Sommeralptraum - Gloria Murphy - E-Book

Sommeralptraum E-Book

Gloria Murphy

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Beschreibung

Spannend bis zur letzten Seite - raffinierter Nervenkitzel von einer Meisterin des Psychothrillers! Eigentlich wollte Robin ihre Sommerferien gar nicht im Ferienlager verbringen. Nur widerwillig hat sie sich dem Wunsch ihrer Eltern gefügt. Doch dann lernt sie die hinreißende Amelia kennen und fühlt sich sofort zu dem jungen Mädchen hingezogen. Die neue Freundschaft wird durch ein tragisches Ereignis zerstört: Bei einem heimlichen nächtlichen Ausflug ertrinkt Amelia; Robin kann die Freundin nicht mehr retten. Obwohl Robins Eltern alles tun, um ihr zu helfen, wird sie mit ihren Schuldgefühlen nicht fertig. Für das Mädchen hat ein Alptraum begonnen, aus dem es kein Entrinnen gibt...

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Seitenzahl: 383

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Gloria Murphy

Sommeralptraum

Psychothriller

Aus dem Amerikanischen von Gabriela Schönberger-Klar

EdeleBooks

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog

Impressum

Prolog

Robin breitete ihre purpurrot und schwarz gestreifte Steppdecke über der Matratze aus, schob mit dem Fuß die Kiste mit ihren Habseligkeiten unter das Feldbett, setzte sich und wartete ab. So langsam, wie das Auspacken und Bettenmachen vor sich ging, schätzte sie, daß es bestimmt noch gute zwanzig Minuten dauern würde, bis man sie aufforderte, zusammenzukommen und sich vorzustellen.

Da sie seit ihrem achten Lebensjahr, fünf Sommer in Folge, immer wieder dieselbe lästige Prozedur über sich hatte ergehen lassen müssen, war Robin nicht sonderlich erpicht darauf, sie auch noch ein sechstes Mal mitzumachen. Es war Daddys Entscheidung gewesen, daß sie einen weiteren Sommer in Camp Raintree in Maine verbringen sollte. Sie sah sich in ihrer Hütte um – kein einziges bekanntes Gesicht. Vielleicht war den anderen das Sommercamp ebenso verhaßt gewesen wie ihr. Aber die hatten ja auch nicht wiederkommen müssen. Das Mädchen, das in dem Feldbett neben ihr schlief, kaute auf ihrer Unterlippe, während sie immer wieder an dem steifen weißen Leinentuch zupfte und zerrte, das über ihre Matratze gebreitet war. Sie war klein und unwahrscheinlich dünn – vielleicht um ein Drittel schmaler als Robin –, und hatte seidiges gelbblondes Haar, das kurzgeschnitten war und ihr gerade bis zu den Ohrläppchen reichte.

»Du mußt hier nicht so pingelig sein«, erklärte Robin ihr. »Die schauen hier nie nach.«

Das Mädchen hob blinzelnd den Kopf.

Robin schlug eine Ecke ihrer Steppdecke auf. »Siehst du, ich habe überhaupt kein Bettuch.«

Das Mädchen schenkte ihr ein schwaches Lächeln, strich eine nicht existierende Falte glatt und legte dann eine rosafarbene Strickdecke mit winzigen gehäkelten Rosenknospen am Fußende des Bettes zusammen. Robin warf einen Blick in die offenstehende Kiste des Mädchens: Ein gelber Regenmantel, ein Paar Stiefel und ein zusammengelegter Schirm waren in dem einen Fach, eine Plastiktasche mit Toilettenartikeln, eine kleine Flasche mit einem Multi-Vitamin-Präparat, ein rotes Tagebuch mit goldenem Blattornament und ein Buch im weißen Ledereinband in dem anderen verstaut. Alle Kleidungsstücke, die dazwischen untergebracht waren, waren feinsäuberlich gebügelt, zusammengelegt und aufeinandergestapelt.

»Hast du das selbst eingeräumt?«

Das Mädchen nickte.

Robin schwang sich vom Bett, zog ihre Kiste hervor und machte sie auf. »Ich auch.«

Das Mädchen starrte auf die Hosen, Hemden, Turnschuhe und auf die Unterwäsche, die in einem wüsten Durcheinander dort drinnen lagen, schlug sich die Hand vor den Mund und fing zu kichern an.

»Wirst du nicht umgebracht dafür, daß du so schlampig bist?« fragte sie, als sie sich wieder beruhigt hatte.

Robin schüttelte den Kopf. »Nein. Eunice läßt mich fast immer machen, was ich will.«

»Wer ist Eunice?«

»Meine Mutter. Aber ich nenne sie Eunice.«

»Und es ärgert sie kein bißchen, daß du sie so nennst?«

»Es gefällt ihr sogar. Es gibt ihr das Gefühl, als seien wir Freundinnen.«

Nach ein paar Minuten des Schweigens sagte das Mädchen. »Mir gefallen deine Haare, sie sind so lang und wunderschön. Ich hätte auch gern so langes Haar.«

»Das ist einfach«, erwiderte Robin. »Laß sie doch wachsen.

Aber dafür hast du einen besseren Körper als ich. Ich bin so dick.«

»Nein, das bist du nicht, ich bin einfach zu mager.«

»Wer sagt das?«

»Mama. Sie versucht ständig, mich zu mästen.«

Robin stellte sich auf ihr Bett, breitete die Arme in einer langsamen, kreisenden Bewegung aus und sagte mit hoher Stimme:

»Mager ist doch in, weißt du das nicht, liebes Mütterchen?«

»Du bist wirklich seltsam«, sagte das Mädchen.

Robin sprang wieder herunter. »Ich weiß, ich stamme ja von Eunice ab. Und die ist so ungefähr die seltsamste Person, die ich kenne.«

»Was passiert jetzt?« flüsterte Amelia, als sie sich neben Robin in den Kreis stellte.

»Es geht im Uhrzeigersinn. Wenn du an der Reihe bist, dann stell dich einfach mit irgendeinem dummen Spruch vor.«

»Wie denn?«

»Ich weiß nicht, sag einfach irgend etwas.«

»O Gott, ich bin so nervös.«

»Warum?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, ich bin es eben.

Immer wenn ich in der Schule aufgerufen werde, schnürt es mir die Kehle zu, und ich habe Angst, ohnmächtig zu werden.

Und ich melde mich auch nie von selbst, auch nicht, wenn ich die richtige Antwort weiß. Schau dir mal meine Hände an.«

Amelia streckte Robin ihre feuchten Hände entgegen. »Die sind schon ganz feucht und verschwitzt.«

»Denk einfach nicht darüber nach«, entgegnete Robin.

Als sie an die Reihe kam, sagte sie: »Ich heiße Robin Garr, und ich hasse dieses kindische Sommerlager, aber mein Vater hat mich dazu verdonnert, dieses Jahr wieder hierherzukommen.« Dann wandte sie sich an Amelia. »Und das ist meine Freundin Amelia Lucas. Sie ist so ordentlich und systematisch, daß man es im Kopf nicht aushält. Paßt bloß auf, daß sie nicht versucht, eure Unterwäsche alphabetisch zu ordnen.«

Es war in der vierten Nacht im Lager, als Robin Amelia endlich dazu überreden konnte, sich nach dem Löschen der Lichter aus ihrer Hütte zu stehlen. Ihren Seesack über die Schulter geworfen, eine Taschenlampe in der Hand, so führte Robin sie aus der Hütte und in die Nacht hinaus.

»Und was ist, wenn sie in den Betten nachschauen?« flüsterte Amelia. »Mal angenommen, die entdecken, daß wir weg sind?«

»Ich sagte dir doch, die schauen erst wieder gegen Mitternacht nach.«

Als sie zu dem Pfad kamen, der in den Wald führte, blieb Amelia stehen.

»O nein, da geh ich nicht hinein.« Aber Robin packte sie an der Hand und zog sie weiter. »Jetzt komm schon, vertrau mir, da gibt es nichts zum Fürchten. Warte, bis du siehst, wo wir herauskommen. Es ist toll dort.«

Also ließ Amelia zu, daß Robin sie in den Wald führte. Als sie schließlich wieder auf offenem Gelände standen, befanden sie sich am gegenüberliegenden Ende des Sees, der ungefähr eine halbe Meile lang war. Hinter der großen sandigen Lichtung erstreckte sich meilenweit der Bergwald.

»Es ist schon ein paar Sommer her, da haben wir hier sogar mal übernachtet«, sagte Robin, als sie sich die Sandalen abstreifte, sich in den Sand setzte und ihre langen Beine so weit von sich streckte, bis sie die Füße ins Wasser stecken konnte. »Hinter uns, tief im Wald vergraben, da liegen Hunderte von Leichen versteckt.«

Amelia, die sich eben neben Robin gesetzt hatte, kniete sich hastig wieder hin.

»Du lügst doch, oder?«

»Nein, das stimmt wirklich. Und man sagt, wenn es nachts ganz dunkel ist, dann kann man hören –«

»Hör auf damit, Robin!«Amelia warf einen Blick hinter sich.

»Am liebsten würde ich jetzt wieder zurückgehen. Der Ort hier macht mich ganz nervös.«

»Entspann dich, sei so gut.«

»Wie stellst du dir das vor? Wenn mein Herz noch ein bißchen lauter schlägt, dann kannst sogar du es hören.«

»Okay, ich erzähle dir nichts mehr von den Leichen – ich verspreche es.«

»Vielen Dank.« Amelia ließ sich wieder in den Sand sinken.

»Dich würde ich ganz bestimmt nicht fragen, ob du eine ganze Nacht hier verbringen willst«, sagte Robin. »Ich bin mal auf einer Party gewesen, da hatten wir eine gespenstische Séance, und ein Mädchen…«

Amelia schreckte erneut hoch.

»Entschuldige, ich hab's ganz vergessen.«

Amelia verzog das Gesicht und blinzelte. »Nur zu, du kannst es ruhig sagen. Ich bin eine schreckliche Zimperliese … und alle anderen im Camp wissen das auch schon.«

»Na ja, vielleicht können wir ja etwas dagegen unternehmen.«

»Was denn, zum Beispiel?«

Robin steckte die Hand in ihren Seesack und zog eine kleine Flasche Wodka heraus.

Amelia hielt die Luft an. »O du meine Güte! Wo hast du denn die her?«

»Von Eunice.«

»Hat sie dir das gegeben?«

»Na ja, nicht so direkt. Aber sie läßt ihre Flaschen immer im ganzen Haus herumliegen.«

»Und du trinkst davon?«

»Ich habe es erst ein paar Mal probiert. Aber wenn man sich an den Geschmack gewöhnt hat, ist es nur noch halb so schlimm.« Robin führte die Flasche an ihre Lippen und nahm einen Schluck. Dann wischte sie den Flaschenhals mit dem Ärmel ihres Sweatshirts ab und reichte die Flasche an Amelia weiter. »O nein, Robin, das kann ich nicht.«

»Jetzt komm, versuch wenigstens einen Schluck.« Amelia schaute erst Robin, dann die Flasche und dann wieder Robin an.

»Okay«, sagte sie. »Aber nur einen kleinen Schluck.«

Eine Stunde später tanzten sie, die Beine ihrer Jeans bis zu den Knien hochgekrempelt, im seichten Wasser, bespritzten sich gegenseitig und warfen mit Kieselsteinen nach einer Felsnase, die aus dem tiefen Wasser ragte.

»Woran liegt es wohl, daß manche Leute total ausflippen, wenn sie betrunken sind, was glaubst du?« fragte Amelia.

»Ich glaube, der Trick besteht darin, sich nicht über einen bestimmten Punkt hinaus zu betrinken«, sagte Robin, während sie den groben Sand von ihren Händen wusch, ein letztes Mal Amelia anspritzte und sich dann auf den Strand zurückzog. »Eunice trinkt natürlich immer zuviel.« Beide fingen zu kichern an, dann rannte Amelia zu Robin und ließ sich in den Sand fallen. Sie griff nach Robin, packte sie am Arm und zog sie neben sich zu Boden.

»Erzähl mir mehr über Eunice, sie scheint ja recht verrückt zu sein.«

»Das ist sie auch. Du solltest sie mal in ihrer ausgeflippten Aufmachung erleben, wenn sie mit flatternden Seidenhosen, einem um die Stirn geschlungenen, geflochtenen Seidenband und mit riesigen Ohrringen – mit solchen Klunkern, sage ich dir – daherkommt. Sie hat sich sogar mal eine große Rose auf den Hintern tätowieren lassen.«

»Nein, das ist doch nicht möglich! Ist sie hübsch?«

»Umwerfend, mit einem Superkörper. Und sie sagt und tut nur das, was sie will.«

»Gott, wie ich sie beneide, so möchte ich auch sein. Dein Vater muß verrückt nach ihr sein.«

»Wahrscheinlich ist er das. Er verzeiht ihr vieles. Sie kocht zum Beispiel fast nie oder macht sauber oder näht oder sonst was Langweiliges in der Art.«

»Und wer macht das dann?«

»Wenn es so schlimm wird, daß man eine Schaufel braucht, um den Dreck vom Boden zu kratzen, dann holt Daddy eine Putzfrau ins Haus. Und zum Essen holen wir uns oft etwas aus dem Restaurant. Ich bin praktisch mit einem zermantschten Hamburger in der Flasche großgezogen worden.«

Amelia stieß einen spitzen Schrei aus und warf den Kopf nach hinten in den Sand.

»Oh, das finde ich toll, das finde ich irrsinnig toll!« Beide kicherten um die Wette.

»Bist du bei dieser Ernährung nie krank?« fragte Amelia.

»Jetzt mal ernsthaft.« Robin ließ ihre Armmuskeln spielen und drückte ihre Brust heraus. »Sieht dieser Körper kränklich aus?«

Amelia betrachtete sie, und erneut brachen sie in Gelächter aus.

»Ich kann nur davon träumen, daß wir uns jeden Abend etwas zu essen ins Haus kommen lassen«, meinte Amelia schließlich.

»Aber trotzdem, was ist mit deinem Vater? Das muß ihn doch verrückt machen.«

»Na, manchmal beklagt er sich schon.«

»Warum tut er dann nichts dagegen? Was glaubst du?«

»Weil er sie liebt, schätze ich. Eine Menge Kerle sind scharf auf Eunice.«

»Ist dein Vater eifersüchtig?«

»Meistens erfährt er gar nichts von den anderen.«

»Du meinst, sie macht wirklich mit ihnen rum?«

»Wenn ich es dir erzähle, dann mußt du schwören, nie auch nur ein Wort zu sagen.«

Amelia richtete sich auf und bekreuzigte sich. »Ich schwöre es bei Gott, großes Ehrenwort.«

»Also, einmal, als ich früher von der Schule nach Hause kam, da bin ich in ihr Schlafzimmer gegangen und da waren sie und dieser Mann, und beide waren splitternackt.«

Amelias Mund blieb vor Entsetzen offenstehen. »O du meine Güte! Und du hast deinem Vater nichts davon erzählt?« Robin zuckte mit den Achseln. »Erst wollte ich es ihm sagen, aber dann habe ich beschlossen, daß ich das nicht kann.«

»Warum?«

»Aus vielen Gründen. Eunice fängt immer an, wie wild herumzuheulen, wenn ich damit drohe, etwas von den schlimmen Dingen, die sie angestellt hat, zu verraten. Ich weiß, das ist nicht richtig von mir, aber am Ende tut sie mir immer wieder leid.«

»Und was gibt es noch für einen Grund?«

»Wahrscheinlich, weil ich Daddy nicht weh tun will.« Sie schaute auf die Uhr und sprang auf die Beine. »Ach du meine Güte, in einer halben Stunde ist Bettenkontrolle. Wir gehen besser zurück.«

Amelia stand ebenfalls auf, taumelte und kicherte, als sie ihr Gleichgewicht wiedererlangt hatte. »Dann kommen wir eben morgen abend wieder hierher, okay?« fragte sie.

»Aber dann will ich etwas über deine Eltern erfahren.« Amelia zögerte einen Augenblick und meinte dann: »Natürlich, wenn du unbedingt willst. Aber im Vergleich mit den deinen wird das langweilig werden.« Sie beobachtete Robin, wie diese die Wodkaflasche verschloß und sie zurück in ihren Seesack packte. »Ist für das nächste Mal noch etwas übrig?« fragte sie.

»Mach dir keine Sorgen, wenn die hier leer ist, dann haben wir noch zwei Flaschen.«

Kurz bevor sie bei ihrer Hütte waren, wandte Amelia sich an Robin und legte ihr die Hand auf den Arm. »Es war wirklich toll heute abend«, sagte sie. »Ich weiß, für dich war das nichts Besonderes, was wir getan haben – so etwas hast du wahrscheinlich schon hundertmal gemacht. Aber für mich war es etwas Besonderes. Alles … daß wir uns heimlich davongeschlichen haben, was wir geredet haben und daß ich dann so albern geworden bin, daß ich gedacht habe, ich platze gleich. Ich habe mich plötzlich so frei gefühlt … Und ich bin nicht einmal sicher, wem ich das zu verdanken habe – dir oder dem Wodka.«

Noch vor drei Wochen hätte Amelia so etwas nie im Leben getan, aber nach ein paar Schlucken aus der Wodkaflasche zog sie ihre Hosen und Unterhosen aus, schleuderte sie in den Sand und stürzte sich ins Wasser, nur mit ihrem blauen Camp-T-Shirt bekleidet.

»Komm schon, jetzt gehen wir schwimmen!«rief sie Robin zu. Robin hüpfte weiter tanzend auf dem Sandstrand herum … Sie hatte nicht soviel wie Amelia getrunken, aber auch sie fühlte sich benommen. Und so dauerte es einen Augenblick, bis sie die Schreie mit der Vorstellung in Verbindung brachte, daß sich jemand in Gefahr befinden könnte … Amelia war in Gefahr!

Robin tastete den Boden nach der Taschenlampe ab und ließ dann den Lichtstrahl über die Oberfläche des Sees gleiten. Sie entdeckte Amelia ungefähr fünfzehn Meter vom Ufer entfernt, wie sie heftig mit den Armen im Wasser ruderte und Robins Namen schrie. O mein Gott, wie lange hatte sie bereits nach ihr gerufen? Robin ließ die Taschenlampe fallen und rannte los. Sobald sie ins Wasser tauchte, wurde sie wieder klar im Kopf, und sie legte die Entfernung in zwei Minuten zurück. Aber gerade als sie Amelias Kopf – so wie man ihr es im Lebensrettungskurs beigebracht hatte – von hinten mit einem Arm umfassen wollte, wirbelte Amelia herum, schlug mit den Armen um sich und traf Robin im Gesicht und am Kopf, während ihre Hände versuchten, irgendwo an ihr Halt zu finden.

»Hör auf damit!« schrie Robin, aber Amelia hatte zu große Angst, um auf sie zu hören. Sie zog sich auf Robins Rücken, umklammerte mit beiden Armen ihren Hals und drückte sie unter Wasser. Robin kämpfte, um sich aus ihrem Griff zu befreien, aber es war, als würden starke Tentakel sie tiefer und tiefer nach unten ziehen.

Erst als sie zum zweiten Mal eine Ladung Wasser schluckte, hörte Robin zu kämpfen auf. Und dann trieben sie langsam nach oben: ineinander verschlungen wie schlafende siamesische Zwillinge kamen sie an die Oberfläche. Robin atmete tief ein, drehte sich herum, holte aus und schlug Amelia ins Gesicht. Da ließ Amelia los.

1

Auspacken … Robin haßte es. Es erinnerte sie an das Sommerlager, an den Tod und an Amelia. Außerdem hatte sie gar nicht wegziehen wollen, auch wenn sie im Augenblick Eunices Gegenwart kaum ertrug. Es war Daddy gewesen, der darauf bestanden hatte, Eunice und das gemeinsame große Haus in Andover zu verlassen und in diese Fünfzimmerwohnung nach Boston zu ziehen.

Daddy gab als Hauptgrund für diesen Umzug an, daß er näher bei seiner Rechtsanwaltskanzlei in der Stadt sei. Eunice dagegen meinte, der Grund sei lediglich der, sie davon abzuhalten, ihr Kind zu sehen, und obwohl Robin nur selten mit ihrer Mutter einer Meinung war, dachte sie, daß Eunice wahrscheinlich recht hatte.

Keiner erwähnte den anderen Grund: Die Alpträume und Schreikrämpfe, die in irgendeinem düsteren, kranken Teil von Robins Kopf heranwuchsen und immer wieder völlig überraschend auftauchten. Soweit sie begriffen hatte, was ihr Kinderarzt zu Daddy gesagt hatte, gab es in Boston die besten Psychotherapeuten.

Um ihr Gleichgewicht kämpfend, stellte Robin den schweren Karton mit Toilettenartikeln auf dem Waschbecken im Badezimmer ab und betrachtete das schmale Bad: ausgeblichene, rosafarbene Fliesen, eine hohe, geschwungene Decke, eine Badewanne mit vier Beinen und einem Duschvorhang aus Plastik, und hinter der Toilette ein hohes Fenster, das auf das Haus gegenüber hinausging. Es regnete seit dem frühen Morgen, als der Umzugswagen vor dem Haus vorgefahren war. Sie ging zum Fenster und schaute auf die dunkle, nasse Straße hinunter. Bis auf ein paar sonntägliche Ausflügler in langsam fahrenden Wagen und eine Frau, deren Gesicht von einem blauen Schirm verdeckt war und die rasch auf den Hintereingang des Hauses zuging, lag die Straße verlassen da. Robin spürte, wie ein Schauer sie durchlief. Boston wirkte im Regen düster, düsterer, als es draußen in den Vorstädten war, vermutete sie. Aber wer konnte das schon mit Sicherheit sagen, vielleicht entsprang die Düsternis in Wirklichkeit ihrem Kopf. Als sie wieder aufblickte, sah sie einen Jungen, der sie durch ein Fernglas aus einem Fenster des Apartmenthauses nebenan betrachtete. Sie zog die schmutzigen braunen Karovorhänge, die die Vormieter ihnen hinterlassen hatten, mit einem Ruck zu, ging zum Waschbecken zurück und öffnete den Medizinschrank. Der Geruch von Eunices Parfüm, das nach Jasmin duftete, hing immer noch an den Fläschchen, Döschen und Tuben, die sie aus dem Pappkarton holte. Es war derselbe Geruch, der Robin beruhigt und in den Schlaf gewiegt und ihr versichert hatte, daß Mommy in der Nähe war. Doch das war zu einer Zeit gewesen, als Robin noch an Eunice geglaubt hatte –jetzt war alles anders.

Als sie den Karton schließlich ganz ausgepackt hatte, schloß Robin die Tür des Schränkchens und starrte sich in dem mit Seifenspritzern verschmierten Spiegel an; sie konnte noch immer nichts mit diesem fremden, mageren zwölf Jahre alten Mädchen anfangen, das ihr entgegenstarrte. Die Ringe unter ihren dunklen Augen fielen stärker denn je auf, was in erster Linie an dem grotesken Haarschnitt lag … Als sie von heute auf morgen ihr schönes langes Haar radikal abgeschnitten hatte, war Daddy wahrscheinlich zu dem Schluß gekommen, daß sie nun endgültig durchgedreht sei.

Aber das war sie nicht – zumindest zu dem Zeitpunkt nicht, wie sie annahm. Es war nur eine Geste für Amelia gewesen. Und obwohl sich Robin nicht sicher sein konnte, daß Amelia überhaupt von dieser großartigen Geste wußte, so wußte sie doch, daß Amelia sie verstehen würde, falls es tatsächlich so wäre.

Robin spürte, wie ihr Rücken wieder zu kribbeln anfing – es fühlte sich an, als kröchen Dutzende winziger Käfer über ihre Haut. Sie drehte sich um, schob ihr Hemd hoch, spähte über ihre Schulter und betrachtete prüfend ihren Rücken im Spiegel. Wie oft hatte sie das in den vergangenen paar Monaten getan?

Aber es war noch immer nichts zu sehen.

Trotz der chaotischen Zustände an einem Umzugstag, brachte Marcus Garr es noch fertig, ein paar Tüten mit Lebensmitteln einzukaufen. Jetzt, da er endgültig mit Eunice gebrochen hatte, würde er als erstes ihre Eßgewohnheiten ändern: Keine Sandwiches und keine Pizza mehr, die vor dem Fernseher verschlungen wurden, keine Styroporbehälter und kein Plastikbesteck, auch keine Käsestangen mehr, die nur kurz in der Mikrowelle aufgewärmt wurden.

Er war zwar nicht so naiv, um anzunehmen, daß ein paar gutbürgerliche Mahlzeiten die emotionalen Probleme seiner Tochter lösen würden, aber ein stützendes Korsett aus festen Gewohnheiten, Normalität und ein positives Vorbild würden für den Anfang bestimmt nicht schaden. Natürlich mußte er darauf achten, daß er Robin in diesem Punkt nicht zu sehr überforderte – hoffentlich würde es ihm gelingen, den richtigen Mittelweg zu finden. In den vergangenen Wochen und Monaten hatte er sich fast ständig so gefühlt, als versuchte er, einen großen Buick in eine Parklücke zu bugsieren, die für einen kleinen Volkswagen gedacht war.

Er riß eine Schachtel mit Spaghetti auf, suchte in dem noch nicht ausgepackten Küchenkarton nach einem Topf, schüttete den Inhalt der Schachtel hinein, füllte mit Wasser auf und stellte den Topf auf den Gasherd.

»Daddy, was ist eigentlich mit der Schule?«

Er drehte sich um. Robin lehnte am Kühlschrank und beobachtete ihn. Seit August hatte sie beträchtlich an Gewicht verloren, so daß ihr einmal ziemlich kräftiger Körper schon fast zerbrechlich wirkte. Eigentlich hätte er erwartet, daß sie in der Zwischenzeit wieder die alte Robin sein würde – die Zeit heilte doch alle Wunden, oder etwa nicht? Aber die alte Robin schien so weit weg wie nie zu sein.

»Was ist mit der Schule, Baby?«

»Wann fange ich damit an?«

Er begann, die neuen Teller aus Steingut auszupacken, und stapelte sie neben den Gläsern im unteren Geschirrschrank. »Wir werden uns am Dienstag darum kümmern. Was ist übrigens mit den Kartons voller Wäsche? Ich habe im Gang einen Wandschrank entdeckt …«

»Das ist schon erledigt. Daddy, hast du die Badewanne schon gesehen? Sie hat Beine.«

»Diese alten Dinger sind Sammlerstücke, weißt du.«

»Mir ist eine Wanne ohne Beine aber lieber.«

»Das ist doch kein großes Problem … dann bauen wir sie eben aus.«

»Das klingt ganz nach Eunice.«

»Und sie würde es auch noch fertigbringen.«

Sie schwiegen ein paar Sekunden lang, dann fragte sie: »Fehlt sie dir, Daddy?«

Er antwortete nicht sofort, sondern stellte einen Stapel Schüsseln auf die Küchentheke. »Nun, wenn du damit meinst, ob ich es mir noch einmal anders überlege, dann lautet die Antwort nein.« Er deutete auf die übrigen Kartons auf dem Küchenfußboden. »He, wieso bin ich eigentlich der einzige, der sich hier abmüht?«

»Ich hasse Auspacken.«

Das Telefon läutete, und Marcus nahm ab.

»Hallo?«

»Na, na, mein Süßer, erst einen Tag in der neuen Wohnung, und schon ist das Telefon angeschlossen. Ich bin wirklich beeindruckt.«

Marcus seufzte. »Woher hast du die Nummer, Eunice?«

»Ich habe unter deiner alten Nummer angerufen und mir diese hier geben lassen. Warum, wolltest du sie mir nicht geben?«

»Irgendwann einmal. Also, was willst du?«

»Oh, nichts. Ich habe nur gerade eben vorn zum Fenster hinausgesehen und mir dabei gedacht, was für ein trübseliger Tag für einen Umzug. Also sagte ich mir, nur zu, Eunice, ruf Marcus und Birdie, dein kleines Vögelchen, an und muntere sie ein wenig auf.«

»Vielen Dank, aber das ist nicht nötig.«

»Weißt du, daß du deinen Schirm vergessen hast? Den ollen schwarzen, den du so magst und der schon ganz schäbig aussieht.«

»Hör mal, Eunice, ich habe viel zu tun. Ich habe momentan wirklich keine Nerven für so etwas.«

»Für was, mein Süßer?«

»Für dieses muntere Geplauder, diese sinnlosen Nettigkeiten.«

»Okay, dann sprechen wir eben über etwas anderes. Weißt du noch, wie ich immer im Bett neben dir lag und dir dabei zuhörte, wenn du dich auf deine eleganten Plädoyers vorbereitet hast? Gott, deine Stimme hat mich so angeheizt, daß ich die Hand ausstreckte und …«

»Hör auf, Eunice.«

»Oder kannst du dich noch an unsere Campingausflüge in den Wald erinnern? Wie wir uns liebten, bis wir uns nicht mehr rühren konnten, und uns dann unter …«

»Verdammt, es reicht!«

»Okay, drück auf den Knopf… jetzt bist du dran, ich höre auf und werde direkt auf den Punkt kommen. Ich will dich und Birdie wiederhaben.«

»Es war nett, mit dir zu plaudern, Eunice, aber wie ich bereits sagte, ich habe viel zu tun, und …«

»Warte!« rief sie. »Hör mich an, Marc, eine Zwölfjährige braucht ihre Mutter, denk darüber nach, tu das.«

»Das habe ich bereits. Nur schade, daß du für diese Rolle niemals viel Begeisterung gezeigt hast.«

»Und woher nimmst du plötzlich deinen Preis für den besten Vater des Jahres? Aber denk nur nicht, daß sich die Mutter geschlagen gibt, während du in deiner neuentdeckten Vaterschaft schwelgst.«

»Tu, was du nicht lassen kannst. Aber vergiß nicht, dem Richter zu erzählen, daß es dein Wodka war, den deine Tochter in ihrem Seesack versteckt hatte.«

»Ich pfeife auf dich und deine armseligen Richter. Wenn ich Birdie wiederhaben will, dann werde ich mir einen dramatischeren Weg einfallen lassen!«

Marcus legte auf. Er drehte sich zu Robin um, aber sie war nicht mehr in der Küche. Wieder läutete das Telefon, und er packte den Hörer.

»Oh, mir scheint, ich habe vergessen, den Hörer aufzulegen«, trällerte Eunice. Dann wurde der Hörer lautstark auf die Gabel geknallt.

Er holte tief Luft und ging in Robins Zimmer. Sie lag auf dem Bauch auf der Matratze.

»Alles in Ordnung, Baby?«

Schweigen.

»Ich habe mich wieder von ihr hereinlegen lassen. Tut mir leid.«

Robin zuckte die Achseln und wischte dann mit den Ärmel ihres Hemdes eine Träne fort. Die Tränen flössen ganz leicht zur Zeit, und das Schlimmste daran war, daß er nie wußte, warum sie weinte.

»Wolltest du mit ihr reden?« fragte Marcus. »Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dich zu fragen, aber wenn du willst …«

»Nein. Heute abend nicht.«

»Nun, wenn du es dir noch anders überlegst …«

»Ganz sicher nicht.« Sie wandte sich ihrem Vater zu und holte tief Luft. »Manchmal hockt sie ganz tief in meinem Kopf, Daddy. Direkt in meinem Kopf, und dann will sie nicht mehr raus.«

»Eunice?«

»Nein, Amelia.«

Eine Pause, dann: »Manchmal ist das alles nur eine Frage der Willenskraft, Baby. Man darf solchen Gedanken einfach nicht nachgeben. Verstehst du, was ich dir damit sagen will?«

»Ich schätze, schon.«

»Hör mal, es gibt hier einen Arzt in Boston, der dir vielleicht helfen kann.«

»Einen Nervenarzt?«

»Eine Psychologin. Sie heißt Mollie Striker. Wir haben morgen einen Termin bei ihr.«

»Warum hast du bis jetzt gewartet, um mir von ihr zu erzählen?«

»Ich dachte mir, je weniger Zeit du hast, dir unnütze Gedanken zu machen, desto besser.«

Schweigen, dann: »Was wird sie mit mir machen?«

»Nichts, sich mit dir unterhalten.«

»Worüber denn?«

»Das kommt auf dich an, worüber du reden möchtest.«

»Einmal angenommen, sie will mich einsperren?«

»Jetzt komm aber, warum sollte sie so etwas wollen?«

»Ich weiß es nicht, aber nur einmal angenommen, sie will es?«

»Das würde ich nicht zulassen. Schau, Baby, so funktioniert das nicht. Sie versucht nur, mit dir gemeinsam herauszufinden, was dir solchen Kummer bereitet und warum diese schlimmen Gedanken nicht verschwinden. Das ist alles, ich verspreche es dir.« Er schwieg kurz und meinte dann: »He, hast du Hunger? Ich habe Spa…« Er stand auf, schnupperte und rannte dann in Richtung Küche davon, während Robin ihm nachblickte, wie er aus dem Zimmer verschwand.

Eine Frage der Willenskraft?

Tja, wie bei einer Diät. Laß das Essen, und du wirst nicht dick.

Laß das Denken, und du wirst nicht verrückt…

Es ist schwer, schwer, schwer …

Als Robin in die Küche kam, hatte Marcus den Topf bereits zusammen mit dem Haufen angebrannter Nudeln in den Abfalleimer geworfen. Er war gerade dabei, mit einem stumpfen Messer die eingebrannte Kruste abzukratzen, die die Herdplatte bedeckte.

»Interessant«, sagte sie. »Wie nennst du das?«

»Anfängerglück.«

»Du besorgst dir wohl besser ein Kochbuch.«

»Da habe ich eine andere Idee. Wie wär's, wenn du dich als Wahlfach in einen Kochkurs einschreibst?«

»Ich hasse Kochkurse. Da muß man dann alles essen, was man gekocht hat. Ich habe einmal gesehen, wie ein Mädchen aus dem Klassenzimmer gerannt ist und über ihre Schulhefte gekotzt hat.«

Marcus warf das Messer ins Spülbecken. »Nicht gerade eine Auszeichnung für den Lehrer. Na dann, wenn dir die Idee nicht gefällt, vergiß sie, okay?«

Wieder läutete das Telefon, und Robin drehte den Kopf in seine Richtung, aber Marcus streckte die Hand aus, um sie zurückzuhalten.

»Nicht. Laß es läuten.«

Robin starrte das Telefon an.

»Neunmal«, zählte Marcus. »Ich wette, sie läßt es neunmal läuten. Was meinst du?«

»Ich sage elfmal.«

Nachdem es zweiundzwanzigmal geläutet hatte, hörte es endlich auf. »Man sollte eigentlich annehmen, daß wir Eunice inzwischen kennen«, sagte Marcus. »Also, was meinst du, sollen wir an unserem ersten Abend in der neuen Wohnung auswärts essen gehen?«

»Es regnet immer noch.«

»Okay, entscheide du. Entweder wirst du naß, oder es gibt nur Eier.«

Marcus hatte eben seinen Trenchcoat angezogen, als es an der Tür klopfte.

Robin machte auf. Die Frau, die dort stand, hatte eine blasse Haut und dunkelblaue Augen mit schweren Lidern, die ihre übrigen Gesichtszüge dominierten. Hinter den Ponyfransen ihres kurzgeschnittenen, glatten braunen Haares verbarg sich ein kleines, etwas erhöhtes Muttermal. Sie war überdurchschnittlich groß, schlank und trug ein gestärktes Kleid mit rosa Paisley-Muster. In den Händen hielt sie eine Kasserolle, die mit Alufolie zugedeckt war und die sie Robin entgegenstreckte. »Nur eine Kleinigkeit zum Abendessen«, sagte sie. »Ich weiß doch, wie hektisch es an einem Umzugstag zugehen kann.« Robin wich einen Schritt zurück und starrte sie an, während sie mit einer Hand über ihre Schulter griff und sich automatisch am Rücken kratzte.

Die Frau schlug die Folie an einer Ecke zurück; dekorativ waren drei Petersilienzweige auf einem Nudelgericht verteilt. »Nur frische Zutaten, keine Konservierungsstoffe, es schmeckt wirklich ausgezeichnet«, sagte sie.

Wollte Robin wohl noch lange so stehen bleiben? Marcus kam zur Tür, nahm die Kasserolle in Empfang und gab sie Robin.

»Warum bringst du sie nicht in die Küche?« fragte er; dann, an die Frau gewandt: »Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

»Das ist eine Lasagne. Ich hoffe, Sie essen gern italienisch.«

»Es gehört zu meinen Lieblingsessen.« Er streckte die Hand aus. »Marcus Garr«, stellte er sich vor und deutete dann mit dem Kopf auf Robin, die auf dem Weg in die Küche war. »Und das ist meine Tochter Robin. Ich nehme an, wir sind Nachbarn, richtig?«

Die Frau lächelte, und die Grübchen, die dabei in ihren Wangen sichtbar wurden, verliehen ihr eher das frische Aussehen einer College-Studentin als das einer Frau, die bestimmt schon die Dreißig überschritten hatte, wie Marcus vermutete. »Dorothy Cotton. Aus dem ersten Stock, Apartment zwölf. Mir ist Ihr Möbelwagen vor dem Haus aufgefallen. Ich hoffe, Sie halten mich deswegen nicht für neugierig.«

Marcus lächelte. »Im Gegenteil, Sie sind ein Geschenk des Himmels. Ich habe eben eine merkwürdig aussehende Masse in den Abfalleimer geworfen, aus der eigentlich Spaghetti hätten werden sollen. Wir wollten gerade aus dem Haus gehen.« Er deutete mit dem Arm Richtung Küche. »Ich habe den Eindruck, es reicht für uns alle, also, warum kommen Sie nicht herein und leisten uns Gesellschaft?«

»O nein, ich gehöre zu den Hausfrauen, die sich während des Kochens bereits vom Erfolg ihrer Arbeit überzeugen und ständig probieren. Ich versichere Ihnen, ich hatte meinen Anteil schon. Lassen Sie es sich einfach schmecken – und, willkommen in der Nachbarschaft.«

Sie drehte sich um und ging zum Fahrstuhl. Marcus schloß schmunzelnd die Tür und wandte sich dann an Robin, die wie hypnotisiert auf die geschlossene Tür starrte.

»Robin?«

Schweigen.

»Erde an Robin – bist du da?«

Robin schaute ihn mit leeren Augen an.

»Ist mir bei der Unterhaltung etwas Wichtiges entgangen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Was dann?«

»Ich wundere mich nur – nennt man so etwas eine ›Grüß-

Gott-Tante‹?«

»Vermutlich.« Dann, mit einem Blick auf die Kasserolle: »Es riecht köstlich.«

»Wir nehmen uns besser in acht, vielleicht hat sie, zusammen mit dem geriebenen Käse, Arsen über das Essen gestreut.«

Marcus überzeugte sich mit einem Blick, ob sie es wohl ernst meinte – das konnte man zur Zeit nicht immer so genau sagen.

Er beschloß, daß es ein Witz gewesen war und sagte: »Weißt du, was, dann holst du inzwischen die Teller und das Besteck, und ich betätige mich als Vorkoster.«

Er hatte recht – die Lasagne schmeckte tatsächlich köstlich –, aber Robin aß nur wenig davon, da ihr nicht gut war, wie sie sagte. Vielleicht hätte er bis morgen warten und ihr erst dann von der Psychologin erzählen sollen.

Nach dem Abendessen läutete das Telefon viermal. Schließlich nahm Marcus den Hörer von der Gabel, legte ihn nebenhin und hoffte, daß ihn aus dem Büro niemand zu erreichen versuchen würde. Nachdem Robin gegen neun Uhr in ihr Zimmer gegangen war, machte er mit dem Auspacken weiter. Dabei stiegen allerhand Erinnerungen in ihm hoch.

Sie beide zu zweit in einem Schlafsack, ohne Zelt. »Kein albernes Zelt, das diesen wahnsinnigen Vollmond aussperrt«, hatte Eunice gesagt. Und wenn es regnete – oder schlimmer noch, wenn Tiere kamen? Himmel, es gab schließlich Bären und Wildkatzen in diesen Wäldern. »Aber, aber, mein Süßer, du bist doch groß und stark. Wenn sich ein Bär nähert, dann besänftige ihn doch einfach mit dem Käse und den Keksen. Aber nicht die Pistazien, Marc, die heb für uns auf.« Richtig, Marcus – die Lebensmittel müssen immer in der Nähe, in Reichweite sein.

In der Nacht war es still, bis auf den Wind, der in den Zweigen raschelte, und das Getrippel kleiner Tiere, die durchs Unterholz rannten … und bis auf ihren Atem neben ihm und ihre Brust, die sich im gleichmäßigen Rhythmus mit der seinen hob und senkte. Ihre dunklen Augen, die sich in die seinen bohrten, sein Inneres nach außen stülpten und alles mit ihm machen konnten, was sie wollten …

Richtig – wie Wachs in ihren Händen. Da war es besser, wenn er an die jüngste Vergangenheit dachte, als der Jasminduft den Gestank nach Whiskey nicht mehr überdecken konnte und ihre klugen Sprüche plötzlich nichts anderes mehr als das unzusammenhängende Gestammel einer Betrunkenen waren. Es läutete an der Tür; er beugte sich vor und drückte auf den Sprechknopf.

»Wer ist da?«

»Eine Sendung für Marcus Garr.«

Er drückte auf den Türöffner, ging zur Wohnungstür und wartete dort.

»Sind Sie Mr. Garr?« fragte der Junge, als er aus dem Aufzug trat.

»Richtig.« Er nahm dem Jungen eine längliche, schmale Schachtel ab. Blumen? Die Schachtel hatte genau das richtige Format für langstielige Rosen, war aber schwerer. Er schloß die Tür und machte die Schachtel auf: Sein schäbiger schwarzer Schirm … und ein Zettel. »Gib meiner Birdie einen Kuß.« Als er den Schirm und die Nachricht von Eunice auf die Kommode in seinem Schlafzimmer legte, ertönte aus dem Zimmer nebenan ein Geräusch wie von einer entfernten Sirene, und plötzlich war die Sirene ganz nah und ertönte im ganzen Zimmer. Aus den Schreien wurden gestotterte, unverständliche Worte, bis auf eines, das sich deutlich von den anderen abhob: Amelia! Marcus rannte in Robins Schlafzimmer, richtete sie im Bett auf und schüttelte sie.

»Ich bin es, Baby … Ich bin es, Daddy!«

Und genauso plötzlich, wie sie angefangen hatten, hörten die Schreie wieder auf, und Robins Körper sackte in sich zusammen. Marcus hielt sie an sich gedrückt und fuhr mit den Fingern durch ihr kurzes, unregelmäßig geschnittenes Haar, bis ihr fliegender Atem sich wieder beruhigt hatte. Er blickte auf sie hinunter: Sie war in ihren Jeans eingeschlafen, auf der blanken Matratze, ohne Laken oder Decke.

Er legte seine Tochter zärtlich auf das Kopfkissen zurück, holte ihre gestreifte Steppdecke aus einem Karton und breitete sie über ihr aus. Dann beugte er sich über sie und küßte sie auf die Stirn; sie zuckte zusammen, ihr Arm schoß nach oben und traf ihn seitlich am Kopf.

Lieber Gott, diese Psychologin verstand hoffentlich was von ihrem Geschäft.

2

Robin schluckte schwer und musterte prüfend die fremde Umgebung, in der sie aufgewacht war – außer den Augen, wagte sie es nicht, irgendeinen Körperteil zu bewegen. War Amelia in der Dunkelheit in ihren Kopf gekrochen und hatte alle ihre Gehirnzellen zerstört? Schließlich fiel ihr wieder ein, wo sie war, und sie stieß einen tiefen Seufzer aus.

Sie schwang die Beine aus dem Bett und ging zu dem hohen, vorhanglosen Fenster, das auf die Commonwealth Avenue hinausführte. Obwohl das Pflaster noch naß war, hatte es inzwischen zu regnen aufgehört, und eine dumpf-schwüle, graue Luft hing in der Straße. Sie beobachtete die vielen Leute, die auf den Gehwegen hin und her liefen. Keine Kinder, die waren wahrscheinlich in der Schule. Sie entdeckte eine Frau in einem khakifarbenen Trenchcoat und mit einer braunen Schultertasche, die forsch den Weg hinunterging: Die »Grüß-Gott-Tante«.

»Robin, Frühstück!« rief Marcus.

Heute war der Termin bei der Ärztin.

»Robin?«

Robin blickte der »Grüß-Gott-Tante« so lange nach, bis sie um die Ecke bog, ging dann kurz zum Spiegel, hob ihr Hemd und schaute auf ihren Rücken. Schließlich ließ sie das Hemd wieder fallen und ging in die Küche.

Barfuß, die Hände in die Taschen ihrer Jeans gesteckt, blieb sie unter der Tür stehen. Auf beiden Tellern lagen jeweils zwei Scheiben Toast, die quer durchgeschnitten und mit Butter bestrichen waren. Ihr Vater häufte gerade knusprig aussehende Rühreier in die Mitte jedes Tellers und goß anschließend etwas Orangensaft in zwei Gläser.

»Nicht übel für den ersten Versuch, hmm?« sagte er.

»Ich frühstücke nie, Daddy.«

»Ich weiß, aber es gibt immer ein erstes Mal. Versuch's wenigstens.«

Sie setzte sich, nahm das Glas mit Orangensaft und trank einen Schluck.

»Um wieviel Uhr ist der Termin bei der Ärztin?«

»Um elf. Es ist ja erst neun Uhr, also entspann dich.«

»Wann gehst du wieder zur Arbeit?«

»Morgen, sobald ich dich in der Schule angemeldet habe.«

»Weißt du, die Sache mit dem Frühstück wäre ja gar nicht so übel, wenn sie nicht gleich als erstes in der Früh erledigt werden müßte.« Sie wollte wieder aufstehen. »Ich glaube, ich gehe erst mal unter die Dusche.«

Er legte eine Hand auf ihre Schulter und drückte sie in den Stuhl zurück. »Iß zuerst etwas. Komm, dem Chef zuliebe.

Wenigstens einen Bissen.«

Komm, wenigstens einen Schluck.

O nein, Robin, das kann ich nicht.

Komm, Amelia, wenigstens einen kleinen Schluck. Einen kleinen Schluck … Einen kleinen.

Sie schaufelte ein wenig von dem Rührei auf die Gabel.

»Mir ist aufgefallen, daß du heute nacht in deinen Kleidern geschlafen hast.«

Sie zuckte nur die Achseln.

»Du hast doch einen Schlafanzug, ein Nachthemd – irgend etwas – oder?«

»Ja, irgendwo in meiner Kommode wahrscheinlich. Warum?«

»Warum ziehst du das nicht an? Und wenn wir dann von unserem Termin bei der Ärztin zurückkommen, dann hätte ich gern, daß du dein Bett endlich machst. Mir ist gestern abend auch aufgefallen, daß du auf der bloßen Matratze geschlafen hast.«

»Warum bist du denn plötzlich so mäkelig?«

»Ich will nicht an dir herummäkeln, Baby. Ich versuche nur, ein paar Annehmlichkeiten des Lebens in unserem Haushalt einzuführen. Das ist alles.«

»Was ist los, hältst du mich für unzivilisiert? Ich wasche mich, mußt du wissen. Und ab und zu putze ich mir sogar die Zähne.«

Er streckte die Hand aus und legte sie auf die ihre. »Sieh doch, ich will dich nicht kritisieren, ehrlich. Es ist nur so, daß Eunice dir solche Dinge nie beigebracht hat.«

»Du aber auch nicht.«

Er trank seinen Saft aus und setzte das Glas ab.

»Na ja, vielleicht vergessen wir besser, daß ich überhaupt etwas gesagt habe. Wenn das Bettenmachen eine so große Affäre ist, dann werde ich es selbst erledigen. Denn ich will auf keinen Fall, daß du dich wegen solcher Kleinigkeiten aufregst.«

»He, Daddy, glaubst du vielleicht, daß kein Mensch mich mehr für verrückt halten wird, wenn ich Pyjamas trage, mein Bett richtig mache und noch mehr Sachen lerne?«

Er holte tief Luft. »Hör mal, wenn das lustig sein sollte, dann muß ich dich enttäuschen.«

»Gut, denn so war es auch nicht gemeint. Du glaubst doch, daß ich verrückt bin. Du sagst es vielleicht nicht, aber du denkst es. Das merke ich daran, wie du mich anschaust und wie du mit mir sprichst. Als würdest du jeden Augenblick erwarten, daß mir der Schaum aus dem Mund quillt.«

»Robin, nicht. Da liegst du völlig falsch. Ich denke bloß, daß du im letzten Sommer eine schreckliche Zeit durchgemacht hast. Es ist nicht leicht, mit anzusehen, wie jemand stirbt, noch dazu eine Freundin. Aber, Baby, solche fürchterlichen Unfälle passieren nun mal im Leben, und wir müssen lernen, damit fertig zu werden und die Vergangenheit ruhenzulassen.«

Robin spürte, wie der Film in ihrem Kopf wieder ablief und an der Stelle anhielt, an der er immer stoppte: Die Stelle, wo Robin Amelia ins Gesicht schlug und wo Amelia zum letzten Mal unter Wasser tauchte. Oh, tut mir leid, Amelia, aber weißt du nicht, daß solche Unfälle nun mal passieren? Es wird Zeit, daß ich dich zusammen mit meinen Pyjamas in eine Schublade sperre und vergesse, daß du je existiert hast. Robin schaute auf die Gabel, und sie wußte, daß sie sich übergeben würde, wenn sie jetzt etwas aß.

Im Fahren zeigte Marcus Robin die nächste Bushaltestelle und erklärte ihr, daß die Praxis der Ärztin nur elf Haltestellen die Commonwealth Avenue hinunter lag.

»Geh ich denn allein zu ihr?«

»Sicher, wenn du nach der Schule einen Termin bei ihr hast. Ist doch in Ordnung, oder?«

Sie nickte.

»Hör mal, wenn dir die Frau nicht gefällt, dann suchen wir uns jemand anderen. Mir kommt es vor allem darauf an, daß du dich dabei wohl fühlst.«

Robin schaute auf den Rock hinunter, den sie auf seine Bitte hin angezogen hatte. Wahrscheinlich hätte sie sich in Jeans und Sweatshirt erheblich wohler gefühlt.

Die Praxis der Psychologin befand sich im Erdgeschoß eines zweistöckigen Reihenhauses aus rötlichbraunem Sandstein. Der glänzende Parkettfußboden in dem hohen Wartezimmer war teilweise von einem Teppich mit Madraskaro bedeckt, der blaue und grüne Fransen hatte. Drei Sessel, von denen keiner zum anderen paßte und die schon reichlich abgenutzt aussahen, bildeten die Einrichtung, dazu ein alter Schreibtisch aus Mahagoni, dessen Oberfläche übersät war mit Notizzetteln, Millimeterpapier und Tontöpfen voller Kugelschreiber, Kreide, Buntstifte und Scheren. In einer Holzkiste waren ein Tonbandgerät und Tonbänder untergebracht, und an einer Wand waren Zeitschriften und Taschenbücher aufgestapelt. Es gab keine Empfangsdame, nur eine Notiz in roten Buchstaben bat darum, doch ein klein wenig zu warten.

Dr. Mollie Striker war ebenso ungewöhnlich wie ihr Wartezimmer. Ihr dickes, langes rotblondes Haar war aus dem sommersprossigen Gesicht gekämmt und locker im Nacken zusammengefaßt. Sie trug Jeans, flache Schuhe und ein loses, blaugestreiftes Hemd mit Buttondown-Kragen. Sie führte sie in ihr Arbeitszimmer, das wie eine größere Ausgabe ihres Wartezimmers wirkte.

»Setzen Sie sich doch«, sagte sie und ließ sich ebenfalls in einem der Sessel nieder, statt sich an ihren überfüllten Schreibtisch zu setzen.

»Ich dachte mir, daß wir uns vielleicht erst einmal allein unterhalten sollten«, sagte Marcus und sah sich in dem Zimmer um.

»Entscheide du, Robin«, sagte die Ärztin. »Möchtest du, daß wir es so machen?«

Robin zuckte mit den Achseln. »Das ist mir egal.«

»Okay, dann sehen wir uns später, wenn ich mit deinem Vater gesprochen habe. Aber wenn dir die Ohren klingeln und du hören möchtest, was wir über dich reden, dann komm ruhig wieder herein.«

Als Robin draußen war, sagte Marcus: »Ich sehe hier keine Diplome an der Wand hängen, aber soviel man mir sagte, haben Sie erstklassige Referenzen. Wo waren Sie gleich noch … in Harvard?«

»Ich habe in Harvard mein Diplom gemacht und mit einer Arbeit über Studenten promoviert. Danach war ich drei Jahre lang am Massachusetts General und anschließend zwei Jahre als Kinderpsychiaterin am Boston-City-Krankenhaus tätig. Seit zwei Jahren habe ich jetzt meine eigene Praxis.«

»Sie scheinen mir kaum alt genug für all die Erfahrung zu sein.«

Sie lächelte, ein nettes Lächeln, das gleichmäßige weiße Zähne enthüllte. »Lassen Sie sich nicht von meinen Sommersprossen täuschen.« Dann, mit einer Handbewegung auf die Akte auf ihrem Schreibtisch. »Mr. Garr, ich habe mir bereits Robins Unterlagen angesehen, die ich von ihrem Kinderarzt bekommen habe, aber ich würde mir die Geschichte gern noch mal aus Ihrer Sicht anhören, unvoreingenommen und ohne medizinisches Fachchinesisch.«

»In Ordnung, Miss Stri… Ich meine, Frau Doktor …«

»Mollie reicht.«

Marcus redete ungefähr zwanzig Minuten ohne Unterbrechung.

»Rekapitulieren wir doch mal, ob ich auch alles richtig verstanden habe«, meinte Mollie, als er geendet hatte. »Sie haben davon erzählt, daß Robin sich die Haare abgeschnitten hat, haben von ihrer Appetitlosigkeit gesprochen, dem zwanghaften Verlangen, ihren Rücken zu betrachten oder sich dort zu kratzen, ihren Alpträumen, ihrer Melancholie, ihrer Introvertiertheit, ihrem Desinteresse an früheren Freunden, ihren trüben Gedanken und auch davon, daß sie darauf besteht, Amelia würde sich in ihrem Kopf befinden und in ihre Gedanken eindringen. Habe ich irgend etwas vergessen?«

»Ihre Wut. Auf ihre Mutter.«

»Ist sie auf Sie nicht wütend?«

»Wenn ja, dann hat sie das bis jetzt noch nicht gezeigt.« Dann ging Marcus auf Eunices Alkoholprobleme und auf die daraus resultierenden Folgen ein, die – zusammen mit dem Unfall im Sommercamp – in erster Linie für Robins momentane Schwierigkeiten verantwortlich waren, wie er glaubte. »Es ist kein Wunder, daß sie ganz durcheinander ist«, sagte er. »Ich zweifle ja nicht daran, daß Eunice Robin liebt, aber sie hat sich keine große Mühe gegeben, das zu beweisen. Ich glaube einfach, daß sie gar nicht in der Lage ist, ihr eine richtige Mutter zu sein.«

»Und Sie, Mr. Garr?«

»Wie ich bereits sagte, ich tue mein Bestes, um Robin wieder hinzubekommen. Ich versuche, ihr irgendwie einen Halt zu geben und ihr gute Vorbilder zu liefern.«

»Aber Sie erzählen doch, daß Eunice die ganzen Jahre über haltlos und unzuverlässig gewesen ist. Und daß Robin, laut Ihren Aussagen, sehr viel auf sich allein gestellt war.«

»Das ist richtig.«

»Und wo waren dann Sie die ganze Zeit über?«

Daddy sagte kein Wort über die Ärztin, erst als sie bereits wieder auf dem Heimweg waren.

»Okay, du hast mit ihr gesprochen«, meinte er schließlich.

»Was hältst du von ihr?«

»Ich weiß nicht, ich schätze, sie ist in Ordnung.«

»Ist das alles?«

»Nun, sie hat mich nicht zum Reden gezwungen, und das war gut so. Sie sagte, daß sie mich am Anfang gern zweimal die Woche sehen würde, und bat mich, mir die Tage selbst auszusuchen. Ich habe mich für Dienstag und Donnerstag entschieden. Und sie hat auch noch gesagt, daß ich das jederzeit ändern und später mal an anderen Tagen kommen könnte, falls ich nach der Schule etwas vorhaben sollte.«

»Weißt du, Robin, wenn du sie nicht magst, dann können wir jemand anderen suchen. Es gibt eine Menge guter Ärzte in Boston.«

Robin musterte ihn. »Du bist es doch, der sie nicht mag, richtig?«

Er zuckte mit den Schultern. »Hör mal, ich muß mich ja nicht mit ihr unterhalten. Das mußt du entscheiden.«