Da waren's nur noch zwei - Mel Wallis de Vries - E-Book
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Da waren's nur noch zwei E-Book

Mel Wallis de Vries

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Beschreibung

Kim, Feline, Abby und Pippa: Die vier Freundinnen wollen gemeinsam ein paar Tage Urlaub in einem einsam gelegenen Ferienhaus machen. Doch dann hört es nicht mehr auf zu schneien und die vier sitzen fest. Auf engstem Raum werden die Spannungen zwischen den Mädchen immer deutlicher, denn jede von ihnen hat etwas zu verbergen. Als sie Spuren im Schnee entdecken, fühlen sie sich beobachtet und bekommen es mit der Angst zu tun. Aus der Angst wird Gewissheit, als sie Geräusche im Haus hören. Und dann verschwindet Kim ... Ein Krimi mit Gänsehautgarantie!

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumPROLOGKimKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12FelineKapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21AbbyKapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36PippaKapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Epilog

Über das Buch

Kim, Feline, Abby und Pippa: Die vier Freundinnen wollen gemein­sam ein paar Tage Urlaub in einem einsam gelegenen Ferienhaus machen. Doch dann hört es nicht mehr auf zu schneien und die vier sitzen fest. Auf engstem Raum werden die Spannungen zwischen den Mädchen immer deutlicher, denn jede von ihnen hat etwas zu verber­gen. Als sie Spuren im Schnee entdecken, fühlen sie sich beobachtet und bekommen es mit der Angst zu tun. Aus der Angst wird Gewiss­heit, als sie Geräusche im Haus hören. Und dann verschwindet Kim ...Ein Krimi mit Gänsehautgarantie!

Über die Autorin

Mel Wallis de Vries, geboren 1973, ist in den Niederlanden DIE Autorin für Psychothriller im Jugendbuch. IhreTitel finden sich regelmäßig auf den Bestsellerlisten wieder und werden von Jugendlichen wie Erwachsenen gerne gelesen, wie die verschiedenen Preise beweisen, mit denen die Bücher der Autorin ausgezeichnet wurden.

Mel Wallis de Vries

Übersetzung aus dem Niederländischen von Verena Kiefer

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

Der Verlag dankt dem Nederlands Letterenfonds für die freundliche Unterstützung.

Titel der niederländischen Originalausgabe: »Vals«

Für die Originalausgabe: Copyright © 2010 Mel Wallis de Vries

Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München Umschlagmotiv: © Cornelia Niere, München E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-1184-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

PROLOG

Alles ist weiß. Leuchtend weiß. Ich blinzele, doch es bleibt weiß. Was ist passiert? Bin ich tot? Ich weiß es nicht. Aber ich habe keine Angst. Das Weiß ist so schön. Ich kann es sogar spüren. Es ist weich wie Daunen.

Hinter mir ist noch mehr Weiß. Aber das sieht anders aus. Dumpfer. Und mit grauen Rissen. Es sieht aus, als würde dort etwas auf mich warten. Etwas, das ich erst loslassen muss. Bilder huschen durch meine Gedanken. Ein Auto. Lachende Mädchen. Ein Streit. Ein dunkler Gang. Ein Gewehrlauf. Ich kann diese Bilder nicht einordnen. Es ist, als hätte ich mitten im Film eingeschaltet. Plötzlich höre ich ein Flüstern.

»Ich habe auf dich gewartet.«

Die Worte klingen weit entfernt.

»Die anderen sind nicht mehr da.«

Das Flüstern hat sich verlagert. Jetzt ist die Stimme dicht an meinem Ohr.

»Du bist ganz allein.«

Ich spüre etwas Warmes, das meine Stirn streift. Haut auf Haut. Jemand schreit. Es klingt fürchterlich. Bin ich das?

Das Weiß bricht auf, verschwimmt. Plötzlich bin ich so traurig. Ich will das Weiß einfangen. Luft gleitet durch meine Hände, wabert unter meinen Beinen davon. Ich falle, schneller und immer schneller, der Boden rast mir entgegen. Mit einem Schlag treffe ich auf. Ich schnappe nach Luft und muss husten.

Meine Augenlider klappen auf. Noch immer ist alles weiß. Vielleicht bin ich wirklich tot. Mein Kopf rollt zur Seite. Also lebe ich noch: Tote können den Kopf nicht bewegen. Ich weiß nicht, ob diese Erkenntnis Erleichterung oder Enttäuschung hervorruft, da spüre ich, dass etwas an meiner Wange kitzelt. Ich sehe Schnee. Ganz viel schneeweißen Schnee. Ich liege auf dem Rücken, in einem Bett aus Schnee. Seltsamerweise ist mir nicht kalt.

»Mama!«, will ich rufen, aber die Worte bleiben in meinem Kopf stecken.

Verzweifelt versuche ich mir das Gesicht meiner Mutter vorzustellen. Aber ich kann mich nicht erinnern, wie sie aussieht. Ich kann mich an gar nichts erinnern. Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich weiß nicht, warum ich hier liege. Ich weiß nicht einmal mehr, wer ich bin.

Der Wind bläst mir ins Gesicht. Ich muss weinen. Nach und nach erwachen die Nerven in meinem Körper. Allmählich spüre ich Kälte. Schmerz. Mein Kopf quillt über vor Schmerzen.

Irgendwo hinter mir bewegt sich etwas. Äste brechen. Ich höre ein Rascheln. Ich habe Angst, aber ich weiß nicht, warum.

Auf einmal höre ich von der anderen Seite eine Mädchenstimme. »Wo bist du?«, ruft sie.

Ob sie mich sucht? Wieder kommen mir die Tränen.

»Ich bin hier«, will ich sagen, aber es klappt nicht.

»Warum antwortest du nicht?«, In der Stimme liegt Panik.

Ich kenne das Mädchen. Da bin ich sicher. Aber ich habe ihren Namen vergessen. Das Geräusch hinter mir kommt näher. Jetzt höre ich auch ein leichtes Keuchen. Und Schuhe, die im Schnee knirschen.

»Ich werde dich suchen!«, ruft das Mädchen.

Sie soll nicht hierherkommen. Hier ist es nicht sicher. Geh weg. Geh weg. Geh weg. In Gedanken beschwöre ich sie. Bitte, lauf davon, solange es noch geht.

Aber das Mädchen achtet nicht darauf. Ich höre ihre Schritte im Schnee. Leicht und zögernd. Ganz anders als die schweren, trägen Bewegungen hinter mir.

»Hallo?«, ruft sie. »Bist du da? Kannst du was sagen? Bitte!?«

Ihre Worte werden von der eisigen Luft weggetragen. Plötzlich herrscht Totenstille. Das Keuchen hinter mir hat aufgehört. Und das Mädchen schweigt.

»Nein.« War ich das? Es ist so leise und heiser, dass ich es selbst kaum verstehen kann.

Trotzdem zeigt es Wirkung.

Das Keuchen hinter mir geht weiter, noch schneller und verbissener als vorhin.

Das Mädchen sagt: »Gott sei Dank! Ich komme!«

Nein. Nein. Nein. Bleib dort. Aber die Worte sind in meinem Kopf eingesperrt.

»B-bist du da? Bitte, sag was. E-es ist hier so dunkel«, höre ich das Mädchen sagen.

Ihre Stimme klingt lauter. Näher.

Ich muss sie warnen. Vorsichtig bewege ich mein rechtes Bein. Es funktioniert. Auch mein linkes Bein macht mit. Ich drehe mich zur Seite und knie mich hin. Schmerz explodiert in meinem Kopf, zieht über den Rücken bis in die Arme, Beine und Füße. Ich würge und muss mich übergeben. Ein paar Sekunden starre ich reglos auf mein Erbrochenes.

Meine Muskeln spannen sich, ich krieche auf Händen und Füßen durch den Schnee. Alle Kraft, die mir noch bleibt, konzentriert sich auf diese Bewegung. Der Schnee erstreckt sich vor mir wie ein riesiges, spiegelglattes Meer. In der Mitte erhebt sich ein Auto wie ein Kriegsschiff. Meine Finger sind taub vor Kälte und meine Jeans ist durchnässt. Aber ich darf nicht aufgeben, ich muss weiter. Stück für Stück komme ich voran. Mein Kopf hängt zwischen meinen Armen und Speichelfäden tropfen aus meinem Mund.

»W-wer ist da? Ich habe keine Angst vor dir. E-echt nicht.«

Ihre Stimme. Ich schaue hoch und sehe die Gestalt des Mädchens nur wenige Meter entfernt. Ihr Gesicht ist im Dunkel der Nacht verborgen.

»Nein«, murmele ich keuchend vor Erschöpfung und Schmerz.

Das Mädchen bewegt sich.

»Nein!«, schreit sie. »Nein!«

Sie rennt auf mich zu. Drei Meter. Zwei Meter. Einen Meter. Mit jedem Schritt kommt sie näher. Ihre Umrisse werden immer klarer. Erst als sie vor mir steht, kann ich ihr Gesicht sehen. Mascara schlängelt sich schwarz über ihre Wangen. Sie muss geweint haben.

»Oh, Liebes.« Sie kauert sich neben mich und hält mein Gesicht fest. »Ich wusste nicht, wo du warst. Ich hatte Angst, so schreckliche Angst.«

Ihre Finger streicheln meine Wange.

»Es wird alles gut. Ich hole Hilfe«, sagt sie.

Ich möchte dem Mädchen so gerne glauben.

Plötzlich sehe ich, wie sich ihr Blick verändert. Erleichterung weicht Erstaunen, gefolgt von Angst. Sie starrt auf einen Punkt hinter mir. Sie richtet sich auf. Ich wende den Kopf. Noch bevor ich sehe, wer hinter mir steht, kommen die Erinnerungen zurück. Und ich weiß, es ist zu spät, um zu fliehen.

Kim

Kapitel 1

»Kim?« Meine Mutter klopft an die Tür.

»Bist du fertig? Es ist Viertel vor elf. In einer Viertelstunde sind deine Freundinnen da und du hast noch nicht einmal gefrühstückt.«

»Ja«, murmele ich. »Ich komme gleich. Noch ein paar Minuten.«

Das ist gelogen, denn ich muss meine Tasche noch packen. Aber meine Mutter geht mir auf die Nerven.

»Soll ich dir schon mal ein Brot schmieren?«

»Nicht nötig, Mam, ich habe keinen Hunger.«

»Kim, du musst wirklich etwas essen. Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages.« Mama klingt wie eine alte Tante. »Was willst du drauf haben?«

Ich seufze. Weigern ist sinnlos, das weiß ich. »Apfelkraut.«

»Soll ich gleich zwei machen?«

»Okay.«

Sie geht, zum Glück. Ich öffne den Kleiderschrank. Wo ist meine Röhrenjeans geblieben? Mein Blick schweift über die Fächer, in denen alle Kleidungsstücke ordentlich nach Farbe sortiert liegen. Ein Projekt meiner Mutter. Ganz unten im Schrank entdecke ich ein blaues Stück Stoff unter einem Hosenstapel. Ich ziehe daran. Die restlichen Hosen fallen zu Boden, aber ich habe meine Jeans gefunden. So gut es geht, lege ich die anderen wieder zurück. Ich kann Mamas Meckern schon hören, wenn ich es nicht tue.

Was brauche ich sonst noch? Einen dicken Pulli, Unterhosen, Socken, eine Mütze, Turnschuhe, Stiefel, Handschuhe. Die Sachen kommen in meine Reisetasche. Zuletzt packe ich noch ein schwarzes Kleid ein – falls wir mal ausgehen. Bei der Vorstellung muss ich lachen. Abby meinte, die nächste Kneipe sei gut sechs Kilometer entfernt. Bestimmt bleiben wir im Haus.

Im Bad werfe ich einen kritischen Blick in meinen Kulturbeutel: Zahnbürste, Zahnpasta, Haarbürste, Shampoo, Conditioner, Make-up.

»Kim, wo bleibst du denn?«, ruft meine Mutter von unten an der Treppe.

»Ich komme ja schon«, rufe ich zurück, stürme in mein Zimmer und stopfe die letzten Sachen in meine Tasche. Habe ich alles? Vom Schreibtisch greife ich mir den Ausdruck von Abbys Mail.

Von: Abby Laakman <[email protected]>

An: Pippa van Dam <[email protected]>; Kim Bos <[email protected]>, Feline de Gelder <[email protected]>

Titel: Ardennen

Empfangen: 17. Dezember

Hi, ihr Lieben,

noch drei Mal schlafen! Ich habe eine Liste der Sachen zusammengestellt, die ihr mitnehmen müsst. Die Einkäufe habe ich aufgeteilt. Lest diese Mail please sorgfältig durch, dort gibt es weit und breit keine Läden. Also nichts vergessen!

• Kleidung (es kann echt megakalt werden, nehmt also viele warme Sachen mit: Mütze, Schal, Handschuhe, Pullis und so)

• Bettbezug, Kissenhülle, Laken

Ups, also doch was vergessen. Aus dem Wäscheschrank im Flur nehme ich einen ordentlich zusammengelegten Stapel Bettwäsche heraus. Der passt gerade noch in meine Reisetasche. Ich lese weiter.

• Essen (Wir schlafen vier Nächte im Häuschen, kauft also genug ein!)

• Pippa: Wein, Bier, O-Saft, Cola etc.

• Feline: Frühstück/Mittagessen (inklusive Milch)

• Kim: Snacks, Süßigkeiten und Knabberzeug

• Abby: Abendessen

Pippa und ich fahren Samstag zum Supermarkt und holen die Getränke mit dem Auto.

Ich glaube, das war’s.

Fast vergessen, hier die Adresse für eure Eltern:

Haus La Campagne

Rue de Moha

Monceau-en-Ardenne (Semois-Tal)

Belgien

Telefonnummer (für Notfälle): 0032 33 25 48 489

Das Mobilnetz fällt oft aus, eure Eltern brauchen sich also keine Sorgen zu machen, wenn wir nicht sofort zurückrufen, haha! Ja, Ladies, wir hocken dort echt in the middle of nowhere … Am 24. Dezember fahren wir im Laufe des Tages nach Amsterdam zurück.

Bis Sonntagmorgen um elf Uhr (und morgen natürlich in der Schule, und dann endlich Ferien!)

Big hug A.

Oje, ich hoffe so sehr, dass es schön wird. Den Ausflug haben wir schon vor Monaten geplant – als die Sonne noch schien und Abbys Vorschlag, ein paar Tage in die Ardennen zu fahren, uns noch fantastisch vorkam. Aber jetzt zweifle ich ehrlich gesagt ein wenig. Die Prüfungen fangen schon am Tag nach den Weihnachtsferien an, und ich muss noch jede Menge dafür tun. Ich starre auf meine Schulbücher, die auf dem Schreibtisch verteilt sind. Mathe, Niederländisch, Bio. Es ist, als würden sie rufen: Nimm uns mit, nimm uns mit, sonst kriegst du schlechte Noten. Mit einem tiefen Seufzer stecke ich sie in die Tasche.

Draußen hupt es. Rasch gehe ich ans Fenster. Vor unserem Haus steht ein großer grauer Geländewagen. Pippa sitzt am Steuer, Abby auf dem Beifahrersitz. Ich winke ihnen zu. Pippa zeigt auf ihre Uhr, ihr Mund bewegt sich. Vermutlich sagt sie: »Beeilst du dich?« Ich nicke und hebe zwei Finger. Zwei Minuten.

»Sind sie da?« Meine Mutter steckt den Kopf ins Zimmer.

»Ja.« Ich hänge mir die Tasche über die Schulter und schaue nach, ob ich mein Smartphone habe.

»Siehst du, jetzt hast du keine Zeit mehr zum Frühstücken.«

»Mhm-mm«, murmele ich.

Mama verschränkt die Arme. »Das willst du anziehen?«

Erstaunt betrachte ich meine Jeans und die graue Strickweste. »Ja, wieso?«

»Das ist viel zu kalt. Am Wochenende soll es in den Ardennen schneien. Hast du nichts Wärmeres?«

»Jetzt komm schon, Mama. Ich habe einen dicken Pulli in der Tasche.«

»Hast du saubere Unterwäsche und Socken eingepackt?«

»Ja, Mama.«

»Und einen Schal?«

»Ja-ha.« Ich gehe über den Flur und reiße die Zimmertür mit dem Schild »NICHT STÖREN 220 VOLT« auf, ohne anzuklopfen.

»Ich bin weg, tschüs.«

Mein kleiner Bruder hockt im Bademantel am PC. Er reagiert nicht.

»Floris, jetzt sag doch mal tschüs. Kim kommt erst Donnerstag zurück.«

»Göttlich, diese Ruhe«, murmelt Floris. »Macht ihr die Tür zu? Es zieht.«

Ich strecke ihm die Zunge raus.

Mama zieht die Tür leise hinter sich zu. »Wer fährt?«, fragt sie.

»Pippa.«

»Pippa?« Zwischen ihren Augenbrauen erscheint eine besorgte Falte.

»Ja, Mama. Pippa hat als Einzige einen Führerschein. Abby und Feline sind erst 17. Und im Übrigen ist es das Auto von Pippas Mutter. Du solltest nicht aus allem so ein Problem machen. Pippa fährt total gut.«

Ich erzähle lieber nicht, dass sie im letzten Monat schon drei Protokolle wegen überhöhter Geschwindigkeit kassiert hat.

»Kommt ihr am Donnerstag bitte nicht ganz so spät nach Hause? Wir sind an Heiligabend bei Oma in Den Bosch eingeladen. Ich möchte gern gegen fünf dort sein. Okay?«

»Okay.« Ich schleppe meine Tasche die Treppe hinunter. Mein Vater kommt aus der Küche.

»Prinzessin, da bist du ja endlich. Gib mir mal die schwere Tasche. Freust du dich?«

»Was denkst du denn?«, sage ich lächelnd.

Mama huscht in die Küche. Über die Schulter ruft sie: »Nimmst du die rote Daunenjacke mit? Die andere Jacke ist zu dünn.«

Mein Vater grinst, während ich die Augen verdrehe. »Ja, Mama.«

»Himmel, was hast du denn da drin?« Papa fühlt an meiner Reisetasche. »Beton? Backsteine? Eine Ritterrüstung?«

»Kleidung.«

»Kleidung, natürlich.« Er lacht. »Wie dumm von mir, da hätte ich auch selbst draufkommen können.«

»Und, äh, auch ein paar Schulbücher«, gebe ich widerwillig zu.

Papa tippt mir auf die Nase. »Aber auch genießen, ja, Prinzessin? Im Leben gibt es auch noch etwas anderes als Schule.«

Meine Mutter eilt herbei und drückt mir eine kleine Plastiktüte in die Hand. Ich schaue hinein. Zwei Butterbrote. Das Apfelkraut klebt in dicken Klumpen an der Kruste.

»Aufessen, ja?«, sagt sie.

Ich nicke.

Wieder hupt es, diesmal länger.

»Es ist Sonntagmorgen, die Nachbarn!« Meine Mutter klingt gereizt. »Komm, du musst los. Hast du alles?« Sie geht zur Haustür und hebt die Supermarkttasche hoch, die schon seit gestern Nachmittag dort steht. »Ich trage die Einkäufe.«

Ich nehme meine rote Jacke von der Garderobe. Mama hantiert mit dem Haustürschloss und ich stecke schnell die Brote in eine der Taschen. Unterwegs wird sich schon etwas finden, wo ich das Päckchen entsorgen kann.

Draußen ist es kalt. Ich winke den Mädchen zu. Pippas Fensterscheibe öffnet sich einen Spalt. »Da bist du ja endlich. Wir warten schon seit Stunden. Wirf deine Tasche einfach hinten rein.«

Ich will erwidern, dass sie höchstens fünf Minuten gewartet haben, aber das Fenster schließt sich schon wieder. Ich zucke die Schultern und gehe über den vereisten Rasen zum Wagen. Die Heckklappe öffnet sich mit einem Klicken. Der Kofferraum ist voll: ein weißer Koffer, zwei Wochenendtaschen, Getränkekisten, Einkaufstüten, CDs, ein Schlafsack. Papa legt meine Reisetasche obendrauf.

»Na, verhungern werdet ihr jedenfalls nicht.« Papa schmunzelt und nimmt Mama die Tüte aus der Hand. »Zum Glück hast du ja auch noch ein paar Sachen gekauft.« Er schlägt die Klappe zu. Ich öffne die hintere Tür und klettere neben Feline.

»Hi, Kimmie, wie geht’s?« Sie rutscht auf der Sitzbank aus beigefarbenen Leder zur Seite.

»Gut.« Ich betrachte ihr Gesicht, bleich mit dunklen Augenrändern. »Aber du siehst aus, als hättest du gestern gefeiert.«

»Wäre es bloß so.« Feline seufzt. »Ich bin total erkältet und habe die ganze Nacht gehustet.«

Abby dreht sich auf dem Beifahrersitz um. »Tschüs, Herr Bos.«

Pippa und Feline nicken meinem Vater zu.

»Viel Spaß in den Ardennen«, sagt er. »Was ihr auch vorhabt, genießt es!«

»Machen wir ganz bestimmt.« Abby kichert.

Mama klopft ans Seitenfenster. »Schickst du eine SMS, sobald ihr angekommen seid?«

»Unsinn«, sagt mein Vater. »Die Mädchen haben bestimmt etwas anderes im Kopf, als besorgten Eltern eine SMS zu schicken. Sie werden schon auf sich aufpassen.« Er wirft die Autotür zu. »Los jetzt, Abfahrt!« Die geschlossene Tür dämpft seine Worte.

»Geniale Idee«, murmelt Pippa. Sie startet den Wagen. Wir fahren rückwärts über die Auffahrt, durch das Tor und auf die Straße. Papa wirft mir eine Kusshand zu, Mama winkt und dann sind wir unterwegs.

Kapitel 2

Ich öffne das Fenster, kalte Luft weht mir ins Gesicht. Unser Nachbar von gegenüber radelt durch die Straße. Der Baum im Vorgarten von Nummer 95 ist mit einer Lichterkette geschmückt. Alles in meinem Kopf fühlt sich frisch und klar an und plötzlich bin ich mir ganz sicher: Das wird ein großartiger Kurzurlaub. Ich bin mit meinen Freundinnen unterwegs. Wir wohnen im Superluxus-Ferienhaus von Abbys Eltern. Also Schluss mit der Grübelei. Und schon gar nicht sollte ich über die Schule und die Abschlussprüfungen nachdenken. Wir fahren über die Diepenbrockstraat und den Europaplein auf den südlichen Autobahnring. Pippa gibt Gas. Meine Haare flattern im Wind.

»Mensch, Kim, kannst du das Fenster vielleicht mal zumachen?«, sagt Pippa. »Draußen sind es minus zwei Grad, ich erfriere.« Im Rückspiegel sehe ich ihren genervten Blick.

Ich hole tief Luft und beschließe, mich nicht über sie zu ärgern. »Kein Problem.« Ich drücke auf den Knopf in meiner Tür und die Scheibe surrt hoch.

Abby kniet sich rücklings auf ihren Platz. Sie tut, als hätte sie ein Mikrofon in der Hand und sagt mit piepsiger Stimme: »Willkommen an Bord. Ich bin heute Ihre Reiseleiterin. Wenn Sie Fragen haben, können Sie sich gerne an mich wenden. Die voraussichtliche Ankunftszeit für unser Ziel ist« – sie schaut auf das eingebaute Navigationsgerät am Armaturenbrett – »acht Minuten nach drei. Bevor wir die Grenze überqueren, werden wir noch eine kurze Sanitärpause einlegen. Ich hoffe, Sie haben eine angenehme Reise. Und falls es jemanden interessiert, links sehen wir den Rembrandttoren, das höchste Appartmentgebäude von Amsterdam.«

Pippa prustet los. »Wo hast du das denn gelernt? Du klingst echt wie so eine Reisebus-Tante. Fehlt nur noch das Kostümchen.«

»Na, herzlichen Dank.« Abby zwinkert ihr zu und zieht einen silberfarbenen iPod aus ihrer Tasche. »Eure ach so eifrige Reiseleiterin hat gestern jede Menge Songs heruntergeladen.«

Sie steckt das Kabel ihres iPods in den Zigarettenanzünder und drückt auf PLAY. Aus den Lautsprechern schallt »November Rain« von Guns N’ Roses.

»Wow!«, schreit Pippa. »Unser Lieblingssong, Abby. Ich liebe dich!«

»I know.« Sie dreht die Lautstärke auf.

When I look into your eyes.

I can see a love restrained.

But darlin’ when I hold you …

Pippa singt lauthals mit. »Geht’s noch was lauter?«

»Bestimmt.« Abby beugt sich über ihren iPod. »Deine Mutter hat sich bestimmt teure Boxen hier einbauen lassen. Ihr Lieben, hier kommt für alle Fans ›November Rain‹ auf voller Lautstärke.«

Ein Wahnsinnsbass dröhnt durch den Wagen. Die Scheiben beben, und Pippa schüttelt ihre langen blonden Haare im Takt der Musik. Abby trommelt mit der Handfläche auf die Mittelkonsole.

Ich fühle mich ein wenig ausgeschlossen und schaue zu Feline neben mir. Sie starrt aus dem Fenster. Seit unserer Abfahrt hat sie noch nichts gesagt. Eine Locke ihrer glänzenden, dunkelbraunen Haare fällt über ihre Wange Und sie hat sich tief in ihre schwarze Wolljacke verkrochen. Sogar erkältet sieht Feline noch fantastisch aus. Sie könnte glatt in Frankreich wohnen, so zierlich und elegant, wie sie ist.

»Fee, geht’s denn?«, frage ich.

Keine Reaktion.

Ich tippe ihr auf die Schulter.

Langsam dreht sie ihren Kopf in meine Richtung. Sie schaut mich fragend an.

»Wie geht’s dir?!«, schreie ich über die Musik hinweg.

»Beschissen.« Sie streicht sich über den Hals.

»Wie doof. Dann rede besser nicht zu viel«, schreie ich zurück.

Sie nickt.

Unser Auto schießt nach rechts, über zwei Fahrstreifen hinweg und haarscharf an einem Lastwagen vorbei. Pippa muss heftig bremsen, um die Ausfahrt zu nehmen, und ich kralle mich an der Tür fest. Noch fünfundzwanzig Kilometer bis Utrecht. Jetzt lenkt Pippa auf die linke Spur hinüber und drückt das Gaspedal durch. Auf dem Tacho sehe ich, wie die Nadel auf hundertzwanzig, hundertdreißig, hundertvierzig Stundenkilometer hochklettert. Ich traue mich nicht zu fragen, ob sie vielleicht ein bisschen langsamer fahren könnte, aber so richtig wohl fühle ich mich nicht.

Die letzten Klänge von »November Rain« verhallen. Ein paar Sekunden ist es still, dann knallt »Hot N’ Cold« von Katy Perry aus den Lautsprechern.

Abby dreht die Lautstärke runter und setzt wieder ihr Reiseleiterinnengesicht auf. »Meine Damen, Sie haben eine All-Inclusive-Reise gebucht. Wer möchte eine köstliche Leckerei aus der Minibar?« Sie bückt sich nach der Tasche zu ihren Füßen. »Im Angebot hätte ich KitKat Chunky, Minikuchen, Cola light und M&M’s.«

»Ja!«, ruft Pippa. »Ich will ein KitKat Chunky. Haben wir die gestern im Supermarkt gekauft?«

»Nee, Quatsch.« Abby grinst und klingt wieder wie sie selbst. »Die hat mir meine Mutter mitgegeben.« Sie reißt die Verpackung auf und reicht Pippa den Schokoriegel. »Was willst du, Kimmie?«

»Eine Cola, bitte.«

»Fang!« Sie wirft mir eine Dose zu. »Und du, Fee?«

Feline antwortet nicht.

»Hallo?«, ruft Abby. »Huhu. Hörst du mich?«

Feline starrt weiter aus dem Fenster.

Abby pfeift auf den Fingern.

»Huch, was?« Feline schaut erschrocken auf.

»Ich hab gefragt, ob du was haben willst.«

»Oh, ’tschuldigung, ich habe nicht aufgepasst.«

»Kleiner Snack gefällig?«

»Äh, hast du zufällig Lakritze? Mein Hals kratzt ein bisschen.«

»Da hast du aber ein Riesenglück. Meine Mutter hat eine Kilopackung englische Lakritz gekauft. Hier, teil sie dir mit Kim.«

Ein Telefon piept. Abby zieht ihr Phone aus der Jackentasche. »Ah, eine Nachricht von Casper.« Sie lächelt.

»Was schreibt er?«, fragt Pippa, den Mund voller Schokolade.

»Er ist so ein Schatz.«

»Ja, ja, das wissen wir«, brummt Pippa. »Aber kriegen wir diese romantische SMS auch noch zu hören? Komm schon, lies vor!«

»Okay, er schreibt: Ohne dich ist es kalt und trist in A’dam. Ich vermisse dich und hab dich lieb. Für immer, Casper«, zitiert Abby.

»Wie süß«, sage ich.

Pippa steckt sich einen Finger in den Hals und tut, als müsse sie sich übergeben. »Süß? Klebrig, meinst du wohl.«

»Du bist bloß eifersüchtig«, sagt Abby. »Mal nachdenken. Was soll ich zurückschicken?«

»Ich weiß es!«, ruft Pippa. »Halte meine Bettseite schön warm. Dann rutsche ich Donnerstag neben dich. Oder warte, ich hab noch was Besseres: Dann rutsche ich Donnerstag auf dich.«

Abby kichert. »Vergiss es. Casper hat Stil. Dem schicke ich keine plumpe SMS. Hat jemand einen anderen Vorschlag?«

»Warum schreibst du nicht: Egal, wie kalt es draußen ist, hier drinnen ist immer jemand, der dich liebt.« Feline sieht Abby fragend an.

»Aus welchem steinalten Poesiealbum hast du das denn gefischt? Noch schnulziger geht’s ja kaum«, sagt Pippa. »Aber so was Ähnliches kenne ich auch. Oh, Prinz auf dem weißen Pferd, zwischen Ihren Beinen hängt ein zuckendes Schwert. Nimm mich feurig und verwegen, mit einem Kondom hab ich nichts dagegen.« Grinsend schaut sie über die Schulter.

Ein Auto neben uns drückt auf die Hupe und blendet die Scheinwerfer auf. Pippas Kopf ruckt zurück und sie reißt am Lenkrad.

»Solltest du nicht lieber auf die Straße achten?«, sagt Feline spitz. »Wegen dem blöden Prinzenspruch warst du fast auf der anderen Spur.«

»Übertreib doch nicht immer so«, sagt Pippa. »Ich hab das Auto schon gesehen.«

»Jaja.« Feline schnaubt und sieht wieder aus dem Fenster.

»Ich würde Casper simsen, dass du ihn auch vermisst und dass du ihn liebst«, sage ich. »Darum geht es doch?«

»Ja, genau, du hast recht.« Abbys Finger fliegen über die Tasten. »Versendet. Oh, ich vermisse ihn so.«

»Lang lebe das Singledasein«, sagt Pippa. »Dieses Herzschmerzgejammere. Du bist doch Donnerstag schon zurück.«

Abby ist die Einzige mit einem Freund. Sie hat Casper im letzten Jahr auf der Weihnachtsfeier der Firma ihres Vaters getroffen. Alle Geschäftsfreunde waren eingeladen, und Caspers Vater gehört die Werbefirma, mit der Abbys Vater zusammenarbeitet. Es war das erste Mal, dass er seinen Sohn mitgenommen hatte. Laut Abby war es Liebe auf den ersten Blick. Das kann ich mir gut vorstellen, denn Casper ist wirklich ein netter Kerl. Er studiert Betriebswirtschaft in Amsterdam und mit seinen dunklen Haaren und den blauen Augen sieht er aus wie ein Fotomodell. Wäre Abby nicht meine beste Freundin, wäre ich bestimmt eifersüchtig.

»Können wir gleich mal anhalten?«, fragt Feline. »Ich muss pinkeln.«

»Kannst du noch ein bisschen einhalten?« Abby schaut auf das Navigationsgerät. »In fünfzig Minuten sind wir an der Grenze. Dann können wir dort an der Tankstelle auch gleich ein paar Brötchen holen, okay?«

»Hm.« Feline sinkt in den Ledersitz zurück und macht ein unglückliches Gesicht.

»DJ Abby, hast du noch ein paar von den genialen Songs zum Mitgrölen?«, fragt Pippa.

»Aber sicher, Frau van Dam. Was halten Sie von Nick & Simon?«

»Diesen schmalzigen Volldeppen?«

»Yep.«

»Ach, die sehen ja durchaus knackig aus, also warum nicht. Dreh mal so richtig auf. Ardennen, here we come.«

Kapitel 3

»Ist das alles?«, fragt der Mann hinter der Kasse. Er mustert den Berg, den Pippa vor ihm aufgetürmt hat: Brötchen, Lutscher, Getränkedosen, Zeitschriften, eine Tüte Salmiakbonbons.

»Und drei Päckchen Marlboro light«, sagt Pippa. »Mit einem Feuerzeug, dem roten da.«

»Geht klar.« Seufzend nimmt er die Zigarettenpäckchen aus einem Regal hinter seinem Rücken. »Hast du getankt?«

»Ja.« Sie macht ein Gesicht, als hielte sie diese Frage für unglaublich dumm.

»Wo stehst du?«

»Dort.« Pippa zeigt achtlos über ihre Schulter.

»Dort sind zwölf Zapfsäulen, Süße. Welche ist deine?«

»Nummer Neun«, sagt Feline.

»Neun«, wiederholt Pippa.

»Also Zapfsäule neun. Tankst wohl zum ersten Mal? Auto von Mami und Papi dabei?«

»Wie kommen Sie denn darauf?« Pippa klingt verärgert. »Das ist mein Wagen.«

Egal, was ich von Pippa halte – lügen kann sie wie kaum eine andere: Sie verzieht keine Miene.

Der Mann zuckt die Schultern. »Wie du willst. Dann ist es dein Wagen, auch gut. Das sind 92 Euro und 35 Cent. Mit Karte?«

Pippa dreht sich um und schaut die erstbeste Person an, die hinter ihr steht. Es ist Feline. »Kannst du das bitte übernehmen? Ich habe meine EC-Karte in Amsterdam vergessen.«

Ich sehe, wie Feline zögert. Vor ein paar Monaten hat sie Pippa 250 Euro für neue Stiefel und eine Jeans geliehen. Sie sollte das Geld innerhalb einer Woche zurückbekommen, aber ich glaube, Feline hat bis heute noch keinen Cent davon gesehen.

»Ich strecke es vor«, sagt Abby und zieht ihren Geldbeutel aus der Tasche. »Das Geld fürs Benzin teilen wir. Aber die Kippen gehen auf dich. Deinen Lungenkrebs darfst du ruhig allein bezahlen.«

»Jaja.« Pippa lächelt. »Du bekommst das Geld so schnell wie möglich zurück, versprochen.«

Pippa setzt den Blinker, und während wir uns in den Strom von Lichtern einfädeln, der über die Autobahn rast, verschwindet die Tankstelle schnell aus unserem Blickfeld. Die Straßenschilder zeigen an, dass wir in Belgien sind, aber ich sehe keinen Unterschied zu den Niederlanden. Nur die rot-weißen Nummernschilder der Autos vermitteln das Gefühl, woanders zu sein.

Abby reißt die Plastikfolie von ihrem Brötchen und schaut auf das Navi-Display. »Noch anderthalb Stunden. Klappt das ohne Anhalten? Sonst kommen wir so spät an. Ich will das letzte Stück lieber nicht im Dunkeln fahren.«

»Prima«, brummt Pippa mit vollem Mund. »Igitt, dieses Pappbrötchen ist wirklich ungenießbar.«

»Mein Käsebrötchen auch.« Abby dreht am Radioknopf. Eine Männerstimme mit belgischem Tonfall schallt aus den Lautsprechern.

»… kalte Nacht. Morgen dreht der Wind auf Ost und führt deutlich kältere Luft mit sich als in den vergangenen Tagen. Der Wind ist erst mäßig, in der Nacht von Montag auf Dienstag frischt er auf, Windstärke 6 bis 7, im Binnenland möglicherweise stürmisch. Und dann die gute Nachricht: Wir bekommen weiße Weihnachten. Ganz Belgien wird Schneemänner bauen. Die ersten Flocken fallen schon morgen, also vergessen Sie Ihren Regenschirm nicht. Dienstag erwarten wir mehr Schnee, im Süden mancherorts sogar bis zu zwanzig Zentimeter. Und hier eine Warnung für den Straßenverkehr: Alle Straßen in der Region können glatt sein. Achten Sie gut auf den Wetterbericht. Es kann …«

Abby dreht weiter. Rauschen und krächzende Liedfetzen. »Haben die Belgier denn keine normalen Sender?«

Ich reiße ein Stück von meinem Brötchen ab und stecke es mir in den Mund. »Wie romantisch, weiße Weihnachten. Das gibt es doch fast nie.«

»Bah«, sagt Pippa. »Ich hasse Schnee. Nächstes Jahr sollten wir auf die Kanaren fliegen.«

»Last Christmas, I gave you my heart, but the very next day, you gave it away«, schmettert Wham! plötzlich durch den Wagen.

»Lass laufen, lass laufen!«, johlt Pippa. »George Michael sieht zum Anbeißen aus.«

»Er steht aber auf Männer«, sagt Feline.

»So what? Macht ihn das weniger attraktiv?«

»Nicht weniger attraktiv, aber weniger erreichbar. Und er ist fast fünfzig. Er könnte dein Vater sein!«

»Hab ich gesagt, ich will mit ihm knutschen? Bestimmt nicht.«

»Könnt ihr vielleicht mal aufhören, euch über George Michael zu zanken?« Abby lässt sich wieder in ihren Sitz fallen. »Wir spielen was.«

»Was denn?«, frage ich.

»Ich weiß was!«, sagt Pippa. »Das Jungenalphabet. Das haben wir in meiner alten Schule immer gespielt.«

»Das Jungenalphabet?«, sagt Abby. »Das kenne ich nicht, erzähl mal, klingt witzig.«

»Du musst alle Jungen mit dem Buchstaben A nennen, die du je geküsst hast. Für jeden Jungen gibt es einen Punkt. Und so gehen wir nach und nach alle Buchstaben des Alphabets durch, klar?«

»Hm, dann weiß ich jetzt schon, wer gewinnt.« Abby schaut Pippa an und grinst.

Die grinst zurück. »Es geht nicht ums Gewinnen. Es ist einfach witzig zu hören, wer mit welchem Jungen rumgeknutscht hat.«

Mir kommt das zwar gar nicht witzig vor, aber da ich anscheinend die Einzige bin, die so denkt, halte ich den Mund.

Pippa zieht eine Zigarette aus dem Handschuhfach.

»Erlaubt dir deine Mutter, im Auto zu rauchen?«, fragt Feline.

»Nein. Wirst du es ihr erzählen?«

Feline zuckt die Schultern. »Ich habe Halsschmerzen.«

»Ich blase den Rauch in die andere Richtung.« Pippa zündet die Zigarette an, die Spitze leuchtet orange auf. Rauch kringelt sich zur Rückbank. Ich habe noch nie geraucht. Schon der Geruch verursacht mir Übelkeit.

»Ich fange an«, sagt Pippa. »Albert, Alain und Antal.«

»Was?«, ruft Abby. »Hast du echt drei Jungen mit einem A geküsst? Das ist nicht dein Ernst!«

»Stimmt aber wirklich.« Pippa inhaliert tief. »Albert ging in meine alte Schule. Alain war ein Ferienfreund. Und Antal war der Junge aus dem Odeon.«

»Ach ja, mit dem hast du auf der Tanzfläche geknutscht, oder?«

»Yep.«

»Schlampe.«

»Danke schön.« Pippa lächelt. »Jetzt du.«

»Uff, Jungen mit A. Das ist nicht leicht.« Abby runzelt die Stirn. »Ich weiß aber einen mit B und einen mit C.« Plötzlich fängt sie an zu lachen. »Ha, habe einen: Alexander!«

»Wer ist das denn?«, fragt Pippa.

»Einer aus dem Brückenkurs. Wir haben auf einem Schulfest rumgemacht.«

»Fett.« Pippa nimmt noch einen Zug.

»Ach, eigentlich war er ein totaler Nerd. Jetzt du, Fee.«

»Hä, was?« Feline schaut Abby irritiert an.

»Einen Jungennamen mit A. Himmel, was hast du denn bloß heute?«

»Entschuldigung.« Feline blinzelt, als müsse sie gleich in Tränen ausbrechen. »Aber mir geht es echt nicht gut. Ich schlafe mal eine Runde, ja?«

»Du Arme«, sagt Abby. »Werde uns bloß nicht krank, versprochen?«

Feline nickt und lehnt den Kopf ans Fenster.

»Okay, Kim, dann bist du jetzt dran.« Pippa wirft mir im Rückspiegel einen Blick zu.

Den Moment hab ich gefürchtet. »Ich … äh … ich … ich habe keine Jungen mit A geküsst.«

»Oh?« Pippas Augen verengen sich im Spiegel.

Ich beiße mir auf die Lippe.

Pippas Augen werden noch kleiner.

Abby rettet mich, indem sie sagt: »A ist auch nicht gerade mein Lieblingsbuchstabe. Sollen wir mit B weitermachen?«

»Entschuldigt, ich schlafe auch ein bisschen«, sage ich.

»Bin ich vielleicht mit einem Auto voller alter Leute unterwegs?«, mault Pippa. »Alle wollen nur pennen.«

Schnell schließe ich die Augen.

»Na und, was soll’s?«, sagt Abby. »Wir können doch einfach zu zweit weiterspielen.«

Pippa schnaubt. »Nicht totzukriegen.«

Sie nennt einen Jungennamen mit B. Abby nennt einen. Beim C ruft Abby triumphierend: »Casper!«

Pippa hat auch einen Jungen mit C geküsst, hält sich aber ein bisschen bedeckt, wieder ist es jemand von ihrer alten Schule. So kann ich das auch, denke ich. Mir Jungennamen ausdenken, die niemand überprüfen kann. Beim D versuche ich, Pippas laute Stimme und Abbys Lachen auszublenden, und konzentriere mich stattdessen auf die Schlaglöcher in der Straße. Mein Kopf ruckelt mit. Allmählich dämmere ich weg.

Kapitel 4

»Shit«, schnauzt Pippa. »Die Navi-Madame hat sich verirrt. Was jetzt?«

Ich reiße die Augen auf. Im Wagen ist es dämmrig. Die Beleuchtung des Armaturenbretts verbreitet ein bläuliches Licht. Auf dem Navigationsgerät sehe ich einen Pfeil, der über einer grünen Fläche schwebt, als würden wir fliegen. Ich schaue auf meine Uhr: halb vier. Habe ich so lange geschlafen? Wir müssen fast da sein.

»Hallo«, murmele ich.

Pippa dreht sich um. »Ach, auch schon wach? Schön ausgeruht?« Es klingt schroff.

»Äh, ja.« Mein Blick sucht Unterstützung bei Abby, aber die starrt auf ihre Hände.

»Schön für dich«, sagt Pippa. »Wir wissen nicht, wo es hingeht. Die Madame hat noch nie von diesem Kaff gehört.«

»Wenn möglich, bitte wenden«, sagt die Stimme des Navigationssystems. »Wenn möglich, bitte wenden.«

»Oh, halt die Klappe.« Pippa drückt auf einen Knopf. Das Display erlischt und es wird still.

»Wo müssen wir hin, Abby? Nach links oder nach rechts?«

Ich beuge mich vor und starre durch die Frontscheibe. Wir stehen an einer Gabelung. Links führt die Straße weiter, rechts verläuft ein unbefestigter Weg zwischen den Bäumen.

»Ich weiß es nicht«, sagt Abby.

»Du weißt es nicht?« Pippa verzieht das Gesicht. »Du kommst doch schon seit zehn Jahren hierher? Denk doch bitte mal nach. So schwierig ist das doch nicht?«

»Mein Vater fährt immer. Und in den Herbstferien ist Casper gefahren. Da habe ich nicht aufgepasst, tut mir leid.« Abby seufzt tief.

»Das ist doch wohl nicht wahr. Warum rufst du deinen Vater nicht an?«

Abby nimmt ihr Smartphone und betrachtet das Display. »Ich habe keinen Empfang, das habe ich schon befürchtet.«

»Nicht zu fassen, wir sind echt in the middle of nowhere gelandet.« Pippa startet den Motor, schaltet in den ersten Gang und fährt im Schritt weiter. »Dann entscheide ich jetzt. Wir fahren nach links. Wir können ja schlecht den ganzen Abend hier stehen bleiben.«

Der Wagen rollt an Tannenbäumen und einem umgefallenen Baumstamm vorbei.

»Nein, nein, du musst nach rechts!«, ruft Abby plötzlich. »Ich erkenne den umgefallenen Baumstamm.«

Pippa nimmt den Fuß vom Gas. »Sicher? Ich habe keine Lust, gleich auf dem schmalen Weg wenden zu müssen.«

»Ganz sicher. Der Weg nach links führt in ein kleines Dorf. Meine Eltern kaufen dort manchmal Brot. Wir müssen in die andere Richtung.«

»Dussel.« Pippa wirft das Lenkrad herum und wir fahren auf den unbefestigten Weg. »Bin ich froh, dass dieses Auto Vierradantrieb hat.«

»Entspann dich.« Abby grinst. »Kaugummi gefällig? Oder soll ich dir lieber heute Abend die Zehen massieren?«