Mädchen, Mädchen, tot bist du - Mel Wallis de Vries - E-Book

Mädchen, Mädchen, tot bist du E-Book

Mel Wallis de Vries

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Beschreibung

Er beobachtet sie, er verfolgt sie, er macht ihnen Angst. Sechs Namen stehen auf seiner Liste. Sie alle haben es verdient zu sterben. Er allein entscheidet, wann ihre Zeit abgelaufen ist.

Eines Tages erhält Tess einen anonymen Brief: Du bist die Nächste, steht darin. Sonst nichts. Verzweifelt wendet sie sich an die Polizei, doch die glaubt nicht, dass ihr Leben in Gefahr ist. Und nun? Drei Mädchen hatten sich kurz zuvor grundlos das Leben genommen. Die Nachrichten darüber lassen Tess nicht mehr los. Kann das alles Zufall sein? Tess glaubt nicht daran, und begibt sich auf die gefährliche Suche nach den Hintergründen ...

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Seitenzahl: 221

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungKapitel 1: KateKapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11: YaraKapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20: TessKapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Ein Jahr späterLeila

Über das Buch

Er beobachtet sie, er verfolgt sie, er macht ihnen Angst. Sechs Namen stehen auf seiner Liste. Sie alle haben es verdient zu sterben. Er allein entscheidet, wann ihre Zeit abgelaufen ist. Eines Tages erhält Tess einen anonymen Brief: Du bist die Nächste, steht darin. Sonst nichts. Verzweifelt wendet sie sich an die Polizei, doch die glaubt nicht, dass ihr Leben in Gefahr ist. Und nun? Drei Mädchen hatten sich kurz zuvor grundlos das Leben genommen. Die Nachrichten darüber lassen Tess nicht mehr los. Kann das alles Zufall sein? Tess glaubt nicht daran, und begibt sich auf die gefährliche Suche nach den Hintergründen ...

Über den Autor

Mel Wallis de Vries, geboren 1973, ist in den Niederlanden DIE Autorin für Psychothriller im Jugendbuch. Ihre Titel finden sich regelmäßig auf den Bestsellerlisten wieder und werden von Jugendlichen wie Erwachsenen gerne gelesen, wie die verschiedenen Preise beweisen, mit denen die Bücher der Autorin ausgezeichnet wurden.

MEL WALLIS DE VRIES

MÄDCHEN, MÄDCHEN, TOT BIST DU …

Übersetzung aus dem Niederländischenvon Christina Brunnenkamp

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der niederländischen Originalausgabe:

»Schuld«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2015 by Mel Wallis de Vries

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-6526-9

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

 

Für Nout

Life’s like a movie, write your own ending.

Jim Henson

Sie ist tot. Ganz ohne Zweifel. Ihre großen blauen Augen starren mich erstaunt an, als könne sie es nicht glauben. Es tut mir wirklich leid, dass es so kommen musste, denke ich, und setze mich auf ihren Schreibtischstuhl.

Hierbei könnte ich es belassen. Aber ich tue es nicht. Ich falte den kleinen Zettel zweimal und stecke ihn in die Hosentasche.

Da sitzen sie nun. Leilas Hockeymannschaft, ein paar Klassenkameradinnen, Verwandte. Einige liegen sich in den Armen oder halten sich an den Händen. Wenn ich es richtig sehe, weinen alle. Es sieht aus wie eine Szene aus Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Mir wird ganz schlecht von dem Anblick.

Mein Blick fällt auf Leilas Sarg vorn in der Trauerhalle. Ich stelle mir vor, wie sie darin liegt, mit ihren vollen rosa Lippen, den Sommersprossen und goldblonden Haaren. Sie ist so schön, sogar im Tod …

Vor zwei Tagen stand die Traueranzeige in der Zeitung. Wie kann man die Wahrheit nur so verdrehen? Ich habe ein Feuerzeug unter die Zeitung gehalten und zugesehen, wie das Papier in Flammen aufging.

Der Bestattungsunternehmer kündigt den nächsten Redner an, einen Onkel. Ich gucke traurig. Meine Augen sind vom Schlafmangel verschwollen und meine Hände zittern. Es sieht alles sehr glaubwürdig aus. Doch was ich eigentlich empfinde, ist Wut. Leilas Tod war kein Selbstmord. Es war Mord. Warum versteht das denn niemand?

»Hört mir zu!«, will ich rufen. »Ich weiß, was wirklich passiert ist!« Aber ich tue es nicht. Ich mache mich so klein und unauffällig wie möglich und sorge dafür, dass mich niemand sieht.

Kapitel 1

Kate

»Hallo-o, das weiß doch jeder, dass Leila sich letzten Dienstag an einem Balken in ihrem Zimmer erhängt hat. Und dass ihr Bruder sie nachmittags gefunden hat.«

Joel sitzt rittlings auf seinem Stuhl und sieht Sven spöttisch an. Es ist Montagmorgen Viertel nach acht und noch nie ist es in unserer Klasse so still gewesen.

»Aber niemand weiß, wie sie das gemacht hat«, antwortet Sven, den Joels Ton anscheinend völlig kalt lässt. »Es stand kein Stuhl oder Tisch unter dem Balken. Hast du darüber schon mal nachgedacht?«

Joel schweigt einige Sekunden und zuckt die Achseln. »Vielleicht ist sie zum Balken geflogen? Who cares.«

Ein paar Schüler grinsen, als ob das ein guter Witz sei. Leila, die fliegen konnte, bevor sie sich erhängte, zu komisch! Das x-te unsinnige Gerücht. Die Gerüchteküche brodelt. Manche sagen, ihr Genick sei gebrochen und sie sei sofort tot gewesen. Aber ich habe auch schon gehört, dass sie langsam erstickt sei und noch um Hilfe gerufen habe, weil sie es sich anders überlegt habe.

»Weißt du, wie sie sie losgemacht haben?«, fragt Sven. »Sie mussten das Seil durch…«

Ich will den Rest nicht hören und wende mich Britt zu: »Kennst du eigentlich jemanden, der Samstag bei Leilas Beerdigung gewesen ist?«, frage ich sie.

»Nö, eigentlich nicht«, sagt Britt. »Ich hab gehört, dass ein paar Mädels aus ihrer Hockeymannschaft da waren. Aber sonst kenne ich niemanden.«

»Sie hat doch bei den Mädchen A6 gespielt, oder?«

»Ja, aber ich …«

»Psst, sie kommt«, höre ich jemanden zischen.

Britt klappt den Mund zu. Wir schauen beide zur Tür. Im Türrahmen steht Frau Kramer. Sie lässt den Blick über die Klasse schweifen. An Leilas leerem Stuhl bleibt er hängen.

Ich kann hören, wie alle die Luft anhalten. Frau Kramer nickt Leilas leerem Stuhl zu und geht zum Pult, als wolle sie nicht mehr darüber sprechen.

Wie anders war es doch letzte Woche. Da wurde in jeder Stunde über Leilas Selbstmord gesprochen. Die Lehrer sagten, dass wir jederzeit darüber reden könnten. Dass wir Leila nie vergessen dürften. In der Aula wurde eine Gedenkecke eingerichtet. Mit Fotos von Leila und einem Buch, in das man etwas schreiben konnte. Als ich Donnerstag hineinguckte, war es noch fast leer. Ich versuchte, mir etwas Persönliches einfallen zu lassen, aber ich konnte mich nicht erinnern, dass wir je zusammen etwas unternommen hätten. Ich konnte mich nicht einmal erinnern, wann ich sie zuletzt gesehen hatte. Ruhe sanft, habe ich letzten Endes in das Buch geschrieben.

Heute Morgen war die Ecke der Aula wieder aufgeräumt.

»Ist die verrückt geworden?« Britt stößt mich an.

»Äh, wieso?«

»Guck doch, was sie macht!«

Ich sehe, wie Frau Kramer einen Stapel leere Blätter austeilt. Shit, ein Test. So kann man auch dafür sorgen, dass alle den Mund halten.

»Oh nein«, murmle ich zurück. »Hast du die Hausaufgaben gemacht?«

»Was glaubst du wohl?«

»Ruhe!«, schnauzt Frau Kramer. »Wer redet, bekommt automatisch eine Sechs.«

»Wie ich diese Frau hasse!«, zischt Britt leise.

»Und das gilt auch für die jungen Damen da drüben«, sagt Frau Kramer zu uns. »Letzte Verwarnung.«

Sie lässt ein leeres Blatt auf meinen Tisch fallen. Ich starre es an, bis mir das Weiß in den Augen wehtut.

Kapitel 2

»Was für ein Scheißtag.« Britt stellt sich unter das Vordach am Seiteneingang und schüttelt ihre roten Locken nach hinten. »Zwei Tests, das soll wohl ein Witz sein! Ich werde mich beim Direktor wegen Misshandlung beschweren.«

»Unbedingt«, sage ich grinsend und rühre zwei Tütchen Zucker in meinen Tee. »Frag ihn dann auch gleich, ob wir die zwei letzten Stunden freikriegen können.«

»Haha, sehr witzig«, sagt Britt schlecht gelaunt.

»Hallo ihr!« Milou kommt zu uns, tief in den Kragen ihrer Jacke eingemummelt.

»Selber hallo«, sagt Britt. »Du bist aber spät dran. Wo kommst du denn her?«

Milou seufzt. »Aus dem Chemieraum. Wir mussten titrieren üben.«

»Titrieren?«, echot Britt. »Das klingt wie eine tödliche Krankheit.«

»Sei nicht albern. Beim Titrieren tropfst du langsam eine Flüssigkeit in eine andere. Oder ist das zu schwierig für dich?«

»Ja.« Britt grinst und stößt mich an. »Ich dachte eigentlich, dass wir bedauernswert wären, aber anscheinend geht’s immer noch schlimmer.«

»Was ist denn passiert?«, fragt Milou.

»Wir hatten erst einen Test bei Kramer«, schnaubt Britt. »Und danach einen in Geschichte bei Lubbers.«

»Und wie lief’s?«

»Schlecht. I’m fucking dead. Die Kramer ist echt eine Hexe. Weißt du, was sie wissen wollte?« Britt erzählt, wie die Tests waren. Sie lässt sie viel lustiger klingen, sodass Milou und ich uns kaum halten können vor Lachen.

»So«, beendet sie den Bericht trocken, »das war ein weiterer Tag im Leben der Britt Hooft Graafland, die jetzt in zwei Fächern auf einer Fünf steht. Hat sonst noch jemand was Tolles zu melden?«

»Ich hoffe, dass das nicht ansteckend ist. Am Ende muss ich gleich auch noch einen Test in Bio schreiben«, sagt Milou lachend.

Bis vor Kurzem war Milou in unserer Klasse, aber dann hat sie gewechselt. Zum Glück spielen wir immer noch in derselben Hockeymannschaft.

»Seid ihr Samstag übrigens bei der Beerdigung von dem Mädchen gewesen?«, fragt sie auf einmal. »Wie hieß sie noch mal … Leila? Ihr hattet doch ein paar Kurse mit ihr zusammen?«

»Yep, sie hieß Leila. Aber ich bin nicht auf ihrer Beerdigung gewesen«, sagt Britt, »und Kate auch nicht.« Es klingt kalt und desinteressiert.

»Wir hatten so gut wie nichts mit Leila zu tun«, füge ich schnell hinzu.

»Ich wäre an eurer Stelle auch nicht gegangen. Die sah immer so seltsam aus.« Milou zuckt mit den Schultern, als wäre damit alles gesagt. »Mal ganz was anderes …« Sie senkt die Stimme. »Habt ihr Lust, am Freitag zu Maddys Secret Birthday Party mitzugehen? Sie wird siebzehn und ihre Eltern sind im Urlaub.«

»Die Maddy aus deiner Klasse mit den braunen Haaren und der Vespa?«, fragt Britt.

»Genau die.« Milou nickt.

Ein Lächeln breitet sich auf Britts Gesicht aus. »Ich bin dabei. Ich liebe Geburtstagspartys. Kommst du auch mit, Kate?«

»Okay«, sage ich achselzuckend. »Ich hab ja doch nichts Besseres zu tun.«

»Super, dann sage ich Maddy, dass ich zwei Freundinnen mitbringe«, sagt Milou. »Wann wollen wir uns treffen? Halb neun bei mir?«

»Okidoki«, sagt Britt. »Wer kommt sonst noch?«

Ich lausche der langen Liste, die Milou runterrattert. Aus dem Augenwinkel sehe ich einen aus der Siebten die Treppe Richtung Fahrradstellplatz runtergehen. Sein Ranzen ist so groß, dass es von hinten aussieht, als habe der Ranzen Füße. Der Ärmste, schießt mir durch den Kopf. Meistens nehmen die Kleinen den Haupteingang. Ein ungeschriebenes Gesetz besagt, dass der Seiteneingang nur für die aus der Oberstufe ist. Ob er das wohl noch nicht weiß?

Der Kleine geht an einer Gruppe Jungs aus der Oberstufe vorbei. In der Mitte der Gruppe steht Max de Bruin, das größte Arschloch der Spinoza-Schule.

Max grinst, als er den Kleinen sieht. »Hey, Ranzen!«, ruft er. »Wo willst du denn mit dem Jungen hin?«

Der Junge schaut erschrocken auf und läuft dann mit gesenktem Kopf weiter.

Doch Max hat anscheinend nicht vor, ihn einfach so gehen zu lassen. »Halt, halt, nicht so schnell!«, ruft er. »Wie heißt du denn?«

»Ich?« Der Junge bleibt stehen und sieht Max verängstigt an.

»Ja, du. Mit wem spreche ich wohl sonst gerade?« Seine Stimme bekommt einen fiesen Unterton.

»Ich heiße T…tom«, stammelt der Junge.

»Dumm?«, brüllt Max so laut, dass jeder es hören kann. »Hast du wirklich DUMM gesagt?«

Milou und Britt haben den Kleinen jetzt auch bemerkt.

»Oh nein, Max hat wieder ein Opfer gefunden«, stöhnt Milou. »Sie sollten dieses Arschloch für den Rest seines Lebens einsperren.«

»Ich hab T…tom gesagt«, stottert der Junge mit feuerrotem Kopf.

»Echt?« Max tritt ein paar Schritte auf ihn zu. »Willst du damit sagen, dass ich dich nicht richtig verstanden habe? Vielleicht hast du ja genuschelt.«

»Nein … Ich … Es …« Der Junge dreht sich um. »Tut mir leid.«

»Du gehst doch wohl nicht weg?«, fragt Max überfreundlich. »Wir unterhalten uns doch gerade so nett.«

Lauf weg, denke ich. Bitte, lauf weg. Aber der Junge bleibt wie angewurzelt stehen.

Max schlendert ihm noch ein paar Schritte entgegen, bis er neben ihm steht. »Schicker Ranzen, Dumm«, sagt er.

Die Gruppe hinter Max grinst hämisch.

»Ist der nicht zu schwer für dich?«

Der Junge schüttelt den Kopf. Ich sehe, dass ihm Tränen in den Augen stehen.

»Willst du dich nicht kurz von deinem schweren Ranzen erholen?«

Bevor der Junge antworten kann, versetzt ihm Max einen harten Stoß gegen die Schulter. Der Junge strauchelt und fällt rücklings zu Boden.

Ich halte die Luft an. Das läuft hier aus dem Ruder.

»Liegst du gut?« Max läuft einmal um Tom herum. »Hat dir niemand erzählt, dass dieser Ausgang für Jungs wie dich verboten ist?« Er tritt Tom gegen das Bein.

»Hör auf«, stammelt der Junge.

»Na so was, tut das etwa weh? Bist du vielleicht ein Mädchen?« Max tritt ihm mit voller Wucht zwischen die Beine.

Tom rollt sich stöhnend zusammen.

»Ups, du bist ja doch ein Junge«, sagt Max. »Aber du benimmst dich wie ein Mädchen.«

Es wird noch lauter gelacht.

»Soll ich dein dämliches Pickelgesicht auch noch kurz bearbeiten?« Max holt mit dem Fuß aus.

Alle sehen gebannt zu, als wäre es eine lustige Show.

»Eins, zwei«, zählt Max, »dr…«

»Stopp!«, rufe ich.

Max’ Fuß bleibt in der Luft hängen. Ganz langsam wendet er sich mir zu. »Ja? Was hast du denn für ein Problem?«, schnauzt er.

Britt zieht an meinem Arm. »Misch dich da nicht ein, Kate«, flüstert sie.

Ich ignoriere sie und reiße mich los. »Lass den Jungen in Ruhe!«, rufe ich.

Max zieht die Mundwinkel hoch. »Was hast du gesagt?« Um mich zu provozieren, holt er zu einem erneuten Tritt aus. »Ich kann dich nicht hören.«

Da reißt mir der Geduldsfaden. Ohne nachzudenken stürme ich die Treppe hinunter. »Ich habe gesagt, du sollst den Jungen in Ruhe lassen!«, brülle ich.

»Und warum sollte ich das tun?« Sein Mund verzieht sich zu einem breiten Grinsen. Er lacht mich einfach aus!

»Wer ist denn die Zicke?«, höre ich einen von Max’ Freunden hinter mir fragen.

Ich hole tief Luft. »Hör auf, oder … ich gehe zum Direktor!«

Max kneift die Augen zusammen. »Komm mir nicht so!«, sagt er tonlos.

Mir läuft ein Schauer über den Rücken. »Das hängt ganz von dir ab«, sage ich so ruhig wie möglich. »Es wäre doch zu schade, wenn du in deinem letzten Jahr von der Schule fliegen würdest!«

Um uns herum ist es mucksmäuschenstill geworden. Ich sehe, wie seine Kiefermuskeln zucken und er die Hände zu Fäusten ballt. Einen Moment lang befürchte ich, dass er gleich zuschlägt.

Aber dann zischt er: »Verpiss dich, du dumme Schlampe!« Mit großen Schritten geht er zu seinen Freunden hinüber.

Die starren mich an wie ein Insekt, das sie am liebsten zertreten würden.

Schnell sehe ich weg und wende mich Tom zu. Sein Gesicht ist tränenüberströmt. »Geht’s?«, frage ich und strecke ihm die Hand entgegen.

»Ja«, sagt Tom.

Vorsichtig helfe ich ihm auf. »Lauf lieber schnell nach Hause«, sage ich, »bevor die da …« Ich nicke in Richtung der Gruppe hinter mir.

Tom versteht mich und murmelt: »Danke schön.« So schnell er kann, rennt er weg.

Ich bleibe stehen, bis er hinterm Fahrradstellplatz verschwunden ist. Mit einem seltsam leichten Gefühl im Kopf drehe ich mich um.

Alle Blicke sind auf mich gerichtet.

Ich hole tief Luft und setze zum Gehen an. Komischerweise scheine ich nicht mehr zu wissen, wie ich einen Fuß vor den anderen setzen muss. Die Distanz bis zu Britt und Milou kommt mir endlos vor.

Mühsam gehe ich die Stufen hoch. Als ich oben angekommen bin, fährt mich Britt an: »Bist du lebensmüde? Das war verdammt noch mal glatter Selbstmord!« Sie schüttelt den Kopf, als befürchte sie, dass ich bald wirklich nicht mehr da sein werde. »Der Typ ist doch völlig gestört!«

Milou sagt nichts, sondern starrt mich einfach nur an.

Meine Wangen fangen an zu glühen. »Was hätte ich denn tun sollen?«, frage ich heiser. »Etwa nichts?«

»Genau!«, schnauzt Britt.

Aus dem Augenwinkel sehe ich Max’ Freunde auf mich zeigen.

»Der vergisst das auch wieder«, sagt Milou.

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, höhnt Britt. »Du hast ihn ganz schön bloßgestellt. Warum machst du auch immer so idiotische Sachen?«

Ich fühle Tränen in meinen Augen brennen.

»Was war das letztens noch mal? Ach ja, da hast du dich über den Jungen aufgeregt, der sich an der Kasse vorgedrängelt hat. Der Typ hat dir fast eine reingehauen. Auch so eine schlaue Aktion. Not.«

»Hör auf«, sage ich mit belegter Stimme. »Bitte.«

Es klingelt.

»Hast du ein Glück«, sagt Britt. »Die Pause ist um. Wir reden nachher weiter.«

»Britt!«, sagt Milou warnend.

»Dann halt nicht. Aber es bleibt dumm!«

Ich gehe hinter Britt und Milou her zur Tür. Dort drehe ich mich noch mal um. Der Schulhof ist leer. Und doch habe ich das Gefühl, dass mich jemand beobachtet.

Mit einem Schaudern schlüpfe ich hinein.

Kapitel 3

»Hallo?«, rufe ich, als ich die Haustür geöffnet habe und in den dämmrigen Flur trete. Es ist komisch, meine Stimme im stillen Haus zu hören. Meine Mutter ist eigentlich immer zu Hause, aber heute Nachmittag musste sie zur Kontrolle ins Krankenhaus. Mein Vater ist im Büro.

Ich nehme die Stille in mich auf. Vielleicht kann ich auf Netflix einen Film gucken. Oder …

Irgendwo ein Stockwerk höher höre ich plötzlich eine Diele knarzen. Ist meine Mutter etwa doch zu Hause?

»Hallo? Mama?«, rufe ich.

Es bleibt still. Sehr still.

Die Stille zerrt an meinen Nerven. Es fühlt sich an, als ob sich jemand in ihr versteckt.

Stell dich nicht so an, sage ich zu mir. Du bist sechzehn, nicht sechs! Gleich glaubst du auch wieder an Monster unterm Bett. Natürlich ist da niemand.

Ich mache einen großen Schritt über den Stapel Werbeprospekte und Briefe auf der Fußmatte. Auf einen Blick sehe ich, dass nichts für mich dabei ist.

Ich gehe in die Küche und werfe die Tür extralaut zu, um die Stille zu verscheuchen. Die Gläser klirren im Schrank.

Die Gläser können doch auch nichts dafür, höre ich meine Mutter sagen.

’tschuldigung, flüstere ich in Gedanken zurück.

Das Licht über dem Herd brennt und es riecht nach frischer Gemüsesuppe. Ich hebe den Deckel vom Topf. Mein Lieblingsessen. Wahrscheinlich hat meine Mutter die Suppe heute Morgen schon gekocht.

Auf dem Küchentisch liegt eine Nachricht.

Mein Schatz,

ich bin um 18.30 Uhr wieder zurück. Ich habe rosa Kekse für dich gekauft. Sie liegen auf der Arbeitsplatte.

Kuss, Mama

Die Handschrift meiner Mutter ist rund und ordentlich, als ob nichts los sei. »Es ist einfach nur eine Routinekontrolle. Kein Grund zur Sorge«, hatte sie heute Morgen gesagt, als ich sie fragte, warum sie ins Krankenhaus müsse.

Ich würde es nur zu gerne glauben.

Ich nehme mir die Packung rosa Kekse und gehe in den Flur. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend laufe ich die Treppe hoch.

Und da sehe ich es.

Meine Zimmertür ist angelehnt, dabei bin ich mir sicher, dass ich sie heute Morgen zugemacht habe. Das unbehagliche Gefühl kehrt zurück. Wie ist das möglich?

Du hast bestimmt vergessen, die Tür zuzumachen, versuche ich mich zu beruhigen. Oder vielleicht ist Mama heute in meinem Zimmer gewesen? Aber das würde sie nie tun, ohne mich zu fragen …

Plötzlich höre ich etwas. Einen Piepton. Als würde jemand eine SMS bekommen. Aber das Geräusch ist so leise, dass ich es mir auch eingebildet haben kann.

»Ist da jemand?«, rufe ich viel mutiger als ich mich fühle.

Keine Antwort.

Natürlich nicht.

Mit einem tiefen Seufzer gehe ich zu meinem Zimmer. Ich höre meine eigenen Schritte auf den Dielen und das Summen des Heizkessels.

»Ich hab keine Angst«, sage ich zur Stille und zu mir. Vorsichtig öffne ich meine Zimmertür noch ein wenig weiter.

Alles sieht genauso aus wie heute Morgen, als ich wegging. Überall liegen Klamotten, Papiere, Bücher, Schminkzeug, schmutzige Socken. Die Unordnung beruhigt mich. Man muss schon echt gestört sein, um hier einzubrechen.

Ich lache und gehe hinein. Vielleicht sollte ich doch mal aufräumen …

Es passiert so schnell, dass ich nicht einmal schreien kann. Ein schwarzer Schatten springt hinter der Tür hervor. Eine Hand auf meinem Mund und eine um meinen Hals.

Reflexhaft reiße ich den Mund auf, aber ich kann nicht atmen. Ich ersticke, ich …

»Buh!« Der Schatten lässt mich los und stellt sich vor mich.

Mir ist schwindelig und ich sehe Sterne.

»Kate? Hallo?«, sagt eine Stimme, die ich auf Anhieb erkenne.

Ich atme ein paarmal tief durch. Ganz allmählich kann ich wieder scharf sehen.

Grinsend sieht Luuk mich an. »Dieser Blick, zu komisch! Du wusstest doch wohl, dass ich es bin?«

»Nee«, sage ich heiser. »Tu das bitte nie wieder! Ich habe mich zu Tode erschrocken, du Arsch.«

»’tschuldigung.« Luuk grinst und nimmt mich in den Arm.

Er ist warm und riecht nach Zigaretten und Herbstlaub. Aus irgendeinem Grund ist das eine unwiderstehliche Kombination.

»Ich hätte einen Herzinfarkt kriegen können«, maule ich. »Dann hättest du mich auf dem Gewissen, Luuk Staals.«

»Na klar, ein Herzinfarkt mit sechzehn.« Er fängt an, meinen Hals zu küssen.

»Lass das«, sage ich wenig überzeugend.

Luuk presst seinen Mund auf meinen. »Du sollst nicht lügen«, flüstert er. Sein Atem wärmt meinen Mund.

»Wie bist du überhaupt reingekommen?«, murmle ich.

»Mit dem Schlüssel, der unter dem Briefkasten versteckt ist. Es hat niemand aufgemacht, als ich geklingelt habe.« Er bedeckt mein Gesicht mit kleinen Küssen. Ich bekomme überall Gänsehaut davon.

»Woher weißt du, dass der Schlüssel da liegt?«, keuche ich.

»Das hast du mir mal erzählt, du Schlaumeier.«

»Ach ja.« Ich kann nicht mehr klar denken.

Luuks Hand gleitet unter meinen Pulli und meinen Rücken hinauf. »Musst du mir nicht was erzählen?«

»Äh, was denn?«

»Was du heute gemacht hast?«

Obwohl es warm ist in meinem Zimmer, läuft mir ein Schauer über den Rücken. Luuk wird doch wohl nichts von der Sache mit Max gehört haben?

Nein, natürlich nicht. »Wir haben zwei Tests geschrieben«, sage ich so cool wie möglich, »die bei mir sehr schlecht gelaufen sind.«

»Und außerdem?«

»Nix.«

Luuk lässt mich los. »Warum lügst du mich an, Kate?«, fragt er in scharfem Tonfall.

Ich zucke mit den Schultern und tue so, als verstünde ich ihn nicht.

»Okay, dann lass mich kurz dein Gedächtnis auffrischen.« Luuk zieht sein Handy aus der Hosentasche. Mit wenigen Bewegungen öffnet er Facebook. »Gratuliere, Sie haben heute einen neuen Rekord erzielt«, sagt er spöttisch. »387-mal gelikt, 17-mal geteilt und 122 Kommentare innerhalb von ein paar Stunden. Und dieses Foto steht auf Instagram.«

»Zeig mal!« Ich schnappe mir sein Telefon.

Das Foto ist furchtbar. Wie eine Oberlehrerin zeige ich auf Max, der ein bisschen dümmlich zurückgrinst. Ich weiß noch genau, wie er in echt guckte: fies. Herablassend. Auf diesem Foto sieht er einfach nur nerdig aus.

Loser des Tages!, lautet die Bildunterschrift.

Blitzschnell scrolle ich durch die Kommentare. Mein Name fällt sicher dreißigmal.

Kate rules!

Supergirl Kate beats Max

Ist der Typ schwul?

Mit knallroten Wangen gebe ich Luuk das Telefon zurück.

»Es sieht schlimmer aus als es war«, sage ich mit zittriger Stimme.

»Erzähl mir mehr«, sagt Luuk.

»Also, das war so …«, stammle ich.

»Ja?« An seinen Augen zeigen sich Lachfältchen, als ob er es sehr lustig fände.

»Dieser Max hat einen aus der Siebten getreten und ich hab ihm gesagt, dass er das lassen soll.«

»Und dann?«

»Dann hat er aufgehört«, sage ich achselzuckend.

Luuk lacht noch einmal laut auf. »Du bist echt verrückt. Süß, aber verrückt.«

Ich zucke noch einmal mit den Schultern. »Niemand hat was getan.«

»Du hättest vielleicht auch besser nix getan«, sagt Luuk grinsend. »Ich kenne Max vom Hockey. Der geht ziemlich schnell in die Luft.«

Ich starre auf den Boden.

»Du hast sicher Verständnis dafür, dass ich Superwoman für ihr impulsives Verhalten bestrafen muss.« Bevor ich mich wehren kann, hat Luuk mich gepackt und hochgehoben.

»Lass mich los!«, kreische ich.

Luuk trägt mich zu meinem Bett, als würde ich nichts wiegen, und lässt mich fallen. Die Matratze federt nach wie ein Trampolin.

»Zur Strafe musst du was ausziehen«, kommandiert er.

Kichernd ziehe ich Schuhe und Socken aus. »Gut so?«

»Was glaubst du wohl?«

»Du nutzt die Situation aus«, tue ich empört und ziehe so verführerisch wie möglich meinen Pulli und meine Jeans aus.

Luuk lacht auch, aber von oben herab, als hätte er das Sagen. »Das geht sicher auch schneller?«

Ich werfe ihm meine Hose an den Kopf. »Und jetzt du, sonst ist das nicht fair.«

Innerhalb weniger Sekunden hat er Sweatshirt, Jeans, Boxershorts und Turnschuhe ausgezogen. Er ist so unvorstellbar schön mit seinem verwuschelten braunen Haar, den muskulösen Armen vom Sport und der kleinen Mulde an seinem Brustbein.

»Unartige Kate«, sagt er und legt sich neben mich. Mit einer geschickten Bewegung öffnet er meinen BH. Meine Brüste verschwinden in seinen Händen. Ein Gefühl, als würde er mein Herz berühren. Ich ziehe die Luft scharf ein.

»Fühlt sich das gut an?«, fragt Luuk und zeichnet mit seinem Finger aufreizend Kreise.

Ich nicke, nicht in der Lage, etwas zu sagen.

Es ist erstaunlich, wie gut er meinen Körper kennt, obwohl wir uns erst vor sieben Wochen kennengelernt haben.

Ich bin ihm buchstäblich in die Arme gelaufen. Am 25.September stand ich nach der letzten Stunde an der Straßenbahnhaltestelle, weil mein Rad einen Platten hatte. Wahrscheinlich war ich morgens durch Glas gefahren, ohne es zu merken. Oder irgendein Arschloch in der Schule hatte sich einen wahnsinnig lustigen Scherz erlaubt.

Eine fast leere Straßenbahn hielt vor meiner Nase. Gedankenverloren wollte ich einsteigen, doch plötzlich: Rums, aua!

Es fühlte sich an, als sei ich gegen die Straßenbahntür gelaufen. Ich sah Sterne.

»Entschuldige«, murmelte ein Junge. »Ich hab dich beim Aussteigen übersehen.«

Ein paar Sekunden starrte ich ihn völlig verwirrt an.

»Geht’s?«, fragte er.

Seine Stimme brachte mich wieder zur Besinnung. Ich betastete meine Stirn. Wahrscheinlich würde ich eine riesige Beule kriegen. »Ganz großartig«, schnaubte ich. »Sieht man das nicht?«

»Es tut mir wirklich leid.« Er legte seine Hand auf meinen Arm. »Soll ich einen Arzt rufen?«

Ich sah ihn an. Dunkle Haare, braune Augen, ein Lächeln auf den Lippen. Er schien überhaupt nicht überrascht zu sein, hier mit mir zu stehen. Irgendwie konnte ich ihm nicht länger böse sein.

»Nee, lass ruhig«, sagte ich seufzend. »Wahrscheinlich sehe ich morgen wie ein Alien aus, aber das überlebe ich wohl.«

»Ein Alien?« Es klang so, als müsse er sich Mühe geben, nicht loszuprusten. »Interessanter Vergleich.«

Ich zuckte die Achseln.

»Und wie heißt das Alien?« Er streckte die Hand aus.

Ich sah die Hand an und begriff, dass ich sie schütteln sollte. Zögernd legte ich meine Hand in die seine. »Kate.«

»Kate.« Er wiederholte meinen Namen, als wolle er ihn sich gut einprägen. »Ich bin Luuk. Wollen wir ne Cola trinken gehen?«

»Was?«