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Die gegenwärtigen Kulturwissenschaften bilden eine ausgeprägte Theorie- und Forschungslandschaft. Ihre Dynamik entspringt vor allem dem Spannungsfeld wechselnder «cultural turns» quer durch die Disziplinen: - interpretive turn - performative turn, - reflexive turn/literary turn, - postcolonial turn, - translational turn, - spatial turn, - iconic turn. Der Band stellt diese «Wenden» in ihren systematischen Fragestellungen, Erkenntnisumbrüchen sowie Wechselbeziehungen vor und zeigt ihre Anwendung in konkreten Forschungsfeldern. Damit wird eine «Kartierung» der neueren Kulturwissenschaften geleistet und zugleich ein umfassender Überblick über ihre Entwicklungen und Ausrichtungen geboten – mit einer Fülle verarbeiteter internationaler Forschungsliteratur.
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Seitenzahl: 627
Veröffentlichungsjahr: 2011
Doris Bachmann-Medick
Cultural Turns
Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften
Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften
1. Interpretive Turn
2. Performative Turn
3. Reflexive Turn/Literary Turn
4. Postcolonial Turn
5. Translational Turn
6. Spatial Turn
7. Iconic Turn
Ausblick: Führen die cultural turns zu einer «Wende» der Kulturwissenschaften?
Nachwort zur 3. Auflage
Personenregister
1.ANSÄTZE ZUR KARTIERUNG DER KULTURWISSENSCHAFTEN
Im Zuge der Postmoderne haben die Kulturwissenschaften bekanntlich das Ende der «Meistererzählung» von Emanzipation und Fortschritt ausgerufen. Doch sind sie dabei nicht selbst zum Ergebnis einer «großen Erzählung» geworden? Schließlich ist noch immer die Rede von einem durchschlagenden «Cultural Turn», der wie ein Paradigmensprung die sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen erfasst hat und der noch dazu im Bann eines übermächtigen linguistic turn verharrt. Zwar erscheint der linguistic turn wie eine «Mega»wende oder gar ein umstürzender Paradigmenwechsel. Doch hat er wirklich die kulturwissenschaftliche Theoriebildung bis heute so stark dominiert, dass er alle weiteren theoretischen Neuausrichtungen fest im Griff behielt?
Dagegen kann eine andere Geschichte der Kulturwissenschaften gedacht und dargestellt werden, die gerade die Vielzahl der cultural turns zum Leitfaden nimmt. Erst die unterschiedlichen «Wenden», die sich etwa seit den 1970er Jahren im Schlepptau des linguistic turn herausgebildet haben, legen ein ausdifferenziertes, höchst dynamisches Spannungsfeld der kulturwissenschaftlichen Forschung frei. Erst sie haben Blickrichtungen geändert und neue Fokussierungen eingeführt. Damit haben sie durch alle Disziplinen hindurch bisher unbearbeitete Forschungsfelder quer zu den Disziplinen erschlossen und den etablierten Theorien- und Methodenkanon durch gezielte Forschungsanstöße aufgebrochen. Die Rede ist von bahnbrechenden Neuorientierungen, die zuerst im Feld der Kulturanthropologie ausgebildet wurden wie interpretive turn, performative turn und reflexive turn und die dann im Wechsel der Leitdisziplinen einen postcolonial turn ebenso wie einen spatial turn und einen iconic turn/pictorial turn hervorgebracht haben – neuerdings auch einen translational turn. Die «Meistererzählung» des «Cultural Turn» wird von den Differenzierungsimpulsen dieser verschiedenen cultural turns geradezu unterwandert. Zudem bringen ihre markanten Verschiebungen der Blickwinkel auch den Geltungsanspruch des linguistic turn selbst zum Verblassen. Denn sie führen tendenziell weg von der Sprach- und Textlastigkeit der Kulturanalyse, weg von der Vorherrschaft der Repräsentation, der bloßen Selbstreferenzialität und der «Grammatik» des Verhaltens. Doch wo führen sie hin? Gerade das breite Reservoir von Neufokussierungen eröffnet weite Horizonte für eine Kulturwissenschaft nach dem linguistic turn: Selbstauslegung und Inszenierung, Körperlichkeit und Handlungsmacht, aber auch die Politik sozialer und interkultureller Differenzen mit ihren Übersetzungs- und Aushandlungspraktiken rücken in den Vordergrund, darüber hinaus visuelle Einsichten, Bildwahrnehmungen und Kulturen des Blicks sowie Räumlichkeit und Raumbezüge sozialen Handelns, schließlich gar die unhintergehbare Materialität von Erfahrung und Geschichte.
Eine andere Geschichte der Kulturwissenschaften ausdrücklich entlang solcher turns wirft bereits neues Licht auf die pauschale Überzeugung, die Denkschrift «Geisteswissenschaften heute»1 hätte hierzulande einen umfassenden «Cultural Turn» der Geisteswissenschaften ausgelöst: Die Kulturwissenschaften – so heißt es dort – lösen sich aus der geistesgeschichtlich geprägten deutschen Tradition. Mittlerweile geht man viel deutlicher davon aus, dass die Kulturwissenschaften die Geisteswissenschaften geradezu abgelöst haben, wobei sie – wissenschaftspolitisch vorangetrieben – zur «Modernisierungschiffre»2 wurden. Zunächst ist ihnen eine integrative Perspektive zur Überbrückung der Fächerspezialisierung, der Zersplitterung arbeitsteiliger Forschung ebenso zugetraut worden wie die Überwindung der Kommunikationsbarrieren angesichts der fachspezifischen Begriffssysteme. Doch dann lief der kulturwissenschaftliche Modernisierungsschub sehr bald in ein deutliches Fahrwasser zunehmender Selbstreflexion und Differenzierung. Dazu verhalf das Bestreben, sich an internationale Theorieansätze anschlussfähig zu machen, um von dort aus die Geisteswissenschaften zu «modernisieren». Aus dieser Perspektive wurden überhaupt erst spezifische Defizite der traditionellen Geisteswissenschaften erkennbar: Indem sie einzelne Kulturobjekte herausheben, in denen sich die geistige Produktivität niederschlägt, unterstellen die Geisteswissenschaften eher ein Einheitsmodell des einen menschlichen Geistes, das eben doch nur der europäischen Geistesgeschichte entspringt. Die Kulturwissenschaften dagegen richten die Aufmerksamkeit verstärkt auf Materialität, Medialität und Tätigkeitsformen des Kulturellen, um genauer zu erkennen, wie und in welchen Prozessen und kulturspezifischen Ausprägungen Geistiges und Kulturelles in einer jeweiligen Gesellschaft überhaupt produziert werden.3 Dabei öffnen sie sich einem längst nicht mehr nur auf Europa fixierten Pluralismus des Kulturellen, der kulturellen Prozesse und Ausdrucksformen. Sie verweisen auf «multiple modernities». (Shmuel Eisenstadt) und problematisieren den einlinigen Begriff der Modernisierung als einen eurozentrischen Begriff, nicht zuletzt bezogen auf das Projekt der Kulturwissenschaften selbst. Besonders die zunehmende Auseinandersetzung mit Problemfeldern außerhalb Europas führt schließlich zu nachhaltigen Anstößen, sich aus der Beschränkung auf einen immer noch für maßgeblich gehaltenen europäischen Wissenskanon zu lösen. Vor allem diese Tendenz der Kulturwissenschaften zum Pluralismus, gepaart mit kritischer Selbstreflexion und mit (inter-)kultureller Verortung der eigenen Theorien, war und ist noch immer der Nährboden für die Herausbildung signifikanter cultural turns sowohl in den jeweiligen Einzeldisziplinen als auch quer zu ihnen.
Die «große Erzählung» des «Cultural Turn» wird demnach von den Differenzierungsimpulsen der mindestens ebenso ausschlaggebenden cultural turns geradezu untergraben. Doch umso mehr bleibt die Frage, wie diese Dynamik in den Kulturwissenschaften ihrerseits «erzählt» oder – um den spatial turn auf die Theorielandschaft selbst anzuwenden – kartiert werden kann. Ausdrücklich soll es hier nicht um eine Geschichte der Kulturwissenschaften gehen,4 auch nicht um eine Rekonstruktion der Überlappungen und Unterschiede zwischen den angloamerikanischen Cultural Studies und den deutschen Kulturwissenschaften.5 Schon gar nicht ist beabsichtigt, im gleichen Atemzug «die mittlerweile über zehn Jahre alte Grundsatzdiskussion über eine Neuorientierung der Literaturwissenschaft und/oder/als Kulturwissenschaft zu einem vorläufigen Abschluß zu bringen»6. Statt hier einen Gegensatz aufzumachen zwischen Grundsatzdiskussionen einerseits und «der eigentlichen Arbeit an den Texten, in den Archiven und mit dem kulturellen Gedächtnis»7 andererseits, wird ein anderer Weg eingeschlagen: So könnte es fruchtbarer sein, den kulturwissenschaftlichen Diskurs deutlich nach vorn gerichtet zu kartieren, um ihn unmittelbarer für die laufende Auseinandersetzung mit den Forschungsgegenständen, -subjekten oder -texten nutzen zu können.
Kartierungsansätze der kulturwissenschaftlichen Forschung, ihrer Theorielandschaft und Diskussion gibt es einige – noch keine allerdings mit Blick auf die Dynamik des Theoriewandels durch turns. Vorherrschend ist bisher der Blick auf die Veränderungen des Kulturbegriffs8, vor allem aber die Hinwendung zu «Diskussionsfeldern» wie Alltags- und Populärkultur, kulturelle Identität, Medien und Kommunikation, Globalisierung und transkulturelle Kommunikation9 oder zu etablierten «Methodenkomplexen» wie New Historicism, Kulturgeschichte, Diskursanalyse. Leitfäden sind aber auch «inhaltliche Schwerpunktsetzungen» wie Alltagsgeschichte, Historische Anthropologie, Frauen- und Geschlechtergeschichte, Generationengeschichte, Diskursgeschichte und nicht zuletzt die Theoriesysteme herausgehobener Protagonisten, Vorläufer, Gründerväter. Eine Kombination solcher Angelpunkte der Rekonstruktion findet sich bei der Historikerin Ute Daniel.10 Und etwa bei Lawrence Grossberg stößt man bezüglich seiner eigenen «spatio-temporal map of the current state of cultural studies»11 auf eine Gliederung nach «Modellen». («models of cultural studies»12), die auch manche Entsprechung auf Seiten der deutschen Kulturwissenschaften erkennen lässt: Kultur als Text, Kultur als Kommunikation, Kultur als Differenz, Kultur in Bezug auf den sozio-politischen Raum, Kultur in Bezug auf Institutionen, Kultur als Diskurs und Alltag.
All diese Kartierungen und Konkretisierungen nach Diskussionsfeldern bedeuten jedoch zugleich eine erhebliche Verengung auf Themenkomplexe. Der vorliegende Band schlägt einen anderen Weg ein. Der gängigen Themenorientierung wird hier die methodennahe Ausrichtung der turns entgegengehalten: ihre Ausprägung von Wahrnehmungseinstellungen, operativen Zugängen und Konzepten sowie von Analysekategorien. Ihre unterschiedlichen Fokussierungen und Schwerpunktverlagerungen, aber auch ihre gezielteren Methoden eröffnen die Möglichkeit, konkrete Untersuchungsansätze nicht nur auf ihr kulturwissenschaftliches Reflexionsniveau hin zu befragen, sondern sie gleichzeitig in einem bestimmten Theoriediskurs zu verorten.
Im Weg durch die verschiedenen turns in den Kulturwissenschaften wären vor allem methodische Ansätze wiederzugewinnen, die im anhaltenden Boom der Kulturwissenschaften zunehmend verflacht und in Vergessenheit geraten sind. Sie geben Impulse für eine längst fällige Neuprofilierung der Kulturwissenschaften, die sich gegenwärtig in einer eher festgefahrenen Lage befinden. Mit «festgefahren» sind nicht nur die Sackgassen durch Jargonbildung gemeint – immerhin macht schon die bloße Erwähnung von Globalisierung, Kultur, Identität, Interkulturalität usw. ein ganzes Fass von Assoziationsmöglichkeiten und Bezugsfeldern auf, was dem Eindruck von Vagheit und Konturenlosigkeit kulturwissenschaftlicher Forschungen Vorschub leistet. Gemeint ist außerdem eine immer noch offene Alternative: Sollte Kulturwissenschaft im Singular als Einzelfach ausgebaut werden, oder wären eher Kulturwissenschaften im Plural weiterzuentwickeln: als disziplinenüberspannende Perspektive, als «fächerübergreifende Orientierungskategorie»? Bemerkenswert ist die Stoßrichtung dieser Frage in dem Band «Orientierung Kulturwissenschaft», ausgehend von der Institutionalisierung der Kulturwissenschaften: «Schon früh war in den Debatten um die ‹Kulturwissenschaft› und die Modernisierung der Geisteswissenschaften der Gedanke einflußreich, die universitäre Ausbildung im Prinzip disziplinär, die Forschungspraxis aber ‹transdisziplinär› auszurichten (…). Die Kulturwissenschaft wäre in dieser Perspektive vor allem ein Privileg der Postgraduierten, die sich in einem Spezialfach solide Grundkenntnisse erworben haben und von daher zu einer anspruchsvollen Horizonterweiterung befähigt sind.»13 Hat man also erst auf den Schultern einer disziplinären Ausbildung Aussicht auf einen kulturwissenschaftlich erweiterten Horizont?
Während die Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme, Peter Matussek, Lothar Müller «die Kulturwissenschaft als grundständiges Fach»14 dagegen halten, spricht die grenzüberschreitende Perspektive der turns für ein anderes Konzept von Kulturwissenschaften. Dieses ist von vornherein disziplinenübergreifend angelegt, und zwar bereits in den Ausgangsfächern selbst und dort ausdrücklich mit disziplinären Kompetenzen verschränkt. Würde das Projekt Kulturwissenschaften in ein eigenes Einzelfach eingehegt oder als bloße Zusatzqualifikation aufgepfropft, könnte dies zur Selbstauflösung führen. Dann wären die Kulturwissenschaften vielleicht wirklich nur eine Episode, «eine zwar wichtige, jedoch zeitlich begrenzte Stufe in der Begründung der Geisteswissenschaften»15 – wovon der Wissenschaftsrat in seinen Empfehlungen zur Lage der «Geisteswissenschaften» in Deutschland im Jahr 2006 bedenklicherweise ausgeht.
Lebendig gehalten wird dagegen das Projekt der Kulturwissenschaften erst dann, wenn es sich über den «diffusen Gesamtanspruch»16 einer im Singular verstandenen Kulturwissenschaft hinaus profiliert: als eine ausdrücklich fächerüberspannende Orientierung, deren Verankerung in den verschiedenen Disziplinen unverzichtbar ist.17 Das bedeutet aber auch, dass bereits die spezifischen disziplinären Ansätze und Untersuchungsfelder sowie ihre Gegenstände selbst von vornherein ganz anders angegangen werden, wenn man sie kulturwissenschaftlich betrachtet. Anschlussmöglichkeiten zwischen den Einzeldisziplinen zu suchen, wird dann unverzichtbar: produktive Grenzüberschreitungen, Öffnung gegenüber internationalen Forschungsrichtungen, Anerkennung von Perspektivenvielfalt und Hinwendung zu Untersuchungsfeldern, die quer zu den Disziplinen verlaufen. Kulturwissenschaften sind in diesem Sinn, wie es Hartmut Böhme und Klaus Scherpe ausdrücken, ein «Medium der Verständigung (…), um die heterogenen, hochspezialisierten, gegeneinander abgeschotteten Ergebnisse der Wissenschaften zu ‹dialogisieren›, auf strukturelle Gemeinsamkeiten hin transparent zu machen (…).»18 Solche kulturwissenschaftlichen Impulse könnten nicht zuletzt die erst zaghaft begonnene Dialogisierung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften weiter vorantreiben.
Auch die Perspektive auf cultural turns setzt keine Abschlussakzente. Immerhin wird bei ihr stets (mit offenen Antworten) gefragt: Was kommt danach? Unter dem Blickwinkel von cultural turns bilden die Kulturwissenschaften keineswegs lineare Sequenzen eines Theorie«fortschritts» aus. Sie zeichnen sich vielmehr durch Entwicklungsspielräume aus, indem sie mit den turns immer nur Wenden einschlagen – durchaus auch Rückwenden oder konstruktive Umwege, Verschiebungen der Schwerpunkte, Neufokussierungen oder Richtungswechsel.
Doch was ist eigentlich unter turns zu verstehen? Unterwerfen sie den Erkenntnisprozess unter dem Vorzeichen bloßer «Moden» – wie es der Ausdruck turn suggeriert – nicht einer gewissen Unverbindlichkeit und Kontingenz? Oder gewinnen sie geradezu einen hohen erkenntnisleitenden Stellenwert als «Historisierungen oder sprachliche Transformierungen des Kantischen a priori»19? In jedem Fall sind die «Wenden» mit ihrer Einführung neuer Leitvorstellungen und Kategorien, mit ihrem Richtungswechsel und Theoriewandel signifikant, sowohl in ihren eigenen Kontextbezügen als auch im Hinblick auf eine Umstrukturierung des «wissenschaftlichen Feldes»20 in den Kultur- und Sozialwissenschaften.
Das «Feld» der Kulturwissenschaften
Für die Kontextualisierung der kulturwissenschaftlichen turns ist zunächst entscheidend, dass sie durch eine grundsätzliche Umorientierung auf «Kultur». («Cultural Turn») angestoßen worden sind, wodurch sie szientistische, oft positivistische und ökonomistische Erklärungen des Sozialen abgelöst und eine grundlegende Neubewertung von Symbolisierung, Sprache und Repräsentation auf den Weg gebracht haben. Sprache und Text wurden ausdrücklich als Gestaltungs- und Triebkräfte sozialen Handelns aufgefasst und theoretisch durchaus janusköpfig entfaltet: in die kultursemiotische Richtung von «Kultur als Text», dann aber auch in Richtung auf eine sozial und materiell gesättigtere Ausarbeitung: «Kultur als Textur des Sozialen». Unter politisch-ökonomischem Vorzeichen wird Kultur hiernach als ein «Transfervorgang» aufgefasst, «der das Soziale ins Symbolische ‹übersetzt› und ihm dieserart eine Textur aufprägt, d.h. dem Gewebe des Sozialen lebensweltliche Bedeutungen aufprägt.»21 Solche «Wiederkehr» des Sozialen noch in der kulturellen «Textur» – worauf Lutz Musner verweist – bedeutet zugleich eine Abkehr von der Neigung der Postmoderne zur Verflüchtigung «harter» Gesellschaftsdimensionen in die «weicheren» Sphären von Kultur, Bedeutung und Diskurs. Dieses (postmoderne) Aufweichen einer umfassenderen Gesellschaftsanalyse hat die kulturwissenschaftliche Forschung immer wieder auf einen Pfad gelockt, der eher in die Welt der Zeichen führt, der Pluralisierung und Eklektizismus aufwertet, epistemologisches Nachdenken befördert und eine Vervielfältigung von Differenzen statt bipolarer Entgegensetzungen fordert. Dies alles mündet schließlich in der Auflösung der «großen Erzählungen» und der übergreifenden Sinnzusammenhänge, die den wachsenden Fragmentierungen in einer globalisierten Moderne nicht mehr gerecht werden.
Angesichts einer solchen epistemologischen Konstellation ist das Wiederaufleben der materiell-ökonomischen und sozialen «Kehrseite» mitten im kulturwissenschaftlichen Diskurs markant. Schon allein deshalb wäre es irreführend, die «große Erzählung» vom «Cultural Turn» gebetsmühlenhaft zu wiederholen und die Herausbildung der facettenreichen kulturwissenschaftlichen Neuorientierungen nur auf postmoderne Zersplitterung zurückzuführen. Ebenso verengt wäre es jedoch auch, grobe Pflöcke einer historisch-politisch-ökonomischen Verankerung der Theoriewechsel einzuschlagen, wie etwa Fredric Jameson mit seiner Redeweise von der Postmoderne selbst als «the cultural logic of late capitalism» oder gar mit Blick auf die turns als bloße Ausläufer der «postfordistischen Transformation»22. Die Untersuchung der einzelnen Wenden lässt dagegen viel differenziertere Aufschlüsse darüber erwarten, wie die jeweiligen Etappen des kulturwissenschaftlichen Diskurses an veränderte historische, soziale und politische Bedingungszusammenhänge rückgebunden sind, ja wie diese Realitätsbezüge selbst wiederum durch den jeweiligen Fokus der kulturwissenschaftlichen Wahrnehmung erst ihre Konturen gewinnen. Eine zu pauschale Verknüpfung des «Cultural Turn» mit der Auflösung der großen politischen Systeme, der alten weltpolitischen Grenzziehungen und Blockbildungen, verstellt hierfür eher den Blick.
Turns lenken die Aufmerksamkeit aber auch auf interne Bedingungen des «intellektuellen Feldes». Diese werden sichtbar, wenn man die Kulturwissenschaften mit Hilfe von Pierre Bourdieus Feldtheorie strukturiert: als einen «Spiel-Raum, ein Feld objektiver Beziehungen zwischen Individuen oder Institutionen, die miteinander um ein und dieselbe Sache konkurrieren».23 Übertragen auf das intellektuelle Feld der Kulturwissenschaften käme man auch hier zu Einsichten in ein Feld von intellektuellen «Moden», bei denen die Beherrscher des Feldes «Konservierungsstrategien» und die Nachrücker oder Herausforderer «Subversivstrategien»24 anwenden, um ihre Position im Feld zu behaupten bzw. erst zu erkämpfen. Konkurrenz um symbolisches Kapital, das sich im Besetzen von turns und Forschungsrichtungen und in der Überdeterminierung von Leitbegriffen verdichtet, ist gewiss empirisch beobachtbar und wissenschaftspolitisch keineswegs zu unterschätzen. Die wissenschaftlichen Moden, wie sie Bourdieu auf den Begriff gebracht hat, indem er die Haute Couture mit der «Haute Culture» analogisiert, zeigen doch nur, wie stark die Kulturwissenschaften selbst von ihrem eigenen Untersuchungsgegenstand geprägt sind. Daraus muss man jedoch nicht notwendig ein Generalverdikt ableiten, wie Lutz Musner, für den nur eines das Ende der Metaerzählungen besiegelt: «eine überhitzte Konjunktur und ein (selbst)kritikloser Wandel von Theoriemoden»25. Viel eher wäre gerade die Janusköpfigkeit der intellektuellen Moden in ihrer Innovationskraft, aber auch in ihrem damit einhergehenden Konformitätsdruck Anlass für konstruktive Kritik. Denn schließlich wirken sie nicht nur als Innovationsschübe, sondern auch als Wegweiser, der aller Debattenfreudigkeit und Theorienkonkurrenz zum Trotz dann doch auf einen Konsenszwang der Forschung hinzuführen scheint. Schon Bourdieu hat solchen «abgrundtiefen Konformismus» der «beherrschenden Richtungen des Feldes»26 beklagt.
Gilt also auch für die kulturwissenschaftlichen turns das Diktat der Mode und damit auch das Gesetz der «feinen Unterschiede»? Gilt auch für die turns Bourdieus Anspielung «Wenn der Minirock in Hintertupfingen angekommen ist, fängt alles wieder von vorn an»27? Diese Fragen deuten nicht nur auf den Konsenscharakter der turns, sondern auch auf ihre Kehrseite: die Schaffung von Mainstream. Umso wichtiger wird es, auch Bedingungen der Möglichkeit kulturwissenschaftlicher turns im Auge zu behalten, die diese – trotz der relativen Autonomie des intellektuellen Feldes gegenüber dem sozialen Feld – mit Habitus, Wettbewerb, Kampf, Positionierung, Traditionsbindung und Traditionsbildung verschränken. Schließlich haben die jeweiligen Wenden immer auch mit dem Abstecken und Sichern von akademischen Feldern zu tun, nicht zuletzt im Hinblick auf die Akquirierung von Forschungsmitteln im verschärften Wettbewerb von Sonderforschungsbereichen, Graduiertenkollegs und anderen universitären Profilierungsinitiativen.28 Die Wenden als solche gehen indes weit über ihre Lokalisierung und Funktion in einem darauf begrenzten Feld kulturwissenschaftlicher Selbstbehauptung und Theorieentwicklung hinaus. Sind sie schon deshalb keine «research paradigms»29 im Sinne der Paradigmentheorie Thomas S.Kuhns, sondern eher «approaches»?
Theoriewandel als Paradigmenwechsel?
Warum wird hier eigentlich nicht gleich von Paradigmen und entsprechenden Paradigmenwechseln im Sinne von Thomas S.Kuhn gesprochen? Kuhns wissenschaftstheoretische und wissenschaftshistorische Herleitung der Entwicklungsdynamik von Wissenschaft orientiert sich am «Paradigma»-Begriff. Dieser markiert, «was den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, und nur ihnen, gemeinsam ist».30 Der Theoriewandel der neueren Kulturwissenschaften dagegen geschieht eher quer zu den Disziplinen, also über wissenschaftliche Gemeinschaften in Gestalt abgegrenzter wissenschaftlicher Gruppen hinweg und gerade nicht mit Blick auf eine «spezialisierte(n) und esoterische(n) Forschung»31. Kulturwissenschaftliche Forschung steckt vielmehr ein interdisziplinäres Feld ab, dessen Gegenstand – wie Roland Barthes es ausgedrückt hat32 – keinem gehört. Damit entzieht sie sich einem Alleinvertretungsanspruch durch Einzeldisziplinen.
Gerade die Erweiterung wissenschaftlicher Gemeinschaften über Disziplinengrenzen hinweg zeichnet bekanntlich die gegenwärtigen Kulturwissenschaften aus. Dadurch eröffnen sie zugleich ein Problemfeld transdisziplinärer Konstellationen, an dem sich immer wieder neue Interpretationsansätze anlagern. Allein schon deshalb wird Kuhns Modell der naturwissenschaftlichen Disziplinenentwicklung mit seiner Orientierung auf einen «Fortschritt der Wissenschaften»33 hinter sich gelassen. Denn es geht davon aus, dass – nicht etwa evolutionär, sondern durch die Plötzlichkeit von «Eingebungsblitzen, durch die ein neues Paradigma geboren wird»34 – eine Kette sprunghafter, ja revolutionärer Paradigmenwechsel ausgelöst wird. Der jeweils folgende theoretische «Neuaufbau» bringt stets ein vorhergehendes, traditionelles Theoriegebäude zum Einsturz. Er löst das alte Paradigma durch ein neues Paradigma ab, sobald es nicht mehr in der Lage ist, neu auftauchende Probleme zu lösen. Solche «Wendepunkte(n) in der wissenschaftlichen Entwicklung»35 schaffen gezielte Forschungsfokussierungen auf dem Hintergrund eines «festumrissenen Forschungskonsensus»36. Hiervon kann in den Kultur- und Sozialwissenschaften schon deshalb nicht die Rede sein, weil bereits deren Forschungsprämissen «wettstreitend konstruiert»37 sind. Marilyn Strathern bringt es in ihrer scharfsinnigen ethnologischen Reflexion des Paradigmenproblems auf den Punkt: «Paradigmen liefern Regeln, um die Natur des Problems und den möglichen Umriß einer Lösung aufzuzeichnen. In den Sozialwissenschaften korrespondieren jedoch die Unterschiede zwischen den theoretischen Positionen, die ich angesprochen habe, mit der Bildung verschiedener sozialer Interessen.»38 Eine gemeinsame Sicht der sozialen und kulturellen Welt kann daher von den wettstreitenden Theoriepositionen oder gar «Theoriegenerationen»39 in den Kultur- und Sozialwissenschaften nicht erwartet werden.
Entsprechend der Abkehr von «großen Erzählungen» und «Meisterparadigmen» sind die Wenden in den Kulturwissenschaften eben nicht «kopernikanisch». Viel vorsichtiger und experimenteller, ja viel allmählicher verhelfen sie Schritt für Schritt neuen Sichtweisen und Herangehensweisen zum Durchbruch. Deshalb ist es auch unmöglich, von einem bestimmten «Weltbild» der Kulturwissenschaften zu sprechen, das sich vielmehr aufsplittert in oder – wie Ansgar Nünning meint – zusammensetzt aus den verschiedenen turns.40 Auch wenn diese Richtungswechsel keineswegs vage in ihrer Genese, doch noch viel entschiedener in ihrer Wirkung sind, zeigen die «Wenden» in der gegenwärtigen Forschungslandschaft der Kulturwissenschaften jedenfalls keine Unumkehrbarkeit. Niemals handelt es sich um vollständige und umfassende Kehrtwenden eines ganzen Fachs, sondern eher um die Ausbildung und Profilierung einzelner Wendungen und Neufokussierungen, mit denen sich ein Fach oder ein Forschungsansatz interdisziplinär anschlussfähig machen kann. Es kommt zum Methodenpluralismus, zu Grenzüberschreitungen, eklektizistischen Methodenübernahmen – nicht jedoch zur Herausbildung eines Paradigmas, das ein anderes, vorhergehendes vollständig ersetzt. So redet man etwa von der anthropologischen Wende in der Literaturwissenschaft, nicht aber der Literaturwissenschaft insgesamt.41 Dies hat den großen Vorteil, dass man pragmatischer versuchen kann, durchaus verschiedene turns auf ihre Anwendbarkeit hin auszuloten.
Die pathetische Rede von wissenschaftlichen «Revolutionen» und eine Suche nach dem Paradigma der Kulturwissenschaften42 sind im Feld der Kulturwissenschaften also fehl am Platz. Im Gegenteil, die Ethnologen George Marcus und Michael Fischer sprechen in ihrer «Anthropology as Cultural Critique»43 eher von Antiparadigmen, wenngleich die turns zwar weniger streng, aber auch wiederum nicht so zaghaft sind, dass sie sich nach dem postmodernen Motto des «anything goes» wenden wie Fähnlein im Wind. Neu entdeckt wird hingegen das Experimentelle, «the play of ideas free of authoritative paradigms», wie es Marcus und Fischer ausdrücken: «critical and reflexive views of subject matter, openness to diverse influences embracing whatever seems to work in practice, and tolerance of uncertainty about a field’s direction and of incompleteness in some of its projects.»44 Diese Perspektivenunsicherheit auszuhalten, ja sie produktiv zu machen, ist eine fortwährende Anstrengung der Kulturwissenschaften, zumal angesichts ihres Risikos von «blind alleys»45, aber auch ihres erheblichen Potenzials für unkonventionelle Erkundungen. Turns sind in diesem Sinn «relatively ephemeral and transitional between periods of more settled, paradigmdominated styles of research.»46
Unbeirrt von solchen Diagnosen einer ausdrücklichen Gegenbewegung der turns zu paradigmenorientierter, d.h. einheitstheoretisch ausgerichteter Forschung, wird mancherorts noch immer die Brille der Paradigmenwechsel aufgesetzt.47 Dadurch werden die turns eher heruntergespielt, dafür aber – wie bei Andre Gingrich – die «kohärenten Konzepte» von Kulturrelativismus, Funktionalismus, Strukturalismus, Poststrukturalismus überbewertet.48 Ganz abgesehen von der Frage, ob es sich bei diesen überhaupt um Paradigmen handelt oder eben doch nur um grundlegende Forschungseinstellungen, wird ein solch etablierter Methodenkanon von den turns erheblich überschritten. Ihre methodischen Impulse bekräftigen durchaus eine Auffassung von Kulturwissenschaften, die ausdrücklich keine Einzeldisziplin begründen will, sondern ihre Forschungseinstellung bewusst und methodisch pluralisiert: als kulturwissenschaftliche Perspektivierung der Fragehorizonte in den einzelnen Disziplinen, um ein interdisziplinäres Forschungsfeld «an den Rändern» dieser Einzeldisziplinen zu erkunden.
Kulturtheoretische Theorie-Transformation
Kulturwissenschaftliche Forschungswenden zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass sie interdisziplinäre Gegenstandsfelder ausloten, sondern dass sie auch ein eigenes, innovatives Vokabular einführen. Andreas Reckwitz hält gerade dies für einschneidend im Hinblick auf «Die Transformation der Kulturtheorien», so der Titel seines Buchs: «Die kulturwissenschaftliche Wende markiert in den Sozialwissenschaften das, was man in der Terminologie von Gaston Bachelard einen ‹epistemologischen Bruch› nennen kann: die Einführung und Verbreitung eines neuen erkenntnisleitenden Vokabulars, das neuartige analytische Perspektiven eröffnet.»49 In der Tat haben sich die Kulturwissenschaften vor allem durch ihre eigene Begrifflichkeit hervorgetan, mit der sie oft überhaupt erst zur Entdeckung neuer Untersuchungsfelder gelangen. Konkret gesagt, treten etwa unter dem Einfluss kulturwissenschaftlicher Ansätze (z.B. in der Geschichtsschreibung) Ausdrücke wie Diskontinuität, Bruch, Schwelle, Grenze, Differenz usw. immer mehr an die Stelle traditioneller Kohärenzbegriffe wie Autor, Werk, Einfluss, Tradition, Entwicklung, Identität, Mentalität, Geist – mit erheblichen Folgen für eine ganz neue Wahrnehmung der Problemlage, und zwar noch vor jeglicher Analyse und Interpretation. Andererseits kommen jargongefährdete Signalwörter auf: Globalisierung, Modernisierung, Hybridität, Transnationalität usw. Doch auch hier ist nicht der «Cultural Turn», die kulturwissenschaftliche Wende insgesamt begriffsbildend. Vielmehr sind es die Begriffsprägungen der einzelnen turns, die auf dem schmalen Grat zwischen Analyse- und Jargonbegriffen erkenntnisleitend werden.
Durchaus im Anschluss an Kuhn, doch viel weniger pompös als dessen Behauptung «wissenschaftlicher Revolutionen» durch Paradigmenwechsel50 rekonstruiert Reckwitz die gesellschaftliche, vor allem die innertheoretische Transformation des kulturwissenschaftlichen Theoriefelds und seiner spezifischen «Vokabulare».51 Für Reckwitz ist die Entwicklung der Kulturwissenschaften nicht durch revolutionäre Ablösungen von Paradigmen gekennzeichnet, sondern durch «Transformationen», durch Verarbeitung der Theorien von Vorgängern, die eben nicht auf deren strikte Ablösung zielt, sondern auf Konvergenzen. Gemeint ist die von ihm behauptete grundlegende Konvergenz zwischen zwei ursprünglich antipodischen Forschungsrichtungen, die «‹Konvergenzbewegung› zwischen dem neostrukturalistischen und dem interpretativen Vokabular (…), die in eine kulturtheoretische ‹Praxistheorie› mündet.»52 Die «konzeptuelle Verschiebung»53 bzw. die «Verschiebung des Forschungsinteresses»54, die dabei stattfinden, macht Reckwitz jedoch an Autoren, an Hauptvertretern, an wissenschaftlichen Schulen und ihren Vorläufern fest. Ganz anders dagegen der vorliegende Band. Hier wird vielmehr von einer systematischen Ausdifferenzierung der turns und Perspektivenwechsel ausgegangen, von transdisziplinären Übersetzungsprozessen zwischen Theorien, methodischen Einstellungen und Forschungsansätzen. Im Unterschied zur Vorstellung zielorientierter oder gar teleologischer Konvergenzbewegungen wird hier eher angenommen, dass sich turns durch Übersetzungsprozesse ausdifferenzieren. Damit bleiben sie zugleich offen für ihre eigene Weiterentwicklung, sei es durch Übersetzung zwischen den Disziplinen, durch «travelling theories». (Edward Said, James Clifford, Mieke Bal)55 oder durch Übersetzungen der kulturwissenschaftlichen Theorien in globale gesellschaftliche Zusammenhänge und ihre interkulturelle Aneignung hinein: Theorieübersetzung statt «Theorietransformation».
Eine solche Sicht löst die Strukturierung der Kulturwissenschaften vom Gängelband einer «systematischen Theoriegeschichte»56. Diese lässt die kulturwissenschaftliche Transformation der Sozialwissenschaften auf eine praxistheoretische Mündung zulaufen. Doch dabei werden die einzelnen Positionen allzu leicht in eine systematische Entwicklungsbahn hineingezwängt. Der Kartierungshorizont der Kulturwissenschaften wird dagegen wesentlich breiter abgesteckt, wenn man davon ausgeht, dass die turns mit ihren transdisziplinären Vokabularen und konzeptuellen Fokussierungen «übersetzt» werden, und zwar in die Methoden der einzelnen Disziplinen hinein. Der vorliegende Band versucht also keineswegs, die beiden Hauptzweige des kulturwissenschaftlichen Feldes: die strukturalistisch-semiotische und die phänomenologisch-hermeneutische Tradition, in ihrer Konvergenz aufzuzeigen und damit gleichsam in die Abschließungsrunde der Praxistheorien einzulaufen. Während Reckwitz entlang dieser beiden Grundstränge die «Transformation des modernen kulturtheoretischen Feldes» nach ihren Anfangs- und Endpunkten verfolgt57, werden hier dagegen die Facetten vielfältiger turns entfaltet – Neuorientierungen, die auseinander hervorgehen und doch gleichzeitig in durchaus spannungsreichen Konstellationen nebeneinander bestehen.
Beabsichtigt ist also gerade keine retrospektive Rekonstruktion von Anfangs- und Endpunkten der Theorieentwicklung infolge eines einzigen, umwälzenden «Cultural Turn». Eher wird ein Feld der kulturwissenschaftlichen Forschung und Diskussion mit immer noch offenen Koordinaten freigelegt. Auch wenn Reckwitz durchaus Zukunftsprognosen über die Entwicklung des «Cultural Turn» wagt – z.B. Kontroversen mit den Neurowissenschaften–, geht er doch nicht über den Rahmen europäischer Theoriekonzepte und ihrer Prämissen – wie dem Verstehen von Sinngrundlagen – hinaus. Der im vorliegenden Band vertretene Ansatz dürfte dagegen mehr Raum lassen für eine Weiterprofilierung der Kulturwissenschaften, gerade auch für ihre interkulturelle Erweiterung und für ein Überdenken ihrer zentralen Kategorien. Dazu verhilft, dass hier die «Transformation» des kulturwissenschaftlichen Diskurses eben nicht festgemacht wird an Denkern und Denktraditionen, sondern an systematischen Leitvorstellungen, an turns, die angesichts ihrer Theorieoffenheit auch für nichteuropäische Theorie- und Kritikansätze anschlussfähig werden.
Refiguration durch «Blurred Genres»
Reckwitz hat die Rahmenbedingungen und Leittheorien der Kulturwissenschaften über eine Rekonstruktion der Theoriestränge erschlossen: Strukturalismus, Poststrukturalismus, Funktionalismus, Hermeneutik, Semiotik. Quer zu solchen theoretischen Grundrichtungen und Schulen zeigt sich hingegen die Fruchtbarkeit eines Ansatzes, der ausdrücklich von turns ausgeht. Nicht zufällig ist dieser Ansatz in der Ethnologie verbreitet, ist doch gerade die Entwicklung der modernen Kulturanthropologie durch «Wenden» gekennzeichnet.58 So hat Clifford Geertz – paradoxerweise im wissenschaftshistorischen Rückblick – die Erfolgsgeschichte solcher turns geradezu eingeläutet. Geertz bezieht die Entwicklung der Humanwissenschaften vor allem in den 1960er Jahren, und dort besonders die Herausbildung der Symbolischen Anthropologie, auf ein breiteres Umfeld «intellektueller Trends»: «Trends, die in den nachfolgenden Jahrzehnten dann unter solchen Etiketten wie der linguistischen, der deutenden, der sozialkonstruktionistischen, der neuhistorizistischen, der rhetorischen oder der semiotischen ‹Wende› zunehmenden Einfluß in allen Humanwissenschaften gewannen.»59 Dass auch hier die turns à la mode zur Sprache gebracht werden, ergibt sich aus den narrativ-ironischen Spiegelbrechungen eines Selbstzeugnisses: Geertz rekonstruiert das kulturwissenschaftliche Feld aus der Perspektive seiner eigenen Erfahrung als Diskursteilnehmer und Protagonist. Doch diese Rekonstruktion hebt zwei Aspekte besonders hervor: zum einen die Einsicht, dass Wenden von «Erschütterungen» und «philosophischen Unruhen»60 ausgehen, konkret von einem «zunehmend erschütterten intellektuellen Feld»61 der Umbruchzeit der 1960er und 1970er Jahre, welches dann aber auch die anderen Humanwissenschaften in die Entwicklung von turns hineindrängte. Doch vor allem die Ethnologie wurde hier angesichts des Zerbrechens des Kolonialismus, der Dekolonisierung und der Neuartikulation unabhängiger Staaten der so genannten Dritten Welt vor neue Herausforderungen gestellt. Zum andern vertritt Geertz einen «episodischen und erfahrungsorientierten», nicht etwa einen fortschrittsorientierten Ansatz in der Darstellung der Theorie- und Forschungsdynamik, der allerdings – ähnlich wie Kuhn – auf «Disziplingemeinschaften»62 rekurriert.
Freilich geht Geertz in entscheidenden Punkten über Kuhn hinaus. Dies zeigt sich besonders in der Einleitung zu seinem Buch «Local Knowledge» und in seinem dort publizierten Aufsatz «Blurred Genres»63. Dass turns keine akademischen Schulen sind, sondern Fokussierungen der Forschung, Perspektivenwechsel, bei denen sich inhaltliche Schwerpunkte zu methodisch signifikanten Untersuchungseinstellungen verdichten, zeigt sich zwar an Geertz’ Weiterführung des Kuhn’schen Konstruktivismus: Forschung geschieht am Leitfaden selbst geschaffener «Paradigmen». Doch über Kuhn hinaus begreift Geertz den Forschungsprozess selbst ausdrücklich als eine mäandrierende Tätigkeit durch turns: als aktives Abwenden von alten und Hinwenden zu neuen Erklärungsmustern. Exemplarisch bedeutet dies im Fall des interpretive turn: «To turn from trying to explain social phenomena by weaving them into grand textures of cause and effect to trying to explain them by placing them in local frames of awareness (…)»64 Diese Handlung des «Wendens» arbeitet Geertz in der Folge auch metaphorisch noch weiter aus. Damit begründet er, wie es – in seinem Fall – zum interpretive turn kommen konnte: «One makes detours, goes by side roads (…)»65. Diesem Umwenden und durchaus experimentellen Umherstreifen auf Nebenwegen kommt eine entsprechende Darstellungsform entgegen: die Form des Essays: «For making detours and going by sideroads, nothing is more convenient than the essay form.»66 Gerade diese Offenheit und Zielunbestimmtheit des Forschungsgangs – so betont Geertz in seinem für den «culture shift»67 maßgeblichen Aufsatz «Blurred Genres» – haben das gesamte Forschungsfeld der Sozialwissenschaften massiv umgewandelt. Sie führten zu einer folgenreichen «refiguration of social thought».
Eine solche Refiguration entfaltet sich – so Geertz – über typische Genrevermischungen. Nicht nur erscheinen philosophische Reflexionen in Form von Essays und damit im Gewand von Literatur; auch in der Soziologie wird mit der Theatermetapher und mit Rollenspielmustern argumentiert. Vor allem entsprechende Analogien wie Spiel-, Drama- oder Text-Analogie tragen nach Geertz dazu bei, die einzelnen Forscher/-innen zu intellektuellen Gemeinschaften zusammenzuführen. Solche und andere Analogisierungen und metaphorischen Übernahmen erstrecken sich bis hinein in die gegenwärtige Wissenschaftslandschaft. Sie zeigen sich nicht zuletzt in der aktuellen Gentechnologie, sofern diese vom Lesen im Buch des Lebens redet68 und Genetik als Text betrachtet. Ähnliche Verfahren gelten für die moderne Hirnforschung, die Geist, Bewusstsein, Willensfreiheit usw. im Wortsinn übernimmt, sie gleichsam aus der Philosophie entführt und in materialistische Kognitionstheorie überführt. Solche Analogisierungen und Metaphernübernahmen zwischen den Disziplinen bergen erhebliche Aneignungsprobleme. Sie provozieren die Grenzen von «Disziplingemeinschaften», bieten aber auch große Erkenntnischancen.
Neuorientierungen durch «gesteigerte Aufmerksamkeit»
Problematisch wird es freilich dann, wenn die Praxis der Metaphorisierung noch weiter getrieben wird und sie nicht nur Symptom bleibt für ein «genre-blurring» in den Sozialwissenschaften. Wenn Metaphorisierungen darüber hinaus eingesetzt werden, um das Aufkommen und die Abfolge der kulturwissenschaftlichen turns selbst zu «erklären», wächst die Gefahr, sich angesichts der Evidenz des metaphorischen Bildes aus der Erklärungsleistung zu entpflichten. Dies ist der Fall, wenn man – wie etwa Karl Schlögel ausgehend vom Beispiel des spatial turn – in Form einer Geschichtsschreibung als Literatur das Auftauchen und Wiederabtauchen von turns in einer Wassermetaphorik buchstäblich verschwimmen lässt: Mit den turns sei es «wie mit Gewässern, die wieder versickern, eine Zeitlang und ein Stück weit unterirdisch, unbemerkt weiterfließen, um irgendwann wieder an die Oberfläche zu treten – wenn überhaupt.»69 So ist es auch nicht erstaunlich, dass mit solch wuchernder organizistischer Metaphorik vom «Auftauchen», «Reifen», vom «Abend und Morgen der Erkenntnis», von den «Häutungen des Wissens» wohl kaum erklärt werden kann, wie Richtungswechsel, z.B. der spatial turn, eigentlich entstehen: «Wendungen, die alles, was einem bisher vertraut war, in einem neuen Licht erscheinen lassen, lassen sich nicht dekretieren. Sie treten ein, wenn es soweit ist – nicht früher und nicht später (…) Wenn es soweit ist, dann ist ein Deutungsmonopol zu Ende gegangen, erodiert, abgesetzt und ein anderes an seine Stelle gerückt, ohne daß eine Spur noch auf die vorangegangenen Auseinandersetzungen, ja Kämpfe verweisen würde.»70 «Wenn es so weit ist», wenn die Zeit «reif» ist, kommt es zu einem turn, der dann, wenn er zur Sprache gebracht wird – so Schlögel – gleichzeitig auch schon vollzogen sei. Vollzogen ja, aber sicherlich noch nicht zu Ende. Anfang und Ende eines turn benennen zu können, ist wohl kaum möglich über eine solch metaphorische «Erklärung», die noch dazu voller historisierender Rückprojektionen ist und eine Unschärfe produziert, die sich ähnlich auch in manch undifferenzierten historischen Rückverankerungen von Globalisierungsprozessen beobachten lässt. Dass turns von Schlögel in einen organizistischen Metaphern-Mantel gehüllt werden – um es wiederum metaphorisch auszudrücken–, bestätigt seine Understatement-Sicht von «Wenden», die er fern von Paradigmen oder Methoden – dabei aber doch von Paradigmenwechseln redend – eher für einen bloßen Wechsel der Wahrnehmungseinstellung hält: «Der turn ist offenbar die moderne Rede für gesteigerte Aufmerksamkeit für Seiten und Aspekte, die bisher zu kurz gekommen sind (…) Er deutet an, dass viele und ganz andere Sichtweisen auf ein und denselben Gegenstand möglich sind. Er ist offensichtlich eine Bereicherung des Sehens, Wahrnehmens, Verarbeitens. Die turns, als Plural also, sind offensichtlich Indikatoren dafür, dass etwas im Gange ist: eine Öffnung, eine Erweiterung, eine Pluralisierung der Dimensionen.»71 Gesteigerte Aufmerksamkeit ist freilich nur eine der Eigenschaften, die einen turn auszeichnen.
Turnals Umschlag vom Untersuchungsgegenstand zur Analysekategorie
Skepsis zu haben gegenüber einer metaphorischen «Erklärung» für die Entstehung von turns bedeutet keineswegs, dass Metaphern und Analogien insgesamt für die Kulturwissenschaften verhängnisvoll wären. Im Gegenteil, Metaphern und Analogien sind in den Kulturwissenschaften weit verbreitete, charakteristische Erkenntnis- und Darstellungsmittel. Zudem scheint es geradezu kennzeichnend für die Kulturwissenschaften zu sein, dass auch die Analysekategorien selbst noch metaphorisiert werden. Dies wirft Licht auf die charakteristische Verlaufsstruktur der Herausbildung von turns: Zunächst kommt es zur Entdeckung und Freilegung neuer Gegenstandsbereiche, auf die sich die Forschung quer durch die Disziplinen hindurch konzentriert, z.B. Ritual, Übersetzung, Raum usw. Auf dieser Gegenstands- und Inhaltsebene werden neue Forschungsfelder ausgelotet. Doch wann wird ein turn zum turn? Hierüber scheint noch weit verbreitete Unsicherheit zu herrschen: «Letztlich fehlen uns jedoch klare Kriterien, wann von einem ‹turn› zu sprechen sei und wann nicht.»72 Und doch schälen sich sehr wohl Kriterien heraus:
Von einem turn kann man erst sprechen, wenn der neue Forschungsfokus von der Gegenstandsebene neuartiger Untersuchungsfelder auf die Ebene von Analysekategorien und Konzepten «umschlägt», wenn er also nicht mehr nur neue Erkenntnisobjekte ausweist, sondern selbst zum Erkenntnismittel und -medium wird. So geht es etwa im performative turn nicht einfach nur darum, verstärkt Rituale zu analysieren und «gesteigerte Aufmerksamkeit» auf sie zu richten. Vielmehr werden soziale Abläufe, etwa soziale Dramen, überhaupt erst mit Hilfe des Instrumentariums der Ritualanalyse erkannt und in ihrer Verlaufsstruktur durchleuchtet. Ein solcher «Umschlag» vom Gegenstand zu einer Analysekategorie ist gerade kein Vorgang einer bloß quantitativen Anreicherung, bei der nur eine «kritische Masse» erreicht werden muss, um durchzuschlagen, wie dies Karl Schlögel behauptet. Vielmehr kommt es zu einem entscheidenden Wechsel der kategorialen Ebene oder gar zu einem konzeptuellen Sprung. So werden beispielsweise «Ritual», «Übersetzung» oder «Raum» von Forschungsgegenständen zu Analysekategorien, mit denen dann auch Phänomene erfasst werden können, die ursprünglich nicht in den traditionellen Gegenstandsbereich im engeren Sinn gehören. «Übersetzung» würde hier über den Gegenstandsbereich der Übersetzung von Sprachen und Texten hinaus zu einer verallgemeinerbaren Kategorie, die dann auch auf die Übersetzung von und zwischen Kulturen anwendbar wird. Ein solcher konzeptueller Sprung durch turns ist deshalb so wirkungsmächtig, weil er zumeist mit der Transformation von zunächst beschreibenden Begriffen in operative Begriffe73, eben in wirklichkeitsverändernde Konzepte, einhergeht.
Darüber hinaus gehört es allerdings auch zur Dynamik von turns, dass die Analysekategorien im Zuge ihrer Herausbildung und Verbreitung noch dazu metaphorisiert werden. Die Metapher von «Kultur als Übersetzung» ist hierfür ein treffendes Beispiel. Eine solche Metaphorisierung verleiht einem turn besondere Antriebskraft. Dessen Leistungsfähigkeit und Überlebenskraft hingegen hängen davon ab, inwieweit sein Erkenntnispotenzial qua Analysekategorie dann doch seinen «Treibstoff» qua Metapher überholt, inwieweit ein turn also fähig ist, mit den Anwendungsbezügen seiner eigenen Kategorien die Tendenz zur Metaphorisierung in Schach zu halten. Für das Beispiel der Übersetzung würde dies bedeuten, dass die Translationsperspektive eben nicht nur inflatorisch den Kulturbegriff überschwemmt («Kultur als Übersetzung»). Erst eine gebremste Metaphorisierung macht sie zu einer konkreteren Kategorie, die dann etwa zur Analyse von Erfahrungsübertragungen und lebensweltlichen wie sozialen Übersetzungsleistungen in Migrationszusammenhängen ebenso beiträgt wie zur methodischen Aufsprengung verfestigter Verfahren des Kulturvergleichs.74
Ein solcher Ansatz scheint auf jeden Fall weiter zu führen als ein organizistisches «Erklärungs»muster. Denn er zeigt, wie gerade die Kulturwissenschaften mit ihren eigenen Darstellungsmitteln, etwa den Metaphern, zugleich Vorgänge der Metaphorisierung selbst reflektieren und sichtbar machen können. Organizistische Herleitungen – am Beispiel Schlögels – liefern sich dagegen selbst den Metaphern aus und verharren im Abwarten, bis neue turns am Horizont «auftauchen». Sie sind zudem auf performative Wendepunkte fixiert. Doch turns tauchen nicht einfach aus dem Blauen heraus auf; entscheidend sind vielmehr die theoriebildenden Mikroereignisse, die eine Wendung überhaupt erst vorbereiten und die dann aktiv verstärkt oder auch ausgeblendet werden.
2.SPEKTRUM DES THEORIEWANDELS IM WECHSEL DER LEITWISSENSCHAFTEN
Im vorliegenden Buch geht es um die vielfältigen Spannungsfelder und Rahmenbedingungen, aus denen heraus die turns ihre inhaltlich-konzeptuelle Durchsetzungskraft gewinnen. Im Vordergrund steht allerdings das Vermögen der «Wenden» selbst, wegweisende konzeptuelle Forschungsperspektiven auszubilden.
Ausgelöst wurde die Kette der turns in erster Linie durch die Kulturanthropologie bzw. Ethnologie, besonders die amerikanische, die sich erheblich unterscheidet von der deutschsprachigen Tradition einer philosophisch begründeten Anthropologie. Die Kulturanthropologie angloamerikanischer Prägung geht bekanntlich nicht von anthropologischen Konstanten und universalisierbaren Wissenssystemen aus.75 Ihr Forschungsinteresse erwächst vielmehr aus der Auseinandersetzung mit kulturellen Differenzen. Als integratives Brückenfach hat die Kulturanthropologie auch für die anderen Sozial- und Humanwissenschaften wichtige Leitvorstellungen entwickelt, welche die Kulturanalyse auf die Anerkennung kultureller Fremdheit und Pluralität und auf die Untersuchung kultureller Differenzen in menschlichen Verhaltensweisen gelenkt haben. Sie ist es, die überhaupt erst einem umfassenden «Cultural Turn» in den Humanwissenschaften zum Durchbruch verholfen hat – doch auch hier bereits differenziert: als «anthropologische Wende». Fächerübergreifend läuft die «anthropologische Wende» in den Sozialwissenschaften (Wolf Lepenies) parallel zu einer «Anthropologisierung des Wissens». (Wolfgang Frühwald), zur anthropologischen Wende in der Literaturwissenschaft sowie in der Historischen Anthropologie.
Am fruchtbarsten ist diese kulturanthropologische Grundlegung in ihrem Horizont der Internationalisierung und in ihrem Bestehen auf Fremdheit als einem methodischen Prinzip. Dabei beschränken sich ihre Untersuchungen bekanntlich längst nicht mehr auf fremde (Stammes-)Kulturen, sondern richten sich zunehmend auf die Verhältnisse in modernen Industriegesellschaften. Darüber hinaus legen sie entscheidende theoretische Fundamente für kulturelle und interkulturelle Reflexion überhaupt. Mit ähnlichem Entwicklungsmuster wie im Fall der turns verlässt die Ethnologie damit ihr traditionelles Gegenstandsfeld, den Regionalbezug von Area Studies, um in den Status einer systematischen Disziplin einzurücken.76 Erst von hier aus kann sie disziplinenübergreifende Analysekategorien ausbilden und Konzeptualisierungsimpulse durch «cultural critique» vermitteln; sie drängt auf die Entwicklung eines ethnologischen Blicks, der auch auf die eigene Kultur gerichtet werden kann und soll: auf die eigenen sozialen Institutionen, Normen, Werte, Gewohnheiten. Diese Entwicklung eines ethnologischen Blicks wird besonders durch die Konfrontation mit Fremdheit provoziert. Dadurch kann sich die distanzierte Sicht eines von außen kommenden Beobachters auch auf die eigene Kultur richten und diese so verfremden, dass man bisher nicht Gesehenes an ihr wahrzunehmen vermag.77 Andere Disziplinen können von der Ethnologie diese fruchtbare Praxis des Fremdmachens lernen. Sie bleibt keineswegs nur eine intellektuelle Übung, sondern hat enge Realitätsbindung. So wird sie – in den amerikanischen Cultural Studies mehr noch als in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften – angetrieben von den sozialen Prozessen selbst, von ethnischen Konflikten, von Minoritätenpolitik, von Bürgerrechtsbewegungen in so genannten multikulturellen Gesellschaften, von Migration und Diaspora in ihren hybriden Überlagerungen verschiedener kultureller Erfahrungsschichten und kultureller Mehrfachzugehörigkeit. Angesichts solcher Anschübe kann man gerade nicht behaupten, dass sich die kulturwissenschaftlichen turns – oder, mit Reckwitz’ Worten, die Transformation der Kulturtheorien – in einem Theorielabor abspielen. Sie sind vielmehr deutlich rückgebunden an soziale und interkulturelle Prozesse, die sie wiederum durch ihre konzeptuellen Perspektivierungen mitgestalten.
Schon dieser «fremde Blick» auf die eigene kulturelle Realität drängt auch in aktuellen Forschungen immer noch dazu, bisher unbeachtete fächerübergreifende Gegenstandsfelder auszuleuchten. So sind etwa in der Geschichtswissenschaft die Geschichte des Wahnsinns, der Langeweile, des Ekels, des Traums, der Memoria usw. – also eher «weiche» Faktoren über «Kultur als Weichspüler», wie Ute Daniel es ausdrückt78 – von der Kulturwissenschaft nach oben gespült worden. Die entsprechenden Forschungsrichtungen der Alltagsgeschichte und Historischen Anthropologie haben hier Pionierarbeit geleistet.79 In der Literaturwissenschaft sind es Gegenstandsfelder wie Ehre, Haut, Fetische, Liebe, Gewalt usw. in der Literatur – und natürlich der erweiterte Textbegriff, der bekanntlich Medien, Mündlichkeit, Performanz einbezieht, ganz im Unterschied zur traditionellen Werkorientierung der Literaturwissenschaft mit ihrer Ausrichtung auf Kunstwerke.80 Entsprechend ist längst die Streitfrage gestellt worden, ob damit die Literatur nicht ihren eigentlichen Gegenstand verliere, nämlich die ästhetische Besonderheit und die Individualität des jeweiligen literarischen Kunstwerks.81
Auch wenn man diese Frage nicht bejaht, fällt doch auf, dass die starke Erweiterung und Expansion der Gegenstandsfelder unter dem Einfluss der Kulturwissenschaften – nicht nur in den Geschichts- und Literaturwissenschaften – offensichtlich ein Ergebnis des anhaltenden Modernisierungs- und Innovationsdrucks ist. Sie hat freilich zu einer bedenklichen Fixierung auf Themenbezüge geführt, die in der kulturwissenschaftlichen Diskussion überhand nimmt. Bis heute sind selbst die meisten Darstellungen des kulturwissenschaftlichen Diskurses noch zu themenlastig angelegt. Einschlägig hierfür wäre wiederum Ute Daniels «Kompendium Kulturgeschichte» mit ihrer Ausrichtung an Themen und Forschungsprotagonisten, ihrer Konzentration auf «themenbezogene Schwerpunkte»82, auf Mikro- und Alltagsgeschichte, Historische Anthropologie, Geschlechterforschung, Diskursgeschichte. Solche thematischen Schwerpunkte münden zumeist in einer innerdisziplinären Aufteilung und Differenzierung des Forschungsspektrums, nicht jedoch in transdisziplinären Überschreitungen. Warum Letzteres erst mit den turns der Fall ist, zeigt deren «Umschlagen» von Themen zu Analysekategorien. Genau dieser qualitative Sprung wird in den gegenwärtigen Kulturwissenschaften nicht immer konsequent genug aufgegriffen. So bleibt auch Ute Daniels Freilegung von «Schlüsselwörtern» wie Erklären/Verstehen, Tatsache, Wahrheit, objektiv/subjektiv, Sprache/Narrativität usw. hinter dieser Dynamik der Kulturwissenschaften zurück, bei der inhaltlich aufgeladene Begriffe operativ gewendet werden und so als methodisch bahnbrechende Analysekategorien wirken.
Die Beschäftigung mit turns in diesem Band versucht, über eine solche Themenfixierung hinauszuführen, wie sie in der kulturwissenschaftlichen Forschung gegenwärtig vorherrscht. Diese Themenverhaftung lässt z.B. literarische Texte allzu leicht auf bloße «Gedanken-, Formel- oder Motivsteinbrüche»83 zusammenschrumpfen, statt etwa die besonderen Formen der literarischen Repräsentation in den Blick zu rücken oder auch kulturelle Wahrnehmungskategorien freizulegen und als mögliche Forschungsachsen zu gewinnen.84 Um die Kulturwissenschaften jedoch von solcher Selbstverzehrung im schier uferlosen Meer ihrer möglichen Untersuchungsgegenstände abzuhalten und sie eher methodisch weiterzuprofilieren, sind die Anstöße der turns produktiv zu machen. So werden im Durchgang durch die verschiedenen Forschungswenden ein Methodenbewusstsein und eine Theoriebildung gefördert, mit denen die kulturwissenschaftlichen (etwa literatur- oder geschichtswissenschaftlichen) Kategorien selbst reformuliert werden können. Hier kann sich konkreter zeigen, was unter einer verfremdenden Neusicht der eigenen Disziplin und Kultur verstanden werden kann. Diese erschöpft sich nicht in der interkulturellen Erweiterung und Überprüfung traditioneller europäischer Kategorien. Vielmehr reicht sie bis hinein in die Infragestellung dieser Kategorien selbst, in ihrer europäischen Prägung und ihrem Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit oder gar Universalisierbarkeit. Dies bedeutet z.B. für die Literaturwissenschaft eine kritische Revision der Epochen- und Gattungsbegriffe und der Kriterien für literarische Kanonbildung, nicht zuletzt angesichts der Eingebundenheit der Literaturgeschichte in die Geschichte des Kolonialismus.85
Kategorienkritik und Methodenerweiterung führen die kulturwissenschaftliche Forschung insgesamt auf eine neue Stufe: Auch die Kulturwissenschaften gewinnen einen übergreifenden Anwendungshorizont, indem sie über die Neuerschließung und Expansion von Gegenstandsfeldern hinausgehen und richtungweisende Forschungsperspektiven entwerfen. Genau dies versprechen die turns. Ihre Anstöße zur Kategorienkritik wirken schließlich auf einen kritischen Umgang mit dem kulturwissenschaftlichen Vokabular zurück; sie betreffen das Selbstverständnis und die mögliche Selbstüberschätzung der Kulturwissenschaften, allerdings auch ihre mögliche Unterschätzung (etwa durch die Naturwissenschaften). Durchgängige Leitfragen wären also: Welche turns sind im Rahmen der Kulturwissenschaften noch zu erwarten und welche können eventuell von ihr gar nicht mehr integriert werden? Markieren turns nur oberflächliche wissenschaftliche Moden, oder verkörpern sie langlebigere Forschungsrichtungen? Wie sind sie in der internationalen Wissenschaftslandschaft zu «verorten»?
Auffällig ist in den deutschen Kulturwissenschaften, dass hier fast durchgängig von turns die Rede ist, wobei auf englischsprachige, insbesondere auf amerikanische Diskurse rekurriert wird. Das «Oxford English Dictionary» gibt das komplexe Bedeutungsfeld von «turn» wieder, dessen vielfältige lebensweltlich-pragmatische Untertöne sogar noch im engeren Begriff des Forschungsturn mitschwingen.86 Im Deutschen hingegen werden mit «Wende» schwerwiegendere Konnotationen freigesetzt. Eher ist es hier der finale Beiklang von epochaler, einschneidender Veränderung, ja «zeitalterscheidender» Umkehr87, der – ähnlich wie in Heideggers Konzeption der «Kehre»88 – den Begriff der «Wende» vertieft. Schon deshalb erscheint es sinnvoll, für die kulturwissenschaftlichen Forschungswenden auch hier den englischen Ausdruck turn beizubehalten und damit an die internationale Diskussion anzuschließen. Zwar ließe sich fragen, ob es – gerade im Zuge der Wiederentdeckung der deutschsprachigen Tradition der Kulturwissenschaften seit Anfang des 20.Jahrhunderts (Georg Simmel, Ernst Cassirer, Max Weber usw.)89 – nicht auch hierzulande eigene Ansätze zu «Wenden» gibt, die man ernster nehmen sollte als bisher – allen voran die Wende durch das Gedächtnis«paradigma»90. Doch der vorliegende Band konzentriert sich auf die wichtigsten turns, die aus ihrem internationalen Entstehungskontext heraus zumindest partiell in die Entwicklung der deutschen Kulturwissenschaften eingegangen sind und dort mit durchaus eigenständigen Akzenten ausgeprägt werden.
Ein solcher Theorientransfer von cultural turns scheint hingegen in der französischen Diskussion, von der aus immerhin die Transferforschung vorangetrieben wird, weniger verbreitet zu sein. Dort scheinen die Diskurse in anderen Bahnen zu verlaufen, zumal man in Frankreich nicht von Kulturwissenschaften91 oder gar Cultural Studies spricht, nicht zuletzt aus Gründen der tendenziellen Abschottung gegenüber amerikanischen Theorieschulen. Seit der «humanwissenschaftlichen Wende» im Gefolge des Strukturalismus92 bzw. seit dem linguistic turn, angefangen von Ferdinand de Saussure und fortgesetzt in der Semiotik von Roland Barthes und bei Jacques Derrida, ist hier weniger von turns bzw. tournants die Rede. Prägend sind eher eigenständige zentrale Theorieansätze entlang anderer Diskursachsen, anderer Grenzziehungen des intellektuellen Feldes. Sie sind teilweise dort zu verorten, wo sich – wie es Ulrich Raulff jedenfalls für die Mentalitätengeschichte betont – «die Linien, die den turns folgten, gleichsam die Wendekreise, schneiden»93: Intertextualität (Julia Kristeva), Mentalität/Mentalitätsgeschichte (Marc Bloch/Lucien Febvre und die Annales -Schule), Transfer (Michel Espagne/Michael Werner/Hans-Jürgen Lüsebrink), histoire croisée (Michael Werner/Bénédicte Zimmermann), wissenschaftliches/literarisches Feld (Pierre Bourdieu), Gedächtnis/Erinnerungsorte (Pierre Nora) und andere mehr. Nach dem linguistic turn scheint sich also eine Auffächerung des Diskursspektrums herausgebildet zu haben, die nicht primär an turns orientiert ist. Dies ist nicht zuletzt eine bemerkenswerte Folge der länderspezifischen Verwerfungen im Selbstverständnis der Kulturwissenschaften. So ist für den französischen Diskurs trotz einer auch hier konstatierten «kulturwissenschaftliche(n) Wende»94 von Anfang an eine enge Verschränkung der Kulturwissenschaften mit den Sozialwissenschaften in den sciences humaines charakteristisch. Dadurch zeichnen sich die Theorieansätze im Gefolge eines auslösenden «Cultural Turn» durch einen stärkeren «Parallelismus von Wissenschafts- und Gesellschaftsentwicklung»95 aus, womit in Frankreich nicht zuletzt der enge Pfad des linguistic turn verbreitert wurde.
Der Linguistic Turn
Die kulturwissenschaftlichen Neuorientierungen in Form von turns scheinen an einem entscheidenden «Mega»-Turn nicht vorbeizukommen: dem linguistic turn. Er hat den «Cultural Turn», von dem man in dieser Allgemeinheit allenfalls als Anstoß eines dynamischen Prozesses der Kulturreflexion sprechen kann, überhaupt erst ausgelöst. Dem linguistic turn wird hier absichtlich kein eigenes Kapitel gewidmet. Denn er durchzieht alle einzelnen turns und bildet das mächtige Vorzeichen für alle weiteren Richtungswechsel und Schwerpunktverlagerungen, die sich jeweils auf ihre Weise am linguistic turn abarbeiten. Dieser hat schließlich eine Grundlegungsfunktion, die sogar für einen Paradigmenwechsel gehalten wird, wenn etwa Richard Rorty von «the most recent philosophical revolution, that of linguistic philosophy»96 spricht.
Der linguistic turn geht aus der Sprachphilosophie hervor. Dort wurde der Begriff von dem Sprachphilosophen Gustav Bergmann schon in den 1950er Jahren geprägt: «All linguistic philosophers talk about the world by means of talking about a suitable language. This is the linguistic turn, the fundamental gambit as a method, on which ordinary and ideal language philosophers (…) agree.»97 Der sprachphilosophischen, linguistischen Wende in der Philosophie geht es danach nicht um konkrete Aussagen über die Realität, sondern um Aussagen über eine für solche Realitätsaussagen angemessene Sprache. Als linguistic turn ist dieser Ansatz aber erst 1967 von Richard Rorty verbreitet worden, und zwar durch den von ihm herausgegebenen Sammelband «The Linguistic Turn»98. Die Überzeugung von den Grenzen der Sprache als Grenzen des Denkens bzw. die Überzeugung, dass «unterhalb» bzw. jenseits der Sprache und des Sprachgebrauchs keine Realität verborgen ist, führt zu einer folgenreichen Einsicht: Jegliche Analyse von «Wirklichkeit» ist sprachlich determiniert und durch eine Sprachpriorität «gefiltert»: «Since traditional philosophy has been (so the argument goes) largely an attempt to burrow beneath language to that which language expresses, the adoption of the linguistic turn presupposes the substantive thesis that there is nothing to be found by such burrowing.»99
Die Sprachkonzeption des linguistic turn geht bereits in ersten Ansätzen auf die Sprachtheorie Ferdinand de Saussures zurück (1916), insbesondere auf dessen Einsicht in Sprache als (in sich geschlossenes) synchrones Zeichensystem (langue). Ein sprachliches Zeichen hat keine Identität in sich selbst, sondern nur in Differenz zu anderen; so wie z.B. Äpfel sich dadurch bestimmen, dass sie keine Birnen sind, ist a auch nicht m usw. So sind die sprachlichen Zeichen untereinander in einem System von Differenzen verknüpft, sie bilden eine Struktur. Im Anschluss an diese Einsichten der strukturalistischen Sprachwissenschaft geht die «sprachliche Wende» von der Vorstellung aus, dass von der Sprache aus auch die Wirklichkeit strukturiert wird, ja dass Realität wie die Sprache ebenfalls als ein Zeichensystem aufzufassen ist, als ein System von Repräsentationen und Differenzen.
Zwar hat der linguistic turn weit über die Sprachphilosophie hinaus gewirkt, indem er die Einsicht in die Sprachabhängigkeit und in die Vorgängigkeit von Text- und Repräsentation als Erkenntnisbedingung auch in die anderen Geistes- und später dann Kulturwissenschaften hineingetragen hat. Zunächst jedoch fand er im Strukturalismus seinen deutlichsten Niederschlag. Von da aus hat er die Entwicklung neuer paradigmenähnlicher Leitmethoden in den Geistes- bzw. Kulturwissenschaften ausgelöst. Grundlegend ist seine strikte Abkehr vom Positivismus, der bis in die 1960er Jahre hinein Wirklichkeitserkenntnis auf quantifizierbare Daten zurückgeführt hat. Im Gegensatz dazu geht er davon aus, dass kein Zugang zu einer «authentischen» Wirklichkeit möglich ist. Mit Sprache werde keine von ihr unabhängige, darunter liegende Wirklichkeit beschrieben. Statt eines Instruments zur Beschreibung von Wirklichkeit sei Sprache vielmehr ein Instrument zur Konstitution von Wirklichkeit: Alle Erkenntnis des Realen ist in sprachlichen Aussagen formuliert; es gibt keine Realität, die nicht von Sprache durchzogen und die nicht schon sprachlich geprägt wäre. Dieser «Filter» der Sprachlichkeit, auf dem vor allem die französische Texttheorie eines Roland Barthes und Jacques Derrida beharrt100, bedeutet etwa für die Geschichtsschreibung, dass auch sie nur Zugang zu einer textuell, sprachlich vermittelten Welt hat. Sie hat keinen Einblick in die «wirklichen» Erfahrungen der Menschen, sondern nur in das, was historische Quellen über sie kundgeben. Diese Einsicht in die sprachliche Bedingtheit und Ermöglichung von Wirklichkeitserfahrungen, aber auch von Geschichtsaussagen und historischen «Erzählungen», hat dazu geführt, dass der linguistic turn in der Geschichtswissenschaft vor allem als «narrative turn» ausgestaltet worden ist.101 Nicht nur historische Tatsachen werden von Historiker(inne)n erst konstruiert,102 sondern bereits Gefühle und Handlungsmotive der historischen Akteure selbst sind nicht als authentische Artikulationen von Individuen zu verstehen, sondern als Ergebnisse sprachlich vermittelter Gefühls- und Handlungscodes. Sprachliche Codierungen sind immer schon den eigenen Intentionen von Handelnden (also der vermeintlich eigenständigen inneren, mentalen Welt) vorgeordnet. Gerade unter diesem Vorzeichen lässt sich die semiotische Wende am Ende der 1960er Jahre auf ihre Grundlegung im linguistic turn rückbeziehen.
Alle menschliche Erkenntnis, also auch wissenschaftliche Erkenntnis, ist somit durch Sprache strukturiert. Der Paradigmenwechsel liegt darin, dass sich die Sprache geradezu zwischen die Subjekt-Objekt-Beziehung der traditionellen Bewusstseinsphilosophie schiebt. Das mentalistische Paradigma der Bewusstseinsphilosophie weicht somit dem sprachlichen Paradigma der sprachanalytischen Philosophie. Linguistic turn bedeutet: Einsicht in den (sprachbegründeten) Konstruktivismus von Realität. Das hat natürlich erhebliche Folgen – einerseits für die Prägekraft von Repräsentationen: Das Subjekt wird zur Schnittstelle von Diskursen, rhetorische Muster durchziehen wissenschaftliche Darstellungen, wie dies im Kapitel zum reflexive turn gezeigt wird. Andererseits erwächst daraus die Einsicht, dass Realität von Menschen gemacht ist, nämlich in Symbolen verarbeitet und durch Symbole hergestellt wird, dass mit der kulturellen Konstruktion von Wirklichkeit immer auch ein potenzieller Kampf um die Durchsetzung von Bedeutungssystemen einhergeht. Repräsentationen können also Realität schaffen. So ist es immer ergiebig, sich genauer auf die Sphäre kultureller Repräsentation einzulassen. Denn von dort aus können die symbolischen Strategien in den Blick genommen werden, mit denen gesellschaftliche Machtverhältnisse repräsentiert werden. Schon diese Perspektive treibt den linguistic turn im Verlauf des kulturwissenschaftlichen Diskurses weiter, indem sie ihn aus seiner einseitigen Fixierung auf Sprachstruktur (langue) befreit und den unterbelichteten Strang des Sprachereignisses, der aktuellen Rede, der Kommunikation und Performanz (parole) verstärkt in den Blick bringt.
Cultural Turns nach dem Linguistic Turn
Der linguistic turn zieht sich wie ein roter Faden durch die kulturwissenschaftlichen turns hindurch. Im Zuge dieser Richtungswechsel wird ihm sein Zepter jedoch zunehmend aus der Hand genommen. Denn die Neufokussierungen markieren geradezu eine Rückkehr des Verdrängten. Sie führen nach und nach diejenigen Dimensionen von Kultur, Lebenswelt, Geschichte und vor allem Handeln wieder ins Feld, die von der Sprachenge des linguistic turn ausgeblendet, ja verdrängt worden sind. Bis heute scheint man dies nicht genügend zu erkennen. Immer noch wird zu pauschal die Vorherrschaft des linguistic turn verkündet oder auch beklagt,103 gar vom «Schreckgespenst des ‹linguistic turn›»104 geredet, das durch die Diskursanalyse geistert und die Kulturwissenschaften aufrüttelt. Dabei bringen die einzelnen turns doch eigenständige Ansätze zu einer Neuakzentuierung, ja Veränderung/Transformation des linguistic turn ein, an denen sich die Forschung immer wieder neu orientieren kann.
Eine der ersten Bewährungsproben hatte der linguistic turn zweifellos im interpretive turn, der in den 1970er Jahren von der amerikanischen Kulturanthropologie vollzogen wurde. Dessen «semiotischer Kulturbegriff»105 und seine Metapher von «Kultur als Text» verkörperten in den Kultur- und Sozialwissenschaften der 1970er Jahre durchaus eine Variante des linguistic turn. Die Kulturanthropologie war schließlich bis dahin sozialanthropologisch ausgerichtet und hat mit dem Instrumentarium des Strukturfunktionalismus eher nach sozialen Strukturen gefragt. Mit Clifford Geertz wurde dann die Wende hin zur interpretativen Kulturanthropologie und damit auch zu einer Neubewertung von Kultur vollzogen – nicht hingegen im traditionellen Sinn einer «ganzen Lebensweise». (Edward B.Tylor), sondern gezielter als ein Zeichen- und Symbolsystem, das sowohl auf seine Bedeutungen hin auslegbar ist als auch Selbstdeutungen leistet. Denn jede Gesellschaft bildet bestimmte Ausdrucksformen aus, in denen sie sich selbst interpretiert, z.B. Darstellungsformen wie Kunst, Theater, Rituale, Feste. Gerade über diese öffentliche Darstellungssphäre erhält man Zugang zu den Bedeutungen einer Kultur. Ausgehend von dieser Einsicht gelingt dem interpretive turn der Durchbruch zu einer interkulturellen Erweiterung der Hermeneutik, und zwar entlang der Frage: «Was wird aus dem Verstehen, wenn das Einfühlen entfällt?»106 Denn wenn man sich beim Versuch, fremdkulturelle Zusammenhänge zu verstehen, nicht mehr auf das Nachempfinden (fremder) Intentionen und Absichten verlassen kann, muss ein anderer, stärker objektivierbarer Zugang zu kulturellen Bedeutungen gesucht werden – eben über Zeichen und Symbole: «Kultur als Text». Für den Kulturbegriff bedeutet diese Formel eine der größten Herausforderungen der letzten Jahrzehnte. Schließlich erfasst sie auch Handlungen als Texte. Genau dies hat erhebliches Unbehagen über die Dominanz von Textualität, Sprache und Diskurs ausgelöst – als würde sich historische Realität im bloßen Text erschöpfen, als würde sie durch eine kulturalistische Brille verzerrt. Diese Kritik am Kulturalismus gibt schließlich die stärksten Anstöße zu einer praxistheoretischen Ausarbeitung und Erweiterung der textuell-interpretativen Wende.107
Erste Schritte in diese kritische Richtung macht bereits der performative turn, der den Textansatz zwar aufgreift, ihn aber dynamisiert. Der Übergang vom interpretive turn zum performative turn ist methodisch besonders aufschlussreich. Denn hier verschiebt sich die Aufmerksamkeit von Text und Bedeutung hin zu Darstellung und performativer Praxis. Die in «Kultur als Text» ausgeblendeten Dimensionen kehren zurück: Materialität, Kulturdynamik, Situationsbedingungen und dialogische Austauschprozesse. Hauptsächlich entlang dieser Kategorien wird schon hier die Allmacht des linguistic turn erschüttert. Körperlichkeit und nicht-verbale Handlungsdimensionen werden dabei ebenso in den Vordergrund gerückt wie eine verstärkte Fokussierung auf historische Akteure, auf Konflikte, Transgressionen und kulturelle Subversion – eine Hinwendung also zu Kategorien, die in der Diskurslastigkeit im Gefolge des linguistic turn nicht vorkamen. Dagegen wird nun ausgehend von der ethnologischen Ritualanalyse bei Victor Turner und der sprachwissenschaftlichen Sprechakttheorie John Austins Sprachlichkeit als eine historische, performative Praxis entfaltet, die sich im Ausdruckshandeln, in Performance verdichtet. Dies lässt die verschiedensten Disziplinen danach fragen, wie Wirklichkeit produziert und inszeniert wird, welche Inszenierungsstruktur Handlungen aufweisen, etwa in Form von Festen, Karneval, in kulturellen Darstellungsmedien wie Sport, in politischer Inszenierung und Religion und nicht zuletzt in Drama und Theater. «Kultur als Darstellung» zu betrachten fordert die Disziplinen dazu heraus, ausgehend von der kulturellen Ausdruckssphäre einen Zugang zur Dynamik sozialer Prozesse zu gewinnen. In dieser Materialität, Medialität und Gestaltungskraft der sozialen Inszenierungskultur wird auch der Prozess kultureller Symbolisierung konkret zugänglich. Wie eng die Symbolhervorbringung mit Handlungen und gesellschaftlichen Praktiken verknüpft ist, zeigt sich am deutlichsten im Zusammenhang des Rituals. Von hier aus, bekräftigt durch Transfers über «blurred genres», wird der umfassendere kulturwissenschaftliche Schlüsselbegriff der Liminalität entwickelt. Er sollte sich als äußerst folgenreich erweisen für die Analyse individueller und gesellschaftlicher Übergangsprozesse.
Zwar gelingt es bereits dieser Wende, Performanz, Erfahrung und Praxis als wiederentdeckte historische Kategorien auf den Weg zu bringen und damit die auf Sprache und Text beruhende «Grammatik des Handelns» im Gefolge des linguistic turn abzulösen.108 Bei dieser Wiedergewinnung von Kultur als performativem Konzept sollte man jedoch – im Unterschied etwa zur Historikerin Gabrielle Spiegel109 – nicht stehen bleiben. Denn erst die weiteren turns öffnen die kulturwissenschaftliche Forschung noch über das Spannungsfeld von Text und Praxis hinaus. Erst mit ihnen kann man die Fixierungen auf das alte Gleis des linguistic turn hinter sich lassen. Damit geht freilich auch ein Wechsel der Leitwissenschaften einher. Dass die Kulturanthropologie in weiten Teilen zur Schlüsseldisziplin der Kulturwissenschaften geworden ist, zeigt sich noch einmal im reflexive turn, der die zunehmende (kritische) Selbstreflexion der Ethnologie auch in andere Disziplinen hineingetragen hat. Dieser Anstoß zur Selbstkritik kulturwissenschaftlichen Forschens geht von dem Versuch aus, die «Krise der Repräsentation» nicht nur zu benennen, sondern sie auch zu bewältigen: durch eine kritische Durchleuchtung des wissenschaftlichen Schreibvorgangs ebenso wie der Rückbindung von Repräsentationen an ihr komplexes Umfeld. Ausgehend von ethnographischen Monographien werden die an allen Kulturbeschreibungen ablesbaren wirkungsbezogenen Darstellungs- und Erzählstrategien aufgedeckt: literarische Muster und Plots sowie der Einsatz von Metaphorik und Ironie. Freigelegt wird damit das erhebliche Steuerungs- und Manipulationsvermögen von Autoren und Autorinnen, ja die Abhängigkeit der Kulturbeschreibung von der Autorität der Verfasser, Wissenschaftler oder Schriftsteller. Nicht zufällig also wird der reflexive turn auch als rhetorical turn oder literary turn bezeichnet, und es ist bemerkenswert, dass die Leitwissenschaft der Kulturanthropologie hierbei geradezu selbst einen literary turn durchmacht und sich hinwendet zu einer anderen temporären «Leitwissenschaft»: der Literaturwissenschaft.
Die Literaturwissenschaft ist es auch, die seit den 1980er Jahren den postcolonial turn ausgelöst hat. Im Anschluss an Dekolonisierungsphänomene und ihre kritische literarische Repräsentation durch neuere Literaturen der Welt außerhalb Europas hat sie maßgebliche kulturtheoretische Einsichten und Konzeptualisierungsperspektiven auf den Weg gebracht – allen voran eine kritische Neuverortung von Identitäts- und Repräsentationsfragen in den Koordinaten von kultureller Differenz, Alterität und Macht. Im Licht des postcolonial turn wird auch die Selbstreflexion der Ethnographie noch stärker politisiert. Schon die zentrale Frage des reflexive turn nach der Repräsentation bezog Dimensionen wie Macht, Herrschaft und kulturelle Ungleichheit ein. Dies wird jetzt zunehmend im Weltmaßstab reflektiert, angesichts einer Welt von ungleichen Machtverhältnissen, vor allem im Gefolge des Kolonialismus und im Hinblick auf eine neue Sicht des Eurozentrismus. Der postcolonial turn wird damit zur ersten kulturwissenschaftlichen Neuausrichtung, die ihren eigenen Problem- und Methodenhorizont von vornherein global verortet: in einem transnationalen Bezugsrahmen asymmetrischer Machtverhältnisse. Anfänglich war die postkoloniale Wende geprägt durch die konkreten Erfahrungen der Dekolonisation, durch postkoloniale Befreiungsbewegungen und antikolonialen Widerstand. Doch immer mehr kam dieses Engagement gleichsam durch einen linguistic turn innerhalb der postkolonialen Theorie selbst unter die Räder. Die historisch-politischen Ausgangsimpulse gingen mehr und mehr in Diskurskritik über, in Kritik am Weiterbestehen kolonialer Macht auf der Ebene von Wissenssystemen.
Erst dieses epistemologische Potenzial allerdings macht den postcolonial turn schließlich zu einem turn und verpflichtet die Kulturwissenschaften insgesamt zur Infragestellung ihrer eigenen Prämissen. Entscheidend hierfür ist sein Grundprinzip der Anerkennung kultureller Differenzen und deren Aushandlung jenseits essenzieller Festschreibungen. Damit erschüttert er zugleich dichotomische Erkenntnishaltungen und die epistemologische Gewalt, mit der sich der Herrschaftsdiskurs des westlichen Rationalismus weltweit durchgesetzt hat. Mit dieser epistemologischen Kritik schafft der postcolonial turn einen Durchbruch in den Kulturwissenschaften, indem er sie noch in einem anderen Sinn global und transkulturell öffnet: Er drängt dazu, nicht nur den auf Europa bezogenen Kanon der Untersuchungsgegenstände in den Kultur- und Sozialwissenschaften zu erweitern, sondern auch den eurozentrischen Universalisierungsanspruch der wissenschaftlichen Untersuchungskategorien selbst zu überdenken. Die Auffälligkeit, mit der hier auf «cross-categorical translations»110 ebenso gepocht wird wie auf die Erforschung der tatsächlichen Übersetzungsprozesse, die im Feld interkultureller Auseinandersetzung ablaufen, legt schon auf dem Gebiet des postcolonial turn geradezu einen translational turn nahe.
In der Tat bahnt sich in jüngster Zeit ein translational turn an, der die Kategorie der Übersetzung über Text- und Sprachübersetzung hinaus als einen bisher viel zu wenig beachteten kultur- und sozialwissenschaftlichen Grundbegriff entwickelt. Das anhaltende Bestreben der Kulturwissenschaften, jenseits binärer Erkenntniseinstellungen und dichotomischer Grenzziehungen neue methodische Erschließungen von «Zwischenräumen» zu erkunden, findet hier ein empirisches Fundament. Denn gerade kulturelle Zwischenräume werden deutlicher, wenn man sie als «Übersetzungsräume» begreift. So wären auch Identität, Migration und Exil und andere Situationen von Interkulturalität als konkrete Handlungszusammenhänge zu betrachten, die von Übersetzungsprozessen und von der Notwendigkeit zur Selbstübersetzung geprägt sind. Von hier aus erhält auch die translatorische Neufassung des Kulturverständnisses («Kultur als Übersetzung»)111 ihre lebensweltliche Rückbindung. Die damit verbundenen pragmatisch-methodischen Annäherungen an Interkulturalitätsszenarien fahren mittlerweile schon längst nicht mehr auf dem Hauptgleis des linguistic turn. Aber auch andere turns legen fruchtbare Nebengleise und Forschungsschneisen an, ohne sich unentwegt am linguistic turn abzuarbeiten:
Waren die Human- und Kulturwissenschaften überwiegend von der Zeitkategorie bestimmt, so hat sich in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit verstärkt auf die Wiederentdeckung von «Raum» verschoben. Ein spatial turn ist besonders durch die Erfahrung globaler Enträumlichung ausgelöst worden, aber auch durch postkoloniale Impulse, die Gleichzeitigkeit verschiedener Kulturen anzuerkennen und auf ein kritisches Re-Mapping der hegemonialen Zentren und marginalisierten Peripherien in der entstehenden Weltgesellschaft hinzusteuern. Gerade in einer globalisierten Zeit mit ihrer Tendenz zur Ortlosigkeit treten Probleme der Lokalisierung vehement in den Vordergrund. «Verortung von Kultur». (Homi Bhabha) wird von hier aus eine Forderung, die den neuen Raumbezug für eine Veränderung des Kulturverständnisses selbst
