt der Weltschöpfung aus dem Nichts durch göttliche Allmacht identisch?«

Das auf der Basis der Urknall-Theorie entwickelte kosmologische »Standardmodell« (S. Weinberg) der Weltentstehung hat allerneuestens eine erstaunliche Bestätigung gefunden. Schon 1929 hatte der amerikanische Physiker Edwin P. Hubble aus den von ihm gefundenen Rotverschiebungen der Spektrallinien von Galaxien (Milchstraßensystemen) auf die immer noch weitergehende Expansion unseres Weltalls geschlossen. Mit einer Geschwindigkeit, die ihrer Entfernung von uns proportional ist, bewegen sich demnach die Galaxien außerhalb unserer eigenen Milchstraße von uns fort. Seit wann? Seit ewigen Zeiten kann es nicht sein. Es muß einen Anfang gegeben haben, in welchem alle Strahlung und alle Materie in einem kaum beschreibbaren Ur-Feuerball von kleinstem Umfang und größter Dichte und Hitze komprimiert war. Mit einer gigantischen kosmischen Explosion, dem »Ur-Knall« – bei einer Temperatur von 100 Milliarden Grad Celsius und etwa viermilliardenmal so dicht wie Wasser – soll vor fast 15 Milliarden Jahren die noch immer andauernde gleichförmige (und isotrope) Expansion des Universums begonnen haben.

Schon in den ersten Sekunden dürften aus extrem energiereichen Photonen schwere Elementarteilchen (Protonen, Neutronen) und leichte (Elektronen, Positronen) gebildet worden sein, die Bauelemente der Atome. Danach wurden durch Kernprozesse aus Protonen und Neutronen Heliumkerne und wiederum einige hunderttausend Jahre später auch Wasserstoff- und Heliumatome aufgebaut. Erst sehr viel später – bei nachlassendem Druck der ursprünglich hochenergetischen Lichtquanten und weiterer Abkühlung – konnte das Gas durch die Gravitation zu Klumpen und schließlich, bei weiterer allmählicher Verdichtung, zu Galaxien und Gestirnen kondensieren … Die 1964 von A. A. Penzias und R. W. Wilson entdeckte Radiostrahlung im Dezimeter- und Zentimeterbereich (kosmische Mikrowellen- oder Hintergrundstrahlung) wäre demnach nichts anderes als das Überbleibsel jener sehr heißen, mit dem Urknall verbundenen kosmischen Strahlung, welche durch die Expansion des Weltalls in eine Strahlung sehr niedriger Temperatur überging, ein Urknall-Echo sozusagen. Im April 1992 gelang es erstmals, mit Hilfe des US-Forschungssatelliten COBE die Spuren jener winzigen und frühesten Strukturen im Raum-Zeit-Gefüge zu messen, die durch den ersten Explosionsprozeß verursacht wurden und aus denen sich schließlich die Galaxien gebildet haben: also die größten und ältesten Strukturen (Dichteschwankungen im frühen kosmischen Energiebrei), die 300 000 Jahre nach dem Ur-Knall entstanden sind.

Liegt Michelangelo also so ganz falsch? Und hat nicht die Bibel doch recht: »Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, daß das Licht gut war … ein erster Tag« (Gen 1, 3f): Beweist die Theorie vom Urknall nicht eindeutig die Wahrheit einer Weltschöpfung? Hat dieser plötzliche Schöpfungsakt nicht etwas von einem Urknall, unendlich grandioser als die biblischen Schriftsteller und auch Michelangelo sich dies zu ihrer Zeit hatten vorstellen können? Nach jener Theorie fand der Urknall zwar vor langer, aber endlicher Zeit statt. Die Welt hätte also einen Anfang, ein bestimmtes Alter: rund 15 Milliarden Jahre. Und unser Planet: aus kosmischen Staubwolken am Rand einer der hundert Millionen Milchstraßensysteme gebildet vor vielleicht fünf Milliarden Jahren. Ja, die jüngsten Messungen legen das Alter des Sonnensystems, entstanden aus einer sich verdichtenden Spiralwolke aus Gas und Staub, aus der sich auch unsere Ur-Erde gebildet hat, auf 4, 5 Milliarden Jahre fest [1].

Doch der Pferdefuß dieser Theorie: Nach wie vor ist nicht darüber entschieden, ob die Expansion des Weltalls dauernd weitergeht oder einmal zum Stehen kommt und danach wieder in Kontraktion übergehen wird. Das kann erst von weiteren Beobachtungen her entschieden werden, von denen es auch abhängt, ob das Weltall offen oder geschlossen, der Weltraum also unendlich groß ist oder ein endliches Volumen besitzt. Albert Einstein hatte bekanntlich schon vor der Urknall-Theorie ein, allerdings damals noch statisches, neues Weltmodell entwickelt, das von der klassischen Physik Newtons völlig abwich: Aufgrund der Gleichungen seiner allgemeinen Relativitätstheorie wird die Gravitation als Folge einer Krümmung des nicht-anschaulichen »Raum-Zeit-Kontinuums« aufgefaßt, das heißt eines vierdimensionalen Zahlenraums, der mit nichteuklidischer Geometrie aus Raum- und Zeitkoordinaten gebildet wird. Ein räumlich gekrümmtes Universum, das als unbegrenzt gedacht werden muß, aber doch ein endliches Volumen hat – ähnlich wie im dreidimensionalen Raum die Oberfläche einer Kugel, welche einen endlichen Flächeninhalt und doch keine Begrenzung hat.