Da kommt noch was - Not dead yet - Phil Collins - E-Book
SONDERANGEBOT

Da kommt noch was - Not dead yet E-Book

Phil Collins

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Richtig guter Stoff" - Gala

Nur drei Musiker weltweit haben als Solokünstler und mit ihrer Band jeweils über 100 Millionen Tonträger verkauft – Phil Collins ist einer von ihnen. »Another Day in Paradise«, »You Can’t Hurry Love«, »One More Night«, »Sussudio« – große Songs mit großen Geschichten. Mit »In the Air Tonight« etwa hat der Ausnahmemusiker das Ende einer seiner drei Ehen in einen zeitlosen Hit verwandelt. Überhaupt – dieses Leben! Phil Collins erzählt rückhaltlos alles: von einem Filmdreh mit den Beatles, von Sessions mit Eric Clapton, Tina Turner und Adele, von der großen Zeit mit Genesis und davon, wie er auf einer Tournee heiratet, um sich später via Fax wieder scheiden zu lassen – und Jahre darauf gänzlich im Alkohol zu ertrinken. Phänomenale Höhen wie bizarre Tiefen: In diesem Buch ruft jede Zeile: »Take a Look at Me Now!«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 661

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Nur drei Musiker weltweit haben als Solokünstler und mit ihrer Band jeweils über 100 Millionen Tonträger verkauft – Phil Collins ist einer von ihnen. »Another Day In Paradise«, »You Can’t Hurry Love«, »One More Night«, »Sussudio« – große Songs mit großen Geschichten. Mit »In The Air Tonight« etwa hat der Ausnahmemusiker das Ende einer seiner drei Ehen in einen zeitlosen Hit verwandelt. Überhaupt – dieses Leben! Phil Collins erzählt rückhaltlos alles: von einem Filmdreh mit den Beatles, von Sessions mit Eric Clapton, Tina Turner und Adele, von der großen Zeit mit Genesis und davon, wie er auf einer Tournee heiratet, um sich später via Fax (beinahe) wieder scheiden zu lassen – und Jahre darauf gänzlich im Alkohol zu ertrinken. Phänomenale Höhen wie bizarre Tiefen: In diesem Buch ruft jede Zeile: »Take A Look At Me Now!«

Der Autor

Phil Collins, 1951 in London geboren, ist Schlagzeuger, Sänger, Produzent und Schauspieler - vor allem aber einer der einflussreichsten Musiker der Popkultur. Sowohl mit der Rockband Genesis als auch als Solokünstler prägte er wie kein Zweiter die Musik der Achtziger- und Neunzigerjahre: Über 280 Millionen verkaufte Tonträger sprechen für sich. Seit 2016 läuft nicht nur eine große Neuausgabe aller Studioalben, auch das Bühnen-Comeback konnte der Großmeister der Popmusik unlängst feiern.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Not Dead Yet – The Autobiography bei Century, London.
Copyright © Philip Collins Limited 2016 First published by Century an imprint of Cornerstone Publishing.Cornerstine Publishing is part of the Penguin Random House group of companies.Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Straße 28, 81673 MünchenCovergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von Gettyimages / Neale Haynes / KontributorSatz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, GermeringISBN 978-3-641-19835-0V004
www.heyne.de

Was Sie hier lesen, ist mein Leben, erzählt aus meiner Perspektive.

Das deckt sich vielleicht nicht mit der Erinnerung anderer Beteiligter, doch ich erzähle es so, wie ich mich erinnere.

Ich war mein Leben lang überzeugt davon, dass wir alle unsere »Kamera-Verschlusszeiten« haben, aufgrund derer wir uns ganz unterschiedlich oder überhaupt nicht an eine Szene erinnern. Manchmal kann daher eine Erinnerung das Leben eines Menschen prägen, während die anderen Beteiligten den Vorfall vielleicht schon längst vergessen haben.

PC

Inhalt

Prolog

Greatest Hits und andere Ohrwürmer

1 Not Drowning But Waving

Oder: Meine Anfänge, meine Kindheit und wie das Verhältnis zu meinem Vater ins Wanken geriet

2 Einem anderen Takt folgen

Oder: Die Abenteuer eines naiven Jugendlichen in den Sechzigern, der unbedingt auf die Bühne und Schlagzeug spielen will

3 »Drummer sucht Band, besitzt eigene Sticks«

Oder: Warten auf die große Chance in Swinging London. Wie schwer kann das sein?

4 Die Ballade von All Things Must Pass

Oder: Triff die Beatles (nicht)

5 Die Genese von Genesis

Oder: Die Anfänge meiner Anfänge

6 Vom blauen Eber zum Fuchskopf

Oder: Mit Genesis auf Tour und in der Klamottenkiste

7 Lamb Lies Down, Sänger macht sich davon

Oder: Durchbruch in Amerika, aber auf Kosten der Band

8 Familienmann, Frontmann

Oder: Der Versuch, alle zufriedenzustellen. Ergebnis: so lala

9 Schicksalhafte Scheidung

Oder: Wie durch mehrere Amerika-Tourneen meine erste Ehe in die Brüche geht, meine Solo-Karriere in Gang kommt und schließlich »In The Air Tonight« entsteht

10 Mein Marktwert steigt

Oder: Wie sich ein paar im Schlafzimmer entstandene Songs ganz gut verkaufen

11 Hallo, ich hab zu tun!

Oder: Die Königsjahre, mehr Hits, mehr Tourneen und mehr Projekte, als vermutlich ratsam sind. Tut mir leid…

12 Hallo, ich hab zu tun! Teil 2

Oder: Immer mehr

13 Live Aid: Wie ich es vermasselt habe

Oder: Jetzt übertreibe ich es

14 Der große Gehirnraub

Oder: Ich versuche, das häusliche Glück zu erhalten und Stadien zu füllen (gleichzeitig), werde Filmstar (kurzzeitig) und brüskiere den Thronfolger (unabsichtlich)

15 Mal im Ernst, Leute

Oder: Das aktuelle Zeitgeschehen – und eine private Affäre

16 Faxgate

Oder: Lassen Sie mich das klarstellen – ich habe mich nicht per Fax von meiner Frau scheiden lassen. Aber ich weiß, wie es aussieht.

17 Taxgate

Oder: Ich habe mich in eine Schweizerin verliebt. Also folge ich meinem Herzen, nicht dem Geld

18 Große Band, große Affen, große Liebe

Oder: Ich bin der King des Swing…

19 Ich lasse alles hinter mir

Oder: Ohrenschmerzen, Herzeleid und ein Abschied für immer

20 Einschalten, ausschalten

Oder: Eine Genesis-Neuauflage, eine Broadway-Premiere und eine Familientrennung

21 Zwangsjacke erforderlich

Oder: Wie ich mich fast zu Tode saufe

22 Da kommt noch was

Oder: Wieder eins – eine fünfköpfige Band, eine vierköpfige Familie und das Leben eines Mannes (sein Körper nicht zu vergessen)

Prolog

Greatest Hits und andere Ohrwürmer

Ich kann nichts hören.

So sehr ich auch versuche, die Blockade zu lösen, mein rechtes Ohr macht dicht. Ich wage einen kleinen Vorstoß mit dem Wattestäbchen. Ich weiß, dass man das nicht tun soll – das Trommelfell ist sehr empfindlich, vor allem wenn es sein Leben lang Trommelgeräuschen ausgesetzt war.

Aber ich bin verzweifelt. Mein rechtes Ohr ist kaputt. Und es ist mein gutes Ohr, links ist mein Gehör schon seit zehn Jahren angeschlagen. War es das jetzt? Ist es mit der Musik nun doch vorbei für mich? Bin ich endgültig taub?

Stellen wir uns folgende Szene vor (zartbesaitete Leser dürfen gerne den Blick abwenden): Ich stehe unter der Dusche. Wir schreiben den März 2016, und ich bin daheim in Miami. Es ist der Morgen vor einem ganz besonderen Auftritt – nach Jahren stehe ich zum ersten Mal wieder auf der Bühne, und – was noch wichtiger ist – es ist der erste richtige Auftritt mit einem meiner Söhne, mit dem 14-jährigen Nicholas.

Der Junge wird Schlagzeug spielen, der alte Herr wird singen. Zumindest ist das der Plan.

Spulen wir ein bisschen zurück: 2014 startete Little Dreams USA, der amerikanische Ableger der Stiftung, die meine Ex-Frau Orianne und ich im Jahr 2000 in der Schweiz gegründet hatten. Little Dreams unterstützt Kinder mit Unterricht und bietet ihnen Coaching und Orientierungshilfe in den Bereichen Musik, Kunst und Sport.

Um die Sache in den USA ins Rollen zu bringen und Spenden zu sammeln, hatten wir für Dezember 2014 eine Konzertgala geplant. Doch dann hatte ich mit einer Reihe gesundheitlicher Probleme zu kämpfen. Am Tag des Konzerts war ich körperlich nicht in der Lage zu singen.

Ich musste Orianne anrufen, die Mutter von Nic und seinem Bruder Mathew, der gerade erst zehn geworden war, und ihr mitteilen, dass meine Stimme weg sei und ich nicht auftreten könne. Ich sagte ihr nicht, dass auch mein Selbstvertrauen weg war: Man kann nur eine bestimmte Menge schlechter Nachrichten in ein Telefongespräch mit seiner Ex-Frau packen. Vor allem wenn es die dritte Ex-Frau ist.

Sechzehn Monate später muss ich einiges wiedergutmachen. Aber 2016 ist nicht nur ein neues Jahr, vielmehr habe ich auch das Gefühl, dass ich ein neues Ich habe – ich bin bereit für diesen Auftritt. Ich kann allerdings kein komplettes Konzert geben, daher brauchen wir noch andere Künstler als Verstärkung.

Doch selbst mit dieser musikalischen Unterstützung wird mir bald klar, dass es bei dieser Show hauptsächlich auf … mich hinausläuft. Ein Szenario, das ich aus den 40 Jahren meines Lebens kenne, als eine Tour auf die andere folgte, und aus den 30 Jahren, in der ein Genesis- oder Soloalbum das nächste jagte: Ich werde in eine Rolle hineingedrängt, die ich nicht komplett selbst kontrolliere. Aber da komme ich nicht mehr raus. Nicht, wenn ich meinen 66. Geburtstag noch erleben will.

Einige alte Musikerkollegen werden mich unterstützen und kommen zu den Proben nach Miami, und auch Nic ist dabei. Er weiß, dass wir »In The Air Tonight« spielen werden, aber sobald klar ist, was für ein guter Schlagzeuger er mittlerweile ist, nehme ich noch ein paar Songs dazu: »Take Me Home«, »Easy Lover« und »Against All Odds«.

Die Proben laufen super; Nic hat wirklich seine Hausaufgaben gemacht. Mehr noch – er ist besser, als ich in dem Alter war. Wie bei allen meinen Kindern platze ich fast vor väterlichem Stolz.

Beruhigenderweise fühlt sich meine Stimme dieses Mal gut und kräftig an und klingt auch so. Einmal sagt Gitarrist Daryl Stuermer, ein langjähriger Weggefährte: »Kann ich die Vocals bitte auf dem Monitor haben?« Ein gutes Zeichen – niemand will den Sänger auf dem Monitor, wenn er beschissen klingt.

Am nächsten Morgen, am Tag des Konzerts, stehe ich also unter der Dusche. Und dann ist mein Ohr tot. Und wenn ich nichts hören kann, kann ich natürlich auch nicht singen.

Ich rufe bei einem der vielen medizinischen Spezialisten in Miami an, die ich mittlerweile auf Kurzwahl gespeichert habe. Eine Stunde später sitze ich im Arztzimmer, und ein HNO-Spezialist setzt seinen Spezialsaugapparat, der mich an eine Tunnelvortriebsmaschine erinnert, an meinen beiden Ohren an. Sofortige Linderung stellt sich ein. Noch bin ich also nicht taub.

Auf der Bühne spielen wir an jenem Abend im Jackie Gleason Theater »Another Day In Paradise«, »Against All Odds«, »In The Air Tonight«, »Easy Lover« und »Take Me Home«. Nic, der nach dem ersten Song von der Menge begeistert bejubelt wird, handhabt das alles ganz hervorragend.

Ein Riesenerfolg, viel besser, als ich gedacht hatte – und noch dazu machte der Auftritt richtig Spaß.

Nach dem Konzert bin ich allein in meiner Garderobe. Ich sitze da, nehme alles in mich auf, erinnere mich an den Applaus und denke: »Das habe ich vermisst.« Und: »Ja, Nic ist wirklich gut. Wirklich, wirklich gut.«

Dieses gute Gefühl nach einem Konzert – ehrlich gesagt hatte ich nicht damit gerechnet, dass ich das noch einmal erleben würde. Als ich 2005 meine letzte Solotournee unternahm, 2007 die letzte Tour mit Genesis abschloss und mich 2010 auch davon verabschiedete, neue Alben aufzunehmen, war ich überzeugt, dass es das war. Zu dem Zeitpunkt war ich mit Spielen, Komponieren und Auftritten ein halbes Jahrhundert lang im Showgeschäft aktiv. Die Musik hatte mir mehr gegeben, als ich mir je hätte vorstellen können, sie hatte mir aber auch mehr genommen, als ich je befürchtet hatte. Ich war fertig.

Und doch, hier in Miami, im März 2016, stelle ich fest, dass sie nun etwas ganz anderes bewirkt hat als in den vielen Jahren davor: Anstatt mich von meinen Kindern zu trennen, von Simon, Nic und Matt und ihren Schwestern Joely und Lily, bringt mich die Musik mit ihnen zusammen.

Wenn es etwas gibt, das hilft, die Spinnweben abzuschütteln, dann ist es das gemeinsame Spielen mit den eigenen Kindern. Auch eine Milliarde Dollar würden mich nicht dazu bringen, wieder mit Genesis auf Tour zu gehen. Die Chance, zusammen mit meinem Jungen aufzutreten, schon eher.

Aber bevor wir nach vorne schauen, müssen wir zurückblicken. Wie bin ich hierhergekommen und warum?

Dieses Buch zeigt meine Sicht der Dinge. Dinge, die passiert sind, Dinge, die nicht passiert sind. Ich werde keine alten Rechnungen begleichen, aber einiges richtigstellen.

Als ich mein Leben im Geist noch einmal durchging und meine Vergangenheit betrachtete, gab es natürlich einige Überraschungen. Zum Beispiel wie viel ich gearbeitet hatte. Wer sich an die Siebzigerjahre erinnert, der war eindeutig nicht auf so vielen Genesis-Tourneen wie ich, Tony Banks, Peter Gabriel, Steve Hackett und Mike Rutherford. Und wer sich an die Achtzigerjahre erinnert, dann tut es mir leid wegen des verpatzten Auftritts bei Live Aid.

Im Jahr 2016 haben wir viele Künstler meiner Generation verloren. Anlass für mich, über meine Sterblichkeit und Schwächen nachzudenken. Doch dank meiner Kinder muss ich auch an meine Zukunft denken.

Noch nicht taub. Noch nicht tot.

Das sind keine neuen Gefühle. Der Tod meines Vaters traf mich, den Hippie-Sohn, in dem Moment, als meine Entscheidung, eine Karriere als Musiker einzuschlagen, anstatt mein Leben lang für eine Versicherung zu schuften, erste Früchte trug. Ebenso unerwartet traf mich der Tod von Keith Moon und der von John Bonham, die im Abstand von zwei Jahren starben und gerade einmal 32 Jahre alt wurden. Ich verehrte die beiden. Damals dachte ich: »Die beiden sollten eigentlich ewig leben. Sie sind unverwüstlich. Sie sind Schlagzeuger.«

Mein Name ist Phil Collins, und ich bin Schlagzeuger und weiß, dass ich nicht unverwüstlich bin. Das ist meine Geschichte.

1

Not Drowning But Waving

Oder: Meine Anfänge, meine Kindheit und wie das Verhältnis zu meinem Vater ins Wanken geriet

Wir denken, dass Mütter und Väter alles wissen. Aber in Wirklichkeit machen sie uns etwas vor. Tag für Tag wird improvisiert und aus dem Stegreif reagiert, dazu zeigt man ein freundliches – manchmal auch falsches – Lächeln. Meine ganze Kindheit über hatte ich diesen Verdacht, doch erst als Erwachsenem wurde er mir bestätigt, und das auch nur mit ein bisschen Hilfe von »der anderen Seite«.

An einem grauen Herbstabend des Jahres 1977 gehe ich zu einem Medium. Die Frau lebt im Stadtteil Victoria im Zentrum von London, einem weniger schönen Viertel hinter dem Buckingham Palace, in einer Wohnung hoch oben in einem Betonklotz. Nicht gerade ein Zigeunerwagen, aber ich nehme mal an, so ist sie dem Himmel näher.

Ich habe kein besonderes Faible für Geister – das kommt erst viel, viel später, und dann sind es eher geistige Getränke –, aber meine Frau Andy hat eine gewisse Vorliebe fürs Übersinnliche. Auch meine Mutter ist mit dem Ouija-Brett vertraut. In unserem Haus in einem Vorort am westlichen Stadtrand von London verbrachten meine Mutter, Oma und Auntie Daisy zusammen mit meinen »Onkels« Reg und Len (die gar nicht meine richtigen Onkels waren) Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre so manchen fröhlichen Abend, wenn sie die lieben Verstorbenen aus dem Geisterreich riefen. Das war auf jeden Fall besser als das spärliche TV-Programm, das in Schwarz-Weiß auf dem neumodischen Fernsehgerät flimmerte.

Aber warum suchen Andy und ich Madame Arcati in ihrem Heim über den Wolken auf? Der Grund ist ein unartiger Hund. Ben, unser prächtiger Boxer, hat die schlechte Angewohnheit, einen Stapel Heizdecken unter dem Bett hervorzuzerren. Die Heizdecken haben wir, weil unsere Kinder Joely, fünf, und Simon, ein Jahr alt, vielleicht einmal ein bisschen Wärme brauchen – wenn erst die Zeiten kommen, wo sie nicht mehr ins Bett machen. Mir ist nicht klar, dass in zusammengelegten Heizdecken mehr stecken kann als kuschlige Bettwärme – die geknickten Heizdrähte können durchbrennen und ein Feuer verursachen. Vielleicht weiß Ben das. Doch Andy kommt zu dem Schluss, dass Bens abendliches Ritual auf etwas Übernatürliches hinweist. Unser Hund wird nicht unbedingt hellseherische Fähigkeiten haben, aber vielleicht verbirgt sich hinter seiner Marotte etwas, wovon wir Menschen keine Ahnung haben.

Ich bin damals völlig mit Genesis und unserer Tour beschäftigt – wir haben gerade das Album Wind & Wuthering veröffentlicht, und ich habe erst vor Kurzem die Rolle des Sängers von Peter Gabriel übernommen. Daher stehe ich als Ehemann und Vater nur selten zur Verfügung und fühle mich ständig in der Defensive, wenn es um häusliche oder familiäre Angelegenheiten geht. Also erhebe ich lieber keine Einwände gegen dieses unorthodoxe Unternehmen.

Und so machen wir uns auf den Weg und besuchen ein Medium. Durch die geschäftigen Straßen von Victoria, hinein in den Fahrstuhl des Wohnblocks, ein Klingeln an der Wohnungstür und ein bisschen Small Talk mit dem Ehemann, der sich gerade Coronation Street ansieht. Das alles wirkt nicht gerade spirituell. Endlich reißt er sich vom Fernseher los und nickt mir zu: »Sie empfängt Sie jetzt …«

Eine gewöhnlich aussehende Hausfrau hockt hinter einem kleinen Tisch. Keinerlei Anzeichen übersinnlicher Gaben. Tatsächlich wirkt sie völlig normal, irgendwie sachlich. Das bringt mich völlig aus dem Konzept und enttäuscht mich auch irgendwie. Zu meiner Skepsis gesellt sich nun Verwirrung, gepaart mit einem Hauch von Verdruss.

Laut Andys I-Ging-Lektüre sind es die Geister auf meiner Seite der Familie, die den armen Hund beunruhigen, daher liegt es nun an mir, mich dem Übernatürlichen zu stellen. Mit zusammengebissenen Zähnen erzähle ich dem Medium von Bens nächtlichen Mätzchen. Die Dame nickt ernst, schließt die Augen, legt eine bedeutungsvolle Pause ein und antwortet schließlich: »Es ist Ihr Vater.«

»Wie bitte?«

»Ja, Ihr Vater, und er möchte, dass Sie ein paar Sachen von ihm bekommen: seine Uhr, seine Brieftasche, den Cricketschläger der Familie. Möchten Sie, dass ich seinen Geist bitte, durch mich zu sprechen? Dann können Sie seine Stimme hören. Aber manchmal wollen die Geister nicht mehr gehen, das kann dann ein bisschen lästig werden.«

Ich stottere ein Nein. Die Kommunikation mit meinem Vater war schon schwierig genug, als er noch lebte. Jetzt mit ihm zu reden, fünf Jahre nach seinem Tod an Weihnachten 1972, noch dazu mithilfe einer Hausfrau mittleren Alters als Medium, in einem befremdlich biederen, banalen häuslichen Umfeld in einem Wohnblock mitten in London, wäre einfach zu seltsam.

»Tja, er sagt, Sie sollen Ihrer Mutter Blumen bringen und ihr ausrichten, dass es ihm leidtut.«

Als ziemlich rationaler 26-Jähriger, der es bodenständig und reglementiert liebt – schließlich bin ich Schlagzeuger –, hätte ich das Ganze einfach als Bauernfängerei mit ein bisschen Hokuspokus abtun sollen. Aber ich muss zugeben, dass ein Hund, der jeden Abend elektrische Heizdecken unter einem Bett hervorzerrt, nicht unbedingt von dieser Welt ist. Noch dazu hat Madame Arcati Sachen über meinen Dad gesagt, die sie eigentlich nicht wissen konnte, ganz zu schweigen von dem Cricketschläger. Der Schläger ist schon solange ich denken kann fester Bestandteil der dürftigen Sportausrüstung des Collins-Clans. Abgesehen von den Familienmitgliedern kann das niemand wissen. Ich würde nicht sagen, dass mich Madame Arcati überzeugt hat, aber ich bin fasziniert. Andy und ich verlassen das Vorzimmer des Jenseits und kehren zurück in die reale Welt. Wieder mit festem Boden unter den Füßen, erstatte ich ihr Bericht. Sie antwortet mit einem Blick, den man im Diesseits wie im Jenseits versteht: »Ich hab’s dir doch gleich gesagt.«

Am nächsten Tag rufe ich meine Mum an und berichte ihr von den Ereignissen des Vorabends. Sie pflegt einen unbekümmerten Spiritualismus und ist nicht überrascht, weder von der Botschaft noch von dem Medium.

»Ich wette, er will mir Blumen schicken«, sagt sie mit einer Mischung aus Lachen und missbilligendem Knurren.

Und dann erzählt sie mir alles: Mein Dad, Greville Philip Austin Collins, war meiner Mum, June Winifred Collins (geb.Strange), kein treuer Ehemann. Mit neunzehn begann für ihn der Ernst des Lebens, er ging zu einer Versicherung und arbeitete, wie schon sein Vater, sein Leben lang als Angestellter bei der London Assurance Company in der City of London. Täglich pendelte er mit einem Bowler auf dem Kopf von unserem Vorort ins Stadtzentrum zu seinem Bürojob. Dieses Pendlerdasein nutzte »Grev« dazu, ein Doppelleben mit einer Freundin aus dem Büro zu führen.

Dabei war Dad nicht gerade ein Frauenschwarm oder Herzensbrecher. Er war ein bisschen füllig um die Hüften, und sein Royal-Air-Force-Schnauzbart war wohl als Ausgleich zu seinem schütteren Haupthaar gedacht. Ich komme natürlich ganz eindeutig nach meiner Mutter …

Doch hinter der Fassade des braven Versicherungsangestellten lauerte wohl doch eine Art Don Juan. Mum erzählt mir von einem Vorfall: Alma Cole war eine liebe Kollegin aus dem Spielwarenladen, den Mum für eine befreundete Familie führte. Alma stammte aus Nordengland und hatte bei allem, was sie sagte, einen verschwörerischen Tonfall.

Sie und meine Mum waren eng befreundet, doch eines Tages schnaubte Alma etwas angesäuert: »Ich habe dich und Grev am Samstag im Auto gesehen, und du hast mir nicht zurückgewunken.«

»Ich war am Samstag nicht mit ihm im Auto unterwegs!« Die Beifahrerin war offenkundig Dads Freundin, die er zu einer romantischen Spritztour in unserem schwarzen Austin A35 ausgeführt hatte.

Jetzt, fünf Jahre nach Dads Tod, finde ich es zwar wunderbar, dass sich meine Mutter mir so anvertraut, doch ihre Enthüllungen machen mich auch traurig und wütend. Ich weiß jetzt, dass sich die Ehe meiner Eltern nicht abrupt auflöste, sondern sich totlief, was wohl größtenteils daran lag, dass mein Dad, sagen wir, nicht nur mit den Gedanken woanders war. Seine Untreue war für mich wirklich neu.

Aber wie sollte sie das auch nicht sein? Ich war noch sehr klein, und für mich waren meine Eltern glücklich und zufrieden. Das Leben daheim wirkte ganz normal und ging seinen ruhigen Gang. Geradeheraus und einfach. In meiner Vorstellung waren meine Eltern ihr ganzes Eheleben lang glücklich verliebt.

Aber ich bin nun einmal der Jüngste in der Familie, das Baby, fast sieben Jahre jünger als meine Schwester Carole und neun Jahre jünger als mein Bruder Clive. Bestimmte erwachsene Aspekte des Familienlebens gingen schlicht an mir vorbei. Als ich nun an jenem Abend des Jahres 1977 die Fakten durchgehe, erahne ich im Rückblick eine Art Unruhe im Haus, was mir als Kind jedoch völlig entging. Andererseits könnte man sagen, ich hatte es im Urin: Ich war nämlich peinlich lange ein Bettnässer.

Als ich später Clive die welterschütternde Nachricht mitteile, kommt er ohne Umschweife zur Sache: All diese plötzlichen langen Spaziergänge, die meine Geschwister mit mir unternahmen? Das ausgedehnte, ziellose Umherstreunen zwischen den Fertighäusern auf der Hounslow Heath mit meiner Schwester und meinem Bruder? Das entspricht nicht gerade der Norm einer einfachen, fröhlichen englischen Vorstadtkindheit Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre. Tatsächlich war ich unwissentlich daran beteiligt, die Risse zu übertünchen.

Dass mein Vater mit seinem Ehegelübde allzu leichtfertig umging, ist etwas, womit ich immer noch Schwierigkeiten habe. Seine Missachtung der Gefühle meiner Mutter kann ich einfach nicht verstehen. Und bevor jemand erklärt: »Da nimmt aber jemand den Mund ein bisschen voll, Collins!«, notiere ich fürs Protokoll: Das ist mir auch klar.

Über meine drei gescheiterten Ehen bin ich sehr enttäuscht. Noch enttäuschter bin ich über meine drei Scheidungen. Weniger stört mich die Tatsache, dass mich die Einigung mit meinen Ex-Frauen zig Millionen Pfund kostete. Es stört mich auch nicht, dass diese Beträge in den Medien verbreitet wurden und allgemein bekannt sind. Heutzutage ist nichts mehr privat. Dafür hat das Internet gesorgt. Drei Scheidungen lassen vielleicht vermuten, dass ich eine etwas lässige Einstellung zur Institution Ehe habe, aber das trifft absolut nicht zu. Ich bin ein Romantiker, der glaubt und hofft, dass man die Ehe schätzen und ehren sollte, damit sie Bestand hat.

Aber natürlich beweist meine Scheidungsrate, dass es mir nicht gelungen ist, mit meiner jeweiligen Partnerin glücklich zusammenzuleben und Verständnis für sie aufzubringen. Dass wir es nicht geschafft haben, eine Familie zu werden und es auch zu bleiben. Das ist ein Versäumnis, Punkt. Im Lauf der Jahrzehnte habe ich mein Bestes gegeben, damit jeder Aspekt meines Lebens, privat und beruflich, wie ein Uhrwerk läuft – allerdings muss ich zugeben, dass mein »Bestes« nur allzu oft nicht ausreichte.

Trotzdem weiß ich, was »normal« ist – das ist in meiner DNA angelegt; ich bin damit in den Londoner Vororten aufgewachsen oder zumindest mit dem Anschein davon – und diese Normalität habe ich angestrebt, während ich versuchte, von meiner Musik zu leben.

Was meine persönliche Geschichte angeht, habe ich mich bemüht, ehrlich zu allen meinen Kindern zu sein. Sie sind Teil dieser Geschichte. Sie bekommen die Auswirkungen zu spüren. Sie leben jeden Tag mit den Konsequenzen meiner Handlungen, Unterlassungen und Reaktionen. Ich versuche, so aufrichtig und offen zu sein wie möglich. Auch auf den Seiten dieses Buchs, selbst in Situationen, wo ich mich nicht gerade mit Ruhm bekleckert habe. Als Schlagzeuger komme ich gern auf den Punkt.

Aber zurück zu meiner Mutter: Ihr Stoizismus, ihre Kraft und ihr Humor angesichts meines fremdgehenden Vaters sagen viel über eine Kriegsgeneration aus, die gemeinsam durch dick und dünn gegangen ist und sich bemüht hat, ihr Ehegelübde einzuhalten. Davon kann man lernen, auch (oder gerade) ich selbst.

Wenn ich heute in meinem fortgeschrittenen Alter auf meine Kindheit zurückblicke, erkenne ich gleichwohl emotionale Turbulenzen und eine Verunsicherung, die auf den jungen Phil einwirkten, ohne dass es ihm bewusst war.

* * *

Ich wurde am 30. Januar 1951 im Putney Maternity Hospital geboren, im Südwesten Londons, als spätes – und nach allen Darstellungen – überraschendes drittes Kind von June und Grev Collins. Angeblich ging meine Mum zuerst ins West Middlesex Hospital, aber dort »war man nicht nett zu ihr«, also machte sie kehrt und brachte mich im Putney zur Welt.

Ich war das erste »Londoner« Kind, denn sowohl Carole als auch Clive wurden in Weston-super-Mare geboren, nachdem die komplette Familie von der London Assurance zum Schutz vor dem Bombenkrieg dorthin umgesiedelt worden war. Meine Schwester Carole war nicht erfreut über mich. Sie hatte sich eine Schwester gewünscht. Clive dagegen war überglücklich – endlich ein kleiner Bruder, mit dem man Fußball spielen und raufen konnte und den man, wenn das alles zu langweilig wurde, festhalten und mit seinen stinkenden Socken foltern konnte.

Meine Mutter war bei meiner Geburt 37, mein Vater 45 Jahre alt, was für die damalige Zeit alt war. Doch das störte meine Mum nicht im Geringsten. Sie war ihr ganzes Leben lang eine großzügige und liebevolle Frau, bis zu dem Tag, als sie 2011 im Alter von 98 Jahren an ihrem Geburtstag starb. Sie verlor so gut wie nie ein böses Wort über andere, nur einmal nannte sie einen Londoner Polizisten einen »Trottel«, weil er sie zur Ordnung gerufen hatte, als sie auf der Busspur gefahren war.

Mein Vater, Jahrgang 1907, stammte aus Isleworth, einem damals sehr beliebten Viertel am Westrand von London, direkt an der Themse. Das Haus der Familie war groß, düster, modrig, sehr beeindruckend und ziemlich einschüchternd. Genau wie die Verwandtschaft. An meinen Großvater väterlicherseits, den Versicherungsangestellten, der – wie später sein Sohn – sein ganzes Berufsleben lang bei der London Assurance arbeitete, erinnere ich mich nicht. Doch an meine Großmutter habe ich lebhafte Erinnerungen. Sie war warmherzig, liebevoll und sehr geduldig mit mir, allerdings war sie anscheinend in der viktorianischen Zeit stehen geblieben. Und als wollte sie das noch unterstreichen, trug sie stets ein langes schwarzes Kleid. Vielleicht trauerte sie ja auch noch um Prinz Albert.

Sie und ich standen uns sehr nahe. Ich verbrachte viel Zeit in ihren ewig feuchten Kellerräumen und sah ihr zu, wie sie Boote und den Fluss malte. Die Begeisterung für die Malerei habe ich wohl von ihr geerbt.

Dads Schwester, Tante Joey, war eine imposante Frau, bewaffnet mit einer Zigarettenspitze und einer rauen, kehligen Stimme, die an Madame Medusa in Disneys Bernard und Bianca: Die Mäusepolizei erinnerte:»Liiiiiebling, komm doch herein …« Ihr Mann, Onkel Johnny, war ebenfalls etwas speziell. Er hatte ein Monokel und trug immer Anzüge aus schwerem Tweed – ein weiterer Collins vom Land, den das 20. Jahrhundert vergessen hatte.

Laut der Familiengeschichte waren zwei Cousins meines Vaters im berüchtigten japanischen Kriegsgefangenenlager Changi in Singapur inhaftiert gewesen. Sie genossen großes Ansehen in der Familie – sie waren Kriegshelden, Männer, die den gnadenlosen Krieg in Fernost überlebt hatten. Ein anderer Cousin war angeblich der Erste, der Waschsalons in England einführte. In den Augen von Dads Verwandtschaft hatten sie es alle »zu etwas gebracht«. Oder anders ausgedrückt: Sie waren feine Pinkel. Es heißt sogar, der Autor H.G. Wells habe die Familie Collins regelmäßig besucht.

Dads Familie hat ihn eindeutig geprägt, vor allem auch sein Berufsleben – allerdings fand ich nach seinem Tod heraus, dass er versucht hatte, der London Assurance Company zu entkommen und als Matrose bei der Handelsmarine anzuheuern. Doch das Abenteuer auf hoher See währte nur kurz, ihm wurde gesagt, er solle damit aufhören, sich zusammenreißen und sich dem Joch der Versicherungsgesellschaft beugen, wie es sein Vater für ihn vorgesehen hatte. Anpassung stand damals auf der Tagesordnung. Vor diesem Hintergrund könnte man meinen, dass mein Vater ein bisschen neidisch auf die Freiheit der Sechzigerjahre war, die sich Clive, Carole und mir bei der Berufswahl bot: Karikaturist, Eisläuferin, Musiker. Das sollten richtige Berufe sein? Nicht für meinen Vater.

Es gibt nur wenige Hinweise darauf, dass sich Grev Collins je an das 20. Jahrhundert gewöhnte. Als die britischen Haushalte Gas aus der Nordsee erhielten und alle Boiler umgestellt wurden, versuchte Dad, den Gasanbieter zu bestechen, damit unser Boiler nicht umgebaut würde, als hätte es irgendwo einen Gasometer gegeben, der exklusiv für die Familie Collins Stadtgas bereithielt.

Aus unerfindlichen Gründen machte Dad gern den Abwasch und bestand darauf, das Geschirr nach dem sonntäglichen Familienessen zu spülen. Am liebsten machte er das allein, dann musste er nicht mit den anderen am Tisch sitzen und sich unterhalten. Alles ging gut, bis in der Küche lautes Krachen zu hören war. Die Gespräche verstummten, und Mum ging zu den bodentiefen Fenstern und zog die Vorhänge zu. Wenige Minuten nach dem Krach konnte man Dad laut fluchen hören, dann hörte man das Geräusch von Geschirr in einer Schüssel. Die Hintertür wurde geräuschvoll aufgerissen und das Geschirr in den Garten geschmissen, dann trat Dad draußen vor dem Fenster gegen die Scherben und fluchte noch lauter.

»Euer Vater ermordet die Teller«, erklärte Mum dann müde, während wir Kinder ganz still waren und höchst interessiert die Tischdecke studierten. Ein traditionelles sonntägliches Mittagessen in einer britischen Familie.

Dad war nicht völlig ahnungslos, was Heimwerken betraf, hatte aber kein großes Interesse daran. Ihm genügte es, wenn die Dinge funktionierten, dann war alles in Ordnung. Das galt vor allem für die Elektrizität. Anfang der Fünfzigerjahre waren die Stecker aus braunem Bakelit, und die Kabel waren stoffummantelt. Sie waren nicht unbedingt zuverlässig, und im hinteren Zimmer, wo das Radio stand, hingen an der Steckdose über der Bodenleiste oft fünf oder sechs Stecker in einem Mehrfachstecker. Elektriker nannten die Konstruktion »Weihnachtsbaum«. Unser Mehrfachstecker zischte regelmäßig ein Geräusch, das man im Zusammenhang mit Strom im Haus eigentlich nicht hören will. Als den Ältesten traf es stets Clive, wenn es darum ging, der bereits überladenen Steckdose einen weiteren Stecker anzuvertrauen. Carole und ich sahen fasziniert, aber auch schadenfroh zu, wie er unweigerlich einen leichten Schlag erhielt, der ihm mit heftigem Kribbeln den Arm hinauffuhr.

»Das heißt nur, dass Strom da ist. Das ist kein Problem«, sagte Dad, bevor er sich mit seiner Pfeife hinsetzte und Radio hörte oder fernsah, ohne sich weiter um den armen Clive und seinen qualmenden Arm zu kümmern.

Bevor ich kam, besaß die Familie kein Auto, weil Dad die Führerscheinprüfung erst 1952 bestand, ein Jahr nach meiner Geburt. Es war sein siebter Anlauf. Wenn sich das Auto nicht »benahm«, beschimpfte Dad es in dem Glauben, der streikende Motor wäre Teil einer Verschwörung gegen ihn. Die Szene aus der Kultserie Fawlty Towers, in der John Cleese als Basil Fawlty einen Tobsuchtsanfall bekommt, weil ihm sein treuloser Austin 1100 Countryman den Dienst verweigert, und er wutentbrannt auf ihn einprügelt, bietet ein genaues Abbild unseres Familienlebens.

Als frischgebackener stolzer Autobesitzer beschloss mein Dad eines Tages, mit Carole und mir eine Spritztour im Richmond Park zu unternehmen. Außerdem dachte er, er könnte die Gelegenheit nutzen und ein paar Sicherheits-Checks an seinem neuen Auto durchführen. Ich stand hinten im Wagen, und alles wirkte ganz normal. Doch plötzlich testete Dad ohne Vorwarnung die Bremsen. Ich wurde über die Sitze nach vorne geschleudert. Zum Glück wurde ich vom Armaturenbrett aufgehalten, gegen das ich mit dem Gesicht prallte. Ich habe immer noch die Narben zu beiden Seiten meines Mundes.

Dad war so fest in der Vergangenheit verwurzelt, dass er bei der Einführung der Dezimalwährung 1971 erklärte, das sei sein Tod. Die neue Währung der Nation war eine neue Bedrohung für ihn. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die Abschaffung des Shillings ihm derart zusetzte, dass sie zu seinem frühzeitigen Ableben beitrug.

Mum war ebenfalls eine waschechte Londonerin. Sie wuchs als eine von drei Schwestern, die Näherinnen waren, in der North End Road in Fulham auf. Ihr Bruder Charles wurde als Spitfire-Pilot im Krieg abgeschossen und kam dabei ums Leben. Eine ihrer Schwestern lebte in Australien, wir schickten uns zu Weihnachten immer Tonaufnahmen. Auch sie starb, bevor ich sie kennenlernen konnte. Die reizende Tante Florrie dagegen besuchte ich als Kind jede Woche in ihrer Wohnung am Dolphin Square in Victoria. Meine Großmutter mütterlicherseits, die ich »Nana« nannte, war ein Schatz, ein weiterer starker prägender weiblicher Einfluss auf mein junges Ich.

In den frühen Dreißigerjahren, als meine Mutter noch keine zwanzig war, tanzte sie mit Randolph Sutton, dem Music-Hall-Star, der vor allem durch den Song »On Mother Kelly’s Doorstep« bekannt ist. Mum arbeitete damals in einer Weinhandlung. Dads Familie zeigte ihr immer sehr deutlich, dass er unter seinem Stand geheiratet hatte. Doch als sich die beiden bei einem Bootsausflug in St. Margarets auf der Themse kennenlernten, war es Liebe auf den ersten Blick. Sechs Monate später, am 19. August 1934, heirateten sie. Mum war 20, Dad 28 Jahre alt.

Als ich mehr als 16 Jahre später dazukam, lebte die Familie Collins in Whitton im Bezirk Richmond-upon-Thames. Dann zogen wir in ein großes dreistöckiges Haus in der St. Leonards Road 34 in East Sheen, ebenfalls im Südwesten von London.

Da Mum in Vollzeit im Spielwarenladen arbeitete, kümmerte sich Nana um mich, während Clive und Carole in der Schule waren. Nana vergötterte mich, zwischen uns bestand eine wundervolle, sehr enge Bindung. Bei unseren Spaziergängen schob sie mich im Kinderwagen die Upper Richmond Road entlang und kaufte mir beim Bäcker immer ein Brötchen für einen Penny. Dass ich mich an diese tägliche Leckerei so lebhaft erinnere, spricht Bände über meine enge Beziehung zu meiner Nana.

Dad war eindeutig kein Mann des Fortschritts und für Veränderungen einfach nicht zu haben, zumindest nicht nach außen. Das ging so weit, dass meine Mutter, als sie ihn fragte, ob wir nicht von der St. Leonards Road in ein etwas größeres, etwas weniger feuchtes Haus ziehen könnten, zur Antwort erhielt: »Wenn du willst, kannst du umziehen. Aber du musst ein Haus finden, das nicht mehr kostet als das, was wir für das jetzige Haus beim Verkauf bekommen; ich gehe am Morgen zur Arbeit, und wenn ich am selben Tag in unser neues Haus komme, ist alles schon an seinem Platz.« Und so geschah es auch, denn meine Mum, Gott segne sie, schaffte das tatsächlich.

Weshalb ich mich im Alter von vier Jahren in der Hanworth Road 453 in Hounslow wiederfinde – in dem Haus, das meine patente Mutter für uns auftat und wohin sie mit uns an einem einzigen Tag umzog.

Wie das so geht, erscheint einem das Haus, in dem man lebt, als Kind riesig. Ein späterer Besuch kann dann ein ziemlicher Schock sein. Wie haben wir da alle hineingepasst? Mum und Dad haben das große Schlafzimmer, das ist klar, daneben ist ein kleines Zimmer für Carole. Clive und ich haben das Zimmer nach hinten raus und schlafen in Stockbetten. Unser Zimmer ist so klein, dass wir rausgehen müssen, um auf andere Gedanken zu kommen. Es ist kaum genug Platz, um unter meinem Bett die Sammlung von Softpornoheftchen zu verstecken, die irgendwie in meinen Besitz gelangt ist. Wir teilen uns meine ganze Kindheit hindurch dieses Kämmerchen, bis Clive 1964 mit zweiundzwanzig auszieht.

Anfang der Fünfzigerjahre geboren zu werden bedeutet, in einem London aufzuwachsen, das sich immer noch von Hitlers Bombardements erholen muss. Dennoch habe ich keine Erinnerungen an Bombentrichter oder Trümmergrundstücke in unserem Viertel.

Ich erinnere mich nur an ein einziges Mal, bei dem ich so etwas wie die Folgen der Bombenangriffe sah, und das war bei einem Familienausflug in die City zu einer von Dads Büro-Aufführungen. Die London Assurance Company inszenierte mit ihrer Theatergruppe Stücke, und die Familie machte sich pflichtgetreu auf den langen Weg von Hounslow über Cripplegate in den Finanzdistrikt von London. Meine Erinnerungen an diese Fahrten sind durchsetzt von Bildern mit eingeebneten Trümmergrundstücken an der alten London Wall, ähnlich denen, die man aus dem Film Hue and Cry (Die kleinen Detektive) der Ealing Studios von 1947 kennt, einschließlich der Straßenkinder, die zwischen den Trümmern spielten.

Tatsächlich entsprach das London meiner Kindheit dem London der Ealing Studios oder der Stadt meines Komödienhelden Tony Hancock, der unter der fiktiven Adresse Railway Cuttings 23 in East Cheam wohnte. Es gab keinen nennenswerten Verkehr, nicht einmal im Zentrum von London, und schon gar keine Staus oder Parkprobleme – ich habe Amateurfilmaufnahmen von Onkel Reg und Onkel Len von der Great West Road, darauf kann man die vorbeifahrenden Autos zählen. Gentlemen mit Bowler-Hüten strömen in Scharen über die Waterloo Bridge. Wuselnde Fußballfans drängen sich um einen Mann. Ferien am Meer – in unserem Fall in Bognor Regis in Essex oder Selsey Bill in Sussex –, bei denen sich die Männer in Urlaubsstimmung versetzten, indem sie vielleicht den Hemdkragen und die Krawatte etwas lockerten. Das allwöchentliche Familienritual, wenn sich die Familie jeden Samstag um 16.45 Uhr mit Tee, Toast und Schmalz um den Fernseher versammelte und auf die Fußballergebnisse wartete. Ein Blick in die große weite Welt eröffnete sich mit dem Disney-Film Davy Crockett, König der Trapper von 1955, für mich ein Moment der Offenbarung, der ein lebenslanges Interesse an der Schlacht von Alamo weckte.

In gewisser Weise ein Idyll, verbunden mit einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort. Meine Zeit, mein Ort, mein eng definiertes Fleckchen Erde.

Hounslow liegt am Rand der Grafschaft Middlesex, wo die Hauptstadt auf die Peripherie trifft. Das westlichste Extrem, der letzte Halt an der Piccadilly Line der U-Bahn. Alles andere als der Nabel der Welt. 45 Minuten mit dem Zug bis ins West End. London, aber nicht so richtig London. Nicht so recht dies, nicht so recht das.

Was für ein Gefühl ist es, an der Endstation aufzuwachsen? Tja, alles erfordert einen Fußmarsch, dann eine Busfahrt, wieder einen kleinen Fußmarsch, dann den Zug. Alles ist mit Anstrengung verbunden. Also sorgt man selbst für Unterhaltung. Leider ist der Spaß, den einige Kinder haben, kein Spaß für mich.

In der Nelson Infants School werde ich regelmäßig von Kenny Broder drangsaliert, einem Schüler der St. Edmunds Primary School, die blöderweise direkt auf der anderen Straßenseite liegt. Wie ich ist auch er erst zehn, hat aber das Gesicht eines Boxers, mit hohen Wangenknochen und einer Nase, die schon einiges mitgemacht hat. Mit Schrecken denke ich schon während des Unterrichts daran, dass Broder zur selben Zeit Schulschluss hat wie ich. Er starrt mich auf dem ganzen Heimweg an, stumm drohend, gewalttätig. Mir kommt es so vor, als werde immer auf mir herumgehackt – und immer völlig grundlos. Habe ich eine Zielscheibe auf der Stirn, ein »Tritt mich!«-Schild hinten an der Hose?

Selbst meine erste Erfahrung mit dem anderen Geschlecht wird durch gewaltbereite Schulkameraden verdorben. Ich führe Linda, meine erste Freundin, auf den Jahrmarkt in der Hounslow Heath aus, die Hosentaschen vollgestopft mit mühsam ersparten Kupfermünzen, die uns eine Rutschpartie auf dem Helter Skelter oder eine Runde Autoscooter ermöglichen, je nachdem, wo die Schlange kürzer ist. Doch kaum sind wir dort, stellen sich mir die Nackenhaare auf: »Oh Gott, da ist Broder mit seiner Gang.«

In der Annahme, in erhöhter Position sicherer zu sein, besteige ich mit Linda das Karussell. Doch während sich die galoppierenden Pferde im Kreis drehen, ernte ich jedes Mal, wenn wir an den Jungs vorbeikommen, böse Blicke, und jedes Mal scheint die Gang größer zu werden. Mir blüht eine Abreibung, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Und tatsächlich, sobald ich vom Karussell steige, stolziert Broder herbei und schlägt zu. Als tapferer Cowboy bemühe ich mich, nicht zu weinen. Ich komme mit einem geschwollenen Auge, das bald blau werden wird, vom Jahrmarkt nach Hause. Meine Mutter fragt: »Was ist mit dir passiert?«

»Ich wurde verprügelt.«

»Warum, was hast du angestellt?«

Als wäre es meine Schuld gewesen.

Trotzdem schaffe ich es mit zwölf, meine Jungfräulichkeit, was Prügeleien angeht, im Park neben dem Spielzeugladen meiner Mutter zu verlieren. Hier versammeln wir uns immer – neben einem klobigen Pferdetrog aus vergangenen Zeiten und einer Auffahrt, wo die Oberleitungsbusse der Linie 657 wenden. Denn wir wohnen, falls das jemand vergessen haben sollte, an der Endstation.

Der Park ist unser Revier. Ich habe keine richtige Gang. Wir sind nur eine Gruppe Jugendlicher, die gern harte Kerle wären und ihr Revier verteidigen. Vor allem, wenn ein paar größere Jungs in der Nähe sind, die uns den Rücken stärken.

Eines Tages dringt eine Gruppe anderer Jungs in den Park ein. Schwere Beleidigungen gehen hin und her: »He, du Knallkopf, du hast hier nichts verloren!« »Hast du ein Problem?« Wie bei den Sharks und den Jets in der West Side Story, nur mit weniger Jazzgedudel. Das Gezanke setzt sich fort, schon bald prügle ich mich mit einem anderen Jungen, zerre an ihm und schlage auf ihn ein. Nach einer Weile hören wir auf. Wir kommen nicht weiter. Gleichstand. Vielleicht hat einer Nasenbluten.

Wir haben beide das Gefühl, dass wir ehrenvoll gekämpft haben und die Sache abgeschlossen ist. Aber dann kommen die älteren Jungs und bestehen darauf, dass wir unseren Vorteil nutzen. Sie entlocken mir, wo sich die Eindringlinge aufhalten. Big Fat Dave – den man normalerweise nicht direkt so nennt, ich schon gar nicht – macht sich auf, um dem anderen Jungen »eine Abreibung zu verpassen«. Mein Rufen »Stopp, wir waren uns einig, dass es unentschieden ausging!« interessiert ihn nicht. Ich fühle mich furchtbar, denn aus einigem Abstand sehe ich, wie Big Fat Dave auf dem Fahrrad meines Gegners herumtrampelt, das gegenüber abgestellt ist, vor dem Süßwarenladen. Nun ja, wenigstens werden sich die anderen nicht so schnell wieder mit Hounslow anlegen.

In der Ödnis der Vorstadt sind wir scharf auf jede Abwechslung. Das hat den Nachteil, dass es häufig zu Rangeleien unter Schuljungen kommt, Gewalt, verursacht durch Langeweile. Mein Vorteil ist, dass meine Mutter einen Spielwarenladen führt, das heißt, ich habe freien Zugriff auf neue Spielsachen, sobald sie geliefert werden. Ich kriege sie nicht geschenkt, habe aber freie Auswahl. Ich sammle Modellflugzeuge, und wenn neue Modellbausätze von Airfix eintreffen, kreise ich darüber wie eine Lancaster über dem Ruhrgebiet.

Die Umgebung des örtlichen Pubs, des Duke Of Wellington, wird schon bald zum Treffpunkt. Ich freunde mich mit dem Sohn des Wirts, Ken Salmon, an. Charles ist ein bisschen jünger als ich, aber wir werden schnell Freunde. Als Teenager entwickeln wir gemeinsam schlechte Angewohnheiten, besorgen uns Alkohol aus dem Spirituosenladen des Pubs und klauen, wenn Charles’ große Schwester Teddy am Ausschank steht, dutzendweise Zigaretten. Wir verziehen uns in den Schuppen im Garten und rauchen, bis uns schlecht ist. Ich paffe Zigarren, Zigarillos, französische Zigaretten, alles. Mit fünfzehn rauche ich Pfeife wie mein Dad.

Außerdem freunde ich mich mit Arthur Wild und seinem jüngeren Bruder Jack an, Jungs aus dem Ort. Die Wege von Jack und mir kreuzen sich später noch einmal: Als Kinderdarsteller stehen wir im West End gemeinsam auf der Bühne, er spielt Charley Bates, den besten Freund von meinem Artful Dodger, in dem Musical Oliver! Doch er übertrumpft mich noch, denn in der Verfilmung von Carol Reed aus dem Jahr 1968, die sechs Oscars gewinnt, spielt er den Dodger.

Das also ist mein Leben hier an der Endstation. Ich habe keine Ahnung, was in der Welt läuft, weiß nicht einmal, was ein Stück weiter die Straße hoch passiert. Hounslow endet, und dann … London? Das ist eine andere Welt. Das Stadtzentrum, wo Dad arbeitet, kommt in meinem Denken gar nicht vor.

Wie bei jedem kleinen Jungen spielt Fußball eine große Rolle in meinem Leben. In den frühen Sechzigern bin ich ein großer Fan von Tottenham Hotspur und vergöttere Jimmy Greaves, »die Tormaschine«. Ich kann immer noch alle Mitglieder der damaligen Mannschaft aufzählen, so groß war meine Verehrung. Aber die Spurs sind ein Club in Nord-London, und Nord-London liegt praktisch auf dem Mars. Ich würde mich nie so weit aus meiner Sicherheitszone hinauswagen.

Der nächste große Club – von Hounslow aus gesehen – ist der Brentford FC, deshalb gehe ich regelmäßig zu seinen Spielen. Ich sehe mir sogar das Training an und bin überall auf dem Clubgelände bekannt. Manchmal gehe ich auch zu einem Spiel des Hounslow FC, aber das ist ein eher niedriges Niveau. So niedrig, dass eines Tages bei einem Spiel die gegnerische Mannschaft einfach nicht auftaucht.

Ein wenig erweitert wird mein Horizont durch die Themse. Mein Dad legt selten Leidenschaft an den Tag, doch das bisschen Enthusiasmus, das er aufbringt, ist für Flüsse und Bäche reserviert.

Grev und June Collins sind beide leidenschaftliche Bootsfans und engagierte Mitglieder des neu gegründeten Converted Cruiser Clubs. Sie gehören einem großen Kreis von Themsefreunden an, darunter auch Reg und Len Tungay, die beiden bereits erwähnten sogenannten Onkel. Die beiden Brüder besitzen auch ein Boot, die Sadie. Auch Sadie ist eine Kriegsveteranin, gehörte zur Dünkirchen-Flotte und ist groß genug, dass wir darauf übernachten können, was ich oft und gerne tue.

Die meisten Wochenenden und manch ein Donnerstag (der Tag, an dem die Clubmitglieder abends zusammenkommen) werden in Gesellschaft anderer Flussfreunde mit Booten verbracht: Man trifft sich im provisorischen Clubhaus oder an irgendeinem Anlegeplatz, wo man einfach zum Vergnügen rudert und »Spaß auf dem Fluss« hat, wie es in dem Song »Messing About On The River« von Josh MacRae heißt. Allerdings wurde mehr darüber geredet als tatsächlich auf dem Fluss gepaddelt. Schon bald teilte ich die Begeisterung meines Vaters für das Leben auf dem Wasser.

Einmal im Jahr versammeln sich die Clubmitglieder mit ihren geliebten Booten bei der Themseinsel Platt’s Ait in Hampton. Ein Wochenende lang gibt es Ruderwettkämpfe, Tauziehen und Knotenknüpfen um die Wette. Ich kann schon als kleiner Junge mit dem Tau umgehen und ein Beiboot rudern und hatte nie Angst vor dem Wasser. Für einen kleinen Kerl wie mich ist das sehr aufregend, außerdem sorgt es für ein großartiges Kameradschaftsgefühl. Heute mag das ein bisschen langweilig klingen, aber damals war es anders. Ich bin sogar ein bisschen stolz, dass meine Schule den Namen von Admiral Nelson trägt.

Noch eine kleine Nebenbemerkung zum Wasser und zu seinem Einfluss auf unsere Familie: Mein Dad hat nie schwimmen gelernt. Sein Vater hatte ihm eingebläut, dass er nie tiefer als bis zur Hüfte ins Wasser dürfe, sonst würde er ertrinken. Er glaubte ihm. So viel zu dem Mann, der von zu Hause weglaufen und zur Handelsmarine gehen wollte.

Auf die eine oder andere Art spielt der Fluss eine große Rolle in meinen frühen Jahren. An den Wochenenden nehme ich mir oft ein Ruderboot und paddle zwischen den Brücken herum. Damals verfügt der Converted Cruiser Club noch nicht über ein eigenes Clubhaus, deshalb treffen sich die Mitglieder in Dick Waite’s Boatyard am Ufer von St. Margarets, wo auch das kleine Motorboot meines Vaters liegt, dem er den Namen Teuke gegeben hat. Später kaufte Pete Townshend das Grundstück und richtete dort sein Meher-Baba-Tonstudio ein. Ich habe ein altes Foto von mir auf dem Arm meiner Mutter genau an der Stelle, also machte ich einen Abzug für ihn. Pete, stets ein Gentleman, schrieb mir zum Dank einen reizenden sentimentalen Brief. Ich glaube, das Foto hängt immer noch bei ihm im Studio.

Ende der Fünfzigerjahre pachtet der Club ein Grundstück auf Eel Pie Island für einen Penny im Jahr. Ich verbringe viel Zeit dort, helfe beim Bau des Clubhauses und stehe später bei den Theateraufführungen und musikalischen Komödien der Mitglieder auf der Bühne. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich an diesem berühmten Veranstaltungsort in der Mitte der Themse – Ursprung der British Blues Explosion in den Sechzigern – lange vor den Rolling Stones, Rod Stewart und The Who aufgetreten bin.

Auftritt von links: Der junge Phil Collins, ein blond gelockter, pausbäckiger Engel von etwa fünf Jahren, in der Rolle des Humpty Dumpty. Zu meinem frühen Bühnenrepertoire gehört auch schon bald ein hervorragender Buttons, eine Figur aus dem Volksstück Cinderella. Ich habe meine Berufung gefunden …

Noch nicht so ganz. Ich vertreibe mir einfach die Zeit am Fluss. Doch die regelmäßigen Aufführungen im Bootshaus bieten mir die Gelegenheit, zum ersten Mal vor Publikum Schlagzeug zu spielen. Es gibt Bildmaterial vom zehnjährigen Phil, der bei den Derek Altman All-Stars mitspielt, angeführt vom Maestro am Akkordeon. Auch Carole und Clive sind mit dabei und treten in komischen Sketchen auf. Und Mum singt inbrünstig: »Who’s Sorry Now?«

Im Grunde gehört die ganze Familie zu der Ufer-Truppe. Dad gibt regelmäßig seinen Evergreen über einen Farmer zum Besten, bei dem er jede Menge ordinärer Geräusche macht, um die Tiere nachzuahmen. Noch heute unterhalte ich meine Jüngsten mit dem Lied: »There was an old farmer who had an old sow …« (untermalt mit verschiedenen Furzgeräuschen).

Bei diesen seltenen Gelegenheiten legt Dad Bowler-Hut, Anzug und Krawatte ab und wird zum charmanten Schlawiner. Ich habe nur wenige detaillierte Erinnerungen an meinen Dad, ob glückliche oder andere. Die Bilder, die mir geblieben sind, habe ich später zu einem Song verarbeitet, »All Of My Life« auf dem 1989 erschienenen Album … But Seriously: Dad kommt von der Arbeit nach Hause, zieht sich um, setzt sich an den Tisch zum Abendessen und schaut anschließend fern, nur mit seiner Pfeife als Gesellschaft. Mum ist ausgegangen, und ich bin oben und höre Schallplatten.

Wenn ich mir das heute in Erinnerung rufe, überkommt mich Trauer. Es gibt so vieles, das ich meinen Vater hätte fragen können; wenn ich nur gewusst hätte, dass ich ihn schon mit einundzwanzig verlieren würde. Es gab schlicht keine große Nähe zwischen uns, keinen Dialog. Vielleicht habe ich die Erinnerungen gelöscht. Vielleicht hat es sie nie gegeben.

Woran ich mich lebhaft erinnere, ist mein Bettnässen. Ich schlief lange mit einem Gummilaken unter dem Leintuch. Wenn mir »ein Malheur« passierte, verhinderte das Gummilaken, dass die Feuchtigkeit in die Matratze eindrang, allerdings musste ich dann in einer Pfütze aus Urin schlafen. Was macht man in solch einer Situation? Man steht auf, schläft bei den Eltern und nässt deren Bett ein. Damit habe ich mich bei meinem Vater bestimmt besonders beliebt gemacht. Wir hatten in unserer kleinen Doppelhaushälfte keine Dusche, und ein Bad am frühen Morgen war nicht üblich, daher fürchte ich, dass mein Dad einige Jahre lang jeden Morgen dezent nach Urin roch, wenn er zur Arbeit ging.

Vielleicht war es unvermeidlich, dass mein Dad, auch wenn er den Fluss so sehr liebte, manchmal gefühllos handelte. Ich habe sogar filmische Beweise. In einem Amateurfilm, den Reg Tungay gedreht hat, sieht man, wie mein Dad und ich am Ufer von Eel Pie Island stehen. Ich bin damals etwa sechs Jahre alt. Unter mir fällt die Böschung viereinhalb Meter steil zur Themse ab.

Ich weiß heute so gut wie damals: Die Themse ist ein sehr gefährlicher Fluss. Es gibt unglaublich starke Unterströmungen und Gezeitenschwankungen. Ziemlich häufig werden an den Schleusentoren der Brücke in St. Margarets Leichen angetrieben. Wie alle Mitglieder des Converted Cruiser Club wissen, ist mit der Themse nicht zu spaßen.

Auf den alten Filmaufnahmen sieht man, wie mein Vater abrupt kehrtmacht und weggeht. Er sagt eindeutig nichts zu mir. Warnt mich nicht, zeigt keine Besorgnis. Er lässt mich einfach am Rand der Klippe stehen. Es geht hässlich steil hinunter zu einem steinigen, wellengepeitschten Strand. Wenn ich hinunterfiele, würde ich mich schwer verletzen, womöglich würde ich sogar weggeschwemmt. Aber Dad lässt mich einfach im Stich, blickt sich nicht einmal mehr nach mir um.

Ich will damit nicht sagen, dass ich ihm egal war, ich glaube, dass er manchmal einfach nicht an uns dachte. Wahrscheinlich war er mit seinen Gedanken woanders, als er mich auf der Klippe über der Themse zurückließ. Er machte uns etwas vor.

Als Erwachsener mache ich so etwas später auch. Teilweise auf eine positive, kreative Art – ich bin Songschreiber und Künstler, da gehört es einfach dazu, dass man sich Sachen ausdenkt. Aber auch auf negative Art, das gebe ich zu. Während ich fast vier Jahrzehnte lang nahezu unablässig weltweit unterwegs war, mit Genesis und als Solokünstler, hielt ich die Fiktion aufrecht, dass ich eine solide Existenz als Familienvater führen und gleichzeitig meine Karriere als Musiker weiterverfolgen könnte.

Wir Mütter und Väter, wir wissen nicht alles. Bei Weitem nicht.

2

Einem anderen Takt folgen

Oder: Die Abenteuer eines naiven Jugendlichen in den Sechzigern, der unbedingt auf die Bühne und Schlagzeug spielen will

Der Weihnachtsmann ist an allem schuld. Ja, ich gebe dem großen bärtigen Kerl im roten Mantel die Schuld. Das ist mein Erklärungsversuch für den Ursprung einer lebenslangen Leidenschaft, einer instinktiven Gewohnheit, deretwegen ich mal mehr, mal weniger genüsslich auf sämtlichen Gegenständen in meiner Reichweite herumklopfe, bis zu jener schicksalhaften Zeit, etwa ein halbes Jahrhundert später, als mich zuerst der Körper im Stich lässt und dann auch der Mut verlässt.

Als machte ich – ein typisches tyrannisches Kleinkind – nicht schon genug Krach, bekomme ich mit drei Jahren zu Weihnachten ein Kinderschlagzeug aus Plastik geschenkt. Die Familie Collins ist, wie oft an Weihnachten, bei Reg und Len Tungay. Bei meinem neuen Schlagzeug wird jedem in meinem Umfeld sofort und lautstark klar, dass ich davon begeistert bin. Man könnte auch sagen, dass es mich völlig mit Beschlag belegt hat. Trotz meiner jungen Jahre habe ich keinen Zweifel daran, dass mein neues Spielzeug einfach genial ist. Ich kann jetzt »kommunizieren«, indem ich auf etwas einprügle und so zeige, was ich auf dem Herzen habe.

Die Brüder Tungay, häufige Besucher in der Hanworth Road 453, vor allem zum sonntäglichen Mittagessen – die allwöchentliche Gelegenheit für meine Mum, sämtliches Grünzeug gewissenhaft so lange zu kochen, bis es grau ist –, erkennen sofort meine Begeisterung für Percussion und Rhythmus. Die Meinung meines Vaters zu dem Thema war ihnen möglicherweise weniger klar.

Als ich fünf bin, bauen Reg und Len eine Art Schlagzeug für mich. Zwei Holzlatten werden zu einem Querstück verschraubt. In jede Latte wird ein Loch gebohrt, da hinein kommen vier Stangen. Die Stangen krönen zwei Keksdosen aus Blech, eine Triangel und ein billiges Plastiktamburin. Das alles lässt sich zusammenklappen und passt dann genau in einen braunen Koffer.

Es als »Schlagzeug« zu bezeichnen ginge zu weit. Es ähnelt eher einem dieser verrückten Apparate des Zeichners Heath Robinson als einem Drum Kit von Buddy Rich.

Aber ich bin im siebten Himmel, und mein Krach-Bumm-Zack-Gerät wird in den kommenden – geräuschvollen – Jahren als mein Musikinstrument und bester Freund fungieren.

Ich übe überall und ständig, aber meistens im Wohnzimmer, wenn gerade jemand fernsieht. Ich setze mich in die Ecke und spiele zur obligatorischen TV-Unterhaltungsshow der Fünfzigerjahre, der Revuesendung Sunday Night At The London Palladium. Mum, Dad, Reg, Len, Clive und Carole ertragen geduldig mein ungeübtes Geklopfe, während sie versuchen, den Scherzen der Komiker Norman Vaughan und Bruce Forsyth oder den Auftritten der Musiker der Vor-Rock-’n’-Roll-Ära zu folgen, die in der jeweiligen Woche zu Gast sind.

Ich trommle zu The Harmonics und ihren zahlreichen Mundharmonikas. Ich liefere ein Bumm-Tssssch zu den Pointen der Komiker. Ich begleite das Jack Parnell Orchestra bei der Eingangs- wie bei der Abspannmelodie. Es muss nicht einmal irgendeine Nummer im Programm sein. Ich spiele alles zu allem. Ich bin ein vielseitiger Auftragsdrummer, schon damals.

In der Pubertät wird meine Hingabe nur noch stärker. Stück für Stück stelle ich mir ein halbwegs anständiges Schlagzeug zusammen. Auf die Snare Drum folgt ein Becken, danach eine Bass Drum, die ich einem Nachbarn von gegenüber abkaufe. Damit komme ich über die Runden, bis ich zwölf bin. Dann – in der Blüte meiner Teenager-Jahre – sagt meine Mum, sie zahlt die Hälfte, wenn ich mir ein richtiges Schlagzeug kaufe.

Wir schreiben das Jahr 1963, und die Swinging Sixties sind in vollem Gang. Die Beatles sind gelandet, die Zukunft kann kommen. Ihre erste Single »Love Me Do« erscheint im Oktober 1962, und sofort hat mich die Beatlemania gepackt. Ich bringe ein enormes Opfer: Ich verkaufe die Modelleisenbahn meines Bruders, um damit für meine Hälfte des Deals mit meiner Mutter aufzukommen. Ich komme gar nicht erst auf die Idee, dass ich Clive vielleicht hätte um Erlaubnis fragen sollen.

Ausgestattet mit 50 Pfund, gehen meine Mutter und ich zu Albert’s Music Shop in Twickenham und kaufen ein vierteiliges Drum Kit von Stratford in Perlweiß. Es ist das Schlagzeug, das auf dem Coverfoto meines 2010 erschienenen Albums Going Back zu sehen ist und mich als 13-Jährigen zeigt.

Ich habe das Gefühl, dass sich mein Schlagzeugspiel verbessert, nicht zuletzt deshalb, weil ich spiele, wann immer es möglich ist. Ich bin mir sicher, dass ich schon 10000 Stunden in mein Spiel investiert habe, noch bevor ich ein Teenager bin, wie unsere Nachbarn in der Hanworth Road 451 und 455 sicher bestätigen können. Daheim lasse ich für mein Schlagzeug fast alles andere stehen, was auch meinen Lehrern an der Nelson Infants School und später an der Chiswick County Grammar School, die meine Hausaufgaben benoten, nicht entgeht.

Aber ich bin kein trommelnder Trottel: Ich bestehe mein 11-Plus-Examen am Ende der Grundschulzeit. Dadurch kann ich die damals ziemlich durchschnittliche Gesamtschule umgehen und auf die Grammar School wechseln.

Trotzdem muss ich zugeben, dass ich die Zeit, die ich in meinem Zimmer verbringe, kaum zum Lernen nutze. Mein Schlagzeug beherrscht den Raum, dort sitze ich und trommle und trommle und trommle, direkt vor dem Spiegel. Zum Teil aus Eitelkeit, aber auch wegen des Lerneffekts. Fasziniert studiere ich Ringo Starr beim Spielen, und wenn ich schon nicht so klingen kann, vielleicht kann ich dann wenigstens so aussehen wie er. Dann landen die Rolling Stones mit ihrer dritten Single »Not Fade Away« auf Platz drei der Charts, und jugendlich wankelmütig kopiere ich von nun an Charlie Watts.

Doch bei all meiner Begeisterung fürs Schlagzeug entwickle ich noch ein anderes Interesse: die Schauspielerei. Die Saat dafür wurde bei den Aufführungen im Bootsclub gelegt, in der Isleworth Scout Hall, als ich das Publikum in so tragenden Rollen wie Humpty Dumpty und Buttons begeisterte. Bei einer dieser herausragenden Aufführungen ging mein Dad in seinem Kostüm als Sir Francis Drake nach draußen, um frische Luft zu schnappen. Neben der Halle befand sich eine alte Kirche mit einigen offenen Gräbern (eine kleine Aufmerksamkeit von Adolf und seinen Bomben). Mein Pfeife rauchender Vater, umwabert vom mitternächtlichen Flussnebel, sah aus wie ein Geist, der gerade einem der Gräber entstiegen ist. Ein vorbeikommender Motorradfahrer erfasste die Gestalt mit seinem Scheinwerferkegel. Er bremste scharf, machte auf der Stelle kehrt und erstattete Meldung bei der örtlichen Polizei. Die wiederum meldete den Vorfall der örtlichen Tageszeitung. Und prompt lautete anderntags die Schlagzeile in der Richmond and Twickenham Times: »Geist von Sir Francis Drake in Isleworth gesichtet«.

Etwa zu der Zeit unternehme ich einen peinlichen, doch glücklicherweise kurzen Ausflug ins Model-Business und posiere für Werbefotos. Zusammen mit einem halben Dutzend anderer Knaben, die alle gedankenvoll ins Nichts starren, präsentiere ich Kinderkleidung und schmücke Strickanleitungen. Mit meinem schnittigen blonden Pony und dem pausbäckigen Lächeln trage ich einen umwerfenden Schlafanzug, und auch die Strickpullover machen sich an mir hervorragend.

Meine Mutter ist wohl immer noch ganz betört von meiner an Shakespeare gemahnenden Darstellung des Humpty Dumpty und schwer beeindruckt von meinem Proto-Zoolander-Auftritt als Model. Sie zwingt mich, meine Samstagvormittage mit Sprechunterricht zu verbringen, der in einem trostlosen Kellergeschoss in der Jocelyn Road in Richmond stattfindet, bei einer Lehrerin namens Hilda Rowland. Linoleumboden, Ballettspiegel an der Wand und der schwache Geruch weiblicher Hormone in der Luft. Mrs. Rowland hat eine »spezielle« Freundin, Barbara Speake, die 1945 in Acton eine Tanzschule gegründet hat. Meine Mum freundet sich mit Miss Speake an. Seit sie nicht mehr den Spielwarenladen leitet, weiß sie nicht so recht, was sie anfangen soll, also arbeitet sie mit Miss Speake zusammen und gründet eine an die Schule angeschlossene Theateragentur. June Collins vermittelt Kinder, die singen und tanzen können, an das Londoner West End und an die aufkommende Fernseh- und Filmwerbebranche.

In den Anfangszeiten der Fernsehwerbung besteht ein großer Bedarf an schauspielernden Kindern. Der Junge für die Milky-Bar-Werbung ist ihr größter Coup. Mit der Besetzung dieser und anderer Werbespots findet meine Mutter eine neue Aufgabe: Sie entscheidet, welches der von ihr vertretenen Kinder am besten zu den Anfragen passt. Sie stürzt sich voller Elan in diese Aufgabe. 1964 erfährt sie, dass für das Musical Oliver! Kinderdarsteller gesucht werden. Die erfolgreiche Adaption des Charles-Dickens-Romans Oliver Twist von Lionel Bart läuft bereits im vierten Jahr und wird insgesamt zehn Jahre lang Erfolge feiern. Ich spreche für die Rolle des Artful Dodger vor, die der spätere Monkee Davy Jones bereits gespielt hat und die er auch in der Broadway-Fassung noch spielen wird.

Nach mehrmaligem Vorspielen und einem Recall nach dem anderen werde ich tatsächlich genommen. Ich bin völlig aus dem Häuschen. Meiner Meinung nach ist der mit allen Wassern gewaschene, witzige Dodger die beste Kinderrolle in dem Stück. Oliver, dieser einfältige Saubermann? Fehlanzeige!

Ich bitte um einen Termin beim Rektor der Chiswick County Grammar School, um ihm die gute Nachricht zu überbringen. Mr. Hands versetzt die gesamte Schülerschaft in Angst und Schrecken. Er ist ein strenger Pädagoge der alten Schule, dessen wehender Talar an Fledermausflügel erinnert, wenn er in die Aula stürmt, den Doktorhut fest auf dem Kopf, mit rosigen Wangen, bereit für einen weiteren Tag disziplinierten Lernens.