Ich sehe was, was du nicht siehst - Mel Wallis de Vries - E-Book
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Ich sehe was, was du nicht siehst E-Book

Mel Wallis de Vries

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Beschreibung

Emma ist verschwunden. Das letzte Mal haben ihre Freundinnen sie auf dem Weihnachtsfest gesehen. Seitdem gilt sie als vermisst. Zwar fehlt sie Lilly, Anouk, Bo und Mabel, dennoch beschließen die Mädchen schweren Herzens, den mit Emma geplanten Urlaub auch ohne sie anzutreten. Doch im Ferienort haben die Freundinnen das Gefühl, beobachtet zu werden. Als dann das T-Shirt in Bos Tasche auftaucht, das Emma trug, als sie verschwand, sind alle sich sicher: Emmas Mörder hat es auch auf sie abgesehen!

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Seitenzahl: 219

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Emma

Donnerstag, 4. Juli 2019

Lilly

Bo

Mabel

Emma

Freitag, 5. Juli 2019

Anouk

Lilly

Mabel

Bo

Lilly

Anouk

Emma

Samstag, 6. Juli 2019

Mabel

Bo

Lilly

Mabel

Lilly

Anouk

Bo

Emma

Sonntag, 7. Juli 2019

Mabel

Anouk

Lilly

Anouk

Emma

Montag, 8. Juli 2019

Mabel

Bo

Lilly

Anouk

Bo

Emma

Dienstag, 9. Juli 2018

Mabel

Anouk

Bo

Mabel

Emma

Mittwoch, 10. Juli 2019

Anouk

Bo

Lilly

Anouk

Lilly

Bo

Lilly

Mabel

Lilly

Anouk

Bo

Mabel

Emma

August 2020

Mabel

Mel Wallis de Vries

ICH SEHE WAS, WAS DU NICHT SIEHST

Übersetzung aus dem Niederländischen von Verena Kiefer

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der niederländischen Originalausgabe:

»Shock«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2014 by Mel Wallis de Vries

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München

Einbandmotiv: © Cornelia Niere, München

E-Book-Produktion: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7325-8572-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Bas

»Familie ist wichtig!«

Mädchen nach Schulfest vermisst

Von unserem Korrespondenten

AMSTERDAM – Die Polizei in Amsterdam sucht nach der 16-jährigen Emma Timmers. Emma wurde am Donnerstag, dem 20. Dezember, auf einer Weihnachtsfeier ihrer Schule, dem Amsterdams Lyceum am Valeriusplein, zum letzten Mal gesehen. Seither fehlt von ihr jede Spur.

Vermutlich hat sie das Fest gegen 01:00 Uhr verlassen, ist jedoch nie zu Hause angekommen. Die Polizei hält die Situation für »besorgniserregend«, denn die Jacke des Mädchens wurde an der Nieuwe Achtergracht gefunden. Taucher haben nach dem Mädchen gesucht, bislang jedoch vergeblich.

»Wir müssen von einem Unfall oder einem Verbrechen ausgehen«, so ein Sprecher der Polizei.

Emmas Handy ist seit Freitagabend ausgeschaltet.

Emma Timmers ist 1,68 m groß, von zierlicher Statur und hat langes dunkelblondes Haar. Am Abend ihres Verschwindens trug sie ein verwaschenes graues Top mit Pailletten, eine eng anliegende dunkelblaue Jeans und halbhohe schwarze Stiefel. Emma ist außerdem an einem goldfarbenen Armband mit einem herzförmigen Anhänger zu erkennen, und einem großen goldenen Ring in Form einer Raute, den sie am rechten Zeigefinger trägt.

Wenn Sie Emma gesehen haben, nehmen Sie bitte Kontakt mit der Polizei in Amsterdam unter der Telefonnummer 0900 – 8844 auf.

Möchten Sie lieber anonym bleiben, wählen Sie die 0800 – 7000.

23.12.18

DAS IST DOCH MAL WAS! AUFMACHER IN DER ZEITUNG!

DAS IST DAS LETZTE MAL, DASS JEMAND SIE SEHEN WIRD!

EMMA TIMMERS IST VERGANGENHEIT.

Emma

Ich träume.

Ich liege auf dem Boden eines kalten dunklen Raums. Es ist feucht und muffig, als käme nie frische Luft herein. Etwas in mir sagt, ich solle aufstehen und machen, dass ich hier wegkomme, aber mein Körper gehorcht mir nicht. Meine Arme und Beine tun so weh, als wären sie gebrochen.

Hilflos bleibe ich liegen. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Meine Gedanken kleben aneinander wie Leim. Vielleicht hört dieser Albtraum auf, wenn ich die Augen schließe – wache ich dann in einem anderen Traum auf? Einem schönen Traum?

Die Augenlider fallen mir zu. Ich höre, wie mein Herz auf dem Steinboden pocht, immer langsamer, langsamer, langsamer. Ich schwebe von mir weg, weg von dem Schmerz, unerreichbar weit weg.

Aber es ist noch jemand in diesem Raum. Ich spüre es daran, wie sich die Luft neben mir verändert.

Ich muss die Augen öffnen. Komm schon, Emma, mach sie auf. Aber meine Augenlider sind so schwer, ich bin so müde.

Ein unterdrücktes Hüsteln.

Mit Mühe bekomme ich die Augen auf. Die Schatten an der Wand bewegen sich, verschwommen und verformt. Eine schemenhafte Gestalt löst sich von der Wand, als wäre sie schon die ganze Zeit dort gewesen und hätte mich beobachtet.

Passiert das gerade wirklich?

Geräuschlos bewegt sich die Gestalt auf mich zu. Ich sehe sie groß und dann wieder klein. Scharf und unscharf. Ich weiß nicht, ob ich Angst oder Erleichterung empfinden soll.

»Hilf mir!«, will ich rufen, aber meine Lippen wollen sich nicht bewegen.

Schweigend stellt sich der Schemen neben mich. Wir schauen uns an. Sein Gesicht ist im Schatten verborgen.

Die Angst gewinnt die Oberhand. Ich spüre, wie eine Träne über meine Wange rollt, wie sie über meine Haut rinnt und auf den Boden tropft. Warm und kalt. Weich und hart.

Alles fühlt sich so echt an. Zu echt.

Ich kneife die Augen fest zusammen. Was ich nicht sehe, gibt es nicht. Das ist alles nur ein Traum.

Eine Hand streicht über meinen Arm. Kalt. Noch kälter als Eis.

Ich fange an zu zittern.

Finger bewegen sich tastend über meinen Körper, als suchten sie etwas. Die Kälte durchdringt meine Haut, bis in die Knochen, und entzieht mir alle Wärme und Energie.

Minutenlang knetet die Hand meine Haut, bis ich nicht mehr weiß, wer ich bin.

Und dann zieht sich die Hand zurück. Ich höre, wie die Schattengestalt aufsteht und weggeht.

Die Kälte schwindet aus meinem Körper, die Angst jedoch nicht.

Es ist nur ein Traum, rede ich mir ein. Gleich wirst du wach, und alles ist wieder normal.

Donnerstag, 4. Juli 2019

Lilly

Ich hätte diesen Urlaub absagen sollen. Schon seit dem Aufstehen habe ich das Gefühl, weinen zu müssen. Die Tränen stehen schon so weit oben, dass ich sie kaum zurückhalten kann. In einer Viertelstunde fährt der Bus ab, morgen früh sind wir in Südfrankreich. Und in einer Woche sind wir wieder zurück. Aber irgendwie fühlt es sich an, als würde ich nie wiederkommen.

Stell dich nicht so an, Lilly, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Du fährst nach Frankreich, nicht ans Ende der Welt.

Ich schaue zu Mabel, Anouk und Bo. Sie stehen vor dem Bus und lachen über irgendeinen blöden Witz, den Bo gerade erzählt hat. Der Blick in ihren Augen ist ausgelassen. Fröhlich. Warum bin ich nicht so wie sie? Warum mache ich es mir immer so schwer?

»Überraschung!«, sagt Bo. »Guckt mal, was ich für uns besorgt habe!«

Ich sehe, wie sie vier rosafarbene Caps aus ihrer Tasche zieht. Unsere Namen sind in Schwarz aufgestickt.

»Das ist ja superlieb von dir«, sagt Mabel.

»Witzig«, brummt Anouk.

Sie schauen zu mir.

»Ooooooh, wirklich todschick, Bo«, sage ich, mein Gesicht starr vor zurückgehaltenen Tränen. Mir ist völlig klar, dass ich mich zum Affen mache mit dem Ding auf dem Kopf.

»Tausend Dank«, sagt Bo und grinst. »Es hat mich einen ganzen Tag gekostet, das zu regeln. Aber sie sind es wert.« Sie verteilt die Kappen.

Mit Grauen sehe ich, wie Mabel, Anouk und Bo die Caps gleich aufsetzen. Ich weiß, dass ich nicht kneifen kann. Also schließe ich mich ihnen an und würde am liebsten vor lauter Elend im Boden versinken.

»Foto!«, ruft Bo.

»Soll ich eins von euch machen?«, fragt meine Mutter.

Sie hat darauf bestanden, mich zum Bus zu bringen. »Du glaubst doch wohl nicht, dass ich dich mit deinem schweren Koffer auf dem Rad fahren lasse?«, hatte sie gesagt. »Und ich will mich davon überzeugen, dass du sicher in diesem Bus sitzt. Ich habe nur eine Tochter!«

Dankbar hatte ich ihr Angebot angenommen. Aber vielleicht hätte ich doch allein gehen sollen. Dieser Abschied zieht sich wie ein Pflaster, das man ganz langsam abzieht. Und ich weiß, dass der schmerzlichste Teil noch kommt.

Mabel lächelt meine Mutter höflich an. »Das wäre sehr freundlich von Ihnen, Frau van Rijssel. Sie können meine Kamera nehmen.«

Sie öffnet den Reißverschluss einer schwarzen Tasche und reicht meiner Mutter eine große, fast professionell aussehende Kamera.

»Wow.« Bo pfeift. »Wie kommst du denn an dieses Profi-Teil?«

»Na, von meinen Eltern. Ein Geschenk für den Urlaub.«

»Natürlich«, sagt Bo mit sarkastischem Unterton. »Ich habe auch etwas von meinen Eltern bekommen: eine Warnung, keine Dummheiten zu machen.«

Mabel tut so, als hätte sie Bos Bemerkung nicht gehört. »Sie müssen nur auf diese schwarze Taste drücken, sie steht auf vollautomatisch«, sagt sie zu meiner Mutter.

»Okay.« Meine Mutter nickt.

Bo und Anouk haken sich bei mir unter. Mabel stellt sich neben Anouk.

»Ich zähle bis drei, und dann rufen wir alle ganz laut: Go Camping!«, sagt Bo.

»Seid ihr bereit?«, fragt meine Mutter.

»Ja!«, ruft Bo.

Ich sehe, wie meine Mutter ihren Finger auf die schwarze Taste legt, wie die anderen Reisenden zu uns hinüberschauen. Ich höre, wie Bo bis drei zählt.

»Goooo Caaaaampiiiiiing!«, rufen alle.

Ich schließe die Augen.

Klick.

»Hat's funktioniert?«, fragt Mabel.

»Ich denke schon«, sagt meine Mutter zögernd. »Soll ich sicherheitshalber noch eins machen? Das ist vielleicht …«

»Nein«, schneidet Bo meiner Mutter das Wort ab. »Wir müssen los.«

Meine Mutter gibt Mabel die Kamera zurück und umarmt mich. »Schreibst du mir ab und zu?«

»Ja«, murmele ich.

»Und bist du auch vorsichtig? Ihr habt so eine schlimme Zeit hinter euch mit Emma. Manchmal habe ich Angst, dass … Na ja, du verstehst schon, was ich meine. Passt gut auf euch auf.«

»Ja«, sage ich noch einmal. Ich bin unangenehm nah dran, meine Tränen nicht mehr zurückhalten zu können. Am liebsten würde ich mit meiner Mutter wieder nach Hause fahren.

»Lilly, jetzt mach mal voran«, höre ich Bo rufen. »Mabel und Anouk sitzen schon im Bus.«

»Ich komme schon«, sage ich mit rauer Stimme. »Tschüss, Mama.«

»Tschüss, Liebes.«

Sie zieht mich noch näher an sich und wiegt mich hin und her. In den Armen meiner Mutter fühle ich mich für einen Moment wie ein Baby, doch dann lässt sie mich los.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Bo die Augen verdreht, wodurch ich mich noch elender fühle.

»Geh nur«, sagt meine Mutter lächelnd.

Ich will nicht.

Ich schlucke die Worte runter und steige hinter Bo in den Bus.

Bo setzt sich neben Mabel, und ich rutsche auf den freien Platz neben Anouk. Durch das Fenster sehe ich meine Mutter, eine unbewegliche Puppe. Sie hat die Hände über dem Bauch gefaltet. Das macht sie immer, wenn sie irgendein Problem hat. Ich weiß, dass sie für mich die Starke spielt, und wieder kämpfe ich gegen die aufsteigenden Tränen.

Die Bustür schließt sich, und brummend erwacht der Motor.

»Yes! Endlich, wir fahren!«, ruft Bo.

Anouk bekreuzigt sich. »Für eine sichere Reise«, murmelt sie. »Auf dass uns alle guten Geister begleiten.«

»Amen«, sagt Mabel und grinst.

Ich schaue hinaus. Der Arm meiner Mutter schwenkt wie ein Scheibenwischer hin und her. Dann malt sie mit den Händen ein Herz in die Luft. Ich liebe dich.

Ich mache die gleiche Geste auf der anderen Fensterseite.

»Jetzt hör doch mal auf mit dem albernen Getue«, schnaubt Bo. »Wie alt bist du denn? Acht?« Sie rutscht tiefer in ihren Sitz. »Mit so einer Mutter wird man doch irre!«

»Hör auf«, sage ich leise. Wie immer, wenn ich wütend werde, ist es, als würde mir jemand die Kehle zudrücken. Ich kann einfach nicht streiten. Ich hasse Streit.

Der Bus verlässt den Parkbereich und fährt Richtung Amstelveenseweg. Meine Mutter wird schnell kleiner. Ich sehe, wie sie mir Kusshände zuwirft. Dann biegen wir links ab, und sie verschwindet.

Ich starre auf meine Hände. Ich will nicht, dass Bo, Mabel und Anouk mich weinen sehen.

Bo

Glaubt Lilly wirklich, dass ich nicht sehe, wie sie heult? Echt armselig.

Genervt wende ich mich ab. Meine Eltern waren heute Morgen schon auf dem Weg zur Arbeit, als ich aufgestanden bin. Sie hatten nicht mal einen Zettel oder eine Nachricht hinterlassen, um mir einen schönen Urlaub zu wünschen. Wahrscheinlich kommen sie heute Abend nach Hause, mit meinen beiden Schwestern, die sie vom Bahnhof abgeholt haben, und merken immer noch nicht, dass ich weg bin.

Ich beiße mir auf die Lippe. Scheiß drauf. Vielleicht gehe ich nie wieder nach Hause.

»Wer will was trinken?«, frage ich, während ich aufstehe und meine Tasche aus der Gepäckablage nehme. »Ich habe Cola light, Fanta und … das da.«

Hinter der Stuhllehne halte ich einen schwarzen Flachmann hoch, damit die anderen Leute im Bus ihn nicht sehen können.

»Wodka«, flüstere ich und grinse.

»Bo«, zischt Mabel. »Steck's weg. Auf der Weihnachtsfeier hätten sie dich auch fast erwischt.«

Die Weihnachtsfeier … Für eine Sekunde erstarre ich. Warum fängt sie denn jetzt davon an?

»Ich habe wirklich keinen Bock auf Stress. Wer weiß, nachher werfen sie uns noch aus dem Bus, nur weil du unbedingt wieder trinken musst«, sagt Mabel. »Ich nehme lieber eine normale Cola. Ohne Wodka.«

Mein Körper entspannt sich wieder. Siehst du, kein Problem.

»Hier, fang.« Absichtlich ein wenig zu fest werfe ich ihr eine Coladose zu. »Und für dich, Anouk?«

»Ich trinke Kamillentee«, antwortet sie und hält eine Thermoskanne hoch.

»Ah, Kamillentee, lecker.« Ich lächele und denke: Hexe. »Was willst du trinken, Lilly?«, frage ich dann.

Keine Antwort. Sie starrt auf ihre Hände.

»LILLY!«

Erschrocken schaut sie mich an, mit dicken roten Augen. Sie sieht aus wie eine Kröte.

»Was willst du trinken?«, wiederhole ich. »Fanta? Cola?«

»Hast … hast du auch koffeinfreie Cola?«, fragt sie leise. »Ich vertrage das Koffein nicht so gut, davon kriege ich rote Flecken.«

»Nein, ich habe nur Cola light. Kauf dir das Zeug beim nächsten Mal doch einfach selbst.«

Sie zuckt ein wenig hilflos mit den Schultern. »I-ich trinke einfach Wasser, danke!«

Seltsames Wesen. Sie ist wie ein Schmetterling, geht mir durch den Kopf. Schön und elegant, wenn die Sonne scheint, aber zu zart, wenn es regnet. Lilly ist die Einzige von uns, die nach Emmas Verschwinden Beruhigungspillen bekommen hat. Emma … Manchmal denke ich, dass Lilly nie darüber hinweggekommen ist. Eigentlich sind wir alle …

»Prost!«, unterbricht Mabels Stimme meine Gedanken.

»Hä?« Erstaunt schaue ich sie an.

»Auf den Urlaub«, sagt sie lächelnd.

Schnell schütte ich einen kräftigen Schuss Wodka in meine Coladose. »Cheers!«

Mit wenigen Schlucken leere ich die Dose. Ein gewaltiger Rülpser entwischt mir.

»Ups!«, sage ich und feixe. »Das macht man aber nicht.«

»Muss das sein?«, fragt Mabel missbilligend.

Ich empfinde eine Mischung aus Ärger und Wut. Für wen hält die sich eigentlich? Mabel ist manchmal so ein Snob mit ihren teuren Klamotten, perfekt geschnittenen honigblonden Haaren und ihrem beknackten Tonfall.

Ich rülpse noch einmal. »Sorry, hast du was gesagt? Ich hatte was im Ohr.«

Kopfschüttelnd schaut Mabel in die andere Richtung. »Wahrscheinlich deine letzte Hirnzelle«, murmelt sie.

»Haha, sehr witzig, bestimmt nicht.« Ich ziehe die Girlz aus meiner Tasche. »Aber jetzt lese ich mit meiner letzten Hirnzelle mein Horoskop: ›Löwe, 22. Juli bis 22. August. Es wird romantisch! Jemand verdreht dir völlig den Kopf. Dieser Boy bringt dich zum Schreien. Zeig ihm, wie schön du ihn findest und streichele seine Mähne. Das könnte der beste Urlaub aller Zeiten werden! Du bist heißer als heiß diesen Sommer, Löwe!‹ Das klingt doch ganz nach mir«, sage ich und wedele triumphierend mit der Zeitschrift.

»Das klingt nach hohler Scheiße«, höhnt Anouk. »Den Unsinn glaubst du doch wohl selbst nicht! Bei der Redaktion arbeiten nun wirklich keine Astrologen. Wahrscheinlich saugen die sich alles bloß aus den Fingern.«

»Oh, wie dumm, das hatte ich doch glatt vergessen. Wir machen Urlaub mit Miss Medium!« Ich tue so, als würde ich mir vor die Stirn schlagen. »Wenn du über alles so gut Bescheid weißt, dann mach's doch selbst.«

»W-Was?« Anouk schaut mich erschrocken an.

»Du hast doch dieses paranormale Gen von deiner Mutter geerbt, oder? Lass mal hören, was du uns für diesen Urlaub vorhersagst.«

»Richtig gute Idee, Bo!«, pflichtet Mabel mir bei. »Bitte, bitte, Noukie, machst du das? Wie vor zwei Jahren, das war so witzig damals!«

»Ich bin keine Wahrsagerin auf der Kirmes. Solche Sachen kann ich nicht auf Kommando«, sagt Anouk mürrisch.

»Sag einfach, was du spürst«, meint Mabel und lächelt. »Ist doch total egal, wenn es nicht stimmt.«

»Genau, ist total egal«, wiederhole ich zuckersüß. »Sonst können wir auch erst Gläserrücken machen? Das hattest du uns auch noch versprochen.«

»Hm.« Anouks Gesicht wird noch mürrischer.

»Bitte«, sagt Mabel noch einmal. »Bitte-bitte-bitte.«

Seufzend gibt Anouk nach. »Wenn ihr unbedingt wollt … Aber erwartet keine Wunder.«

»Ich erwarte gar nichts«, sage ich mit einem scheinheiligen Lächeln.

»Pssst.« Anouk schließt die Augen. »Ich muss mich konzentrieren.«

Sie bewegt die Hände durch die Luft, als würde sie etwas suchen. »Hier gibt es Dinge«, murmelt sie. »Sie kommen näher, und sie werden immer stärker.«

Plötzlich öffnet sie die Augen. Ich weiß nicht, wie sie das macht, aber ihr Blick ist glasig und abwesend, als wäre sie an einem Ort, wo wir nicht sind. Fast könnte ich an dieses Hokuspokus-Getue glauben. Fast, wenn sie nicht immer so einen Unsinn hervorkramen würde, von dem nie etwas stimmt.

»Ich kann für Mabel eine Aura der Liebe spüren.« Anouks Stimme klingt seltsam tief. »Sie wird einen jungen Mann treffen, in den sie sich verliebt. Aber durch die Aura verlaufen auch violette Streifen. Violett steht für Widerstand und Unverständnis.« Sie beißt sich auf die Lippe. »Und manchmal ist es auch die Farbe der Trauer.«

»Das wird ja heiter!«, rufe ich aus. »Mabel knutscht in den Ferien mit einer Leiche!«

»Haha, sehr nett«, sagt Mabel, aber dabei macht sie ein Gesicht, als fände sie es grässlich. »Ich entscheide schon selbst, wen ich küsse.«

Anouk tut so, als würde sie die beiden nicht hören. »Und für Bo«, fährt sie fort, »sehe ich eine braune Aura mit matten Flecken. Das kann auf Geldprobleme oder Stress hindeuten. Stimmt das?«

Ist das ihr Ernst? Ich warte auf eine Fortsetzung, aber die kommt nicht.

»Jaja«, seufze ich. »Ich habe ein Jahr lang für diesen Urlaub gespart, natürlich bin ich blank. Okay, die Nächste. Lilly.«

»Für Lilly spüre ich …« Anouks Stimme stockt. »Ich f-fühle …«

Plötzlich beginnt sie am ganzen Leib zu zittern. Ihre Augen verdrehen sich. »I-ich … i-ich …«

»Alles okay?«, fragt Lilly besorgt. »Anouk?«

Anouk schließt die Augen und atmet ein paarmal tief durch. Als sie die Augen öffnet, sieht sie wieder ganz normal aus.

»Ich, äh, ja …« Sie lächelt. »Deine Aura ist türkis mit silbernen Pünktchen. Das ist ein Hinweis auf eine besondere Begegnung.«

»Oh, echt?« Lilly macht ein verwirrtes Gesicht. »Mit wem denn?«

»Dazu kann ich nichts sagen«, meint Anouk und grinst. »Die Beratung ist vorbei. Ich schicke euch die Rechnung.«

Mabel und Lilly müssen lachen. Ich tue so, als würde ich mitlachen. Aber eigentlich betrachte ich Anouks Gesicht. Was zum Teufel ist da gerade passiert? Ob sie eben wirklich was bei Lilly gesehen hat?

Nein, Unsinn, das ist unmöglich, rede ich mir ein. Das war einfach gutes Theater.

Mabel

Bo trinkt ihre zweite Wodka-Cola, Anouk redet mit Lilly über die Interpretation von Aurafarben. Gut, niemand achtet mehr auf mich. Ich ändere meine Haltung ein wenig, damit ich mit dem Rücken zu Bo sitze, und ziehe mein iPhone aus der Wildledertasche von Marc Jacobs. Das ist ein Shopper aus der neuen Sommerkollektion, letzten Mittwoch zusammen mit meiner Mutter in der schicken P.C. Hooftstraat gekauft.

»Deine alte Tasche geht wirklich nicht mehr.« Ich kann die Stimme meiner Mutter im Kopf hören, abwertend und von oben herab. Sie hat nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als sie die vierhundert Euro für meine neue Tasche bezahlte. »So kannst du dich wenigstens wieder blicken lassen«, meinte sie. »Du willst doch nicht wie eine Landstreicherin in den Urlaub fahren, oder?«

Für jeden anderen wäre das ein Scherz gewesen, für meine Mutter nicht. Manchmal fühle ich mich wie ein Weihnachtsbaum: Meine Mutter behängt mich mit Girlanden und Kugeln, damit sie nicht sehen muss, wer ich wirklich bin. Nach sechzehn Jahren sollte ich mich daran gewöhnt haben, aber es tut immer noch jedes Mal weh.

Pling.

Eine neue Nachricht auf meinem Handy. Vorsichtig spähe ich auf das Display, von wem sie ist. Sam! Mein Herz wummert, und meine Wangen werden knallrot, als hätte ich hohes Fieber. Schützend halte ich die andere Hand vor mein Handy, damit keiner mitlesen kann. Erst dann traue ich mich, die Nachricht zu öffnen.

Wir sind füreinander bestimmt. Auch wenn du etwas anderes sagst. Love truly hurts.

Es ist, als käme die Welt mit einem Ruck zum Stehen und würde verschwinden. In meinem Kopf sammeln sich die Bilder vom Abend zuvor. Sams Küsse, warm, feucht und voller Verlangen. Unsere Zungen ineinander verschlungen, unser Geschmack in meinem Mund, Hände auf meinen Brüsten, zwischen meinen Beinen. Ich schob meine Hüften hoch. Sams Wärme in mir.

Das war so heftig, so überwältigend. Keuchend haben wir uns angesehen. Unsere Blicke führten ein ganzes Gespräch, erzählten sich alles Unausgesprochene. Ich liebe dich. Schon seit dem ersten Kuss im Dezember. Es tut mir leid, dass ich dich danach nicht mehr sehen wollte. Aber ich konnte nicht anders, verstehst du das?

Eng umschlungen sind wir eingeschlafen.

Als ich aufschreckte, war es dunkel und kalt. Sam schlief noch. Ich setzte mich mit dem seltsamen Gefühl auf, nicht mehr atmen zu können. Was war ich dumm gewesen!

Leise stand ich auf und schrieb mit zitternden Fingern einen Zettel:

Sorry, Sam. Das war ein Fehler. Ich kann dich nie wiedersehen.

Weinend bin ich danach davongerannt. Weg aus Sams Leben.

Ich blinzele. Die Bilder vom gestrigen Abend sind verschwunden. In der Spiegelung des Busfensters sehe ich mein Gesicht. Es ist, als würde ich über der Autobahn schweben. Ein Kopf ohne Körper. Wie soll ich bloß diesen Urlaub überstehen?

VOLKSKRANT, 28.12.18

Noch keine Spur von vermisstem Mädchen

Von unserem Korrespondenten

AMSTERDAM – Von der vermissten Emma Timmers (16) aus Amsterdam fehlt jede Spur. Seit Montag sucht die Polizei mit einem Sonderermittlungsteam nach dem Mädchen.

Timmers verschwand am Donnerstag, dem 20. Dezember, nach einem Schulfest des Amsterdam Lyceums.

Laut Sjoerd de Boer, Hauptkommissar der Polizei Amterdam-Amstelland, ist ihr Verschwinden »sehr beunruhigend«.

»Wir rechnen mittlerweile ernsthaft mit einem schweren Verbrechen«, so de Boer.

Es ist vollkommen unklar, was mit dem Mädchen geschehen ist. Die Polizei ist noch immer auf der Suche nach Zeugen.

EIN SCHWERES VERBRECHEN … ENDLICH FÄLLT DER GROSCHEN. KÖNNTE ICH DOCH NUR ALLEN ERZÄHLEN, WAS ICH GETAN HABE. ABER ICH MUSS WEITERMACHEN UND UNSICHTBAR BLEIBEN.

Emma

Ich werde wach.

Und sehe nichts.

Ich blinzele ein paarmal, und die absolute Dunkelheit verschwindet. Hoch über mir sehe ich einen grauen Fleck. Ein Fenster. Aber es sieht nicht so aus wie das Fenster in meinem Schlafzimmer. Das ist groß und viereckig. Dieses ist schmal und rechteckig, wie ein Briefkasten.

Wo bin ich?

Rasende Kopfschmerzen verhindern jeden klaren Gedanken.

Unter mir ertaste ich Stoff zwischen den Fingern und einen weichen federnden Untergrund. Ich liege auf einem Bett. Aber es riecht nicht sauber. Nicht wie zu Hause oder im Hotel. Es riecht wie in einer Umkleide, die zu lange nicht gelüftet wurde.

Oder wie in einem Keller tief unter der Erde.

Irgendwo in meinem Kopf treibt die Erinnerung an einen Traum nach oben. Eine schemenhafte Gestalt, die mich berührte und mir wehtat.

Kälte bis in meine Knochen.

Spinn nicht rum, das war ein Traum.

Und jetzt bist du wach.

Ja.

Ich setze mich auf. Eiskalte, fast gefrorene Luft streicht über meine Haut. Zitternd schlage ich die Arme um mich. Mir wird bewusst, dass ich nur ein T-Shirt und einen Slip trage. Irgendwie fühlt sich das seltsam an, auch wenn ich auf einem Bett liege.

Meine Kopfschmerzen werden noch heftiger. Und im linken Oberarm ist ein dumpfer, ziehender Schmerz. Aber daran will ich gerade nicht denken. Konzentriere dich erst einmal auf die einfachen Dinge. Wo bist du? Wie sieht es hier aus?

Okay.

Vorsichtig schwinge ich die Beine über die Bettkante. Meine nackten Füße berühren einen alten verschlissenen Bodenbelag. Es fühlt sich … normal an. Fast beruhigend. Behutsam lasse ich mich vom Bett gleiten. Meine Beine wackeln, und meine Muskeln tun weh, als hätte ich einen Marathon hinter mir.

Ich zwinge mich, ein paarmal tief ein- und auszuatmen.

Mit ausgestreckten Armen schiebe ich mich Schritt für Schritt durch das Dunkel – und stoße an eine Wand. Kalt und glatt wie Beton. Meine Hände tasten weiter. Ein Türrahmen aus Holz. Ich ertaste links in der Mitte eine Klinke.

Ich drücke sie hinunter, aber die Tür ist verschlossen.

Natürlich. Es ist so logisch, dass es mich nicht erschreckt. Ich empfinde eher eine vage Beruhigung.

Tastend und suchend schiebe ich mich weiter voran. Ein Tisch mit einer Lampe, die nicht funktioniert. Ein Stuhl. Ein Schränkchen. Noch eine verschlossene Tür. Und dann bin ich wieder zurück am Bett.

Es ist ein kleines Zimmer, und obwohl ich fast nichts sehe, kann ich es mir jetzt sehr deutlich vorstellen.

Ich starre zu dem grauen Fleck über mir. Ein Fenster, so hoch, dass ich nicht drankomme. Und selbst wenn ich drankäme, könnte ich nicht durchkriechen, so schmal ist es.

Plötzlich kann ich fast nicht mehr atmen. Ich habe das Gefühl, lebendig begraben zu sein und hier nie wieder herauszukommen.

»H-Hallo«, rufe ich in Panik.

Das Dunkel antwortet nicht.

»Hallo!«, schreie ich. »Hallo, hallo, hallo!«

Gespannt lausche ich.

Die Stille ist überwältigend, und ich bin ganz sicher, dass mich keiner hören kann. Ich bin hier ganz allein.

Irgendwie beruhigt mich das – aber es macht mir auch schreckliche Angst.

Erschöpft lasse ich mich auf das Bett fallen. Ich rolle mich zusammen wie ein Baby, die Knie bis zum Kinn hochgezogen, und weine mich in den Schlaf.

Freitag, 5. Juli 2019

Anouk

»Anouk.« Jemand flüstert meinen Namen.

Wo bin ich? Es ist Nacht. Und dunkel. Aber an den bizarren schwarzen Schatten um mich herum kann ich erkennen, dass ich in einem Wald bin.

»H-hallo?«, rufe ich.

Meine Stimme verschwindet in der Nacht. Es wird unnatürlich still. Kein einziger Laut ist zu hören, kein Windhauch regt sich. Es ist, als wäre ich das einzige lebende Wesen in diesem Wald. Aber ich weiß genau, dass ich nicht allein bin. Der Luftstrom um mich verändert sich kaum spürbar, als würde sich jemand neben mir bewegen.

»W-wer ist da?«, frage ich.

Ein Seufzer entweicht dem Wald. Ganz leise, fast nicht wahrnehmbar, kann ich hören, wie mein Name darin widerhallt. »Aaaaaaanouk.«

Meine Muskeln spannen sich an. Irgendetwas ist mit dieser Stimme, ich vertraue ihr nicht. Ich spähe in die Dunkelheit.

»H-hallo?«, rufe ich noch einmal.

»Anouk!« Die Stimme klingt jetzt lauter, fast ein wenig ungehalten.

Ich drehe mich um meine eigene Achse, um zu verstehen, woher die Laute genau kommen.

»Anouk! Anouk! Anouk!« Mein Name läuft Zickzack zwischen den Bäumen, kommt näher wie eine böse Schlange.