Dachbodengeflüster - Gloria Murphy - E-Book

Dachbodengeflüster E-Book

Gloria Murphy

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Spannend bis zur letzten Seite - raffinierter Nervenkitzel von einer Meisterin des Psychothrillers! Als die jung verheiratete Paige ein Baby erwartet, verlassen sie und ihr Mann Jason das hektische Manhattan und ziehen in ein hübsches Haus nördlich von New York. Paige ist ein halbes Jahr zuvor, zu Beginn ihrer Schwangerschaft, in der Nähe ihrer Wohnung überfallen worden. Nun will das Paar für sich und ihr Baby eine sichere Umgebung finden; durch den Umzug aus der Großstadt in eine beschauliche Nachbarschaft wollen sie allen Gefahren entgehen. Doch irgendetwas stimmt nicht mit dem neuen Haus - es scheint einen heimlichen Mitbewohner zu geben. Schließlich entdecken Paige und Jason auf dem Dachboden ein elfjähriges Mädchen. Noch ahnen sie nicht, dass dieses Kind ihnen zum Verhängnis werden wird...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 459

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gloria Murphy 

Dachbodengeflüster

Psychothriller

Ins Deutsche übertragen von Gabriela Schönberger-Klar

Edel eBooks

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Epilog

Impressum

PROLOG

Für eine Vierjährige wußte sie eine Menge, das sagte jeder. Meistens sperrte sie Augen oder Ohren gerade dann weit auf, wenn sie eigentlich nichts hören oder sehen sollte. Aber manchmal kamen Mommy oder Daddy zu ihr und fingen von sich aus zu erzählen an. Mommy erzählte ihr zum Beispiel bereits von dem Baby, das in ihrem Bauch wuchs, als ihr Bauch noch ganz flach war und niemand geglaubt hätte, daß es überhaupt dort hineinpaßte. Und obwohl sich keiner von ihnen über einen Namen für das Baby Gedanken gemacht hatte, nannte Daddy es von Anfang an nur sein Bübchen.

Doch die bedeutendsten Dinge ergaben den geringsten Sinn – so war es auch mit den Bestrafungen. Nicht, daß Mommy oder Daddy jemals mit ihr darüber gesprochen hätten, das taten sie nicht einmal miteinander. Und natürlich passierten diese Dinge auch nicht alle Tage, nicht einmal jede Woche, aber wenn sie passierten, dann traf es immer Mommy: Sie war die Böse. Und da Daddy der Größte, der Stärkste und der Klügste war, war er es, der ihre Verderbtheit immer als erster entdeckte.

So wie an jenem Tag, als das kleine Mädchen vom Spielen ins Haus zurückkam, er vor dem Fernsehapparat saß, statt draußen einen der alten Wagen zu reparieren, und von Mommy nirgends etwas zu sehen oder zu hören war: da wußte das kleine Mädchen, daß es wieder mal soweit war. Daddys Aufmerksamkeit wandte sich von der lärmenden Spiel-Show ab und der Tür zu, wo sie stehengeblieben war, und er breitete beide Arme weit aus, um sie darin aufzufangen.

»Wie geht’s Daddys Liebling?« fragte er und zog sie zu sich auf das Sofa; sie lächelte, umarmte ihn ganz fest, so wie er es gern hatte, und drückte ihm kleine, feuchte Küsse auf Gesicht und Hals. Sie wollte so gern wissen, was mit Mommy war, fragte aber nicht – er würde es ihr schon sagen, wenn er dazu bereit war. Und erst, als sie ein ganzes Marmeladenbrot und ein Glas Milch vertilgt und den Rest von der Show gesehen hatte, da sagte er: »Mommy ist im Schlafzimmer. Willst du ihr was zum Essen bringen?«

Sie nickte. Und er holte einen Teller aus dem Kühlschrank, auf dem bereits dünngeschnittenes Fleisch auf Salatblättern vorbereitet war. Er stellte den Teller auf ein Tablett, dazu Messer, Gabel, eine Serviette und ein niedriges weißes Glas, in dem dieselben Veilchen standen, die hinter dem Haus wuchsen.

»Paß auf, daß sie alles aufißt«, sagte er. »Mein Bübchen braucht es.«

Bereits die Erwähnung des Babys machte sie glücklich – eine richtige lebendige Puppe, die ißt und weint und die ihr ganz allein zum Spielen gehörte. Und vielleicht zum hundertsten Mal, seit sie wußte, daß das Baby unterwegs war, fragte sie: »Darf ich mich um das Baby kümmern, wenn es da ist, Daddy?«

Er lächelte und zeigte seine großen weißen Zähne – damit ich dich besser fressen kann. Aber wie immer gab er ihr das zur Antwort, was sie hören wollte.

»Wer sollte das wohl besser als seine Schwester können?«

Eins, zwei, drei... noch drei Monate, dann würde Bübchen zur Welt kommen, sagte sie sich, als sie das schwere Tablett in beide Hände nahm und es zum Schlafzimmer ihrer Eltern trug. Vor der Tür blieb sie stehen, holte tief Luft, hielt den Atem an – denn sie wußte nie, welcher Anblick sich ihr bieten würde –, drehte langsam den Türknauf und stieß die Tür auf.

Mommy lag auf dem Bett, ohne Kleider und mit weit gespreizten Armen und Beinen, die mit ihrer zerrissenen Strumpfhose an die Bettpfosten gebunden waren. Sie war ziemlich mager, bis auf den Bauch, der rund und hart wie ein Basketball aufgetrieben war; obwohl sie die Augen geschlossen hielt, schlief sie nicht. Das kleine Mädchen betrachtete sie von oben bis unten – keine blauen oder schwarzen Flecken, keine Beulen, keine Schnitte, kein Blut. Jetzt stieß sie den angehaltenen Atem aus, beugte sich über sie und küßte sie auf die Wange.

»Hi, Mommy.«

Sie schlug die Augen auf und lächelte, als sie ihre Tochter sah.

»Wo ist der Boß?« fragte sie, Daddys Kosenamen benützend.

»Vor dem Fernseher.« Sie zeigte ihr das Tablett. »Er hat dir was zu essen gemacht.«

Die Frau musterte das Essen und schüttelte den Kopf.

»Du mußt was essen. Er wird nur wieder wütend auf dich, wenn du nicht ißt.«

»Ich kann nicht, du weißt doch, daß ich nicht kann. Ich muß mich sonst wieder übergeben.«

Das Mädchen schnitt ein Stück von dem hellen Fleisch ab, spießte es auf die Gabel und hielt es ihrer Mutter an die Lippen.

»Nur ein kleines bißchen«, bettelte sie.

Die Frau preßte die Lippen zusammen und drehte den Kopf zur Seite. »Ich kann nicht, ich will nicht. Bitte, zwing mich nicht dazu.« Als sie sich schließlich wieder ihrer Tochter zuwandte, glitzerten Tränen in ihren großen, veilchenblauen Augen. »Könntest du nicht, Baby?«

Das Mädchen stöhnte kurz auf und starrte auf das Essen ... sie hatte keinen Appetit, besonders nicht auf so etwas. Aber sie schob die Gabel in den Mund, biß in das zähe Fleisch, schluckte es hinunter, nahm noch einen Bissen und noch einen, bis alles weg war und sie glaubte, sie müsse gleich platzen oder sich übergeben, obwohl ihr keines von beiden jemals in ihrem Leben passiert war.

Als sie gehen wollte, streckte Mommy die Finger nach ihrer Hand aus und kitzelte ihre Handfläche.

»Was würde ich nur ohne dich tun, Baby?« flüsterte sie, den Tränen nahe.

»Darf ich Bübchen streicheln?«

Normalerweise mochte sie es nicht, wenn man ihren Bauch anfaßte, aber dieses Mal gestattete sie ihrer Tochter, daß sie ihr die Hand darauf legte und hin- und herfuhr, bis sie die Stelle gefunden hatte, wo die Füße des Babys zu spüren waren. Nachdem sie eine ganze Reihe Tritte abbekommen hatte, zog das kleine Mädchen die Hand zurück und hob das Tablett mit dem nun leeren Teller auf.

»Die Blumen«, sagte die Mutter, »vergiß nicht, dem Boß zu sagen, wie sehr sie mir gefallen haben.«

Schweigen.

»Oh, jetzt komm, sei nicht so. Er macht doch immer so nette kleine Gesten, um mir zu sagen, daß es ihm leid tut. Du kennst ihn doch, wenn es wieder vorbei ist, kauft er uns bestimmt irgendein dummes Geschenk und führt anschließend im Wohnzimmer einen Freudentanz mit uns auf. Außerdem ist es gar nicht so schlimm, wie es aussieht.«

Immer noch Schweigen.

»Er liebt dich... das weißt du doch, oder?«

Das kleine Mädchen nickte.

»Und mich liebt er auch, bei großen Leuten zeigt sich das nur anders.«

Es war schon spät an diesem Abend, als Mommy so laut zu schreien anfing, daß selbst Daddy Angst bekam. Er band ihre Arme und Beine von den Bettpfosten los, trug sie zum Wagen und fuhr sie ins Krankenhaus.

Das kleine Mädchen, das allein im Schlafzimmer zurückgeblieben war, untersuchte den blutigen Klumpen und schaufelte ihn anschließend mit bloßen Händen vom Bettuch in eine grüne Mülltüte, die sie oben zuband und im Wald vergrub.

Und danach sprach keiner mehr von Bübchen...

KAPITEL 1

Wäre Paige – im zweiten Monat schwanger – nicht weniger als fünfzig Meter entfernt von ihrer Wohnung in Manhattan überfallen worden, wären sie nie auf die Idee gekommen, den Winter in Briarwood zu verbringen. Das Gebäude, in dem sich ihre Eigentumswohnung befand, war keine drei Straßen östlich vom Central Park gelegen; immer noch eine gute Wohngegend, wie ihre beste Freundin Brooke meinte. Aber für Paige schien es in der ganzen Stadt keinen sicheren Ort mehr zu geben. Und obwohl sie sich nicht zum ersten Mal mit Gewalt und Aggression konfrontiert sah – ihre Tätigkeit als Sonderschullehrerin an fünf Grundschulen im Distrikt erforderte es, daß sie oft in übelbeleumundeten Vierteln unterwegs war –, wurde sie schlagartig von Panik erfaßt, als sie die Stahlklinge aus dem Ärmel des Jungen hervorblitzen sah.

Sie schrie, trat um sich, schlug mit ihrer Handtasche nach ihm und reagierte genau so, wie ein Opfer in ihrer Lage den Ratschlägen der Polizei zufolge nie reagieren sollte. Aber sie überraschte ihn mit ihrem Verhalten immerhin so, daß er davonrannte und sie unverletzt entkam; sie zog sich nur einen oberflächlichen Schnitt an der rechten Schulter und beim Sturz auf den Marmorfußboden des rettenden Hauseingangs ein paar Schürfwunden und Kratzer an den Knien zu.

Doch die richtige Angst kam erst später, als ihr klar wurde, wie nahe daran sie gewesen war, auch dieses Kind zu verlieren; das Ergebnis waren Schlaflosigkeit, Alpträume, viel zu hoher Blutdruck und eine Schreckhaftigkeit, die täglich neue Nahrung erhielt durch die Horrorgeschichten, die sich überall in der Stadt ereigneten. Es war schließlich Dr. Lucas, ihr Frauenarzt, der sie dazu drängte, etwas dagegen zu unternehmen. »Tun Sie, was immer Sie tun müssen, um diese Belastung loszuwerden«, erklärte er ihr. »Aber wenn Sie so weitermachen, riskieren Sie nur eine Fehlgeburt.«

Inzwischen waren mehrere Monate vergangen; an einem Freitag nachmittag saß sie nun im Wagen und schaute aus dem Fenster, als sie gerade auf die Route 9 einbogen, die Straße, die den Hudson River entlang nordwärts zu ihrem Haus auf dem Land führte. Jason hatte es geschafft, sich noch rechtzeitig aus dem Büro davonzumachen, damit sie wenigstens nicht in den dicksten Verkehr kamen. Paige, die bei ihrer Größe von einem Meter siebzig zum Glück nicht sehr viel zugenommen hatte – was Jason zu verdanken war, der sehr darauf achtete, daß sie keine überflüssigen Kalorien zu sich nahm –, ließ sich in den weichen, ledergepolsterten Schalensitz zurücksinken, erleichtert, daß sie der Stadt wenigstens für eine Weile entronnen war.

»Ich fühle mich, als ob mein Blutdruck gerade um zehn Punkte gefallen wäre.«

»Schön... hoffen wir, daß der Arzt das auch bestätigen kann«, sagte Jason und setzte sich eine Kappe mit grünem Schirm auf sein widerspenstiges, kupferrotes Haar. »Du hast dich mit dem Arzt, den Dr. Lucas dir genannt hat, noch nicht in Verbindung gesetzt, oder?«

»Das eilt doch nicht so... aber wenn du willst, mache ich es gleich morgen.« Manchmal neigte Jason schon sehr dazu, sie herumzudirigieren, aber Paige sah stillschweigend darüber hinweg... denn viel wichtiger war es, daß er einen aufmerksamen, ausgeglichenen, hilfsbereiten und verläßlichen Charakter hatte – alles Qualitäten, auf die Paige während ihrer chaotischen Kindheit verzichten mußte, in der ihre ganze Familie aus einer Mutter bestanden hatte, die sich nur dann um ihre Tochter kümmerte, wenn die Männer in ihrem Leben ihr Zeit dazu ließen. Jason war zuerst strikt gegen den Umzug gewesen, da er befürchtete, Paige könne außerhalb der Großstadt medizinisch nur unzulänglich versorgt werden. Aber Dr. Lucas’ Lobeshymnen auf das Gesundheitszentrum in Poughkeepsie, das nur zwanzig Minuten nördlich von Briarwood lag, ließen Jason schwankend werden. Die Tatsache, daß der hochqualifizierte Chefgynäkologe des Zentrums, Milton Barry, ein früherer Klassenkamerad von Jason war und sich – auf dessen Nachfrage hin – nur allzugern bereit erklärte, Paige als Privatpatientin aufzunehmen, überzeugte ihn schließlich doch. Aber eines machte Jason immer noch Sorgen, nämlich die siebzig Meilen, die er die nächsten fünf Monate nun zweimal täglich zur Arbeit und wieder zurück würde fahren müssen.

»Du wirst ziemlich einsam sein da draußen«, hatte er argumentiert. »Die meiste Zeit werde ich abends nicht vor acht Uhr nach Hause kommen... vielleicht wird es sogar neun werden, kommt ganz auf den Verkehr an.«

Obwohl sie mit ihren Nachbarn kaum Kontakt hatten – schließlich hatten sie sich von ihrem ländlichen Zufluchtsort in erster Linie Abgeschiedenheit und Ruhe ersehnt –, kannten sie vom Sehen ein paar der Leute in dem kleinen Ort. »Da sind immer noch die Beeders«, erinnerte Paige ihn. »Sie scheinen mir ein recht nettes junges Paar zu seift, sehr hilfsbereit... und sie wohnen schließlich nicht mehr als eine Viertelmeile die Straße hinunter. Wir müssen uns natürlich ein Telefon legen lassen, dann können wir noch einen Wagen für mich mieten, und das Krankenhaus ist ohnehin recht nah. Außerdem kommt es immer nur im Kino vor, daß das erste Kind so überstürzt zur Welt kommt.«

So hatte sie Jason schließlich davon überzeugt, daß dies der richtige Schritt, die einzig logische Entscheidung war. Doch in Wahrheit war sie sich dessen selbst nicht so sicher. Obwohl Paige die Sache herunterspielte, hatte sie es immer gehaßt, allein zu sein, solange sie zurückdenken konnte; ganz im Gegensatz zu Jason, der sehr introvertiert war und, wenn nötig, auf jegliche Gesellschaft verzichten konnte. Es würde nicht leicht werden, in dieser Zeit ohne Brooke zu sein, die ihr eine enge Freundin geworden war, seit sie sich vor fünf Jahren im Haus nebenan eine Wohnung gekauft hatte.

Aber mittlerweile war sie dreiunddreißig und Jason fast siebenunddreißig, und sie wünschten sich nichts sehnlicher, als endlich eine Familie zu gründen. Wenn dieser Schritt also notwendig war, um ihr seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen, dann würde sie ihn tun.

Das Haus – zwei Wohnebenen, ein Keller, ein Dachboden und eine Veranda, die sich an drei Seiten des Hauses entlangzog – glich einer trägen alten Kuh mit chronischer Heiserkeit und war die Sorte Haus, an der ein Hobbyschreiner wie Jason ewig herumbasteln konnte. Das Schönste daran war das weitläufige Grundstück – elf Morgen Waldland, die sich bis an die grasbewachsenen Ufer des Hudson erstreckten. In dem Augenblick, als sie in die lange, ungepflasterte Auffahrt einbogen, die in einem Bogen auf das Haus zuführte, wußte Paige, daß dies doch die richtige Therapie für sie war.

»Schau dir nur den Garten an, Jason... dieses Laub«, sagte sie, als sie aus dem Wagen stieg. Ein plötzlicher Windstoß wirbelte die grellbunten Blätter auf und trug sie mit sich davon, während er gleichzeitig Paiges dickes, kastanienbraunes Haar um ihre Schultern wehte und es schließlich wie eine enge Kappe an ihren Kopf drückte. Mit den Fingerspitzen zupfte sie sich das Haar aus dem Gesicht und strich es sich hinter die Ohren. Obwohl ihr und Jason der Besitz schon fast zwei Jahre gehörte, waren sie bisher immer nur im Frühling und im Sommer hiergewesen – ganz selten im September oder gar im Oktober. Paige verschränkte die Arme vor der Brust, als sie trotz ihres dicken Wollpullovers ein Frösteln überlief.

»Wir hätten vielleicht jemanden wegen der Heizung herschicken sollen«, meinte sie.

Jason warf ihr über den geöffneten Kofferraumdeckel hinweg einen prüfenden Blick zu; seine Augen waren hinter dem glänzenden Schirm seiner Kappe verborgen. Er hob zwei schwere Lederkoffer aus dem Wagen und stellte sie neben sich ab.

»Der Gasmann war erst vor zwei Tagen hier. Die Heizung und der Wasserboiler sind in gutem Zustand. Gleich am Montag wird auch das Telefon angeschlossen. Und der nächste Autohändler unten an der Schnellstraße hat eine große Auswahl an Leihwagen. Wir fahren morgen hin, und du suchst dir aus, was dir gefällt... Was hältst du eigentlich von Eugene? Ein kraftvoller und doch einfacher Name.«

»Ich will ja deinem Vater nicht zu nahe treten, aber mit dieser Unsitte, Kinder nach Verwandten zu benennen, kann ich überhaupt nichts anfangen«, sagte Paige.

Eugene Bennett, ihr Schwiegervater, war noch bemerkenswert agil für seine fünfundsechzig Jahre und lenkte die Geschicke von Familie und Geschäft wie der Kapitän eines Schiffes. Als bettelarmer junger Mann, der überhaupt nichts vom Geschäft verstand, hatte der mittlerweile allseits respektierte Patriarch angefangen und es geschafft, seine Farm in eine der größten Viehranchen im ganzen südlichen Illinois zu verwandeln.

Gemeinsam mit seiner Frau Callah hatte er außerdem vier Söhne produziert, die, bis auf einen, Farmer wie er geworden waren. Jason, der Jüngste und Kleinste – scherzhaft als Schmächtigster im Wurf bezeichnet –, der im Alter von siebzehn Jahren doch noch zu einer Länge von einem Meter fünfundsiebzig aufgeschossen war, konnte größenmäßig aber noch lange nicht mit seinen Brüdern mithalten. Aber Jason war derjenige gewesen, der der familiären Ranch den Rücken gekehrt hatte und nach Osten gezogen war. Er war auch der einzige Bennett, der jemals über die High-School hinausgekommen war.

»So etwas nennt man Kontinuität«, erwiderte er.

»Was soll das denn sein?«

»Wenn man ein Kind nach den Großeltern benennt. Das ist eine Möglichkeit, die vorhergehende Generation am Leben zu erhalten, wenigstens in der Erinnerung.«

»Da man die Umgebung, in der ich aufgewachsen bin, nicht gerade als Familie bezeichnen kann, ist mir der Wirbel vielleicht etwas fremd, den man um Namen macht. Aber eigentlich war ich immer der Meinung, daß Kontinuität mehr mit der Stärke einer Bindung zu tun hat.«

»Da hast du wahrscheinlich auch recht.«

»Und übrigens hat dein Vater bereits einen Sohn, der seinen Namen trägt, und noch einen Enkel... Außerdem hat man ja noch die Möglichkeit, einen zweiten Vornamen zu geben, oder nicht? Ich habe mir eigentlich vorgestellt, daß wir unserem Kind einen eigenen Namen geben, der seine Psyche nicht von vornherein belastet.«

Jason zuckte mit den Achseln. »Okay, du hast mich überzeugt. Aber soll das heißen, daß auch Jason Junior nicht in Frage kommt?«

Eine schmerzhafte Grimasse verzog ihr Gesicht. »Das meinst du doch nicht im Ernst, oder?«

Er lachte laut auf; sie packte eine Handvoll Blätter und bewarf ihn damit. »Ich hatte übrigens einen Jungen namens Eugene in der Klasse, der die ganze Volksschulzeit über in der Bank vor mir saß.«

Er schüttelte die Blätter aus seinem Haar. »Und?«

»Er hat am liebsten Wörterbücher gelesen und Insekten verspeist.«

»Was für Insekten?«

»Alles, was daherkam.« Sie griff durch das hintere Wagenfenster und holte eine Tüte mit Thunfischsandwiches und Flaschen mit kalter Milch heraus, die sie auf Jasons Drängen hin in dem letzten, noch einigermaßen anständigen Restaurant an der Straße gekauft hatten. »Jason, du hattest völlig recht, etwas zum Essen zu kaufen. Ob du es glaubst oder nicht, aber ich habe schon wieder Hunger. Wann habe ich dir eigentlich zum letzten Mal gesagt, wie intelligent du bist?«

Er überlegte einen Moment, ließ den Kofferraumdeckel zufallen und steckte die Schlüssel in die Tasche.

»Das ist mindestens schon ein paar Wochen her.« Er klemmte sich einen Koffer unter den Arm, nahm die anderen beiden und hob seine beladenen Arme. »Gar nicht so übel für ein schmächtiges Bürschchen, hmm?«

»Du bist doch gar nicht mehr schmächtig, das warst du vielleicht als Kind mal.«

»Aber ich komme mir immer noch so vor; so etwas vergißt man nicht so schnell. Nicht nach dem, was ich mir früher immer alles anhören mußte.«

»Na, dann mußt du dich eben auf deinen Verstand konzentrieren, was außerdem viel mehr bringt.«

»Dann denkst du also auch, daß ich schmächtig bin?«

Sie lief zur Eingangstür voraus, öffnete ihre Tasche und kramte darin herum.

»Du hast mir noch nicht geantwortet«, sagte er, als er hinter ihr die Stufen zur Veranda hochkam, geduldig wartete und ihr schließlich seinen Schlüsselbund gab.

Sie nahm ihn, suchte einen langen, glatten Schlüssel heraus und steckte ihn ins Schloß.

»Was soll’s, du bist nun mal kein Hüne.«

»Nein?«

»Aber falls es dir hilft, für mich bist du in Ordnung, wie du bist. Du hast einen perfekten Körper. Ich möchte wetten, wenn deine Beine nur etwas länger wären, wärst du bestimmt einen Meter neunzig groß.«

»Das hast du von mir.«

»So, tatsächlich.« Sie drehte sich um und schaute ihm ins Gesicht. »Hör mal, meinst du, daß du Vaterschaftsurlaub nehmen und die ganze Zeit, bis das Baby kommt, hier oben bei mir bleiben könntest?«

»Was würden wir denn die ganze Zeit über machen?«

»Reden, essen, Scrabble spielen, Spazierengehen...«

»Bumsen?«

»Wahrscheinlich auch... wenn du das möchtest«, erwiderte sie, aber ihre Unbeschwertheit war plötzlich wie weggeblasen.

Sie wich seinem Blick aus, öffnete die Eingangstür und trat in eine Art Vorraum, hinter dem ein Raum lag, der die doppelte Größe ihres Wohnzimmers in der Stadt hatte. Mehr als fünfundfünfzig Quadratmeter Platz, und als Blickfang des Ganzen ein wunderbarer, hoch gemauerter Kamin, der eine ganze Wand einnahm.

Zur Linken lag eine Eßküche, von der aus man in den Keller und zur Hintertür gelangte. Obwohl es in der Küche zu wenig Arbeitsfläche und noch weniger Stauraum gab, liebte Paige den Eßbereich mit dem Erkerfenster, das hinaus in die Wälder hinter dem Haus blickte.

Das Haus war mit einer Mischung aus den verschiedensten Stilen eingerichtet, die größtenteils einer späten Speicher- beziehungsweise einer frühen Flohmarktperiode entstammten. Sehr viel Rohrmöbel, Messing und alte Bücher ohne Schutzumschläge, die auf Bücherregalen standen, die Jason selbst gebastelt hatte. Paige machte ein paar Schritte ins Wohnzimmer, bückte sich über den farbenprächtig gemusterten Teppich, hob etwas auf, machte einen weiteren Schritt und bückte sich wieder.

»Das gefällt mir aber gar nicht«, sagte sie.

»Was?« fragte er, als er das Gepäck abstellte.

Sie streckte eine Faust in die Höhe und öffnete sie, um Jason die Eicheln darin zu zeigen. »Eichhörnchen?«

Ihre Schlaflosigkeit blieb ihr auch in dieser Nacht noch erhalten; der Gedanke an trippelnde kleine Tiere, die frei in ihrem Haus herumliefen, ließ sie kein Auge zutun.

»Geh die Sache doch mal logisch an«, sagte Jason, sobald sie im Bett lagen. »Du magst Eichhörnchen doch, oder?«

»Sicher, aber draußen in der freien Natur«, antwortete Paige. »Ich mag auch Ameisen, solange sie draußen bleiben; da habe ich überhaupt nichts gegen sie. Aber laß sie ins Haus, und sie verursachen mir Alpträume. Das gleiche gilt für Mäuse, Eidechsen, Spinnen und so weiter.«

»Was macht das für einen Unterschied, wo diese Viecher sind, wenn du sie siehst? Wichtig ist doch nur das Tier selbst. Solange du es nicht in die Enge treibst – und das tust du bestimmt nicht, wie ich dich kenne –, wird es sich einfach umdrehen und schnurstracks davonlaufen. Und außerdem, wenn diese Eicheln tatsächlich von einem Eichhörnchen stammen sollten, dann ist das Tierchen inzwischen bestimmt schon längst aus dem Haus.«

Sie drehte sich zu ihm um und betrachtete ihn mißtrauisch. »Das sagst du doch nur, um mich zu beruhigen.«

»Nein, ganz bestimmt nicht.«

»Wie kommst du überhaupt auf die Idee?«

»Wegen des Lärms. Eichhörnchen haben – mehr als alle anderen Nagetiere – ein sehr gut ausgeprägtes Gehör. Sobald sie Stimmen oder Schritte hören, ergreifen sie die Flucht und laufen davon... In dem Moment, in dem wir im Vorraum das Licht angeschaltet haben, ist das Tierchen wahrscheinlich schon mit neunzig Sachen aus dem Haus geflitzt.«

»Wie ist es denn hinausgekommen?«

»So wie es auch hereingekommen ist. Diese Tiere haben so eine Art eingebauten Radar, der sie genau wieder dorthin zurückführt –«

»Das hast du doch alles nur erfunden, stimmt’s, Jason?«

»Wenn du willst, dann bestellen wir für morgen einen Kammerjäger, der sich mal umschauen soll. Und falls es irgendwelche Öffnungen in den Grundmauern gibt, mach‘ ich sie zu. In der Zwischenzeit solltest du aber trotzdem etwas schlafen. Soll ich dir den Rücken massieren?«

»Danke, nein.«

Jason drehte ihr den Rücken zu, und so konnte sie nicht sehen, ob er wirklich gekränkt war, aber sie hätte wetten können, daß er es war. Und irgendwie war das auch verständlich. Noch vor ein paar Monaten wäre es ihr nicht in den Sinn gekommen, eine seiner köstlichen Rückenmassagen abzulehnen... Aber seit diesem schrecklichen Zwischenfall ... Sie sah immer noch dieses verächtliche Grinsen, den dünnen, schwarzen Schnurrbart, die verfaulten Zähne vor sich; einer der unteren Schneidezähne fehlte... Weshalb bekam sie dieses Gesicht nicht mehr aus dem Kopf?

Eindreiviertel Stunden später lag sie immer noch grübelnd wach, aber inzwischen war es ihr wenigstens gelungen, an etwas Erfreulicheres zu denken: an das Baby. Jason, der bisher friedlich neben ihr geschlafen hatte, drehte sich plötzlich um, und ein Teil der Steppdecke glitt zu Boden. Sie griff über ihn hinweg, packte einen Zipfel der Decke, deckte ihn und sich wieder damit zu und gab ihm einen Kuß auf die Wange.

Auch wenn es bei ihren momentanen Stimmungsschwankungen nicht so auffiel – sie liebte ihn sehr... hatte es immer getan, seit sie in ihrem zweiten Jahr am City College irrtümlich in einen Kursus über Bürgerrechte geraten und ihr dabei der frischgebackene Anwalt aufgefallen war, der das Fach unterrichtete. Er war schlank und drahtig, nur wenige Zentimeter größer als sie, aber seine klugen blauen Augen und sein schiefes Grinsen erregten dermaßen ihr Interesse, daß sie seinen Kurs sofort in ihren Stundenplan aufnahm. Und seitdem war er Teil ihres Lebens.

Den Rest der Nacht brachte sie damit zu, immer wieder kurz einzunicken, um gleich darauf von einem Alptraum geweckt zu werden, der noch im Augenblick des Aufwachens bereits wieder aus ihrem Bewußtsein verschwunden war... und von einem Kratzgeräusch, das vom Dachboden kam.

»Ich bin absolut sicher, daß ich dort oben etwas gehört habe«, rief Paige am nächsten Morgen über den Lärm ihres Haartrockners hinweg. Nachdem sie ihre Morgengymnastik absolviert hatten – Jason joggte, sie spazierte –, wollten sie in einem Café im Ort frühstücken und anschließend im Dorfladen Lebensmittel einkaufen.

»Wenn du Angst hattest, dann hättest du mich wecken sollen«, sagte Jason.

»Was?«

»Wenn du Angst hattest –«

Sie schaltete den Fön aus. »Kein Grund, mich so anzuschreien.«

Er zögerte kurz und meinte dann ruhig: »Ich habe dich nur gefragt, warum du mich nicht geweckt hast.«

»Damit du mir das Gehirn wieder mit einem neuen Märchen aus dem Königreich der Tiere zukleisterst?«

»Wenn das eine Anspielung auf gestern abend sein soll –«

»Ist es.«

»Ich habe doch nur versucht –«

»Ich unterstelle dir ja nichts Böses, Jason.«

»Was ist es dann?«

Ein Seufzer, schließlich: »Es gefällt mir einfach nicht, wenn du mich wie ein schwachsinniges Kind behandelst.«

»Das habe ich doch gar nicht getan.«

»Doch, hast du.«

Jason nahm sich ein wetterfestes Sweatshirt aus der Kommodenschublade, zog es an und schlüpfte in ein Paar Trainingshosen. »Zieh dich jetzt besser an«, sagte er und ging zur Tür.

»Wo gehst du hin?«

»Hinaus.«

»Warte.«

»Warum? Ich will doch nur –«

»Verdammt. Warte doch mal ’ne Sekunde. Jason, was hältst du von Alexandra, abgekürzt Alie?«

Während sie auf ihre Honigmelone und die Vollkornwaffeln warteten, rief Jason bei den Kammerjägern in Klondike und Paige bei Barrys Sekretärin an, um einen Termin für Montag nachmittag auszumachen. Im Supermarkt des Dorfes erkannte Otis Brown, ein eckiger Mann mit einem flaumigen grauen Haarkranz um den Schädel, sie sofort wieder.

»Ihr seid heuer ja ziemlich spät dran, hab‘ ich recht?« meinte er, machte einen der Einkaufswagen los und schob ihn zu Paige hinüber.

»Na, eigentlich nicht«, erwiderte sie. »Wir wollen nämlich den ganzen Winter über hierbleiben. Wir haben gedacht, es wäre vielleicht schön, das Baby hier zu bekommen.« Himmel, dabei grinste sie wie ein dummes Schulmädchen und konnte gar nicht mehr aufhören.

Aber Otis ignorierte ihr Grinsen. »Brauchen Sie vielleicht eine Hebamme, Mrs. Bennett? Meine Frau ist wirklich große Klasse – die hat in den letzten Jahren schon jeder Menge Kinder auf die Welt geholfen... da ist eines gesünder als das andere. Wenn Sie möchten, dann frage ich sie mal –«

»Vielen Dank, sehr freundlich von Ihnen«, mischte Jason sich schließlich ein. »Aber meine Frau wird in das Gesundheitszentrum nach Poughkeepsie gehen.«

Otis preßte nickend die Lippen zusammen.

»Das ist ein gutes Krankenhaus, wenn man krank ist, aber um ein Kind auf die Welt zu bringen... ich weiß nicht. Es ist ziemlich weit weg von hier.«

»Zwanzig Minuten mit dem Auto«, meinte Jason. »Na ja, wenn Sie volle Pulle fahren, und das auch nur bei gutem Wetter. Aber ich weiß nicht, wie das wird, wenn es schneit.«

»Aber die Straßen hier oben werden doch geräumt, oder nicht?« fragte Jason, dessen Stimme eine Mischung aus Besorgnis und Verärgerung verriet.

»Aber natürlich werden sie das.«

»Wo liegt dann das Problem?«

»Komm schon, Jason«, sagte Paige und zog ihn auf die Seite. »Hilf mir beim Einkaufen.« Als sie im ersten Gang zwischen den Regalen mit Lebensmitteln standen, sagte sie: »Du hast ja ein Gesicht gemacht, als wolltest du ihn gleich verprügeln. Was ist bloß los mit dir?«

»Nichts. Ich habe nur versucht, hinter den tieferen Sinn dieser Unterhaltung zu kommen. Das klang ja so, als ob sie hier keine Schneepflüge hätten.«

»Jetzt beruhig dich wieder, Jason. Der alte Mann hat doch nur versucht, seiner Frau ein Geschäft zu vermitteln.«

Beim Autohändler schloß Paige einen sportlichen Mazda-RX7-Zweisitzer ins Herz, aber Jason bestand auf einem Nissan-Geländewagen.

»Hast du mir nicht erklärt, ich könne mir den Wagen selbst aussuchen?«

»Das war, bevor ich von dem Schnee hier wußte. Das ist ein Wagen mit Vierradantrieb, der ist genau das Richtige.«

Paige betrachtete stirnrunzelnd den Nissan. »Ich weiß nicht recht, er ist so groß und klobig.«

Jason legte von hinten den Arm um sie und drückte sein Gesicht in ihr Haar, so daß seine Lippen sie am Haaransatz kitzelten. »Du aber auch, Liebling«, flüsterte er. »Habe ich dich deshalb weniger lieb?«

Jetzt doppelt verärgert, entzog sie sich seiner Umarmung und unterdrückte den Impuls, über seine witzige Bemerkung zu lachen.

»Entschuldige, tut mir leid, ich konnte einfach nicht widerstehen. Paige, wie wär’s mit Robert? Ich weiß, den Namen habe ich schon mal genannt, aber –«

»Ich habe dir doch gesagt, daß ich diesen Namen hasse.« Sie verschränkte die Arme fest vor der Brust und vermied es, ihn dabei anzusehen. »Und außerdem tut es dir gar nicht leid.«

»Ich begreife es einfach nicht – wie kannst du einen Namen wie Robert nur hassen?«

Keine Antwort.

»Paige, ich habe dich doch nur aufgezogen. Warum bist du bloß so empfindlich? Hör mal, wenn ich dich gekränkt habe, dann tut mir das leid, ich schwöre es bei Gott. Außerdem siehst du einfach phantastisch aus, schwanger hin oder her.« Dann warf er einen Blick auf seine Uhr und meinte: »Wenn wir aber jetzt nicht bald nach Hause fahren, verpassen wir noch den Kammerjäger. Ich glaube nicht, daß wir ihn dann vor Montag noch mal erreichen, wenn er wieder wegfährt. Wer weiß, vielleicht wird es sogar Dienstag. Würdest du also jetzt bitte diesen verdammten Geländewagen nehmen?«

Sie warf erst einen Blick auf den einen, dann auf den anderen Wagen und schaute schließlich Jason an. »Und wenn nicht?«

Mit einem tiefen Seufzer fragte er: »Warum tust du mir das an?«

Jason fuhr hinter Paige her, um sich zu vergewissern, daß sie auch keine Probleme mit der Handhabung des Geländewagens hatte. »Also, was meinst du?« fragte er, als er die Wagentür öffnete und ihr beim Aussteigen half.

Sie zeigte mit beiden Daumen nach unten. »Und, wo ist jetzt dein Kammerjäger?«

»Der muß jede Minute kommen. Er hat mir versprochen, um zwei Uhr hier zu sein. Sollen wir einen kleinen Spaziergang machen?«

»Und riskieren, daß wir ihn verpassen?«

Clyde, der Kammerjäger, sah zwar nicht älter aus als neunzehn, benahm sich aber, als würde er diese Arbeit schon seit Jahren machen. Er brauchte eine Viertelstunde, um das Haus gründlich zu durchsuchen – als er wieder in die Küche kam, schüttelte er nur den Kopf.

»Ich habe ein paar Mäuseköttel im Keller gefunden.«

»Oh, großartig«, meinte Paige.

Clyde steckte einen schmutzstarrenden Finger in sein langes, fettiges Haar und kratzte sich am Kopf.

»Ich habe ein paar Tüten mit Gift unten gelassen, in einer Woche sind die Mäuse bestimmt verschwunden. Wenn Sie dann noch welche sehen, geben Sie mir Bescheid.«

»Und das Eichhörnchen?«

Er zuckte seine schmalen Schultern. »Nichts zu sehen.«

»Ich habe Ihnen doch von den Eicheln erzählt.«

»Klar, ich kann mir das nicht erklären. Ich kann Ihnen nur sagen, was ich gefunden, beziehungsweise nicht gefunden habe.«

»Okay, vielleicht war es kein Eichhörnchen. Aber da war ganz eindeutig etwas auf dem Dachboden, ich habe es doch gehört.«

»Ich habe da oben ganz besonders sorgfältig nachgesehen, Ma’am. Wenn dort irgendein Tier gewesen wäre, dann hätte ich irgendwelche Kotspuren entdeckt. Ich kann nur wiederholen, da oben ist nichts.«

»Wollen Sie damit behaupten, ich hätte mir das nur eingebildet?«

Er machte eine beschwichtigende Geste und schüttelte den Kopf. »Hören Sie, ich sage doch nur, da oben ist kein Anzeichen –«

»Äh, hören Sie«, unterbrach ihn Jason, »da Sie nun schon mal da sind, könnten Sie doch auch auf dem Speicher etwas Gift auslegen. Falls da oben wirklich etwas sein sollte, wird es –«

»O nein, das geht nicht, Sir.«

»Wieso nicht?«

»Wissen Sie, eigentlich dürfen wir gar keine Eichhörnchen töten.«

»Aber Sie sagten doch, da oben ist kein Eichhörnchen.«

»Sicher, und dabei bleibe ich auch. Aber Sie verlangen von mir, daß ich da oben Gift auslege, um etwas zu töten, was ich nicht töten darf.«

Paige neigte den Kopf zur Seite und schüttelte ihn ungläubig.

»Das darf doch nicht wahr sein«, sagte sie.

Jason hob beschwichtigend die Hand.

»Nun mal ganz langsam, Clyde. Einmal angenommen, nur einmal angenommen, da oben wäre ein Eichhörnchen.«

Clyde nickte.

»Wollen Sie dann sagen, daß ich in Zukunft damit leben muß?«

»Nein, Sir, das will ich nicht.«

»Okay, wie sollen wir es dann loswerden?«

»Wir stellen eine Falle auf und fangen es. Dann nehme ich das Tier mit und lasse es im Wald draußen wieder frei.«

Schritt für Schritt tastete Jason sich vorwärts. »Okay. Haben Sie vielleicht eine dieser Fallen dabei?«

»Sicher, draußen im Lieferwagen. Aber die brauchen Sie nicht, weil Sie ja kein Eichhörnchen haben.«

»Ich fange gleich zu schreien an«, sagte Paige.

»Hören Sie, Clyde, ich möchte Sie trotzdem darum bitten, auf dem Dachboden eine dieser Fallen aufzustellen. Falls dort oben wirklich ein Eichhörnchen ist, werden wir es damit fangen. Und falls keines da oben sein sollte, haben wir doch nichts verloren, oder?«

»Na, zum einen, Geld. Das wird Sie ‚’ne Menge kosten.«

»Hören Sie, Clyde, ich zahle – Sie machen Ihre Arbeit.«

Clyde brauchte ungefähr zehn Minuten, um den Drahtkäfig aufzustellen – als Köder mußte Erdnußbutter auf italienischem Weißbrot herhalten.

»Wenn das Tier die Erdnußbutter riecht«, erklärte Clyde, »dann schlüpft es in den Käfig. Dabei muß es auf diese Wippe treten, die die Türaufhängung auslöst. Und pängknallt die Tür zu!«

Clydes Handkante knallte krachend auf die Tischplatte und ließ Paige zusammenfahren. »Das ist alles«, sagte er, »es sitzt in der Falle. Dann brauchen Sie mich nur noch anzurufen. Aber ich glaube nicht, daß Sie mich anrufen werden. Wahrscheinlich wird es so sein, daß ich in ein paar Wochen, vielleicht auch in einem Monat oder zwei mal kurz vorbeischaue und den Käfig wieder mitnehme.«

Mit dem Gift für die Mäuse und dem Käfig für das Eichhörnchen belief sich die Rechnung auf einhundertfünfundsiebzig Dollar.

»Das war ein ganz gerissener Gauner«, sagte Paige später, als sie im Bett saß und ungesalzenes, ungebuttertes Popcorn verschlang.

Jason legte den Schriftsatz beiseite, in dem er gerade las, und gähnte.

»Ich vermute auch, daß er uns ein paar Dollar extra als Buße aufgebrummt hat, weil wir seinen Sachverstand angezweifelt haben.«

»Wir Stadtmenschen haben mit Sicherheit an allem etwas auszusetzen. Aber ich weigere mich, mich deswegen schuldig zu fühlen. Er hat es doch herausgefordert. Du glaubst mir doch, daß ich dort oben etwas gehört habe, nicht wahr, Jason?«

»Da oben ist jetzt eine Falle, das genügt doch, oder?«

»Du weichst meiner Frage aus.«

»Ich sehe nicht, was das für einen Unterschied –«

»Jason!«

»Natürlich glaube ich dir.«

Sie richtete sich mit einer so heftigen Bewegung im Bett auf, daß sie die Schüssel umstieß und sich das Popcorn über die Bettdecke verteilte. »Das tust du nicht. Verdammt, ich hasse es, wenn du so etwas nur sagst, damit ich endlich den Mund halte!«

Er hörte noch, wie ihre Füße die Treppe hinunter, hinaus auf die Veranda tappten. Seufzend zog er seine Jeans an, nahm ihren Morgenmantel, der an der Innenseite der Schranktür hing, und folgte ihr nach draußen.

»Bist du verrückt – du wirst dich noch erkälten«, sagte er vorwurfsvoll und hängte ihr den Morgenmantel um die Schultern.

Sie schüttelte ihn ab und ließ ihn auf den Boden der Veranda fallen. »Laß mich in Ruhe«, sagte sie.

Er lehnte sich an einen der Pfosten und steckte die Hände in die Hosentaschen.

»Ich kann nur verlieren, oder?«

Schweigen.

»Wir kommen hierher, damit du dein Gleichgewicht wiederfindest, und was passiert – du drehst bereits durch, weil du irgendein Geräusch auf dem Speicher hörst. Und wir beide können keine fünf Minuten Zusammensein, ohne daß du mich gleich angiftest. Wenn ich mit einer Manisch-Depressiven zusammenleben will, dann kann ich das in der Stadt viel bequemer haben. Dazu muß ich mir nicht auch noch die zusätzliche Last aufhalsen, täglich hin und her zu pendeln.«

Es war die Sache mit dem Hinundherpendeln, die schließlich die Spannung löste, so daß sie – zu ihrer eigenen Überraschung – in schallendes Gelächter ausbrach. Sie konnte gar nicht mehr aufhören, und Jason stimmte mit ein.

»Ich hasse dieses Auto... diesen Lastzug, oder was immer das sein soll«, sagte sie, als sie schließlich wieder sprechen konnte.

Er nahm sie in die Arme, und sie ließ ihn gewähren, wie es in der letzten Zeit nicht oft der Fall gewesen war...

»Dann fahre ich eben damit, bis es anfängt zu schneien. Und du nimmst solange den Volvo.«

Sie legte ihren Kopf an seine Brust. Früher hatte sie keinen Gedanken an die Autos verschwendet, die sie benutzte; sie stellte keine großen Ansprüche, Hauptsache, sie brachten sie dorthin, wo sie hinwollte. Weshalb jetzt dieser Lärm um nichts? »Es ist wirklich nicht so wichtig«, meinte sie schließlich.

»Bist du ganz sicher?«

Sie nickte, aber als er ihr ins Gesicht sah, entdeckte er Tränenspuren auf ihren Wangen. Er legte ihr die Hand unter das Kinn und zwang sie, ihn anzusehen.

»Jetzt komm schon, Paige, raus damit.«

Sie holte tief Luft. »Ich habe Angst, Jason.«

»Wovor?«

»Daß ich das Kind verliere.«

»Aber das wirst du nicht.« Er beugte sich über sie, küßte sie...

Sie erwiderte seinen Kuß, aber sobald seine Hand tiefer wanderte und seine Finger tastend ihren Weg suchten, entzog sie sich ihm.

»Nein, Jason, bitte nicht.«

»Warum nicht?«

»Das Baby... Wir könnten den Fötus verletzen.«

»Aber der Arzt hat uns doch versichert –«

»Jason, ich bin fett, ich bin plump.«

»Das bist du nicht, und das weißt du auch ganz genau, nicht wahr?« Er machte einen Schritt in Richtung Haustür.

»Na gut, wenn du unbedingt willst...«

Er öffnete die Fliegengittertür, blieb kurz stehen und wandte sich dann zu ihr um. »Mache ich wirklich einen so verzweifelten Eindruck?«

Ihre Angst war völlig irrational... sie dachte darüber nach, als sie später wach im Bett lag. Auch wenn sie im Jahr zuvor eine Fehlgeburt erlitten hatte, so war das im ersten Schwangerschaftsdrittel geschehen, in einer Zeit, in der der Fötus am gefährdetsten ist. Jetzt war sie Ende des sechsten Monats, und aufgrund ihrer Amniozentese und der Ultraschall-Diagnose gab es nicht die geringsten Probleme; sie trug einen gesunden, gutentwickelten Fötus.

Und wenn das immer noch nicht Beruhigung genug war: Jetzt kam noch dazu, daß sie und Jason an einem Ort lebten, in dem es – einmal abgesehen von einer gelegentlichen Schlägerei, Alkohol am Steuer oder einem harmlosen Diebstahl – in den letzten zwölf Jahren nicht ein Kapitalverbrechen gegeben hatte. Doch trotz Jasons ständiger Beteuerung und ihres eigenen gesunden Menschenverstandes, die Angst war da – wie ein dunkler Fleck, der immer wieder auftaucht, gleichgültig, wie oft man auch reiben mag. Der Trick bestand darin, nicht daran zu denken, beschloß sie...

Ihre Gedanken wurden von einem schwachen Schaben über ihrem Kopf unterbrochen. Sie setzte sich auf und schaute zu Jason hinüber: Er schlief tief und fest. Nein, sie würde ihn nicht wecken, nicht deswegen. Morgen früh würde dieses Ding – was immer es auch sein mochte – in der Falle sitzen.

Päng...

KAPITEL 2

Da sie wieder die halbe Nacht wachgelegen hatte, hörte Paige nicht, wie Jason sich am Sonntag morgen anzog und das Haus verließ. Aber als sie um neun Uhr aufwachte, fand sie einen Zettel auf seinem Kopfkissen: 8:00 Uhr, schlaf ruhig weiter – bin beim Joggen, bringe hinterher die Zeitung und ein paar Brötchen mit. Die Bäckerei war in Kingston – also schätzte sie, daß es mindestens noch eine halbe Stunde dauern würde, bis er zurückkam.

Sie rollte sich auf den Rücken, richtete sich aber abrupt wieder auf, als ihr das Geräusch vom Dachboden einfiel. Vielleicht sollte sie mal nach oben gehen und sich selbst umsehen – nein, es war besser, auf Jason zu warten. Wenn dort wirklich etwas in der Falle saß, dann war es besser, wenn sie nicht allein war. Statt dessen ging sie auf die Toilette und konzentrierte sich darauf, wie schön es sein würde, wenn sie eines Tages nicht mehr zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit aufs Klo rennen müßte. Mein Gott, in der vergangenen Nacht hatte sie mindestens fünfmal laufen müssen. Sicher, das Ganze war etwas lästig, aber doch ein beruhigendes Indiz dafür, daß das Baby lebte und... nun ja, auf ihrer Blase herumtrampelte.

Sie sehen also, Paige – dem Baby geht es gut, und das wird auch so bleiben... Sie und Jason werden schon dafür sorgen. Wieder verzogen sich ihre Lippen zu diesem albernen Grinsen, und sie beugte sich zu dem Spiegel vor, der über dem Waschbecken im Bad hing. Ihr Gesicht war in der letzten Zeit etwas voller geworden, die zarten Züge – wie sie in ihrem High-School-Jahrbuch beschrieben waren – wirkten aufgeschwemmt. Und ihre dunklen Augen waren von tiefen Ringen unterlegt.

Wenn sie ein kleines Mädchen bekam, würde es dann wie sie aussehen? Nicht unbedingt... sie hatte ihrer Mutter überhaupt nicht geähnelt. Sie stellte sich lieber einen kleinen Jungen vor, der Jasons dünne Lippen, sein breites Kinn hatte. Obwohl das Geschlecht des Kindes bereits mit Tests ermittelt war, hatten sie und Jason beschlossen, es lieber nicht wissen zu wollen. Was natürlich bedeutete, daß sie sich auf zwei Namen zu einigen hatten – obwohl sie sich bisher noch nicht einmal auf einen einigen konnten.

»Bist du wach, Paige?«

Sie lief nach unten – mehr denn je war sie sich der Tatsache bewußt, wie ungraziös ihre Bewegungen waren – und fiel ihm direkt in die Arme.

»Hey«, meinte er und ließ dabei fast die Zeitungen und die Tüten fallen, die er in der Hand hatte. »Womit habe ich das bloß verdient?«

»Du hast dir den Oscar dafür verdient, daß du der geduldigste Mensch bist, den ich kenne. Wie hältst du es zur Zeit nur mit mir aus?«

Er ging ihr in die Küche voraus, und während sie sich an den Tisch setzte und ihm zusah, fing er an, das Frühstück zusammenzustellen.

»Schwangere Frauen sind ja berüchtigt für ihre Stimmungsschwankungen«, sagte er. »Es geht rauf, runter, die ganze Zeit über. Als meine Mutter mit mir schwanger war, weinte sie jeden Morgen, wenn mein Vater zur Arbeit das Haus verließ. Sie hatte Angst, sie würde mit den anderen Kindern nicht fertig werden, während er weg war.«

»Na ja, sie war schwanger und hatte noch zwei Kleine in den Windeln stecken, da ist das kein Wunder.«

»Aber sie ist mit allem fertig geworden, jedenfalls bis er heimkam.« Jason stellte eine halbe Grapefruit, ein Glas mit fettarmer Milch und ein getoastetes Brötchen mit etwas Frischkäse vor Paige hin.

»Hier, iß das.«

Sie betrachtete ihn nachdenklich, als er sich über sein eigenes Frühstück hermachte. »Hast du jemals Mutter sein wollen?«

»Seltsame Frage.«

»Ich will mich ja nicht davor drücken, aber du machst das verdammt gut.«

»Du wirst das auch gut machen.«

»Ich kann in meiner Arbeit gut mit Kindern umgehen, aber das ist vermutlich nicht dasselbe, oder?«

»Iß deine Grapefruit.«

»Ich weiß einfach nicht, wie man Kinder richtig bemuttert. Vielleicht bin ich zu egoistisch... Jason, glaubst du, daß ich zu egoistisch bin, um eine gute Mutter zu sein?«

»Nein, das glaube ich nicht.« Er nahm den Wirtschaftsteil der NEW YORK TIMES und gab ihr eine dünne Wochenzeitschrift. »Hier, ich dachte, vielleicht interessierst du dich für die Lokalnachrichten.«

Sie nahm die Zeitung, schlug sie auf der zweiten Seite auf und überflog flüchtig einige Artikel.

»Was soll das, versuchst du vielleicht, mir nur harmlose Nachrichten zuzuschieben? So aufregende Dinge wie Kirchenbasare, Straßenreparaturen, Verleihung von Verdienstorden an Wölflinge, die Zusammenstellung von Schulmittagessen?«

»Du bist endlich raus aus der Stadt, weg von den ganzen Verbrechen. Warum sollst du das jetzt lesen?«

»Was ist mit Buchbesprechungen, Reise –«

Wortlos sammelte er mehrere lose Seiten der TIMES ein, legte sie vor sie hin und griff wieder nach seinem Brötchen.

»Oh, das hätte ich fast vergessen – die Falle, Jason. Ich habe heute nacht wieder Geräusche am Dachboden gehört. ..«

Jason betrachtete das Brötchen in seiner Hand. »Könnte das vielleicht noch etwas warten?« Aber als er ihre angespannte Miene sah, legte er das Brötchen auf den Tisch und schob seinen Stuhl zurück. »Okay, bringen wir es hinter uns.«

Bis zur Speichertür blieb sie dicht hinter ihm, hielt sich dann aber zurück.

»Siehst du etwas?«

»Nein. Die Falle ist leer.«

Paige machte nun doch einen vorsichtigen Schritt in den stickigen Raum: Luft kam hier nur durch zwei kleine Fenster herein; beide waren geschlossen. Sie ging an dem Gerümpel vorbei – alte Möbel und Werkzeuge, die die Vorbesitzer zurückgelassen hatten – und trat näher an den Käfig heran; entsetzt schlug sie die Hand vor die Brust.

»Das gibt es doch nicht.«

Jason beugte sich näher vor. »Was ist?«

»Der Köder, Jason... wo ist er hin?«

Clyde, der auf Jasons Anruf aus der Telefonzelle vor Otis‘ Supermarkt hin sofort zu den Bennetts hinauskam, meinte nur: »Es ist völlig unmöglich, daß ein Eichhörnchen an den Köder rankommt, ohne auf den Hebel zu treten.«

»Ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen, daß die Falle vielleicht defekt ist?« fragte Jason, als sie nebeneinander über den Käfig gebeugt standen.

»Sicher, aber das ist sie nicht. Hier, ich zeige es Ihnen.« Er tippte mit der Spitze eines Bleistiftes auf den Hebel und konnte gerade noch die Hand wegziehen, bevor die Käfigtür heruntersauste, den Bleistift verschluckte und zuschnappte.

»Was dann?« fragte Jason.

»War vielleicht irgend jemand hier oben und hat an dem Käfig herumgespielt?«

Jasons Augen folgten Paiges Blick zu der schweren Tür, die zu einer schmiedeeisernen Feuerleiter führte.

»Das können Sie vergessen«, sagte er und ging zu der Tür. »Das ist völlig unmöglich. Schauen Sie selbst, sie ist von innen verriegelt.« Er versuchte den großen, rostigen Riegel zur Seite zu schieben, aber der bewegte sich nicht. »Und außerdem ist der Riegel ganz verrostet. Ich hatte eigentlich vor, irgendwann mal in nächster Zeit das Schloß hier auszutauschen...«

»Das ist doch albern«, sagte Paige zu Clyde. »Natürlich hat irgendein Tier den Köder genommen. Ich glaube kaum, daß ein Einbrecher sich die Mühe machen würde.«

»Sicher, aber –«

»Jedenfalls hat die Falle nicht funktioniert«, schnitt Jason ihm das Wort ab. »Oder wir haben es mit einem superintelligenten Tier zu tun.«

Paige warf ihm einen fragenden Blick zu.

Er zuckte mit den Achseln und fing an, Wand und Dachpappe nach Öffnungen abzusuchen.

»Na, offensichtlich hat es einen Weg gefunden, den Hebel zu umgehen.«

Bevor Paige den Speicher verließ, schaute sie sich selbst noch flüchtig um – in einem Blumentopf entdeckte sie noch mal ein halbes Dutzend Eicheln. Dann legten sie ein weiteres Brotstück mit Erdnußbutter als Köder aus, und Clyde stopfte zusätzlich noch feste Drahtwolle zwischen die Gitterstäbe des Käfigs.

Dieses Mal gab es kein Entrinnen.

Es war schon fast neun Uhr, als Paige am Montag aufstand und wieder einen Zettel neben sich fand: Die Telefongesellschaft kommt heute und schließt das Telefon an. Habe nach der Falle gesehen – immer noch leer, sehe heute abend noch mal nach. Wie wäre es mit Richard... kurz Richie. Was meinst du?

Die leere Falle war keine Überraschung für sie: Da sie die ganze Nacht über nicht gut geschlafen hatte, hatte sie auf mögliche Geräusche gelauscht, aber keine gehört. Dabei war ihr ein Film eingefallen, den sie einmal im Fernsehen gesehen hatte: Er hatte von einer Ratte gehandelt, die so intelligent gewesen war, daß sie alle Versuche des Hausbesitzers, sie zu töten, vereitelt hatte. Und natürlich hatte diese Erinnerung nur dazu geführt, daß Paige sich ähnliche, schreckliche Szenen vorgestellt hatte... Und kaum eine Viertelstunde, nachdem das Telefon angeschlossen war, wurde es von ihr auch schon mit einem Anruf bei Brooke eingeweiht.

»Klingt ja nicht gerade so, als würdest du endlich zur Ruhe kommen, wie du es dir vorgestellt hast«, meinte Brooke.

»Oh, das kommt schon noch. Zuerst müssen wir uns eben diese Intelligenzbestie von Nagetier vom Hals schaffen. Aber es ist wirklich traumhaft schön, warte nur ab, bis du selbst diese herbstliche Landschaft hier siehst. Wann kommst du denn mit Gary?«

»Als wir uns das letzte Mal darüber unterhalten haben, war das übernächste Wochenende im Gespräch.«

»Höre ich da einen düsteren Unterton heraus?«

»Ich habe seit zwei Tagen nicht mehr mit ihm gesprochen.«

»Darf ich fragen, warum?«

»Die Eintrittskarten für Phantom...«

»Oh, richtig, du warst ja am Samstag im Theater. Wie hat es dir gefallen?«

»Wahnsinnig gut. Selbstverständlich ist Gary erst in der Pause erschienen. Das ist jetzt das dritte Mal in zwei Wochen, daß er zu spät kommt.«

»Er ist Arzt.«

»Das erzählt er mir auch dauernd... Soll ich vielleicht ständig meine Staffelei mit mir herumschleppen?«

»Warum nicht«, sagte Paige und ging bereitwillig auf diesen Themenwechsel ein. »Hey, wie wäre es, wenn du Gary am Sonntagabend allein in die Stadt zurückschickst? Du könntest doch noch ein paar Tage bleiben. Nur du und ich – Jason kann dich ja wieder in die Stadt zurückfahren, wann immer du willst. Du kannst nach Herzenslust malen ... ich werde dich bestimmt nicht stören.« Paige wußte Brookes strikten Stundenplan zu respektieren, die täglich von zehn bis drei Uhr arbeitete; und seit sie ihre eigene Arbeit an den städtischen Schulen aufgegeben hatte, hatte sie sich auch immer bemüht, ihr in dieser Zeit nicht in die Quere zu kommen.

»Soso«, schnurrte Brooke, und Paige sah deutlich ihren röten Schmollmund vor sich, der keinen Mann kalt ließ – das heißt, Gary bildete da gelegentlich eine Ausnahme. Dieser Schmollmund war sogar Paige aufgefallen, als sie – auf der Jagd nach einem Taxi – an jenem düsteren, verregneten Morgen Brooke über den Haufen gerannt hatte, die an eben diesem Tag in das Haus nebenan zog. Was zur Folge hatte, daß Bild und Malerin mit dem Gesicht, beziehungsweise mit der Vorderseite voran im Dreck landeten. Und wie sehr Paige sich auch bemühte, die Leinwand zu retten, während ihre neue, in Tränen aufgelöste Nachbarin im Badezimmer unter der Dusche stand – das Bild war ruiniert. Trotz des stürmischen Anfangs wurden Paige und Brooke bald enge Freundinnen.

»Das klingt ja wirklich sehr verlockend«, sagte Brooke schließlich, »aber ich habe eine Auftragsarbeit – ein Porträt, das in drei Wochen fertig sein muß. Darf ich vielleicht später noch mal auf dein Angebot zurückkommen?«

»Darüber läßt sich reden.«

Als Paige den Hörer auf die Gabel legte, lächelte sie in freudiger Erwartung des Besuchs. Bis dahin war dieses verdammte Eichhörnchen aber besser verschwunden. Es geschah, als sie den Sicherheitsgurt des Nissan um ihren Bauch legte und sich für die Fahrt zum Arzt fertig machte, bei dem sie um vier Uhr einen Termin hatte... da sah sie es, das heißt, sie sah ein unbestimmtes Etwas. Es bewegte sich sehr schnell – wie ein Blitz oder ein Schatten; was man eben so wahrnimmt, wenn man blinzelt.

Sie starrte noch lange auf denselben Fleck, auf den Fuß der Feuerleiter, wo jetzt nur noch ein Streifen trockenen Grases zu sehen war, der vom Haus weg in den Wald führte. Dann ließ sie ihren Blick hinauf in den ersten Stock zu dem schmiedeeisernen Balkon vor ihrer verschlossenen Schlafzimmertür wandern, um gleich darauf ihre Aufmerksamkeit dem Dachboden im zweiten Stock zuzuwenden: Die Tür war von innen verriegelt und so zugerostet, daß man sie nicht mehr aufbekam... das hatte sie mit eigenen Augen gesehen.

Das mußte das Eichhörnchen gewesen sein. Natürlich. Erst kletterte es die Feuerleiter hinauf und kroch dann durch ein von außen nicht sichtbares Loch in den Dachboden. Sie und Jason würden gleich heute abend noch einmal alles nach irgendwelchen Öffnungen untersuchen.

Dr. Milton Barry trug eine billige Hornbrille, die Art von Fassung, wie man sie normalerweise im Ausverkauf findet: Kaufe zwei, bezahle eine. Seine glänzenden, ausgebeulten Hosen unter dem kurzen, zerknitterten Kittel spiegelten seine absolute Achtlosigkeit modischen Ansprüchen gegenüber wider.

Als die Untersuchung vorüber und Paige wieder in Straßenkleidung war, nahm sie in seinem Sprechzimmer Platz. Er gab ihr eine Lamaze-Broschüre – sie schaute nur flüchtig darauf und steckte sie in ihre Handtasche. Dabei fiel ein rosa Zettel heraus.

»Was ist das?«

»Die Einladung zu einem geselligen Treffen, glaube ich. Meine Sprechstundenhilfe Lenore – sie leitet den Kurs – organisiert mit ein paar Frauen aus jeder neuen Gruppe immer ein Treffen für die ganze Familie. Normalerweise findet alle paar Monate eines statt. Sie werden sehen, die Leute hier sind sehr freundlich.«

Sie lächelte. »Schön. Oh, bevor Sie anfangen, möchte ich Sie bitten, mir das Geschlecht unseres Kindes nicht zu verraten. Jason und ich wollen uns lieber überraschen lassen.«

»Einverstanden. Nun, dem Baby geht es gut, Sie haben ja selbst seine Herztöne gehört.«

Sie nickte.

»Und was Sie betrifft... nun, Ihr Blutdruck ist wirklich höher, als es mir gefällt. Außerdem sehen Sie aus, als könnten Sie etwas mehr Schlaf vertragen.«

»Deswegen bin ich ja aufs Land gezogen.«

»So?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Geben Sie mir etwas Zeit.«

»Okay, aber wenn Sie mit jemandem darüber reden möchten... Manchmal hilft das.«

»Da gibt es nichts zu reden, wirklich. Ich bin nur der Typ Mensch, der sich ständig über alles mögliche Sorgen macht.«

»Ja, worüber denn?«

»Worüber machen sich schwangere Frauen wohl Sorgen?«

»Nein, nein, hier stelle ich die Fragen.«

Sie machte eine kurze Pause: »Ob das Baby gesund ist.«

»Das habe ich Ihnen doch bereits bestätigt.«

»Aber es kann doch alles mögliche passieren, Sie sind schließlich nicht Gott.«

»Wollen Sie, daß Gott das Kind entbindet?«

»Arbeitet er hier im Krankenhaus?«

Er lächelte; sie mochte sein Lächeln... und ihn auch. »Hören Sie, ich möchte mich nicht beklagen«, sagte sie schließlich. »Es ist nur so, daß... Haben Sie sich schon jemals so auf eine Sache gefreut, daß Sie glaubten, das könne unmöglich gutgehen? Das wäre zu schön, um wahr zu sein, als daß es tatsächlich passieren könnte?«

»Haben Sie das Gefühl, daß mit dem Kind etwas schiefgehen könnte?«

»Mit ihm oder mit mir. Sie haben ja meinen Krankenbericht gelesen – ich hatte eine Fehlgeburt, und vor ein paar Monaten bin ich von einem Jungen überfallen worden, der völlig zugedröhnt war und mich mit einem Messer bedroht hat. Das Baby hätte getötet werden können.«

»Wurde es aber nicht.«

»Aber es hätte passieren können. Alles hing an einem seidenen Faden. Woher wollen Sie wissen –«

»Sie wissen es auch nicht. Und das war Ihnen schon vor dem Überfall klar.«

»Ja, sicher, natürlich.« Sie lachte, seufzte. »Ich muß ja ziemlich einfältig klingen.«

Er schüttelte nur den Kopf und stützte sein Kinn auf die Hand.

»Der Mensch ist nun mal so, aber wir neigen dazu, bestimmte Dinge zu verdrängen. Jedenfalls, solange nichts auf dem Spiel steht.«

»Meine Ehe steht auf dem Spiel.« Wie aus heiterem Himmel war sie mit dieser Feststellung herausgeplatzt, die nicht im geringsten Zusammenhang zu ihrem Gespräch stand. Er machte eine ermutigende Geste, daß sie doch fortfahren möge.

»Ich meine damit unser Sexualleben«, sagte sie, nachdem sie beschlossen hatte, daß sie es ebensogut aussprechen konnte. »Ich habe zur Zeit einfach nicht dieselben Bedürfnisse, und ich weiß nicht einmal genau, warum das so ist. Außerdem habe ich Angst, Angst um das Baby und irgendwie auch um mich, glaube ich. Jedesmal, wenn mir seine Berührungen zu weit gehen, ziehe ich mich zurück.«

»Bei diesem Überfall, hat der Junge versucht –«

»Nein, nichts dergleichen. Außerdem hatte er keine Gelegenheit, überhaupt etwas zu tun. Ich habe ihn nur gesehen und bin auch schon ausgeflippt... habe um mich getreten und geboxt wie eine Verrückte, bin davongelaufen; ich kann mich kaum noch daran erinnern. Warum reagiere ich dann aber jetzt so ablehnend? Normalerweise«, fuhr sie lächelnd fort, »nun, früher hat Jason mich immer eine Rakete genannt.«