Daddy - Emma Cline - E-Book

Daddy E-Book

Emma Cline

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Beschreibung

„Der sehnsüchtig erwartete Erzählband ‚Daddy‘ ist ein würdiger Nachfolger von Emma Clines Debüt ‚The Girls‘.“ Esquire

In ihrem Haus in Südkalifornien erwarten Linda und John sehnsüchtig die Ankunft ihrer Kinder. Es könnte ein idyllisches Familienfest werden – wären da nicht die Gespenster von Zorn und Traurigkeit. Emma Cline erzählt von Männern, die gefangen sind in mühsam errichteten Selbstbildern, von Frauen auf der Suche nach dem Reiz der Grenzüberschreitung, von Familienvätern, die die Vergangenheit einzuholen droht. „Daddy“ ist ein funkelndes Psychogramm unserer Gegenwart: Erzählungen über die andauernden Widersprüche unserer Beziehungen, den Kampf gegen den männlichen Blick, das Ausloten von Weiblichkeit. Nach ihrem fulminanten Debüt „The Girls“ beweist Emma Cline erneut die ganze Bandbreite ihres Könnens.

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Über das Buch

In ihrem Haus in Südkalifornien erwarten Linda und John sehnsüchtig die Ankunft ihrer Kinder. Es könnte ein idyllisches Familienfest werden — wären da nicht die Gespenster von Zorn und Traurigkeit. Emma Cline erzählt von Männern, die gefangen sind in mühsam errichteten Selbstbildern, von Frauen auf der Suche nach dem Reiz der Grenzüberschreitung, von Familienvätern, die die Vergangenheit einzuholen droht. »Daddy« ist ein funkelndes Psychogramm unserer Gegenwart: Erzählungen über die andauernden Widersprüche unserer Beziehungen, den Kampf gegen den männlichen Blick, das Ausloten von Weiblichkeit. Nach ihrem fulminanten Debüt »The Girls« beweist Emma Cline erneut die ganze Bandbreite ihres Könnens.

Emma Cline

Daddy

Storys

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Was macht man mit einem General

Los Angeles

Menlo Park

Sohn von Friedman

Das Kindermädchen

Arcadia

Northeast Regional

Marion

Mackie Messer

A/S/L

Danksagung

Was macht man mit einem General

Linda war im Haus und telefonierte — mit wem eigentlich, so früh? Vom Whirlpool aus sah John zu, wie sie in ihrem Bademantel und einem alten Badeanzug mit verblasstem Tropenmuster, der wahrscheinlich einem der Mädchen gehörte, hin und her ging. Es war schön, sich ein bisschen im Wasser treiben zu lassen, zur anderen Seite des Pools zu gleiten, dabei den Kaffee über Wasser hochzuhalten, während die Düsen vor sich hin sprudelten. Der Feigenbaum war kahl, und das schon seit einem Monat, aber die Kakibäume trugen noch. Die Kinder sollten Plätzchen backen, wenn sie hier sind, dachte er, Kaki-Plätzchen. Hatte Linda nicht immer welche gemacht, als die Kinder noch klein waren? Oder was für welche sonst noch — mit Marmelade, vielleicht? Das ganze Obst, das umkam, es war zum Kotzen. Er würde dem Gartentypen sagen, er solle ein paar Kisten Kakis sammeln, bevor die Kinder kamen, dann bräuchten sie sie bloß noch zu verarbeiten. Linda wusste bestimmt noch, wo sie das Rezept hatte.

Die Fliegengittertür schlug zu. Linda legte ihren Bademantel zusammen und stieg in den Whirlpool.

»Sashas Flug hat Verspätung.«

»Wie viel?«

»Landet wahrscheinlich erst um vier oder fünf.«

Um die Zeit wäre der Feiertagsverkehr auf der Rückfahrt ein Alptraum — eine Stunde hin, dann zwei Stunden zurück, wenn nicht noch mehr. Sasha hatte keinen Führerschein, konnte also keinen Wagen mieten, nicht, dass ihr einfallen würde, es anzubieten.

»Und sie hat gesagt, Andrew kommt nicht mit«, sagte Linda und zog ein Gesicht. Linda war überzeugt, dass Sashas Freund verheiratet war, obwohl sie es Sasha gegenüber nie zur Sprache brachte.

Sie fischte ein Blatt aus dem Wasser und schnippte es in den Garten, dann machte sie es sich mit dem Buch bequem, das sie mitgebracht hatte. Linda las viel: Sie las Bücher über Engel, Heilige und reiche weiße Frauen aus vergangenen Zeiten mit exzentrischen Gewohnheiten. Sie las Bücher, die Mütter von Schulamokläufern geschrieben hatten, und Bücher von Heilern, die behaupteten, Krebs sei im Grunde ein Problem mangelnder Selbstliebe. Aktuell waren es die Erinnerungen einer jungen Frau, die als Elfjährige entführt und fast zehn Jahre in einem Gartenschuppen gefangen gehalten worden war.

»Ihre Zähne waren in gutem Zustand«, sagte Linda. »In Anbetracht der Umstände. Sie schreibt, sie hätte sich die Zähne jeden Abend mit den Fingernägeln abgekratzt. Dann hat er ihr schließlich eine Zahnbürste gegeben.«

»Du meine Güte«, sagte John, was ihm die angemessene Reaktion zu sein schien, aber Linda war schon wieder in ihr Buch vertieft und dümpelte friedlich vor sich hin. Als die Düsen sich abschalteten, watete John schweigend hinüber und schaltete sie wieder ein.

Als erstes von den Kindern traf Sam ein; er kam aus Milpitas, in einem Gebrauchtwagen, der noch Garantie hatte und den er im vorigen Sommer gekauft hatte. Vor dem Kauf des Wagens hatte er zigmal angerufen, um das Für und Wider abzuwägen — der Kilometerstand dieses Gebrauchten im Gegensatz zum Leasing eines neueren, und wie bald Audis zur Inspektion mussten —, und es verblüffte John, dass Linda dafür, für das Autokauf-Heckmeck ihres dreißigjährigen Sohns, Zeit hatte, aber sie nahm seine Anrufe jedes Mal entgegen, ging ins andere Zimmer und ließ John zurück, wo er gerade war, allein mit dem, was er gerade machte. In letzter Zeit sah er sich öfter eine Fernsehserie über zwei ältere Frauen an, die zusammenlebten, die eine spießig, die andere ein Freigeist. Das Gute war, dass es endlos viele Episoden zu geben schien, eine endlose Schilderung der kleinen Widrigkeiten ihres Lebens in einem namenlosen Strandort. Die Zeit schien für diese Frauen nicht zu gelten, als wären sie bereits tot, obwohl die Serie wohl in Santa Barbara spielen sollte.

Als nächstes traf Chloe ein, aus Sacramento, und sie sei, sagte sie, mindestens eine halbe Stunde lang mit brennender Tankwarnleuchte gefahren. Vielleicht auch länger. Sie machte gerade ein Praktikum. Natürlich unbezahlt. John und Linda kamen immer noch für ihre Miete auf; sie war die jüngste.

»Wo hast du getankt?«

»Noch gar nicht«, sagte sie. »Das mache ich später.«

»Du hättest anhalten sollen«, sagte John. »Es ist gefährlich, auf Reserve zu fahren. Und dein Vorderreifen ist fast platt«, fuhr er fort, aber Cloe hörte gar nicht zu. Sie kniete bereits in der gekiesten Einfahrt und hielt den Hund fest umklammert.

»Ach, mein kleiner Schatz«, sagte sie mit beschlagener Brille, Zero an die Brust gedrückt. »Kleiner Liebling.«

Zero zitterte ständig, was, wie eines der Kinder nach kurzer Recherche gesagt hatte, für Jack Russell Terrier völlig normal sei, aber es ging John trotzdem auf die Nerven.

Linda fuhr Sasha abholen, weil John mit seinem Rücken keine längeren Strecken im Auto verbringen sollte — vom Sitzen verkrampfte er völlig — und Linda ohnehin sagte, sie mache das gern. Sie freue sich darauf, ein bisschen Zeit allein mit Sasha zu haben. Zero versuchte, Linda zum Wagen zu folgen, und stieß gegen ihre Beine.

»Er darf nicht ohne Leine raus«, sagte Linda. »Geh sanft mit ihm um, okay?«

John fand die Leine, und als er sie am Geschirr befestigte, achtete er darauf, den Wulst von Zeros OP-Naht nicht zu berühren. Die Stiche sahen spinnenartig aus, sinister. Zero atmete mühsam. Noch fünf Wochen lang mussten sie dafür sorgen, dass er sich nicht herumwälzte, nicht sprang, nicht rannte. Er musste jedes Mal an die Leine, wenn man mit ihm hinausging, musste ständig begleitet werden. Sonst würde sich der Schrittmacher möglicherweise lockern. John hatte nicht gewusst, dass Hunde Schrittmacher bekommen konnten, eigentlich mochte er überhaupt keine Hunde im Haus. Und nun schlurfte er hinter Zero her, während der Hund einen Baum und dann noch einen beschnupperte.

Zero humpelte langsam bis zur Umzäunung, stand einen Moment lang still und ging dann weiter. Er war zwei Morgen groß, der Garten, so groß, dass man sich von den Nachbarn isoliert vorkam, obwohl einmal einer wegen des Hundegebells die Polizei gerufen hatte. Diese Leute, in alles mussten sie die Nase stecken, und wenn es nur darum ging, Hunde vom Bellen abzuhalten. Zero blieb stehen, um einen eingedrückten Fußball in Erwägung zu ziehen, der so alt war, dass er wie versteinert aussah, dann ging er weiter. Schließlich hockte er sich trübselig nieder und blickte zu John, während er ein cremiges kleines Häufchen schiss. Es war von verblüffendem, unnatürlichem Grün.

In dem Hund befand sich irgendein unsichtbares Gerät, das ihn am Leben hielt, das sein Hundeherz am Schlagen hielt. Roboter-Hund, summte John vor sich hin, während er mit dem Fuß Erde über die Scheiße scharrte.

Vier Uhr, Shashas Flugzeug landete wohl gerade, und Linda ging in der Ankunftshalle auf und ab. Es war nicht zu früh für ein Glas Wein.

»Chloe? Hast du Interesse?«

Hatte sie nicht. »Ich schreibe gerade Bewerbungen«, sagte sie, im Schneidersitz auf ihrem Bett. »Siehst du?« Einen Moment lang drehte sie den Laptop zu ihm hin, auf dem Bildschirm irgendein Dokument, obwohl er im Hintergrund eine Fernsehsendung laufen hörte. Sie wirkte immer noch wie ein Teenager, obwohl sie vor fast zwei Jahren das College abgeschlossen hatte. In ihrem Alter hatte John schon für Mike gearbeitet, hatte mit dreißig schon seinen eigenen Bautrupp gehabt. Heutzutage kriegten die Kids ein komplettes zusätzliches Jahrzehnt, um — ja was eigentlich? Sich treiben zu lassen, Praktika zu machen.

Er versuchte es erneut. »Bist du sicher? Wir können draußen sitzen, da ist es ganz schön.«

Chloe blickte nicht vom Laptop auf. »Kannst du die Tür zumachen?«, sagte sie tonlos.

Manchmal verschlug ihre Unhöflichkeit ihm den Atem.

Er stellte einen Snack für sich zusammen. Käsestücke, wobei er um den Schimmel herumschnitt. Salami. Die letzten, in der Lake geschrumpelten Oliven. Er nahm seinen Pappteller mit nach draußen und setzte sich in einen der Gartensessel. Die Polster fühlten sich feucht an, vergammelten wahrscheinlich von innen. Er trug seine Jeans, seine weißen Socken, seine weißen Sneakers, einen Strickpullover — von Linda —, der deutlich nach Frauenpullover aussah und lächerlich an ihm wirkte. Darüber, wie albern er womöglich wirkte, machte er sich keine Gedanken mehr. Wen sollte es kümmern? Zero kam und schnupperte an seiner Hand; er gab ihm ein Stück Salami zu fressen. Wenn der Hund sich ruhig verhielt, war er gar nicht so schlecht. Eigentlich müsste er ihn an die Leine nehmen, aber die war im Haus, und Zero wirkte ohnehin gedämpft, es bestand keine Gefahr, dass er herumrannte. Der Garten war grün, wintergrün. Unter der großen Eiche war eine Feuerstelle, die eines der Kinder noch zu Highschool-Zeiten gegraben und mit Steinen umlegt hatte, doch inzwischen war sie mit Laub und Abfall gefüllt. Wahrscheinlich Sam, dachte er, und müsste Sam sie nicht ausräumen, das Ganze ausräumen? Plötzlicher Zorn flammte ihn ihm auf und legte sich ebenso rasch wieder. Was sollte er denn machen, ihn anbrüllen? Heutzutage lachten die Kinder einfach nur, wenn er wütend wurde. Noch ein Stück Salami für Zero, ein Stück für ihn selbst. Sie war kalt und schmeckte nach Kühlschrank, nach der Plastikschale, in der sie gelegen hatte. Zero starrte ihn mit diesen Marmoraugen an und stieß seinen hungrigen, nach Fleisch riechenden Atem aus, bis John ihn wegscheuchte.

Auch unter Berücksichtigung des Feiertagsverkehrs kamen Linda und Sasha später zurück, als er erwartet hatte. Er trat hinaus auf die Veranda, als er ihren Wagen hörte. Er hatte den Gartentypen entlang des Zauns, entlang der Dachkante und um die Fenster Weihnachtsbeleuchtung anbringen lassen. Es waren diese neuen LED-Dinger, kühle Stränge von weißem Licht, das von den Traufen tropfte. Jetzt, in der einbrechenden blauen Dunkelheit, sah es hübsch aus, aber er vermisste die bunten Lichter seiner Kindheit, diese cartoonhaften Glühbirnen. Rot, blau, orange, grün. Wahrscheinlich waren sie giftig.

Sasha öffnete die Beifahrertür, auf dem Schoß eine Handtasche und eine leere Wasserflasche.

»Die Fluggesellschaft hat meinen Koffer verschlampt«, sagte sie. »Tut mir leid, ich bin einfach sauer. Hi, Dad.«

Sie umarmte ihn mit einem Arm. Sie wirkte ein bisschen traurig, ein bisschen dicker als bei ihrem letzten Wiedersehen. Sie trug eine wenig vorteilhaft geschnittene Hose, an den Beinen weit, und ihre Wangen schwitzten unter zu viel Make-up.

»Hast du mit jemandem geredet?«

»Alles gut«, sagte sie. »Ich meine, ja, ich habe meine Daten und alles angegeben. Ich habe eine Vorgangsnummer, es gibt irgendeine Webseite. Sie werden ihn niemals finden, da bin ich mir sicher.«

»Mal sehen«, sagte Linda. »Sie entschädigen dich, weißt du.«

»Wie war der Verkehr?«, fragte John.

»Stau bis zur 101«, sagte Linda. »Irrsinn.«

Wenn Gepäck da wäre, könnte er wenigstens etwas mit den Händen tun. Er deutete in Richtung der Einfahrt, der Dunkelheit hinter dem Verandalicht.

»Tja«, sagte er, »jetzt sind alle da.«

»So ist es besser«, sagte Sam. »Oder etwa nicht?«

Sam war in der Küche und schloss Lindas iPad an einen Lautsprecher an, den er mitgebracht hatte. »Jetzt kannst du jede Musik abspielen, die du willst.«

»Aber ist es nicht kaputt?«, fragte Linda vom Herd aus. »Das iPad? Frag deinen Dad, der kennt sich aus.«

»Da ist bloß der Akku leer«, sagte Sam. »Siehst du? Du musst es nur anschließen.«

Die Arbeitsplatte war vollgepackt — Johns Sekretärin Margaret hatte eine mit Frischhaltefolie abgedeckte Platte Buttertoffees vorbeigebracht, alte Kunden hatten eine Dose Macadamianüsse und einen Korb mit Feigenaufstrichen geschickt, die sich den ungeöffnet und staubig in der Speisekammer stehenden Feigenaufstrichen früherer Jahre zugesellen würden. Limonen in einem Korb von den Bäumen entlang des Zauns, so viele Limonen. Man müsste etwas mit den Limonen machen. Wenigstens dem Gartentypen ein paar geben, der konnte sie mit nach Hause nehmen. Chloe saß, Zero zu Füßen, auf einem der Hocker und öffnete Weihnachtskarten.

»Wer sind eigentlich die da?« Chloe hielt eine Karte hoch. Ein Foto dreier lächelnder Jungen in Jeans und Jeanshemden. »Sie sehen fromm aus.«

»Das sind die Kinder deiner Cousine«, sagte John und nahm die Karte. »Haleys Jungs. Sie sind sehr nett.«

»Ich habe nicht behauptet, dass sie nicht nett sind.«

»Sehr gescheite Kinder.« Sie hatten sich ordentlich benommen an dem Nachmittag, an dem sie zu Besuch gekommen waren, und der jüngste hatte auf verrückte Weise gelacht, als John ihn an den Knöcheln hochgehoben und kopfüber hatte herabbaumeln lassen.

John sei zu grob, hatte Linda gesagt, und ihre Stimme war hoch und weinerlich geworden. Sie machte sich so leicht Sorgen. Er hat einen Mordsspaß, hatte John gesagt. Und das stimmte: Als er den Jungen mit roten Wangen und wilden Augen wieder auf die Füße gestellt hatte, hatte der gleich noch einmal gewollt.

Sasha kam nach unten: Ihr Gesicht war feucht vom Waschen, ihr Kinn mit irgendeiner schwefelhaltigen Lotion betupft. Sie wirkte verschlafen und unglücklich in geborgten Jogginghosen und einem Sweatshirt von dem College, auf das Chloe gegangen war. Mit Sam und auch mit Chloe redete Linda jeden Tag, und sie sah die beiden auch recht oft, aber Sasha war seit März nicht mehr zu Hause gewesen. Linda war glücklich, das merkte John, glücklich, die Kinder dazuhaben, alle an einem Ort.

John verkündete, dass es Zeit für einen Drink war. »Alle? Ja?«, sagte er. »Ich finde, wir trinken einen Weißen.«

»Was willst du hören?«, fragte Sam, der mit einem Finger auf dem iPad scrollte. »Mom? Musst es nur sagen.«

»Weihnachtslieder«, sagte Chloe. »Stell einen Sender mit Weihnachtsliedern ein.«

Sam ignorierte sie. »Mom?«

»Den CD-Spieler fand ich gut«, sagte Linda. »Mit dem kannte ich mich aus.«

»Aber du kannst alles hören, was auf deinen CDs war, und sogar noch mehr«, sagte Sam. »Alles Mögliche.«

»Such einfach was aus und lass es laufen«, sagte Sasha. »Mein Gott.«

Ein Werbespot plärrte los.

»Wenn du ein Abo abschließt«, sagte Sam, »bekommst du keine Werbung.«

»Jetzt hör schon auf«, sagte Sasha. »Die haben keine Lust, sich mit diesem Zeug zu beschäftigen.«

Gekränkt drehte Sam die Lautstärke herunter und studierte schweigend das iPad. Linda sagte, sie finde den Lautsprecher großartig, danke, dass du ihn angeschlossen hast, und ob es nicht schön sei, wie viel Platz mit einem Mal auf der Arbeitsplatte zur Verfügung stehe, außerdem sei jetzt ohnehin das Essen fertig, also könnten sie die Musik einfach ausmachen.

Chloe deckte den Tisch: Papierservietten, die Gläser aus Mattglas. John musste jemanden anrufen, der nach der Spülmaschine sah. Sie pumpte nicht richtig ab und schien das Geschirr nur in einem Eintopf aus warmem Wasser und Essensresten zu marinieren. Linda saß am Kopfende des Tischs, die Kinder an ihren gewohnten Plätzen. John trank sein Weinglas aus. Linda hatte aufgehört, Alkohol zu trinken, bloß um es mal auszuprobieren, sagte sie, bloß eine Zeitlang, und seither hatte er mehr getrunken, oder vielleicht kam es ihm auch nur so vor.

Sasha stibitzte ein Salatblatt aus der Schüssel und fing zu kauen an.

»Entschuldige bitte«, sagte er.

»Was?«

»Wir haben noch nicht das Tischgebet gesprochen.«

Sasha zog ein Gesicht.

»Ich mach das«, sagte Sam. Er schloss die Augen, neigte den Kopf.

Als John die Augen öffnete, sah er Sasha an ihrem Handy. Der Drang, sich das Ding zu schnappen, es zu zerschmettern. Aber am besten nicht wütend werden, sonst würde Linda auf ihn wütend werden, sie würden alle wütend werden. Wie leicht man alles verderben konnte. Er füllte sein Weinglas nach, nahm sich etwas Pasta. Chloe langte immer wieder nach unten, um Zero mit kleinen Stücken Grillhähnchen zu füttern.

Sasha stocherte in der Pasta. »Ist da Käse drin?« Sie nahm sich demonstrativ nichts davon. Auf ihrem Teller lagen nur feuchter Salat und ein paar Fitzel Hähnchen. Sie schnupperte an ihrem Wasserglas. »Das riecht komisch.«

Linda blinzelte. »Na, dann nimm dir ein anderes Glas.«

»Riech mal«, sagte Sasha und hielt es Chloe hin. »Siehst du?«

»Nimm dir ein neues Glas«, sagte Linda und entriss es ihr. »Ich hole dir eins.«

»Halt, halt, das mache ich selbst, schon gut.«

Als die Kinder klein waren, bestand das Essen aus Hotdogs oder Spaghetti, die Kinder mit ihren Gläsern Milch, während Linda Weißwein mit Eiswürfeln und John ebenfalls seinen Wein trank und zwischendurch immer wieder abschaltete. Die Kinder stritten. Chloe trat Sam. Sasha fand, dass Sam sie anschnaufte — Mom, sag Sam, er soll aufhören, mich anzuschnaufen. Sag. Sam. Er. Soll. Aufhören. Mich. Anzuschnaufen. Wie leicht sich ein Schleier zwischen ihm und dieser Gruppe von Menschen herabsenkte, die seine Familie waren. Sie wurden auf angenehme Weise unscharf, so vage, dass er sie lieben konnte.

»Schade, dass Andrew nicht kommen konnte«, sagte Linda.

Sasha zuckte die Achseln. »Er hätte sowieso an Weihnachten zurückfliegen müssen. Er hat am nächsten Tag seinen Sohn.«

»Trotzdem, wir hätten ihn gern gesehen.«

»Zero verhält sich irgendwie komisch«, sagte Chloe. »Guckt mal.«

Vor dem Hund lag ein Stück Hähnchen auf dem Boden, aber er fraß es nicht.

»Er ist jetzt ein Cyborg«, sagte Sasha.

»Vielleicht kann er nichts sehen«, sagte Chloe. »Wisst ihr, ob er blind ist?«

»Füttert ihn nicht vom Tisch«, sagte John.

»Als ob das jetzt noch eine Rolle spielt.«

»Sag das nicht.«

»Stellt euch mal vor, ihr wärt ein Hund«, sagte Sasha. »Da ist man darauf gefasst zu sterben, und dann heißt es auf einmal, nein, du wirst aufgeschnitten, und man steckt irgendwas in dich rein, und du bist immer noch am Leben? Vielleicht findet er es ganz furchtbar.«

John hatte auf einer von Zeros Kackrunden einen ganz ähnlichen Gedanken gehabt. Zero hatte so schwermütig gewirkt, sich in seinem Geschirr offenbar so unwohl gefühlt, als er da mit seinem blassrosa Bauch durchs nasse Gras hinkte, und es war schrecklich, was Menschen Tieren antaten, wie sie sie in emotionale Sklaverei zwangen und für ein letztes Weihnachtsfest am Leben hielten. Im Grunde lag den Kindern gar nichts an dem Hund.

»Er findet es schön«, sagte Sam und beugte sich hinunter, um Zero derb unterm Kinn zu kraulen. »Er ist glücklich.«

»Sanft, Sammy, sanft.«

»Hör auf, du tust ihm weh«, sagte Chloe.

»Mein Gott«, sagte Sam. »Beruhigt euch.« Er warf sich so heftig auf seinem Stuhl zurück, dass dieser über den Boden schurrte.

»Schau, jetzt ist er deinetwegen sauer«, sagte Chloe. Zero ging zurück zu dem schmuddeligen Sitzsack, den sie als Körbchen für ihn verwendeten. Zitternd legte er sich auf dem Kunstpelzklumpen nieder und starrte sie an.

»Er hasst uns«, sagte Sasha. »Ohne Ende.«

Sie sahen sich jedes Jahr denselben Film an. John öffnete eine Flasche Roten und nahm sie mit ins Wohnzimmer, obwohl nur noch er und Sasha tranken. Linda machte auf dem Herd Popcorn, eine Spur angebrannt. Er tastete auf dem Boden der Schale nach den nicht gepoppten Körnern und ließ sie in seinem Mund herumwandern, um das Salz abzulutschen.

»Auf geht’s«, sagte er. »Legen wir los.«

»Sind wir so weit? Wo ist Sasha?«

Vom Boden aus zuckte Chloe die Achseln. »Telefoniert mit Andrew.«

Die Haustür ging auf. Als Sasha ins Wohnzimmer kam, sah sie so aus, als hätte sie geweint. »Ich hab euch doch gesagt, ihr sollt ohne mich anfangen.«

»Hey, Sash, wir können morgen ein paar Kleider für dich kaufen«, sagte Linda. »Die Mall hat noch geöffnet.«

»Vielleicht«, sagte sie. »Ja.« Sie legte sich neben Chloe auf den Teppich. Ihr Gesicht wurde vom Display ihres Handys beleuchtet, ihre Finger tippten drauflos.

Der Film war länger, als er ihn in Erinnerung hatte. Er hatte den ganzen ersten Teil vergessen, der in Florida spielte, die Flucht mit dem Zug. Dieser eine Schauspieler war schwul, das war jetzt eindeutig. Der pensionierte General, das Wirtshaus, das tief verschneite Vermont — John döste leicht weg, diese ganze Ostküsten-Rüstigkeit, alle kerngesund, mit roten Backen. Warum waren er und Linda in Kalifornien geblieben? Vielleicht war das ja das Problem, Kinder in diesem gemäßigten Klima großzuziehen, wo sie die Jahreszeiten gar nicht kennenlernten. Wie viel besser wäre es ihnen in Vermont oder New Hampshire oder einem dieser Staaten ergangen, wo die Lebenshaltungskosten niedrig waren, wo die Kinder bei 4-H hätten mitmachen, aufs Community College gehen und sich an den Gedanken eines einfachen, guten Lebens gewöhnen können, das war schließlich alles, was er für seine Kinder je gewollt hatte.

Die Kinder hatten solche Filme geliebt, als sie klein gewesen waren, diese alten Walt-Disney-Realfilme, Alle lieben Pollyanna; The One and Only, Genuine, Original Family Band; Der glücklichste Millionär. Filme, in denen die Väter praktisch Jesus Christus waren, die Kinder scharten sich jedes Mal um Dad, wenn er ins Zimmer kam, fielen ihm um den Hals, küssten ihn, ach, Pa-pah, sagten die kleinen Mädchen, beinahe schmachtend. So großartige Gesichter, diese Schauspieler früher. Fred MacMurray, der aus The Music Man. Oder dachte er an den Schauspieler aus Unsere kleine Farm, sämtliche Staffeln, die sie sich komplett angesehen hatten? Pa trat mindestens einmal pro Folge ohne Hemd auf, seine dichte Behaarung so durch und durch Siebziger. John hatte den Mädchen die Bücher vorgelesen, als sie klein gewesen waren. Die Unsere-kleine-Farm-Bücher und das Buch über den Jungen, der weglief, um in den Bergen zu leben, den Jungen, der weglief, um in den Wäldern zu leben, Bücher über junge Menschen in der heiligen, unberührten Natur, wo sie klare Bäche durchwateten und in Betten aus Zweigen schliefen.

Auf dem Bildschirm sang Danny Kaye, die Blondine in ihrem rosa Kleid tanzte, tolle Beine, und John summte misstönend mit, der Hund war im Zimmer, er merkte es daran, dass das Gurtgeschirr leise klirrte, obwohl er den Hund nicht sehen konnte, aber ausführen konnte ihn jemand anders, eins von den Kindern. Deswegen war Zero schließlich noch am Leben. Für sie.

Er war eingeschlafen. Der Film war vorbei, aber keiner hatte den Fernseher ausgeschaltet. Sein Weinglas war leer. Alle waren weg. Sie hatten ihn allein gelassen. Im Zimmer war es dunkel, aber draußen brannte noch die Weihnachtsbeleuchtung und warf einen sonderbaren Schimmer durch die Fenster, eine unheimliche, fremdartige Helligkeit. Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass etwas nicht stimmte. Das Weinglas in der Hand, saß er reglos da. Er erinnerte sich an diese Empfindung aus seiner Kindheit, an die Nächte, in denen er wie gelähmt in der unteren Koje des Etagenbetts lag, vor Angst kaum atmete, überzeugt, dass sich in der Stille irgendein Übel zusammenbraute, lautlos auf ihn zuglitt. Und jetzt war es da, dachte er, jetzt kam es ihn endlich holen. Er hatte es immer schon gewusst.

Ein Krampf im Rücken, und das Zimmer richtete sich neu aus: Sofa, Teppich, Fernseher. Normal. Er stand auf. Er stellte das Weinglas auf den Couchtisch, schaltete die Lichter im Flur und in der Küche aus und ging nach oben, wo alle, seine Familie, schliefen.

Der nächste Tag war Heiligabend. John brachte zwei Becher Kaffee nach oben ins Schlafzimmer. Draußen war es sonnig, der Nebel löste sich auf, aber im Schlafzimmer war es dunkel, kolonialzeitdunkel, anachronistisch dunkel. Linda hatte die dunkle Tapete, die dunklen Vorhänge und das Himmelbett ausgesucht, nicht, dass John irgendeine Vorstellung davon gehabt hätte, was ihm lieber gewesen wäre. Der Nachttisch auf seiner Bettseite: in der Schublade eine Holzschale mit Pennys; ein Schuhlöffel, der noch in der Plastikverpackung steckte; eine dicke Krimi-Anthologie. Im Schrank ein kaputtes Gestell, das er verwendet hatte, um jeden Tag zwanzig Minuten lang kopfunter zu hängen, gut für seinen Rücken, bis Linda gesagt hatte, der Anblick sei zu schrecklich.

Linda setzte sich im Bett auf und nahm den Becher, ihr Schlafhemd oben um ihren Hals geknüllt, ihr Gesicht zerknittert. Sie blinzelte ein paarmal, tastete nach ihrer Brille.

»Sasha ist wach«, sagte er.

»War sie unleidig?«

John zuckte die Achseln. »Es geht ihr gut.«

»Ich habe Angst, nach unten zu gehen. Sie hat sich gestern dermaßen aufgeregt. Wegen ihres Gepäcks. Das hat mich richtig nervös gemacht.«

»Mir kommt sie ganz okay vor.«

Stimmte das? Er hatte keine Ahnung. Sasha machte eine Therapie, was John nur wusste, weil Linda die Krankenversicherung bezahlte und Sasha noch bei ihnen mitversichert war. In der Highschool war sie auch schon zu einem Therapeuten gegangen, der ihr dabei helfen sollte, damit aufzuhören, sich mit Pinzetten und Nagelscheren die Beine aufzukratzen. Wie es aussah, hatte das Ganze ihr lediglich neue Worte geliefert, mit denen sie beschreiben konnte, wie schrecklich ihre Eltern waren.

Als die Kinder klein gewesen waren, hatte Linda ungefähr eine Woche auf einer Ranch in Arizona verbracht, zu einer Art Kur. Das musste wohl nach einer der schlimmen Phasen gewesen sein, in denen sie ihn manchmal aus dem Haus ausgesperrt hatte oder mit den Kindern zu ihrer Mutter gegangen war. Eines Abends hatte die neunjährige Sasha seinetwegen die Polizei gerufen. Als sie eingetroffen waren, hatte Linda ihnen gesagt, das Ganze sei ein Unfall gewesen, hatte alles aufgeklärt. Das sei zehn Jahre her, sagte er zu Linda, wenn sie davon anfing. Und danach hatten sich die Dinge geändert. Linda brachte von ihrer Kur ein Buch mit fettarmen Rezepten, die offenbar allesamt Mango-Salsa enthielten, sowie die Überzeugung mit, dass sie während einer angeleiteten Meditation in einer Schwitzhütte mit dem Geist ihres Kindheitshundes kommuniziert hatte. Und sie hatte beschlossen, dass John eine Therapie machen musste. Das war, vermutete er, ein Ultimatum.

Er war zweimal hingegangen. Der Mann hatte ihm Antidepressiva und einen Stimmungsaufheller verschrieben und ihm ein Merkblatt mit Atemübungen zur Impulskontrolle mitgegeben. An jenem ersten Tag nach Einnahme der Tabletten hatte er sich irgendwie manisch gefühlt, seine Gedanken ein glänzendes Geknitter von Alufolie — er hatte beide Autos gewaschen, Kartons vom Dachboden geholt, beschlossen, dass er den Raum von seinen Leuten zu einem Atelier für Linda umbauen lassen würde. Er war aus dem Fenster von Chloes Kinderzimmer gestiegen, um die Dachrinnen zu reinigen, hatte mit bloßen Händen feuchte Klumpen aus Laub und Vogelscheiße herausgeklaubt, die Hände waren von der Kälte blutleer und blau geworden. Als er sich mit dem Hemdsärmel die Wange abgewischt hatte, war der Ärmel feucht geworden. Sein ganzes Gesicht war nass. Obwohl er weinte, war das nicht unangenehm, genau wie damals in der Highschool, als er öfter Pilze genommen und draußen am Salt Point im Naturpark gesessen hatte, mit tränenüberströmtem Gesicht, wenn er spürte, wie die Welle ihn traf und sein Mund sich mit Sabber füllte. Auf dem Dach hatte er sich an die Schindeln zurückgelehnt und überlegt, wie weit es bis in den Garten hinunter war. Was hatte seine Berechnung eigentlich ergeben? Nicht hoch genug. Er hatte die Tabletten nicht wieder genommen.

Und wie war es dazu gekommen, dass sein Zorn sich irgendwann neutralisiert hatte? Er war zu müde, um Sachen umzuschmeißen. Was hatte Sasha gesagt, als sie das letzte Mal Krach miteinander gekriegt hatten? Sie hatte geweint, war darauf herumgeritten, dass er das Essen nach ihr geworfen hatte, wenn sie es nicht essen wollte. Diese Dinge schienen so weit weg, und irgendwann entfernten sie sich dann noch weiter, und dann redete niemand mehr davon.

Als er die leeren Becher nach unten in die Küche brachte, hielt Sasha ein weißes Päckchen hoch, eine Pappschachtel, die geöffnet vor ihr lag.

»Was ist das denn?«, sagte sie.

»Wo hast du das her?«

»Die Schachtel lag auf der Arbeitsplatte. Ich hab sie bloß aufgemacht, tut mir leid.«

Er entriss sie ihr. »War sie an dich adressiert?«

»Tut mir leid.«

»Du machst einfach alles, was du willst?« Ihm war bewusst, dass er praktisch schrie.

»Ich hab gesagt, tut mir leid.« Sie schaute auf eine Weise verängstigt drein, die ihn noch wütender machte.

»Jetzt kannst du es genauso gut behalten«, sagte er. »Es spielt keine Rolle mehr.«

Zu Weihnachten hatte er für alle diese DNA-Sets gekauft. Auch für Linda. Ein ziemlich gutes Geschenk, fand er. Er war stolz darauf gewesen. Er hatte für jeden ein DNA-Set und eine Mitgliedschaft im Automobilclub besorgt. Wer konnte da noch behaupten, dass er nicht an seine Familie dachte?

Sam kam, bereits angezogen, in die Küche.

John schob ihm eine Schachtel zu. »Hier.«

»Was?«

»Das ist dein Weihnachtsgeschenk«, sagte er. »Du spuckst einfach in diese Röhrchen. Es ist alles inklusive. Du schickst es ein. Es kommt zurück und verrät dir genau, was deine DNA ist.«

»Cool«, sagte Sam, der das Päckchen übertrieben genau studierte, es in den Händen hin und her drehte.

»Weißt du«, sagte Sasha, »im Grunde kannst du deine DNA dann auch gleich der Polizei geben.«

»Aber ihr könnt alles über euer Erbgut herausfinden«, sagte John. »Verwandte finden. Alles Mögliche über die Familie erfahren.«

Sasha grinste. »So haben die den Mann gefunden, der einen Haufen Leute umgebracht hat. Diesen Serienkiller. Über irgendeinen Cousin vierten Grades.«

»Die Dinger waren nicht billig«, sagte John und hörte, wie er laut wurde. Wahrscheinlich, dachte er, wussten seine Kinder nicht einmal, wie sein Vater hieß. Unglaublich. Er holte Atem. »Ich habe eins für jeden.«

Sasha sah ihn an, sah Sam an. »Tut mir leid«, sagte sie. »Es ist toll. Danke.«

Am Nachmittag spielte Chloe Amateurfilme ab. Im Jahr zuvor hatte Sam als Weihnachtsgeschenk für John und Linda sämtliche Videobänder auf DVDs überspielt. Zero saß zitternd neben Chloe auf dem Wohnzimmerfußboden. Der Hund roch sogar von der Tür aus leicht nach Urin. Chloe schien es nicht zu bemerken und drückte das Gesicht an seinen Hals. Sie aß einen Mikrowellen-Burrito von einem Pappteller. Mit den herausquellenden Bohnen sah das Ding feucht und widerwärtig aus.

»Willst du mitgucken?«, fragte sie.

Er war müde. Im Wohnzimmer war es warm, die Heizung war an. Es war schön, in dem großen Sessel zu sitzen, die Augen zuzumachen, den Stimmen zuzuhören. Es war seine Stimme. Er öffnete die Augen. Das Bild ruckelte, war offenbar mit einer Handkamera aufgenommen, John, der einen leeren Flur entlangging. Gehen wir mal allen Hallo sagen, sagte er. Gehen wir sie suchen.

Es war ein Haus, in dem sie schon seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr wohnten. Was für eine merkwürdige Bude das gewesen war. So viele Ebenen und Winkel, dicke dunkle Balken. Eine Reihe Kiefern, nach deren Ästen die Kinder immer durch die Wagenfenster grabschten, wenn sie daran vorbeifuhren, der Schnee, der das Oberlicht im Schlafzimmer bedeckte. Wie seltsam, das alles wieder zu sehen, aus dem Nichts heraufbeschworen. Ihr früheres Leben. Die Kamera erfasste seine Sneakers, den Teppich, ganz kurz ein Stück Tweedsofa.

»Wo ist das?«, fragte Chloe.

»Da warst du noch ein Baby. Wir haben da nur ein, zwei Jahre gewohnt.«

Es war schwer zu rekonstruieren, wann genau das gewesen war, aber sie hatten in diesem Haus gewohnt, bevor Lindas Vater gestorben war, also war es wahrscheinlich 96 oder 97 gewesen. Es sah nach Winter aus, und vielleicht war es der Winter, in dem immer wieder Bären in das Auto einbrachen, so oft, dass er es unverschlossen lassen musste, damit sie nicht die Scheiben einschlugen. Sam sah die matschigen Tatzenabdrücke gern, aber Sasha hatte eine Heidenangst vor Bären, wollte nicht mal rausgehen und sich die Spuren ansehen.

Was hatte er sonst noch in Erinnerung von dem Haus — den gemauerten Kamin, die Kollektion von Salzstreuern in Schweinchenform, die sehr beengte Küche mit dem senffarbenen Kühlschrank, den sie mit Hotdog-Kartons vollpackten, den altersschwachen Gefrierschrank, der es kaum schaffte, die Waffeln in festem Zustand zu halten. Die Mädchen hatten sich ein Zimmer geteilt. Sam in dieser Nische. Sie hatten Quartett und Tod und Leben gespielt, sie hatten Kartenhäuser gebaut, sie hatten Die tollkühne Hexe in ihrem fliegenden Bett geguckt. Lindas Bruder kam ständig herüber. George war damals noch mit seiner ersten Frau Christine verheiratet — damals war sie schön, die Haare an den Enden gekräuselt, Brüste, die immer halb rausschauten, egal was für eine Bluse sie trug. John zog sie auf seinen Schoß, und Linda gab ihm einen Klaps auf die Schulter, Jo-ohn, Christine wand sich los, aber erst nach einer Weile. George und Christine ließen sich wie viele Jahre danach scheiden? Christine, von Antipsychotika aufgeschwemmt, behauptete, George habe sie die Treppe hinuntergestoßen.

»Guck mal, Moms Frisur«, sagte Chloe. »So witzig.«

Linda trug eine Brille, wie sie damals in Mode gewesen war, braune Untertassen, mit denen sie leicht glotzäugig wirkte.

Sie wedelte die Kamera weg. John! Hör auf! Das Video schaltete ab. Er schloss die Augen wieder. Er hörte nur Rauschen. Dann:

Sam, setz dich.

Es ist sein Geburtstag.

Das ist ein schönes Geschenk, das dein Großvater dir gemacht hat.

Der Kuchen sieht gut aus.

Wie viele Finger, wie alt bist du?

Das ist eine besondere Puppe. Geh ganz vorsichtig damit um.

Was möchtest du mal werden? Möchtest du Arzt werden?

Nein.

Anwalt?

Nein.

Präsident? Sam?

John, lass doch.

Das war nicht ich. Das war der da.

Fass die Puppe nicht an. Wir gehen ganz vorsichtig damit um. Sie war sehr teuer.

Sasha. Das Baby schläft. Nicht anfassen.

Sasha stand in der Tür. »Was guckt ihr da?«

»Es ist so witzig«, sagte Chloe. »Guck doch mit. Du warst so süß. Warte, der hier ist mit dir. Der ist echt süß.«

Die Kamera wackelte, zeigte auf den Teppich. Schwenkte dann nach oben auf Sasha, die im Nachthemd auf der untersten Stufe einer Treppe saß.

Wie alt bist du?

Fünf.

Wer ist das da?

Gecko.

Ist das dein Gecko? Ist das Gecko? Was machst du da?

Ein Haus für Fabius bauen.

Fabius?

Arielle und Fabius.

Und wen hast du lieb? Hast du deinen Daddy lieb?

Ja.

Wen hast du lieber, deinen Daddy oder deine Mommy? Hast du deinen Daddy am liebsten?

John warf einen Blick in Richtung Sasha, aber sie war gegangen.

Sie war in der Küche, riss Viereck für Viereck Papiertücher von der Rolle und ließ sie auf eine Pfütze unterm Tisch segeln. »Zero hat schon wieder gepinkelt«, sagte sie. »Herr des Himmels«, sagte sie, die Küchenrolle inzwischen aufgebraucht. Sie geiferte beinahe. Ihre Augen waren verquollen und rot. »Warum wischt keiner die Pisse auf? Es ist ekelhaft. Der Hund pinkelt überall im Haus, und ihr bekommt es noch nicht mal mit.«

»Deine Mutter liebt diesen Hund«, sagte John.

Sasha stupste die Papiertücher mit der Stiefelspitze über den Boden. Sie würde wohl eher nicht so weit gehen, die Papiertücher aufzuheben und tatsächlich zu wischen.

»Irgendwas Neues von deinem Koffer?«

Sasha schüttelte den Kopf. »Man kann auf dieser Webseite nachsehen, aber da heißt es bloß, er ist noch unterwegs«, sagte sie. »Ich gucke immer mal wieder nach.«

»Ich kann dich zur Mall fahren, wenn du willst«, sagte er.

»Okay. Ja, danke.«

Er blieb einen Moment zu lange stehen, rechnete mit — was eigentlich? Nichts. Sie hob die Papiertücher nicht auf.

Wahrend der Fahrt, dreißig Minuten auf dem Highway 12, blieb Sasha stumm. Nicht viel Verkehr.

»Siehst du, dass sie mit dem Hotel noch immer nicht fertig sind?«

Bei dem Auftrag war er unterboten worden. Bloß gut, da hing nämlich sowieso die Stadt mit drin, die Leute schrieben Leserbriefe und verlangten Untersuchungen zur Verkehrsbelastung.

Sasha schaute immer wieder auf ihr Handy.

»Hast du ein Ladegerät oder so was?«, sagte sie.

Als er über sie hinweglangte, um das Gerät aus dem Handschuhfach zu nehmen, zuckte sie zusammen.

Er zwang sich, nichts zu sagen. Linda hätte sie fahren sollen, oder eins von den Kindern. Er schaltete das Radio ein, das schon auf Lindas Lieblingssender eingestellt war. Da lief schon seit Thanksgiving Weihnachtsmusik. Sam hatte ihm erklärt, dass das gesamte Radioprogramm bloß noch von Computern erstellt wurde.

Denn in die dunklen Gassen

Da strahlt ein Licht mit Macht.

Hatte nicht einmal die Klasse eines der Kinder dieses Lied in einem Krippenspiel gesungen? Die Kinder mit entsprechend zugeschnittenen Bettlaken als Engel verkleidet, und Linda hatte ihnen aus Rauschgold Heiligenscheine gebastelt.

Sasha zog die Ärmel von Chloes Sweatshirt herunter und legte ihr Handy, das inzwischen an das Ladegerät angeschlossen war, auf die Konsole zwischen ihnen. Der Hintergrund ihres Handys war, wie John sah, das Foto einer Familie auf dem Deck einer Fähre. Eine Frau, ein Mann, ein Kind. Die Frau, so wurde ihm gleich darauf klar, war Sasha. Sie hatte einen hellblauen Anorak an — strahlend, windgezaust. Auf ihrem Schoß saß ein kleiner Junge, und der Mann, Andrew, hatte lächelnd den Arm um beide gelegt. Ihm kam ganz deutlich der Gedanke, dass die beiden Sasha vermissten. Dieser Mann und sein Kind. Sie war hier und nicht dort, und sie vermissten sie. Warum sollte das so seltsam sein? Der Bildschirm erlosch.

In der Highschool hatte sie einen Freund gehabt, oder vielleicht war es auch Chloes Freund gewesen, ein schlaksiger Bursche mit dunkler Topffrisur, schmaler Nase, wunden, roten Nasenlöchern. Der Junge war durchaus nett gewesen, außer dass er irgendwann übergeschnappt war — hatte es mit Drogen zu tun? Vielleicht war er auch schizophren, John konnte sich nicht mehr erinnern. Seine Eltern hatten John und Linda einmal angerufen, um sich zu erkundigen, ob der Junge sich bei ihnen aufhielt. Das war Jahre, nachdem die beiden sich getrennt hatten. Natürlich hatte der Junge sich nicht bei ihnen aufgehalten, und seine Mutter hatte John am Telefon erzählt, dass der Junge einen toten Vogel in die Kaffeemaschine gesteckt habe und dass er glaube, seine Familie versuche ihn umzubringen. Er sei verschwunden, und sie hätten keine Ahnung, wo er sei oder wie sie ihn finden könnten. John hatte die Mutter des Jungen leidgetan, ihr unverstellter Kummer hatte ihn unangenehm berührt, und er war dankbar gewesen für seine eigenen Kinder: gesund, normal, ihr eigenes Leben führend.

»Vielleicht hast du Lust, heute Abend mit Chloe Kaki-Plätzchen zu backen?«, sagte er.

»Kein Mensch isst Kaki-Plätzchen. Du magst sie doch gar nicht.«

»Ich mag sie sehr wohl«, sagte er. Er fühlte sich gekränkt. Dabei konnte er sich nicht erinnern, wie Kakis überhaupt schmeckten. Herb vielleicht, seifig.

»Die ganzen Kakis verfaulen einfach, wenn ihr nichts damit macht«, sagte er.