Wegzeichen in die Zukunft - Hans Küng - E-Book

Wegzeichen in die Zukunft E-Book

Hans Küng

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Beschreibung

Im Dezember 1979 entzieht die römische Glaubenskongregation dem Tübinger Theologie-Professor Hans Küng die kirchliche Lehrbefugnis. Dies ist die Reaktion des katholischen Klerus auf die für viele Katholiken befreiend unkonventionelle Art Küngs, die Aufgaben der katholischen Kirche und das Christsein zu interpretieren. Hier faßt er seine wesentlichen Aussagen zusammen – und stellt sie zur Diskussion. Aus dem Inhalt: Zum Christsein Die veränderte Lage Welcher Christus? Impulse für die Gesellschaft Die Aufgaben der Zukunft Zu Kirche und Unfehlbarkeit Mit Irrtümern leben Kriterien der christlichen Wahrheit Bilanz zur Unfehlbarkeitsdebatte Warum ich in der Kirche bleibe Praktische Impulse Mitentscheidung der Laien Für die Frau in der Kirche Gottesdienst – warum? Wider die Resignation in der Kirche

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Hans Küng

Wegzeichen in die Zukunft

Programmatisches für eine christlichere Kirche

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Im Dezember 1979 entzieht die römische Glaubenskongregation dem Tübinger Theologie-Professor Hans Küng die kirchliche Lehrbefugnis. Dies ist die Reaktion des katholischen Klerus auf die für viele Katholiken befreiend unkonventionelle Art Küngs, die Aufgaben der katholischen Kirche und das Christsein zu interpretieren.

In diesem Buch faßt er seine wesentlichen Aussagen zusammen – und stellt sie zur Diskussion.

 

Aus dem Inhalt:

 

Zum Christsein

Die veränderte Lage

Welcher Christus?

Impulse für die Gesellschaft

Die Aufgaben der Zukunft

Zu Kirche und Unfehlbarkeit

Mit Irrtümern leben

Kriterien der christlichen Wahrheit

Bilanz zur Unfehlbarkeitsdebatte

Warum ich in der Kirche bleibe

Praktische Impulse

Mitentscheidung der Laien

Für die Frau in der Kirche

Gottesdienst – warum?

Wider die Resignation in der Kirche

Über Hans Küng

Professor Dr. Hans Küng, geb. 1928 in Sursee/Kanton Luzern, Schweiz, wandte sich nach einem dreijährigen Vikariat in Luzern 1959 der Hochschullaufbahn zu. Ab 1960 lehrte er als Ordinarius für Dogmatik und ökumenische Theologie an der Universität Tübingen und leitete das Institut für ökumenische Forschung. 1962 berief ihn der Papst Johannes XXIII. zum Konzilstheologen. Seine Gastvorlesungen in den USA, in England und Indien fanden ein großes Echo.

Inhaltsübersicht

Herbert Haag dem ...VorwortTeil A: Zum ChristseinI. Was in der Kirche bleiben mußII. Die Bergpredigt und die GesellschaftIII. Katholisch - evangelisch: Eine ökumenische BestandsaufnahmeTeil B: Zu Kirche und UnfehlbarkeitI. Kirche – gehalten in der Wahrheit?II. Kleine Bilanz der UnfehlbarkeitsdebatteIII. Versöhnliches Schlußwort unter die Debatte mit Karl RahnerIV. Warum ich in der Kirche bleibeTeil C: Praktische ImpulseI. Mitentscheidung der LaienII. Für die Frau in der Kirche (16 Thesen)III. Bischöfe – Nachfolger der Apostel? (8 Thesen)IV. Gottesdienst – warum?Schluß: Wider die Resignation in der Kirche (Orientierungspunkte)1. Nicht schweigen2. Selber handeln3. Gemeinsam vorgehen4. Zwischenlösungen anstreben5. Nicht aufgebenQuellennachweise

Herbert Haag dem liebenswürdigen Kollegen und tapferen Mitkämpfer in gemeinsamer Sache zum 65. Geburtstag als Zeichen des Dankes für zwanzig Jahre Zusammenarbeit in der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen

Vorwort

Der Wind hat sich gedreht: wieder einmal! Nachdem durch den Pontifikat Johannes’ XXIII. und das Zweite Vatikanische Konzil die «Reform an Haupt und Gliedern» in der katholischen Kirche starken Auftrieb bekommen hatte, bläst ihr jetzt der Wind der Restauration immer heftiger ins Gesicht. Die neuesten Lehräußerungen, die Disziplinierungsfälle von Theologen, die an ihrer kirchlichen Loyalität keinen Zweifel gelassen haben in Frankreich, Holland, Deutschland, Nord- und Südamerika, der deprimierende Ausgang der Holländischen Sondersynode in Rom beweisen: Wir stehen wieder einmal an einer Wendemarke der neueren Kirchengeschichte. Vieles, was in den vergangenen zwei Jahrzehnten aufgebrochen war an hoffnungsvoller Erneuerung, an theologischer Kreativität, an reformerischer Praxis, an neuer Weltoffenheit droht wieder zugeschüttet zu werden: ein neues Amts- und Priesterverständnis, eine neue Mitgestaltung der Laien in der Kirche, neue Antworten auf Fragen der Ehe- und Familienmoral, ein neues dialogisch-kollegiales Miteinander von Papst und Bischöfen, Bischöfen und Theologen, Priester und Laien, neue ökumenische Ansätze im Gespräch mit Nichtkatholiken und Nichtchristen. Keine Frage: die katholische Kirche begann offener, gastfreundlicher, dialogbereiter, menschlicher, ja christlicher zu werden. Und dies alles nicht aus falsch verstandener Anpassung an die herrschenden Trends einer permissiven westlichen Konsumgesellschaft. Nein, aus genuin christlichen Motiven: aus dem Bemühen heraus, die frohe Botschaft Jesu Christi den Menschen von heute glaubwürdig zu verkünden, ihnen Mut zum Glauben, Mut auch zum Einsatz für die Mitmenschen zu machen. «Kollegialität» und «Dialog» waren Schlüsselbegriffe einer so erneuerten Kirche und nicht das Suchen nach Irrtümern, Irrlehren, Irrlehrern.

Soll dies alles nicht mehr gelten? Soll die Kirche wieder wie in vorkonziliarer Zeit zu einer «Festung» (Kardinal Ottaviani) werden, abgeschlossen und abgekapselt, auf die Herausforderung der Welt mit ängstlichem Festhalten an Überkommenem reagierend? Gibt es angesicht der neuesten Entwicklungen noch Hoffnung auf Erneuerung? Hat die Kirche eine Zukunft?

Die drohende Restaurationsphase vor Augen, tut es gut, sich noch einmal auf die theologischen Grundlagen und programmatischen Forderungen zu besinnen, von denen die Erneuerung der Kirche in den letzten Jahren seit dem Konzil weitgehend getragen wurde. Das vorliegende Buch will dazu einen Beitrag leisten. Es enthält kleinere theologische Schriften aus den letzten zehn Jahren, die heute so aktuell wie damals sind, weniger überholt denn je – leider, wird man hinzufügen dürfen! Im Gegenteil: Sie sprechen immer noch in eine Zukunft hinein, die uns nach allen bisherigen Erfahrungen, so hoffe ich, doch immer noch bevorsteht.

Worum es mir in den ganzen, seit Jahren nun schon andauernden theologischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen immer positiv gegangen ist, zeigen in Teil A der Vortrag «Was in der Kirche bleiben muß», und das Gespräch «Die Bergpredigt und die Gesellschaft». Hier sind von Person und Botschaft Jesu Christi her Kriterien entwickelt, nach denen sich Denken und Handeln in der Kirche zu orientieren haben. Die ökumenischen Implikationen der gegenwärtigen Krise werden deutlich in dem bilanzierenden Beitrag: «Katholisch – evangelisch. Eine ökumenische Bestandsaufnahme».

Die durch die römische Maßnahme gegen mich nun vielbeachtete, in der Bischofsdokumentation jedoch unterschlagene Schrift «Kirche – gehalten in der Wahrheit», eröffnet Teil B. Allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz hat sie keine verschärfende, negative Funktion. Sie wollte und will – wie ausdrücklich vermerkt – keinen neuen Unfehlbarkeitsstreit provozieren. Im Gegenteil: Als konstruktive Begleitschrift zu meinem Vorwort zum Buch von A.B. Hasler «Wie der Papst unfehlbar wurde». (München 1978) gedacht, hat sie – wie auch die «Kleine Bilanz zur Unfehlbarkeitsdebatte», von 1973 – eine eminent positive, vor allem ökumenische Intention. Denn dies eine ist unbestritten: Wir kommen gerade im Dialog mit den Ostkirchen, der von Papst Johannes Paul II. wieder neu angestoßen wurde, keinen Schritt weiter, wenn diese Frage von Primat und Unfehlbarkeit des Papstes nicht einer konstruktiven Lösung zugeführt wird. Über Art und Weise der Lösung freilich ist theologisch in aller Fairness und Freiheit zu streiten. Meine eigene theologische Kompromißbereitschaft in dieser Frage – gültig bis heute – ist dokumentiert im «Versöhnlichen Schlußwort unter die Debatte mit Karl Rahner». Hier ist ein Modell innertheologischer Wahrheitsfindung und innerkirchlichen Konfliktaustrags angeboten, das auch für die neueste Auseinandersetzung vorbildhaft hätte sein können. Auf die im gegenwärtigen Konflikt von verschiedenen Seiten erneut an mich herangetragene Aufforderung, doch endlich diese «unverbesserliche» Kirche zu verlassen, habe ich schon vor sieben Jahren meine definitive Antwort gegeben, an der ich auch heute nichts abzustreichen brauche. Nachzulesen in: «Warum ich in der Kirche bleibe».

Die in Teil C angesprochenen praktischen Fragen betreffen drei neuralgische Punkte, in der katholische Weite und römische Verengung hart aufeinanderstoßen. Es ist keine Frage, daß die katholische Kirche eine andere wäre, wenn Laien auf allen Entscheidungsebenen der Kirche repräsentiert wären und Mitbestimmung und Wahlkompetenz erhielten. Die echte wirksame «Mitentscheidung der Laien», ist nach wie vor ein seit dem Konzil unerfülltes Desiderat, wie auch die neuesten Konflikte um das «Amt» des Pastoralassistenten oder Pastoralreferenten in den Gemeinden zeigen. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Thema «Frau in der Kirche» zu. Für Erneuerung und Wandel des Priesterbildes (Zölibat!) wäre es entscheidend, wenn eine durchgehende, gleichberechtigte Repräsentanz der Frau auf allen Ebenen der Kirche gewährleistet wäre – einschließlich der vom Evangelium nicht ausgeschlossenen Ordination der Frau. Auch das Amt der «Bischöfe als der Nachfolger der Apostel» würde – wie vom Zweiten Vatikanischen Konzil intendiert – gegenüber dem römischen Zentralismus aufgewertet und gestärkt, wenn es sich auf seine eigenen legitimen Ursprünge besinnen würde. Gleichzeitig sind in der Sukzessionsfrage die ökumenischen Implikationen von entscheidender Bedeutung für eine theologisch verantwortbare Anerkennung der protestantischen Ämter. Pastorale Ausrichtung hat die Schrift über den Sonntagsgottesdienst «Gottesdienst – warum?», die gerade heute, angesichts des durch die neuesten Maßnahmen verstärkt weitergehenden, resignativen Massenauszugs aus der Kirche aktueller denn je ist. Wo eine Kirche so mit Menschen umgeht, wird die personelle Auszehrung von Klerus und Laienschaft weitergehen mit den bekannten verheerenden Konsequenzen für Gottesdienstbesuch, Sakramentenempfang, Glaubensbereitschaft und praktisches Engagement.

Den Schluß bildet ein Aufruf «Wider die Resignation in der Kirche». Dieser Aufruf ist gleichzeitig auch so etwas wie die geheime Intention dieses Buches. Denn dieses Buch will Hoffnung machen – trotz allem. Es will zeigen, daß Resignation in der Kirche zur Stunde das Allerfalscheste wäre. Diese Freude sollte man den Gegnern der Erneuerung nicht machen, diesen Kummer den Freunden nicht bereiten. Nein, es gilt – wieder einmal – in aller Nüchternheit und aufgeklärter Hoffnung seinen Stand zu behaupten in dieser Kirche Jesu Christi, die mit dem kirchlichen Apparat zu verwechseln ich nach wie vor nicht bereit bin. Das Gebot der Stunde bleibt: Das Ziel nicht aus den Augen verlieren, ruhig und entschlossen handeln und die Hoffnung bewahren auf eine wahrhaft christliche Kirche.

 

Tübingen, Februar 1980

Hans Küng

Teil A Zum Christsein

I. Was in der Kirche bleiben muß

Vorbemerkung

Dieser Vortrag – ich habe nicht versucht, aus der Rede eine Schreibe zu machen – hat eine längere Geschichte. Seit dem Konzil beunruhigte und beschäftigte mich in wachsendem Ausmaß die Frage, was wir als Christen eigentlich wollen, was die christliche Botschaft, was das unterscheidend Christliche ist. Auf dem Internationalen Theologenkongreß in Brüssel 1970 versuchte ich eine erste Antwort, basierend auf der Untersuchung, die mich über ein gutes Jahrzehnt beschäftigt hatte: «Menschwerdung Gottes. Eine Einführung in Hegels theologisches Denken als Prolegomena zu einer künftigen Christologie» (1970).

Ein Forschungssemester im Winter 1971/72 gab mir die Möglichkeit, eine schon seit Jahren ergangene Einladung des Trinity College der University of Melbourne für den australischen Wintermonat August anzunehmen. Ich nützte die Gelegenheit zu einer ausgedehnten Studien- und Vortragsreise rund um die Welt, die mir eine Fülle neuer Erfahrungen und Einsichten brachte. Die seit 1970 insbesondere die deutsche katholische Theologie erregende Unfehlbarkeitsdebatte konnte ich dabei ein wenig vergessen und mich zugleich in weiteren Studien und zahlreichen Diskussionen auf das Zentralthema, was Christentum meint, konzentrieren; das Ergebnis hoffe ich in Buchform in nicht allzu ferner Zeit veröffentlichen zu können.

Unterdessen aber hatte sich durch die verschiedenartigen Erfahrungen der langen Reise auch mein Vortrag über die christliche Botschaft stark verändert. Insbesondere habe ich das erste und letzte Drittel auf einer kleinen Insel zwischen Australien und den Vereinigten Staaten völlig neu geschrieben. Die hier veröffentlichte Fassung ist die letzte, in welcher der Vortrag schließlich auch noch in verschiedenen Städten Deutschlands und der Schweiz gehalten wurde.

Zur gleichen Zeit erscheint im gleichen Verlag – dem Mut, der Zuvorkommenheit und der Effizienz Dr. Bettscharts und seiner Mitarbeiter im Benziger Verlag möchte ich auch einmal öffentlich meine Anerkennung aussprechen – ein umfangreicher Sammelband zur Unfehlbarkeitsdebatte: «Fehlbar? Eine Bilanz». Doch dieser Aufsatz hier zeigt vielleicht besser als der große Band, um was es mir in Theologie und Kirche bei den wohl unvermeidlichen unerquicklichen Auseinandersetzungen des Tages geht.

(Neujahr 1973)

1. Die veränderte Lage

Zehn Jahre sind es her seit der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils. In diesen zehn Jahren hat sich einiges geändert: nicht nur in der Welt, wie jedermann weiß, sondern auch in der Kirche, wie wir immer deutlicher spüren. Und wie meist: einiges zum Besseren, anderes zum Schlimmeren. Um uns die Lage der Kirche, der Christenheit zu vergegenwärtigen, habe ich mir zunächst einen kleinen, natürlich nicht vollständigen Katalog der Plus- und der Minuspunkte gemacht.

Die Pluspunkte: Was änderte sich zum Besseren?

Von einer halbjährigen Studien- und Vortragsreise rund um die Welt zurückgekehrt, konnte ich von Europa bis Indien, Indonesien, Australien und Amerika feststellen:

○ in den christlichen Kirchen stellen wir zum erstenmal seit der Reformationszeit eine weltumfassende Bewegung zur ökumenischen Verständigung der christlichen Kirchen fest: zur gegenseitigen Anerkennung, zur praktischen innerkirchlichen und außerkirchlichen Zusammenarbeit, ja (wie etwa in Nord- und Südindien, in Neuseeland und den Vereinigten Staaten) zur eigentlichen Wiedervereinigung.

○ die Beziehungen zwischen Christen und Juden – ein besonders trauriges Kapitel der christlichen Geschichte – haben sich zum erstenmal seit den zweitausend Jahren wesentlich entspannt und erheblich verbessert.

○ Die Haltung der christlichen Kirchen – in der Mission und in der Heimat – gegenüber den Weltreligionen besonders in Asien (Islam, Buddhismus, Hinduismus, Konfuzianismus, Taoismus) ist respektvoller und verständnisvoller geworden.

○ Das Recht jedes Menschen und jeder Gemeinschaft auf Religions- und Gewissensfreiheit und die Pflicht zur Toleranz haben sich in den Kirchen – auch in Spanien und Südamerika (nicht in Nordirland) – durchgesetzt.

○ Die Liturgie – ein altes Anliegen der Reformatoren – ist nun auch in der katholischen Kirche bis zur letzten Missionsstation verständlicher, volksnaher, auf das Wesentliche konzentriert, und die Qualität der Predigten hat trotz aller Klagen durch Schriftnähe und Zeitnähe beträchtlich zugenommen.

○ Die Volksfrömmigkeit und Spiritualität auch in der katholischen Kirche – das wird oft zu wenig gewürdigt – hat sich vom Peripheren weithin abgewendet und lebt mehr von der Mitte her.

○ Die Theologie in allen Kirchen versucht trotz aller Schwierigkeiten, mit neuer Intensität vom Evangelium her Antworten auf die wahren Nöte und Hoffnungen des heutigen Menschen und der heutigen Gesellschaft zu geben.

○ Die Theologenausbildung berücksichtigt die Ergebnisse der modernen Humanwissenschaften und Pädagogik und drängt auf eine offenere Haltung gegenüber den Problemen des heutigen Menschen.

○ Selbst die kirchlichen Strukturen – in der katholischen Kirche ein heikler Punkt – werden langsam, langsam demokratischer durch eine vermehrte Teilnahme der Laienschaft bei den wichtigen Entscheidungen auf Gemeinde-, Regional- oder Diözesanebene.

○ Die Wachheit der Christen und der christlichen Kirchen für die dringendsten sozialen Nöte von heute ist, wie schon lange nicht mehr, geweckt worden: für Krieg und Frieden, die Versöhnung der Völker, Rassen und Klassen, die Entwicklungshilfe, den Kampf gegen die Armut und überhaupt die Probleme der Dritten Welt.

○ Ein neuer Geist und eine neue Freiheit des Denkens, Diskutierens und Handelns ist in den Kirchen Wirklichkeit geworden.

 

Dies alles sind positive Entwicklungen, die oft nicht genügend gesehen und gewertet werden. Sie zeigen, daß sich das Vatikanum II für die katholische Kirche und die Christenheit gelohnt hat und wir vorankommen, trotz aller Schwierigkeiten. Und Schwierigkeiten, große Schwierigkeiten haben wir. Das ist unbestreitbar.

Die Minuspunkte: Was änderte sich zum Schlimmeren?

○ Wir spüren auch in den Kirchen in hohem Ausmaß die tiefgehenden Umschichtungen in der gegenwärtigen Gesellschaft: die Spannungen zwischen der jüngeren und der älteren Generation, die verschiedenen Einstellungen zum sozialen Wandel, zur Politik, zur wirtschaftlichen Situation, zum Fortschritt usw. Hätten sich die Kirchen nicht bereits tiefgreifend verändert, wäre die Situation für sie sehr viel kritischer.

○ Wir stehen in der Christenheit – und im Protestantismus wohl mehr als in der katholischen Kirche – vor einer gewissen Desorientierung in bezug auf das, was in Theorie und Praxis wesentlich ist.

○ In der katholischen Kirche sind wir zweifellos in einer sehr kritischen Phase: Das Vatikanum II scheiterte, bei allen Erfolgen, in der Lösung einiger Probleme, die durchaus hätten gelöst werden können: Geburtenregelung und andere Fragen der Ehemoral, Zölibatsfrage, Mischehe und Interkommunion, Neuordnung der Bischofswahl und der Papstwahl.

○ Phänomene dieser Krise, besonders in der katholischen Kirche, sind:

– ein massenhafter Auszug aus dem kirchlichen Dienst: 22000–25000 in den letzten acht Jahren;

– eine immer katastrophalere Ausmaße annehmende Nachwuchskrise von Nordamerika bis Spanien;

– eine Schwächung der kirchlichen und geistlichen Disziplin, besonders bezüglich des Sonntagsgottesdienstes;

– in gewissen, besonders angelsächsischen, Ländern eine Krise der katholischen Schulen, Zeitschriften, Verlage, Vereine;

– überhaupt ein Mangel an Inspiration und Phantasie zur konstruktiven Lösung der gegenwärtigen Probleme;

– und hinter alldem, wie ich meine, der grundlegende Mangel der nachkonziliaren Zeit: ein Mangel an geistiger Führung (spiritual leadership) in Rom und unter den Bischöfen. Wir bräuchten heute inspirierende geistig-geistliche Autorität auf allen Ebenen. Aber wir haben in vielen Diözesen nur geistliche Beamte mit mehr römischer als katholischer Mentalität. Eine monumentale Studie im Auftrag der amerikanischen Bischofskonferenz zeigt nur, was in anderen Ländern nicht in gleicher Weise statistisch erhärtet ist: daß es eine gefährliche Kluft gibt zwischen den Bischöfen und der großen Mehrheit der Priester in bezug auf mehr oder weniger jedes wichtige Problem in der Kirche heute. Nur wenige Länder wie Holland, das durch den römischen Imperialismus einer beinahe an die Reformationszeit erinnernden Zerreißprobe ausgesetzt wird, und Kanada machen eine Ausnahme.

Das Resultat ist: eine außerordentlich betrübliche Einbuße an Glaubwürdigkeit gerade der katholischen Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Zwar habe ich nicht gesagt, was eine amerikanische Nachrichtenagentur aus einem langen in New York gegebenen Interview weiterverbreitet hat: die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche sei seit der Reformation nie so niedrig gewesen. Das ist nicht richtig. Aber ich habe gesagt und möchte auch dazu stehen: «Der gegenwärtige Papst begann mit der vielleicht höchsten Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche seit den letzten fünfhundert Jahren. Nun geht es gegen Ende dieses Pontifikats, und ich denke, die Glaubwürdigkeit ist wieder so tief, daß wir uns nicht erklären können, wie dies geschehen ist.» Das ist keine Kritik an der Person Pauls VI., dem ich als Menschen und Christen alles Verständnis entgegenbringe, wohl aber eine Kritik am Stand der Kirche und am reaktionären Kurs der gegenwärtigen Kirchenleitung in Rom und anderswo.

2. Eingrenzungen

Lange Zeit habe ich mir überlegt, was in einer solchen Situation zu sagen ist. Nur eine gute Stunde habe ich Zeit und würde gerne etwas sagen, was helfen kann in dieser sehr zwiespältigen Lage unserer katholischen Kirche, aber auch für die anderen christlichen Kirchen. Die Erwartungen sind so vielfältig: Die einen möchten etwas hören über die Pille und die anderen über die unbefleckte Empfängnis, und wieder andere über so vieles, was dazwischen liegt. Was tun?

 

Ich habe mich deshalb entschlossen, zuerst einmal deutlich zu sagen, worüber ich jetzt nicht sprechen möchte. Nicht weil es nicht wichtig ist, sondern weil einiges vorausgesetzt werden kann. Drei Problemfelder sollen hier ausgeklammert werden:

Allgemeine gesellschaftliche Probleme:

Man darf wohl heute voraussetzen, was ungemein dringend ist:

○ daß alle Christen und christlichen Kirchen heute grundsätzlichfür die Entwicklung des Menschen sind; für die Entwicklung des ganzen Menschen, für die Entwicklung aller Menschen; für den Fortschritt der Menschheit, wo immer möglich;

○ daß alle Christen und christlichen Kirchen in der Praxis zu kämpfen haben: für die Menschenrechte und besonders für die Religionsfreiheit (im Westen und im Osten), gegen wirtschaftliche, soziale und rassische Ungerechtigkeit, gegen Analphabetismus, Alkoholismus, Drogen und vor allem Hunger, für die Dritte Welt, für internationale Verständigung, Rüstungskontrolle, Frieden in allen Ländern, für medizinische, soziale und karitative Hilfe in den verschiedensten Sektoren; für Hilfe den Menschen in besonderen Schwierigkeiten und Naturkatastrophen.

Alle diese sozialen Forderungen bieten selbstverständlich zahlreiche Probleme bezüglich des Wo, Wie und Wann. Aber das müssen wir hier auf sich beruhen lassen. Jedenfalls sind dies für Christen Probleme nicht so sehr weiterer theoretischer Überlegungen, sondern praktischer Entscheidung und praktischen Einsatzes.

Spezifisch kirchliche Reformprobleme:

Ich habe auch nicht die Absicht, wieder einmal mehr auf bestimmte Reformen des «römisch-katholischen» Systems einzugehen, die ebenfalls nicht mehr Gegenstand theologischer Überlegung, sondern praktischer Entscheidungen sind. Es soll nicht wiederholt werden, was ich in meinen Büchern des langen und breiten begründet habe:

○ daß wir, um bessere geistige Kirchenleiter zu bekommen und Krisen wie in Holland und anderswo zu vermeiden, die Ernennung der Bischöfe nicht der geheimen Kabinettspolitik römischer Bürokraten, ausländischer Nuntien und ihrer Freunde überlassen sollen, sondern insistieren müssen auf der Wahl der Bischöfe durch repräsentative Organe des Klerus und der Laienschaft der betroffenen Kirchengebiete und daß eine Wahl auf eine zwar längere, aber doch grundsätzlich beschränkte Zeit in Betracht zu ziehen ist;

○ daß der Papst, wenn er mehr als der Bischof von Rom und Primas von Italien sein will, gewählt werden müßte durch ein Organ aus Klerus und Laien, das wahrhaft repräsentativ ist für die gesamte katholische Kirche: nicht nur der verschiedenen Nationen, sondern auch der verschiedenen Generationen und Mentalitäten (nichts gegen Italiener: von mir aus könnten alle Kardinäle Italiener sein, wenn sie wenigstens mehr verschiedene Mentalitäten zeigten);

○ daß die Priester, gemäß dem Evangelium, das in dieser Frage eindeutig Freiheit gewährt und ein Gesetz nicht zuläßt, selber wählen sollen, ob sie sich verheiraten oder unverheiratet bleiben wollen je nach der individuellen Berufung, dem Charisma, das nicht zu einem Gesetz gemacht werden kann;

○ daß die Laienschaft das Recht haben soll, nicht nur zu beraten, sondern auch zu entscheiden zusammen mit ihren Vorstehern in der Gemeinde, in der regionalen und universalen Kirche;

○ daß die Frauen die volle Würde, Freiheit und Verantwortung auch in der Kirche haben sollen, die ihnen im zivilen Bereich schließlich auch in der Schweizerischen Eidgenossenschaft gewährt wurde – gleiche Rechte im Entscheidungsprozeß und auch grundsätzlich die Möglichkeit der Ordination der Frau;

○ daß über die Geburtenregelung entschieden werden soll vom Gewissen der Eltern gemäß gesunder medizinischer, psychologischer und sozialer Prinzipien;

○ daß für die Mischehen die letzten noch gebliebenen Diskriminierungen fallen sollen, so daß sie in voller Freiheit über die religiöse Erziehung der Kinder gemäß ihrem Gewissen entscheiden können. – Aber über all dies soll jetzt nicht geredet werden. Ich wollte nur zeigen, daß ich es nicht vergessen habe und es zu wiederholen gedenke – opportune importune –, bis es überflüssig wird.

Das Problem der kirchlichen Unfehlbarkeit:

Ich möchte mich auch nicht, obwohl es sehr reizvoll wäre, auf die Frage der kirchlichen Unfehlbarkeit konzentrieren. Nicht nur, weil mein Buch «Unfehlbar? Eine Anfrage» darüber beinahe mehr weiß als ich selber und man dort alles Wichtige darüber nachlesen kann. Sondern weil ich, nachdem ich die Antworten so mancher theologischer Kollegen auf dieses Buch gelesen habe, mehr denn je davon überzeugt bin, daß angesichts so vieler erstaunlich fauler Argumentationen eine muntere Streitschrift dringend notwendig war und daß die vorgeschlagene Lösung grundsätzlich richtig ist:

Vom Neuen Testament und der alten kirchlichen Tradition her haben wir – zusammen mit den anderen großen christlichen Kirchen! – allen Grund zu glauben an eine grundlegende «Unfehlbarkeit» oder besser «Unzerstörbarkeit» der Kirche Jesu Christi in der Wahrheit. Das heißt: daß die Kirche auf Grund der Verheißung in der Wahrheit des Evangeliums erhalten wird und nie definitiv abfällt – nicht weil wir keine Fehler machen würden, sondern trotz aller unserer Fehler. Diese grundlegende Unfehlbarkeit der Kirche besteht also im Bleiben der Kirchengemeinschaft in der Wahrheit Jesu Christi trotz aller Irrtümer der einzelnen, der Theologieprofessoren, der Laien, aber auch der Pfarrer, der Bischöfe und doch wohl auch der Päpste.

Nicht bewiesen aber wurde bisher – auch nicht von Karl Rahner und seinem Sammelband – die Satzunfehlbarkeit: daß über die grundlegende Unfehlbarkeit hinaus einige Menschen sogenannte unfehlbare Aussagen machen können – also nicht nur wahre Aussagen, sondern Aussagen, die mit Berufung auf den Heiligen Geist von vornherein gar nicht falsch sein können. Ein Dogma ist wahr, nicht weil es dieser oder jener mit einem quasi mechanischen Beistand des Heiligen Geistes gesagt hat, sondern weil es in sich wahr ist, begründet in der Botschaft Jesu Christi selber. Die Satzunfehlbarkeit ist weder im Neuen Testament noch in der alten großen katholischen Tradition begründet. Wer die eigenen Aussagen für unfehlbar hält, macht leicht «unfehlbare Fehler» und hat Schwierigkeiten, sich nachher zu korrigieren, wie nicht nur die Geschichte der Enzyklika «Humanae vitae» zeigt. Gottes Geist aber schreibt gerade auch auf krummen Zeilen.

Mehrere hundert Jahre hat es gedauert, bis man in Rom eingesehen hat, daß der Papst nicht einfach Könige absetzen kann und daß er keine Gewalt über die «zeitlichen Dinge» hat. Es hat rund fünfzig Jahre gebraucht, bis man in Rom eingesehen hat, daß der Verlust des Kirchenstaates für das Papsttum ein immenser Vorteil war. Es besteht Hoffnung, daß wir keine fünfzig Jahre warten müssen, bis man in Rom einsieht, daß die Annahme einer grundlegenden, aber nicht kasuistischen Unfehlbarkeit oder besser Unzerstörbarkeit der Kirche auch für einen echten ökumenischen Petrusdienst in der Kirche, wie ihn Johannes XXIII. erfüllte, keinen Schaden, sondern einen Segen bedeutet.

Aber so dringend die Frage der Unfehlbarkeit zur Zeit noch ist, sie ist für mich letztlich eine zweitrangige, eine periphere Frage. Was aber ist dann die zentrale Frage?

3. Die zentrale Frage

Die zentrale Frage heute ist zu wissen, was eigentlich zentral ist.

Das amerikanische Wochenmagazin «Newsweek» hat vor einiger Zeit eine größere Untersuchung veröffentlicht unter dem Titel «Has the Church lost its soul?». Und eigentlich wollte ich diesem Vortrag denselben Titel geben, nur klingt er auf deutsch nicht gleich gut: «Hat die Kirche ihre Seele verloren?» Die Frage ist tatsächlich sehr ernst und zielt genau auf das Zentrum. Jede Kirche heute muß sie sich stellen. Und rund um die Welt findet man in verschiedener Form dieselbe Frage.

Vor allem in Asien – angesichts der Herausforderung der Weltreligionen: Wenn wir heute alle die religiösen Werte der Weltreligionen bejahen und uns zu eigen machen, was will dann überhaupt noch Christentum, und warum brauchen wir noch eine christliche Mission?

Oder in Amerika und auch in Europa angesichts der Herausforderung der modernen Humanismen: Wenn wir schon alle die menschlichen Werte der heutigen säkularen Welt bejahen, was ist dann noch unser Eigenes? Was ist das spezifisch Christliche? Hat sich das Christentum nicht selbst überflüssig gemacht?

Und schließlich und endlich innerhalb der Kirchen und besonders in der katholischen Kirche angesichts des vielschichtigen Umbruches: Wenn wir so viele Änderungen und Neuerungen in der Kirche haben, in ihrer Liturgie, Lehre und Disziplin, was muß eigentlich bleiben?

Gerade die letzte Frage kann nicht einfach als eine konservative, reaktionäre Frage womöglich älterer Leute abgetan werden. Es ist eine sehr ernsthafte und gerade von fortschrittlichen Theologen und Kirchenführern zu beantwortende Frage. Eine solche Fragestellung könnte uns im übrigen helfen, mit etwas mehr Ruhe und etwas weniger Nervosität die Lage in den Kirchen heute zu sichten. Es würde auf diese Weise zumindest klar, was jedenfalls nicht zentral ist, was nicht die Seele der Kirche ausmacht.

Darüber dürften sich Konservative und Fortschrittliche auch in der katholischen Kirche einig sein: Nicht die Seele der Kirche bedeuten:

○ jene frommen Andachten, vor allem aus dem letzten Jahrhundert, die vielleicht manche von uns lieb hatten, aber die uns doch sehr oft weit vom Zentrum weggeführt haben;

○ jene Fastenregeln, die uns oft gehindert haben, am Abendmahl, an der Kommunion wirklich teilzunehmen;

○ auch nicht das Knien bei der Kommunion, nicht der Rosenkranz, selbst das Latein nicht und auch nicht die besonderen Kleider des Klerus und der Schwestern – alles Dinge, die in den ersten und nicht schlechtesten Jahrhunderten der Christenheit unbekannt waren;

○ auch nicht Übungen, die ich persönlich bejahe, wie etwa die besondere Beichte, die sehr hilfreich sein kann, wenn auch nur als eine Möglichkeit unter vielen, Vergebung der Sünden zu erbitten.

Das alles also ist nicht die Seele der Kirche. Das alles muß nicht unbedingt bleiben. Weil sich da vieles geändert hat, hat die Kirche ihre Seele nicht verloren. Freilich, damit ist die positive Frage noch nicht beantwortet: Was ist dann die Seele der Kirche? Was ist ihr Lebensprinzip, die grundlegende Botschaft, auf die die Kirche gebaut ist, das spezifisch Christliche? Was ist es, was in der Kirche bleiben muß?

Dieselbe zentrale Frage kann statt wie hier von der Gegenwart auch vom Neuen Testament oder von der Kirchengeschichte her formuliert werden. Dann kann man so fragen: Das Neue Testament ist so heterogen – was hält eigentlich die siebenundzwanzig so verschiedenartigen Schriften des Neuen Testaments zusammen? Die Kirchengeschichte ist so wechselhaft – was hält eigentlich die zwanzig so wirren Jahrhunderte christlicher Kirchengeschichte zusammen? Auch dies ist die Frage nach dem, was bleiben muß.

4. Das unterscheidend Christliche

Wenn wir wissen, was das unterscheidend Christliche ist, dann wissen wir auch, was unbedingt bleiben muß. Ich gestehe gern ein, daß ich als Theologe jahrelang arbeiten und diskutieren mußte, um klarzusehen in dieser entscheidenden Frage, die ja nicht nur meine eigene ist. Und es wäre vielleicht ganz interessant, hier kurz einzuhalten und zunächst zu fragen, was denn jeder für sich selber als das unterscheidend Christliche hält: welche Idee, welches Prinzip, welchen Grundsatz, welche Grundhaltung?

Wie immer – es muß nun sogleich ganz klar gesagt werden: Das Bleibende, das unterscheidend Christliche, die «Seele» der Kirche ist nicht eine Idee, ein Prinzip, ein Grundsatz, eine Grundhaltung, sondern das ist, einfach und schlicht in einem Wort gesagt, eine Person: dieser Jesus Christus selbst.

Von daher gesehen bin ich bei allen Bedenken gegenüber bestimmten Formen letztlich doch dankbar jenen jungen Menschen, die ich zuerst in Kalifornien gesehen habe und die es jetzt auch überall in Europa gibt, die lang genug auf Marx und Freud geschworen haben und nun den Namen Jesu auf ihren Knöpfen, Hemden, Autos tragen und die dafür verantwortlich sind, daß man vielerorts wieder mehr über Jesus als über Marx und Freud diskutiert.

Ich meine nicht, daß wir den christlichen Glauben auf einer religiösen Welle mit all ihren zweifelhaften Folgeerscheinungen gründen sollten. Trotzdem meine ich, daß diese Leute die Christen und Nichtchristen wieder neu darauf aufmerksam gemacht haben, was das zentral Christliche ist: nämlich dieser Jesus Christus selber. Und das bedeutet eine Herausforderung erstens für die introvertierten Kirchen: Haben wir diesen Jesus nicht allzusehr domestiziert in unseren Kirchen, in unserem kirchlichen System, in unserer Lehre, unserem Dogma, unserem Kirchenrecht? Haben wir aus ihm nicht vielfach einen Gips-Jesus oder – in den protestantischen Kirchen – einen Papier-Jesus gemacht, recht harmlos und langweilig, eine Art Ehrenpräsident? Zweitens für extravertierte Theologen: Haben nicht manche der fortschrittlichen Theologen allzusehr nach der falschen Modernität Ausschau gehalten? Meinten sie nicht, alle Probleme der Kirche gerade nur mit etwas mehr Psychologie und Soziologie, oft dilettantischer Art, lösen zu können, ohne sich darum zu kümmern, was überhaupt der Grund des christlichen Glaubens ist – viel Diskussion um das Wie, ohne zu wissen was?

Hier muß deutlich geredet, müssen die Dinge beim Namen genannt und die Begriffe beim Wort genommen werden. Wenn es schon keinen Marxismus ohne Marx gibt, so noch in ganz anderer Weise kein Christentum ohne Christus!

Was muß in der Kirche bleiben? Das Christliche: Die Kirche muß christlich bleiben. Sonst ist sie nicht mehr die Kirche Jesu Christi, sondern irgendein anderer ehrenwerter Club, Verein, Verband. Christliches Selbstbewußtsein muß Selbstbescheidung und christliche Bestimmtheit Toleranz einschließen.

Christlich ist nicht alles, was wahr, gut und schön ist. Wahrheit, Güte und Schönheit gibt es auch außerhalb des Christentums. Christlich jedoch darf alles genannt werden, was einen ausdrücklichen Bezug zu diesem Christus hat (eine Herausforderung für die einzelnen ebenso wie für Parteien, die sich «christlich» nennen).

Christ ist nicht jeder Mensch ehrlichen Glaubens und guten Willens. Solchen Glauben und Willen haben auch Nichtchristen. Christ jedoch darf ein Mensch genannt werden, für dessen Leben und Sterben dieser Christus das letztlich Entscheidende bedeutet.

Christliche Kirche ist nicht jede Gruppe gutmeinender Menschen, die zu ihrem Heil um ein anständiges Leben sich bemühen. Anständiges Leben und Heil kann es auch in Gruppen außerhalb der Kirche geben, weil Gott größer ist als die Kirche. Christliche Kirche aber darf genannt werden jede Gemeinschaft von Menschen, für die dieser Christus letztlich ausschlaggebend ist.

Christentum ist nicht überall dort, wo man Humanität verwirklicht. Humanität wird auch außerhalb des Christentums verwirklicht; unter Juden, Moslems, Hindus und Buddhisten, unter säkularen Humanisten und sogar ausgesprochenen Atheisten. Christentum aber ist nur dort, wo die Erinnerung an diesen Christus aktiviert wird.

Die schwierige Frage ist nun allerdings: Welcher Christus ist gemeint? Hier kann die Theologie helfen.

5. Welcher Christus?

Über diese Frage haben sich die Jesusleute etwas zuwenig Gedanken gemacht. Es genügt nicht, einfach «Herr, Herr» oder «Jesus, Jesus» zu sagen und zu singen. Es genügt auch nicht, das Neue Testament wörtlich zu zitieren. Kommt doch alles darauf an, wie man die einzelnen Sätze versteht und ins Ganze einordnet.

Welcher Jesus ist für die Kirche entscheidend? Ganz allgemein kann man sagen: Jedenfalls nicht der Jesus unserer Träume, irgendein erträumter Jesus. Sondern: der wirkliche Jesus. Und der wirkliche Jesus ist niemand anders als dieser Jesus von Nazareth, der in dieser wirklichen Geschichte gelebt hat: der geschichtliche Jesus. Zweihundert Jahre intensivster neutestamentlicher Forschung haben uns genügend Material und Übereinstimmung geliefert, um zwar nicht eine Jesus-Biographie zu schreiben, wohl aber, um ihn wenigstens in Umrissen klar und völlig unverwechselbar zu sehen.

Wer war Jesus? Die Frage kann hier nicht in kurzer Zeit beantwortet werden. Aber es lassen sich einige Orientierungspunkte angeben, die den einzelnen zum Weiterdenken veranlassen mögen.

War Jesus ein Mann des Establishments? Es gab ein religiöspolitisches Establishment in Jerusalem. Doch überrascht es schon manche, wenn man sagt: Jesus war kein Priester. Er war «Laie». Und ich muß gleich bedauernd hinzufügen: Er war auch kein professioneller Theologe. Er machte keine großen Theorien. Er predigte das baldige Kommen des Reiches Gottes unwissenschaftlich, mit einfachsten Worten, mit Vergleichen, Geschichten, Parabeln.

War er ein Revolutionär? Es gab damals eine revolutionäre Partei, Zeloten, «Eiferer» nannte man sie. Und viele etwa in Südamerika heute verstehen ihn so. Aber es ist völlig eindeutig: er war jedenfalls kein politischer, kein sozialer Revolutionär. Hätte er nur eine Landreform durchgeführt oder, wie bei der Jerusalemer Revolution nach seinem Tod geschehen, die Schuldscheine im Jerusalemer Archiv verbrennen lassen und einen Aufstand gegen die römische Besatzungsmacht organisiert, dann wäre er schon längst vergessen. Er aber predigte die Gewaltlosigkeit.

War er dann vielleicht umgekehrt, wie es das Mönchtum aller Zeiten gerne dachte, ein asketischer Ordensmann? Auch das nicht. Er zog sich keineswegs aus der Welt zurück, sonderte sich nicht ab und schickte auch niemand, der vollkommen werden wollte, in das in unseren Tagen neuentdeckte große Kloster von Qumran am Toten Meer.

War er dann schließlich der Mann einer moralischen Aufrüstung, so etwas wie ein frommer Moralist? Aber Jesus lehrte keine Frömmigkeitstechnik und hatte keinen Sinn für moralische oder gar juristische Kasuistik und alle Fragen der Gesetzesauslegung. Dafür waren die Pharisäer zuständig, die besser waren als ihr Ruf.

Man hat schon viel von Jesus erfaßt, wenn man ihn nicht einteilen will: Sprengt er doch alle Schemata. Er ist provokatorisch, aber nach rechts und links: Gott offensichtlich näher als die Priester. Zugleich der Welt gegenüber freier als die Asketen. Moralischer als die Moralisten. Und revolutionärer als die Revolutionäre. Wofür trat er ein? Was wollte er?

Seine Botschaft war nicht so kompliziert wie unsere Katechismen oder gar unsere theologischen Schulbücher. Er verkündigte das kommende Gottesreich: daß Gottes Sache sich durchsetzen wird, daß die Zukunft Gott gehört. Und im Hinblick auf dieses kommende Reich predigte er nur eine oberste Norm für das Handeln des Menschen. Nicht irgendein Gesetz oder Dogma, einen Kanon oder Paragraphen. Die oberste Norm für ihn ist: der Wille Gottes. Sein Wille geschehe! Das hört sich ganz fromm an. Aber was ist dieser Wille Gottes? Er ist nicht einfach identisch mit einem bestimmten Gesetz, einem Dogma oder einer Regel. Aus allem, was Jesus sagt und tut, wird klar: der Wille Gottes ist nichts anderes als das Wohl der Menschen. Eine ebenso erstaunliche wie konsequenzenreiche Gleichsetzung.

Deshalb schreckt Jesus, der im ganzen durchaus gesetzestreu lebt, im Einzelfall auch vor gesetzeswidrigem Verhalten nicht zurück. Er zeigt keinen Sinn für rituelle Korrektheit: Reinheit vor Gott schenkt nur die Reinheit des Herzens. Keinen Fastenasketismus: Fresser und Säufer ließ er sich schelten. Keine Sabbatängstlichkeit: Der Mensch ist Maß des Sabbats und des Gesetzes.

Deshalb