Die Einladung - Emma Cline - E-Book
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Die Einladung E-Book

Emma Cline

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Beschreibung

Eine abgründige Geschichte von Abhängigkeit und Macht, von Manipulation und Grenzüberschreitung. Nach „The Girls“ der neue Roman von Emma Cline

Der Sommer in den Hamptons neigt sich zum Ende, und Alex ist nicht mehr willkommen. Denn egal, wie nahe sie der Welt der Reichen und Schönen gekommen ist: Sie ist immer nur zu Gast – und keine Einladung gilt für immer. Ein Fehltritt bei einem Dinner, und schon setzt Simon, der ältere Mann, dem Alex Gesellschaft geleistet hat, sie vor die Tür. Und so geistert sie durch Gärten und über Dünen, während die Sonne vom Himmel brennt. Darin geübt, sich den Wünschen und Erwartungen anderer anzupassen, lässt Alex sich von einer Zufallsbekanntschaft zur nächsten driften und hinterlässt dabei eine Spur der Zerstörung, die nur ein Ziel kennt: Simons Gartenparty am Ende der Woche. Nach dem gefeierten Debüt „The Girls" der langersehnte neue Roman von Emma Cline.

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Das ist das Cover des Buches »Die Einladung« von Emma Cline

Über das Buch

Eine abgründige Geschichte von Abhängigkeit und Macht, von Manipulation und Grenzüberschreitung. Nach »The Girls« der neue Roman von Emma ClineDer Sommer in den Hamptons neigt sich zum Ende, und Alex ist nicht mehr willkommen. Denn egal, wie nahe sie der Welt der Reichen und Schönen gekommen ist: Sie ist immer nur zu Gast — und keine Einladung gilt für immer. Ein Fehltritt bei einem Dinner, und schon setzt Simon, der ältere Mann, dem Alex Gesellschaft geleistet hat, sie vor die Tür. Und so geistert sie durch Gärten und über Dünen, während die Sonne vom Himmel brennt. Darin geübt, sich den Wünschen und Erwartungen anderer anzupassen, lässt Alex sich von einer Zufallsbekanntschaft zur nächsten driften und hinterlässt dabei eine Spur der Zerstörung, die nur ein Ziel kennt: Simons Gartenparty am Ende der Woche. Nach dem gefeierten Debüt »The Girls" der langersehnte neue Roman von Emma Cline.

Emma Cline

Die Einladung

Roman

Aus dem Englischen von Monika Baark

Hanser

Für Hilary

1

Jetzt war August. Das Meer war warm und jeden Tag wärmer.

Alex wartete, bis eine Reihe von Wellen zu Ende war, bevor sie sich einen Weg ins Wasser bahnte, mit stapfenden Schritten, bis es tief genug war für einen Kopfsprung. Einige kraftvolle Schwimmzüge und sie war draußen, jenseits der Brandung. Das Wasser war ruhig.

Von hier aus war der Sand makellos. Das Licht — das berühmte Licht — gab dem Ganzen etwas Liebliches und Mildes: dem dunklen europäischen Grün des Buschwerks, dem Dünengras, das sich in flüsterndem Einklang wiegte. Den Autos auf dem Parkplatz. Selbst den Seemöwen, die einen Mülleimer umschwärmten.

Am Ufer waren die Handtücher von gelassenen Strandgängern besetzt. Ein Mann mit der Bräune teurer Ledertaschen stieß ein Gähnen aus, eine junge Mutter wachte über ihre Kinder, die zur Brandungslinie hin und zurück rannten.

Was würden sie sehen bei Alex’ Anblick?

Im Wasser war sie genau wie alle anderen. Nichts Ungewöhnliches an einer jungen Frau, die allein im Meer schwamm. Unmöglich zu sagen, ob sie hierhergehörte oder nicht.

Als Simon zum ersten Mal mit ihr an den Strand gegangen war, hatte er am Eingang seine Schuhe abgestreift. Das machten anscheinend alle: Vor dem niedrigen Holzgeländer stapelten sich Schuhe und Sandalen. Und die nimmt keiner mit?, hatte Alex gefragt. Simon zog die Augenbrauen hoch. Wer würde denn anderer Leute Schuhe mitnehmen?

Doch das war Alex’ erster Gedanke gewesen — wie einfach es wäre, hier draußen Sachen mitgehen zu lassen. Alle möglichen Sachen. Die Fahrräder, die am Zaun lehnten. Die Taschen, unbeaufsichtigt auf Handtüchern. Die Autos, die unabgeschlossen blieben, denn niemand wollte seine Schlüssel am Strand dabeihaben. Ein System, das nur funktionierte, weil alle glaubten, sie seien unter ihresgleichen.

Bevor Alex zum Strand aufgebrochen war, hatte sie eine von Simons Schmerztabletten geschluckt, Überbleibsel einer lang vergangenen Rückenoperation, und schon hatte sich die vertraute Watte über sie gelegt, und das Salzwasser ringsum wirkte zusätzlich narkotisierend. Ihr Herz klopfte angenehm, merklich, in der Brust. Wie kam es, dass man sich im Meer wie ein so guter Mensch fühlte? Sie ließ sich auf dem Rücken treiben, ihr Körper bewegte sich leicht im Hin und Her der Strömung, die Augen geschlossen gegen die Sonne.

Am Abend würde es eine Party geben bei einer Freundin von Simon. Oder einer Geschäftsfreundin — all seine Freunde waren Geschäftsfreunde. Bis dahin endlose Stunden, die es zu verschwenden galt. Simon würde den Rest des Tages arbeiten, Alex wäre sich selbst überlassen, wie schon die ganze Zeit über, die sie hier draußen waren — fast zwei Wochen inzwischen. Es machte ihr nichts aus. Sie war fast jeden Tag an den Strand gefahren. Hatte sich in stetem, aber, wie sie hoffte, unmerklichem Tempo durch Simons Schmerzmittelvorrat gearbeitet. Und hatte Doms zunehmend verstörende Nachrichten ignoriert, was relativ einfach war. Er hatte keine Ahnung, wo sie war. Sie versuchte seine Nummer zu blockieren, doch er kam mit irgendwelchen neuen durch. Bei nächster Gelegenheit würde sie ihre eigene Nummer ändern lassen. Am Morgen hatte Dom weiteres Gift verspritzt:

Alex

Alex

Antworte mir

Auch wenn die Nachrichten noch immer ein Schlingern in ihrem Magen auslösten, brauchte sie nur vom Telefon aufzublicken, und alles schien handhabbar. Sie war in Simons Haus, die Fenster geöffnet auf reines Grün. Dom war in einer anderen Sphäre, einer, bei der sie so tun konnte, als existiere sie kaum noch.

Alex ließ sich noch immer auf dem Rücken treiben, öffnete die Augen, desorientiert vom Knallen der Sonne. Sie richtete sich auf, mit Blick zum Ufer: Sie war weiter draußen als gedacht. Viel weiter. Wie war das passiert? Sie versuchte Kurs auf den Strand zu nehmen, schien aber nicht vom Fleck zu kommen, ihre Schwimmzüge wurden vom Wasser verschluckt.

Sie holte Luft, versuchte es erneut. Ihre Beine strampelten heftig. Ihre Arme ruderten. Es war unmöglich abzuschätzen, ob das Ufer näher rückte. Noch ein Versuch, immer geradeaus, noch mehr nutzloses Schwimmen. Die Sonne brannte ohne Unterlass, die Horizontlinie wankte: Es war alles zutiefst indifferent.

Das Ende — es war gekommen.

Das war die Strafe, sie war sich dessen sicher.

Seltsam aber, wie dieser Schrecken nicht anhielt. Er durchfuhr sie nur, verschwand so augenblicklich, wie er gekommen war.

Etwas anderes trat an seine Stelle, eine Art reptilienhafte Neugier.

Sie erwog die Entfernung, erwog ihre Herzfrequenz, veranschlagte ruhig die Elemente, die im Spiel waren. War sie nicht immer gut darin gewesen, die Dinge klar zu sehen?

Zeit, den Kurs zu wechseln. Sie schwamm parallel zum Ufer. Ihr Körper übernahm die Führung, erinnerte sich an die Bewegungen. Sie ließ kein Zögern zu. Irgendwann begann das Wasser, ihr weniger kraftvoll zu widerstehen, und dann kam sie voran, dem Ufer immer näher, und dann nah genug, dass ihre Füße den Sand berührten.

Sie war außer Atem, ja. Ihre Arme schmerzten, der Herzschlag wummerte arrhythmisch. Sie war viel weiter unten am Strand gelandet.

Aber okay — sie war okay.

Die Angst war schon vergessen.

Keiner am Ufer bemerkte sie, keiner sah ein zweites Mal hin. Ein Pärchen ging vorbei, die Köpfe gebeugt, suchte den Sand nach Muscheln ab. Ein Mann in Watstiefeln steckte eine Angelrute zusammen. Gelächter schwebte herüber von einer Gruppe unter einem Sonnenzelt. Wenn Alex in echter Gefahr gewesen wäre, hätte sicherlich irgendjemand reagiert, einer dieser Menschen wäre eingeschritten, um zu helfen.

Es machte Spaß, Simons Auto zu fahren. Es war beängstigend ansprechbar, beängstigend schnell. Alex hatte sich nicht die Mühe gemacht, den Badeanzug auszuziehen, und das Lederpolster war siedend heiß an ihren Oberschenkeln. Selbst bei gutem Tempo und heruntergelassenen Fenstern war die Luft satt und warm. Welches Problem musste Alex in diesem Moment lösen? Keins. Keine Variablen, die es zu berechnen galt; das Schmerzmittel verrichtete noch seine gute Arbeit. Im Vergleich zur Stadt war das hier das Paradies.

Die Stadt. Sie war nicht in der Stadt, und zwar Gott sei Dank.

Wegen Dom, natürlich, aber nicht ausschließlich. Bereits vor Dom hatte das Ganze einen Beigeschmack bekommen. Im März war sie sang- und klanglos zweiundzwanzig geworden. Sie hatte ein hartnäckiges Gerstenkorn, das ihr linkes Augenlid auf unschöne Weise hängen ließ. Das Make-up, das sie zum Kaschieren auftrug, machte die Sache nur schlimmer: Es infizierte sich erneut, pochte über Monate vor sich hin. Letztendlich hatte sie sich in einer ambulanten Klinik ein Antibiotikum verschreiben lassen. Jeden Abend zog sie an ihren Lidern und quetschte sich eine Spur Salbe direkt in die Augenhöhle. Nur aus dem linken Auge strömten unfreiwillige Tränen.

Alex fiel immer öfter auf, dass wildfremde Menschen sie in der Subway oder auf den Gehwegen, wollweich von Neuschnee, auf eine gewisse Art anschauten. Den Blick verweilen ließen. Eine Frau in einem karierten Mohairmantel betrachtete Alex mit nervenaufreibender Konzentration, die Miene verzerrt vor offenbar wachsender Besorgnis. Ein Mann, dessen Handgelenke weiß waren vom Gewicht zahlreicher Plastiktüten, starrte Alex an, bis sie schließlich aus der Bahn stieg.

Was sahen die Leute in ihrer Aura, welcher Gestank ging von ihr aus?

Vielleicht bildete sie es sich nur ein. Vielleicht aber auch nicht.

Mit zwanzig war sie erstmals in die Stadt gekommen. Damals, als sie noch die Energie dazu hatte, einen falschen Namen zu verwenden, und noch glaubte, solche Aktionen hätten einen Wert, solche Aktionen bedeuteten, dass das, was sie tat, eigentlich nicht in ihrem wahren Leben passierte. Damals, als sie noch Listen führte: Wo sie überall mit den Männern gewesen war. Restaurants, wo Brot und Butter in Rechnung gestellt wurde, Restaurants, wo die Serviette neu gefaltet wurde, während man zur Toilette ging. Restaurants, wo es nur Steak gab, rosa, aber geschmacklos und dick wie ein gebundenes Buch. Frühstücksbuffets in Mittelklassehotels, mit unreifen Erdbeeren und überzuckertem Saft, schlackig vor Fruchtfleisch. Doch die Listen verloren schnell ihren Reiz, oder irgendetwas daran begann sie zu deprimieren, also hörte sie damit auf.

Jetzt war Alex in bestimmten Hotelbars nicht mehr willkommen, musste bestimmte Restaurants meiden. Alex’ Zauber, wie auch immer er geartet war, verlor langsam seine Wirkung. Nicht ganz und gar, aber genug, dass sie allmählich verstand, dass es eine Möglichkeit war. Sie hatte mitbekommen, wie es anderen erging, den älteren Mädchen, die sie kennengelernt hatte, als sie hergezogen war. Sie desertierten, gingen zurück in ihre Heimatorte und versuchten, ein normales Leben abzugreifen, oder verschwanden komplett von der Bildfläche.

Im April: Ein Hotelchef hatte in leisen Tönen gedroht, die Polizei zu rufen, nachdem sie versucht hatte, das Essen mit der Kreditkarte eines alten Kunden zu bezahlen. Zu viele ihrer Stammkunden meldeten sich nicht mehr, aus welchen Gründen auch immer — Bedingungen, erkämpft durch Paartherapie und diesen neuen Trend zur radikalen Ehrlichkeit, oder die erste Aufwallung von Schuldgefühlen, beschleunigt durch die Geburt von Kindern oder einfach nur aus Langeweile. Ihr monatlicher Cashflow ging den Bach runter. Alex erwog eine Brustvergrößerung. Sie schrieb ihre Anzeige um, zahlte eine exorbitante Summe, um auf der ersten Seite der Suchergebnisse platziert zu werden. Senkte die Preise, senkte sie erneut.

Sechshundert Rosen, hieß es in der Anzeige. Sechshundert Küsse. Dinge, von denen man nur als sehr junges Mädchen sechshundert Stück haben wollte.

Alex ließ eine Reihe von Laserbehandlungen vornehmen: Blaue Lichtblitze durchzuckten ihr Gesicht, während sie durch eine getönte Schutzbrille blickte wie eine traurige Raumfahrerin. In der Zwischenzeit ließ sie neue Fotos von einem nervösen Kunststudenten schießen, der sanftmütig fragte, ob sie sich einen Tauschhandel vorstellen könne. Er hatte ein zahmes Kaninchen, das mit dämonischen rosa Augen durch das improvisierte Atelier hüpfte.

Mai: Eine ihrer Mitbewohnerinnen wunderte sich, dass das Klonopin so schnell zur Neige ging. Eine Geschenkkarte war verschwunden, ein Lieblingsarmband. Es herrschte Konsens darüber, dass es Alex gewesen sei, die die Klimaanlage kaputtgemacht hatte. Hatte Alex die Klimaanlage kaputtgemacht? Sie hatte keine Erinnerung daran, aber möglich war es. Dinge, die sie berührte, schienen immer öfter dem Untergang geweiht.

Juni: Aus Verzweiflung wurde sie nachlässig bei ihrem üblichen Backgroundcheck — sie verzichtete auf Referenzen, verzichtete auf Ausweise, und mehr als einmal war sie abgezockt worden. Ein Typ hatte Alex mit dem Taxi zum JFK Airport Hotel bestellt und versprochen, ihr das Geld persönlich zu erstatten, und dann ging er nicht mehr ans Telefon, und Alex stand auf dem Gehweg und wählte sich die Finger wund, und der Wind zerrte heftig an ihrem Kleid, während die Taxifahrer langsamer fuhren, um zu glotzen.

Und im Juli, nachdem die Mitbewohner verlangt hatten, dass die Mietschulden innerhalb der nächsten zwei Wochen beglichen werden müssten, sonst würden sie die Schlösser austauschen, kam Dom zurück in die Stadt.

Dom war fast ein Jahr lang weg gewesen, ein selbstauferlegtes Exil infolge von Schwierigkeiten, in die er geraten war, von denen sie eigentlich nicht allzu viel wissen wollte. Was Dom betraf, war es besser, niemals allzu viel zu wissen. Er sagte, er sei verhaftet worden — mehr als einmal —, schien aber nie im Gefängnis zu sitzen, verwies stattdessen vage auf irgendeine Art diplomatischer Immunität, irgendeine Intervention in letzter Minute von hochrangigen Beamten. Dachte er etwa, irgendjemand würde ihm glauben, was er erzählte? Er log mehr als sie, er log völlig grundlos. Alex hatte sich versprochen, Dom nicht mehr zu treffen. Dann meldete er sich — jemand, der tatsächlich Zeit mit ihr verbringen wollte, vielleicht der einzige Mensch, der Zeit mit ihr verbringen wollte. Ihr wollten die Gründe nicht mehr einfallen, weshalb sie jemals Angst vor ihm gehabt hatte. Sie hatten doch Spaß, oder nicht? Er mochte sie doch, oder nicht?

Er war in einer Wohnung untergekommen, von der er sagte, sie gehöre einem Freund. Sie tranken lauwarmes Ginger-Ale, und Dom lief barfuß umher, ließ sämtliche Jalousien herunter. Auf einem Fensterbrett stand eine Reihe mit Stickern beklebter Sprühsahneflaschen, auf dem Mülleimer lag eine Plastiktüte mit leeren Seltzerdosen. Ständig sah er auf sein Telefon. Als der Türsummer ging und immer weiter summte, ignorierte er ihn kichernd, bis das Geräusch endlich aufhörte. Er briet um vier Uhr morgens ein Omelett, das keiner von beiden anrührte. Sie guckten eine Realityshow: Die älteren Frauen auf dem Bildschirm saßen auf der sonnigen Terrasse eines Restaurants und schlürften gewaltsam an ihren Eistees. Die Gespräche der Frauen waren hitzig, die Gesichter maskenhaft und dramatisch verzerrt. »Das hab ich nie gesagt«, blaffte die dunkelhaarige Frau.

»Hast du das schon mal gesehen?«, fragte Dom, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden. Er wiegte einen Stoffpinguin in den Armen und nestelte an den glänzenden Knopfaugen herum.

Die Frau auf dem Bildschirm stand auf und warf dabei ihren Stuhl um. »Du bist toxisch«, schrie sie, »toxisch«, und reckte dabei den Mittelfinger in die Luft. Sie stakste schwer atmend davon, und ein Kameramann wich aus dem Bild zurück, als sie vorbeieilte.

Sie sahen sich noch eine Folge an, und dann noch eine. Dom lag mit seinem Kopf auf ihrem Knie und leckte sich die Drogen von den Fingern. Als er seine Hand in ihre Unterwäsche schob, ließ sie ihn gewähren. Sie schauten weiter. Alle Frauen in der Sendung hassten sich, hassten sich so sehr, damit sie ihre Ehemänner nicht zu hassen brauchten. Nur ihre kleinen Hunde, die blinzelnd auf den Schößen saßen, wirkten real: Sie waren die Seelen der Frauen, beschloss Alex, klitzekleine Seelen, die an der Leine hinter ihnen hertrotteten.

Wie lange war Alex dort bei Dom geblieben? Mindestens zwei Tage.

Und wie schnell, nachdem sie gegangen war, hatte Dom es bemerkt?

Fast sofort.

Dom rief viermal in schneller Folge an. Er rief sonst nie an, schrieb immer nur. Also war Alex auf Anhieb klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Die Nachrichten kamen wie Schnellfeuersalven.

Alex

Willst du mich verarschen

WTF

Kannst du einfach mal

fucking

rangehen

Als er anrief, war Alex gerade auf einem netten, schwummrigen, zehnstündigen Benzo-Trip: Eine warme Kompresse kühlte auf den Resten des Gerstenkorns aus, To-go-Essen stank den Raum voll, war aber glücklicherweise außer Sichtweite. Doms Nachrichten hatten lustig gewirkt.

Doch dann hinterließ Dom am nächsten Tag eine Nachricht, bei der er fast heulte. Und er war halbwegs nett zu ihr gewesen, fast wie ein Freund, auf seine gestörte Art.

Schließlich schrieb sie zurück:

Kann grad nicht reden. Aber bald, ok?

Alex hatte zunächst angenommen, dass sich irgendeine Lösung auftun würde. War doch immer so. Also hielt sie Dom weiter hin. Er hakte fast jeden Tag nach.

Alex?

Die Dinge eskalierten. Dom, der erneut anrief. Dom, der ihr auf die Mailbox sprach. Der leichtherzig tat, fast scherzhaft, als handelte es sich bloß um ein geringfügiges Missverständnis, und dann ins Aggressive umschlug. Seine Stimme nahm einen gruseligen Psycho-Tonfall an, und sie bekam ernsthaft Angst. Sie erinnerte sich wieder an damals — letztes Jahr. Oder nein, es musste davor gewesen sein, bevor er aus der Stadt weggegangen war. Als er sie dadurch weckte, dass er seine Hände um ihren Hals gelegt hatte. Sie sah ihm direkt in die Augen — sein Griff wurde fester. Leichte Konzentration zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Sie sah nicht weg, bis er so fest zudrückte, dass ihre Augen zuklappten und sie spürte, wie sie in den Hinterkopf rollten.

Alex könnte ihre Nummer ändern, aber was war mit den Anzeigen, die sie schon bezahlt hatte, Anzeigen, die mit dieser Telefonnummer verknüpft waren? Dom würde bald die Lust verlieren, sagte sie sich. Er würde frisches Blut brauchen.

Doch dann, als sie eines Morgens ihre Wohnung verließ, entdeckte sie Dom auf der anderen Straßenseite. Dom, der auf dem Gehweg herumlungerte, die Hände in den Taschen. Es war Dom, zweifellos. Vielleicht auch nicht. Oder war das nur ein Zufall? Sie hatte ihm nicht ihre neue Adresse genannt. Plötzlich war sie paranoid. Das Gerstenkorn meldete sich zurück. Ihre Mitbewohner ignorierten sie in den Gemeinschaftsbereichen der Wohnung. Sie änderten das WLAN-Passwort. Aus dem Badezimmerschrank waren sämtliche Arzneien entfernt worden, sogar das Ibuprofen.

Alex überkam das verstörende Gefühl, ansteckend zu sein.

Es war ein toter Abend gewesen, keine Interessenten.

Vielleicht strahlte Alex etwas Stachliges, Verzweifeltes aus — die Leute merkten es, wenn man bedürftig war, sie hatten einen Riecher fürs Scheitern. Immer wieder schaute Alex nach neuen Nachrichten, wartete, dass jemand anbiss, aber nur Dom leuchtete auf ihrem Telefon auf, wollte ihr ein Auto rufen, versuchte sie dazu zu überreden, ihn an der Subwaystation in der Nähe des Parks zu treffen. Alex drehte das Telefon um.

Alex war bei ihrem zweiten Mineralwasser im Whiskeyglas — besser keinen Alkohol trinken, sondern nur so tun als ob —, als sich ein paar Hocker weiter ein Mann an die Bar setzte. Ein Mann in einem weißen Hemd und mit vollem Haar. Normalerweise hätte sie den Mann sofort als Zivilisten eingestuft, als jemanden, dessen Selbstverständnis die Teilnahme an gewissen Vereinbarungen nicht vorsehen würde. Diese Männer stellten keinen guten Nutzen ihrer Energie dar. Aber vielleicht war das ein Fehler gewesen, die Fokussierung auf unmittelbare Belohnung — denn was hatte ihr das gebracht? Sie hatte den Schutz übersehen, den ein Zivilist bieten könnte. Etwas von Dauer. Adrenalin durchfuhr sie: Hier war ein Mann, der den Dingen eine neue Wendung geben könnte.

Wer eröffnete das Gespräch, er oder sie? Jedenfalls rückte Alex auf Einladung des Mannes auf den Hocker neben ihm. Seine Uhr funkelte, als er demonstrativ das Telefon in seine Tasche gleiten ließ: Sie hatte seine volle Aufmerksamkeit.

»Ich bin Simon«, sagte der Mann.

Er lächelte sie an. Sie lächelte zurück.

Hier war die Antwort, der Notausgang, von dem sie immer vermutet hatte, dass er sich auftun werde.

Alex spielte die Bälle korrekt zurück, als habe sie genau für diesen Moment trainiert, was ja vielleicht auch der Fall war. Sie gestattete Simon, ihr einen richtigen Drink zu bestellen. Beim Lachen hielt sie die Hand vor den Mund, als sei sie besonders schüchtern. Sie sah, wie er diese Geste zur Kenntnis nahm, ebenso, wie er die zwei bescheidenen Gläser Weißwein zur Kenntnis nahm, die züchtig über den Schoß gebreitete Serviette. Sie unterhielten sich gut. Alex musste ihm, Simon, wie ein ganz normales Mädchen vorgekommen sein. Ein normales junges Mädchen, das das Leben in der Großstadt genoss. Aber nicht zu sehr genoss: Ein drittes Glas Wein lehnte sie ab, nahm aber die Einladung auf einen Kaffee nach dem Essen an.

Alles war richtig gelaufen. Simon bat sie um ein Date. Ein richtiges Date. Und dann noch eins. Alex hörte auf, die anderen Männer zu treffen. Mied bestimmte Trigger, bestimmte Stadtteile. Alex lud Simon nie in ihre Wohnung ein. Sie nahm keine spätnächtlichen Anrufe mehr entgegen. Widerstand dem Drang, etwas mitgehen zu lassen: Simons perlige Manschettenknöpfe, das Bargeld, das er nachlässig auf den Nachttisch packte.

Wann verschlimmerten sich die Dinge — ein paar Wochen später?

August stand vor der Tür, Alex hielt Dom noch immer hin und überlegte, wo sie übernachten könnte, falls — wenn? — ihre Mitbewohner sie vor die Tür setzten. Ihr Wohnungsschlüssel verschwand aus ihrer Handtasche — oder hatten die Mitbewohner ihn wieder an sich genommen? Sie verbrachte einen ganzen Abend auf den Stufen vor dem Haus, bis der netteste Mitbewohner endlich von seiner Spätschicht heimkam. Bei Alex’ Anblick machte er, wie alle in letzter Zeit, ein langes Gesicht. Zumindest ließ er sie mit rauf, um zu duschen, aber länger bleiben durfte sie nicht.

Dann hatte sich Simon als Retter in der Not entpuppt.

Sein Sommerhaus außerhalb der Stadt. Er fände es toll, wenn sie im August mitkäme. Sie könne den ganzen Monat bleiben. Jedes Jahr an Labor Day gebe er eine gute Party — sie werde sich sicher amüsieren.

Alex verließ die Wohngemeinschaft, ohne die ausstehenden Mietschulden zu begleichen, wobei sie den Großteil ihrer alten Kleidung und die billigen Spanholzmöbel als Anzahlung daließ. Alex ignorierte die Anrufe und Nachrichten ihrer Mitbewohner, blockierte Doms Nummer. Dom würde schon drüber hinwegkommen, irgendwann. Keiner aus ihrem alten Leben, wie sie es bereits bezeichnete, wusste von Simon, wusste, wohin Alex verschwunden war. Keiner der Leute, denen sie, auf welche Weise auch immer, direkt oder indirekt, Unrecht angetan hatte.

Sie hatte sich verschwinden lassen — es war ganz einfach gewesen.

Den Rest des Sommers würde sie hier verbringen, mit Simon, und dann im September — hatte Simon seine Wohnung in der Stadt. Es war die Rede davon, dass Alex einziehen könnte. Wann immer Simon auf eine mögliche Zukunft anspielte, senkte Alex den Blick; ihre Verzweiflung wäre sonst zu offensichtlich gewesen. Simon glaubte noch immer, Alex habe eine eigene Wohnung, und das war wichtig. Den Anschein von Eigenständigkeit aufrechtzuerhalten, ihm das Gefühl zu geben, er sei hier am Ruder. In diesem Punkt war Zurückhaltung geboten.

Simon.

Er war ein liebenswürdiger Mensch, größtenteils.

Er hatte Alex auf seinem Handy Bilder von sich als junger Mann gezeigt, gutaussehend mit eifrigem Gesichtsausdruck. Er war jetzt in seinen Fünfzigern, doch das volle Haar war geblieben, und er war gut in Form. Das lag an den Massen von Heilbutt in der Tiefkühltruhe, die weißen Striemel, die er mit so viel Zitrone grillte, dass Alex davon der Mund vibrierte. Er hatte einen Trainer, der ihn an Elektroden anschloss, um per Schock seine Muskeln zu festigen, und der ihm Eisbäder und Innereien empfahl, all die neuartigen Ergänzungen der Berufsgesunden. Simon legte eine solch irre Disziplin an den Tag, weil er überzeugt war, der kleinste Lapsus in seiner Wachsamkeit würde in eine Katastrophe münden. Und wahrscheinlich hatte er recht. Gelegentlich verlor er die Kontrolle, setzte sich mit einem Glas Erdnussbutter auf die Couch und löffelte mit akribischer Sorgfalt, bis das Glas geleert und der Löffel abgeleckt worden war von seiner erstaunlich rosafarbenen Zunge. Traurig sah er in das ausgekratzte Glas, als würde ihn der Anblick kränken.

Simon hatte eine Tochter, die nicht bei ihm wohnte, und eine Exfrau auf der anderen Seite des Landes, aber es schien keinen Groll zu geben, zumindest keinen, den Alex wahrnehmen konnte. Simon verließ immer den Raum, wenn er mit seiner Tochter telefonierte. Caroline hatte das dunkle, glänzende Haar der Wohlhabenden, die gepflegten Augenbrauen und Kleidung aus Stoffen, die nur chemisch gereinigt werden durften. Eine dieser Reiche-Leute-Töchter, die zu bedauern waren, weil sie sich am Ende alles kaufen konnten, nur keine Schönheit. Alex hatte Caroline bloß auf Bildern gesehen, ein dünnes Mädchen, die Ellenbogen immer umklammert, ein Mädchen, das sogar beim Lächeln die Stirn zu runzeln schien. Sie hoffte verzweifelt darauf, Sängerin zu werden. Alex sah Kummer in der Zukunft der Tochter voraus, aber das war wahrscheinlich nur eine Projektion.

Simons Sommerhaus lag halbwegs nah am Meer. Die Wohnzimmerdecke war sechs Meter hoch, durchzogen von Holzbalken. Geschliffener Betonboden. Große Gemälde, die allein durch ihre Quadratmeterzahl hohen Wert implizierten. Simons Spezialgebiet waren Sekundärmärkte, und Alex nahm einen nachdenklichen Gesichtsausdruck an, wenn Simon ihr eine Runde JPEGs zeigte oder wenn sie bei einem Sammler zum Essen waren. Manchmal versuchte sie, die Preise zu erraten oder zu erraten, was Simon sagen würde, wenn sie allein waren. Doch Alex lag immer daneben — es gab zu viele unsichtbare Zusammenhänge. Mal hatte es bei den Abendauktionen für ähnliche Arbeiten zu wenig Zulauf gegeben. Mal hatte ein Künstler Materialien verwendet, die zum Zerfall neigten und das Stück zu flüchtig machten für die Versicherung. Wenn die falsche Person der Voreigentümer von etwas war — ein neureicher Sammler mit naivem Auge, ein Tech-CEO, gegen den gerade ermittelt wurde —, konnte das irgendwie darauf abfärben. Der Wert basierte auf einem Netzwerk von Faktoren, die ständig im Fluss waren. Manchmal war das Werk bloß eine Idee und existierte nur als Bild, das hin- und hergemailt wurde, und die Sammler verkauften ein erworbenes Stück, ohne es je persönlich gesehen zu haben.

Dieses Spiel, andere Leute vom Wert der Dinge zu überzeugen — in der Hinsicht waren sie und Simon gar nicht so verschieden.

Die letzten Wochen waren auf angenehme Weise verstrichen. Es war einfach gewesen, sich in Simons Leben hier einzufügen: Dessen Texturen und Gewohnheiten waren so fein gewebt, dass Alex sich nur hinzugeben brauchte. Sie aßen bei seinen Freunden zu Abend, nachdem deren Assistenten sich vorab per Mail nach möglichen Unverträglichkeiten erkundigt hatten. Keine, zwitscherte Alex immer zurück. Darum ging es Alex — keinerlei Reibungsfläche zu bieten. An den summenden, insektenbrummenden Nachmittagen gingen sie auf Gartenpartys, und Alex stand herum, während Simon redete und Weißwein trank. Seine Freunde begegneten Alex mit unbestimmtem Lächeln — vielleicht nahmen sie an, dass sie sich schon einmal vorgestellt worden waren, verwechselten sie mit einer von Simons anderen jungen Frauen. Schön, dich zu sehen, sagten sie immer, die sichere Floskel, die alle Möglichkeiten erlaubte. Amüsierst du dich?, fragte vielleicht mal jemand, richtete endlich eine Frage an Alex, und sie nickte, doch seine Augen waren immer schon wieder zu Simons zurückgeglitten. Manchmal waren sie herablassend, Simons Freunde, doch gegen die Missbilligung fremder Menschen war sie längst immun. All die vielen Male, die sie in der Öffentlichkeit mit doppelt so alten Männern an einem Tisch gesessen hatte, Männern mit schwitzenden, kahlen Schädeln. Sie spürte schon im Voraus, dass sie angestarrt werden würde, und verstand es, sich gegen diese Blicke nachhaltig zu wappnen.

Aber diese Sache war anders. Diese Sache mit Simon. Sie schmiegte sich an Simon und er redete weiter, ließ aber die Hand sinken und berührte ihren unteren Rücken. Auf der Heimfahrt erzählte er ihr von seinen Freunden. Deren Privatleben, deren heimlichen Problemen. Und Alex stellte Fragen und stachelte ihn an, und er warf ihr ein Lächeln zu, und seine Freude war plötzlich so jungenhaft.

Diese Sache war echt, sie und Simon. Oder könnte es sein.

Tagsüber sah Alex im Wintergarten fern, las Zeitschriften in der Wanne, bis das Wasser kalt wurde. Sie fuhr allein an den Strand oder schwamm in Simons Pool. Montags, mittwochs und freitags kam eine Frau, um Wäsche zu waschen und sauberzumachen. Alex verbrachte Stunden damit, von Zimmer zu Zimmer gescheucht zu werden von der schweigsamen, geschäftigen Patricia, die Alex’ Gegenwart mit derselben unbewegten Miene zur Kenntnis nahm wie jede Unordnung.

Es war nicht schwer. Nichts davon war schwer.

Hin und wieder nahm Alex eine von Simons Schmerztabletten, um die loseren Stunden zusammenzuheften, wobei sie Simon davon nichts sagte. Sie benahm sich vorbildlich. Wenn sie aus einem Glas trank, spülte sie es gleich danach aus und stellte es in den Geschirrspüler. Sie wischte den zurückgebliebenen Wasserfleck vom Tisch. Ließ weder nasse Handtücher aufs Bett fallen noch die Zahnpasta ohne Verschluss herumliegen. Kontrollierte die Anzahl eingesackter Pillen, damit Simon nichts bemerkte. Schwärmte demonstrativ von Simons Hund Chivas, den Simon auf den Mund küsste.

Wenn Simon meldete, dass er gleich fertig sei mit der Arbeit, benetzte Alex ihr Gesicht mit Wasser, putzte sich die Zähne und schlüpfte in ein teures T-Shirt, das Simon ihr gekauft hatte. Dann saß sie herum und wartete, als wäre das Ende jeden Tages ein erstes Date.

Hatte Simon je auf Alex warten müssen, hatte Simon sie je freudig erwartet?

Nein. Aber wen kümmerte das?

Dies waren kleine Zugeständnisse in Anbetracht dessen, was sie ermöglichten.

Natürlich hatte sie Simon nicht von Dom erzählt. Sie hatte Simon so einiges nicht erzählt. Sie hatte schon früh gelernt, dass es notwendig war, eine gewisse Distanz zu wahren. Ein paar Unwahrheiten aufrechtzuerhalten. Es war einfach und wurde immer einfacher. Und war es nicht besser, den Leuten zu geben, was sie wollten? Ein Zwiegespräch als reibungslose Transaktion geführt — ein seidenweiches Hin und Her ohne Einbruch der Realität. Fast alle bevorzugten die Geschichte. Alex hatte gelernt, sie zu liefern, hatte gelernt, wie man die Leute in den Bann zog mit einer Vision ihrer selbst, erkennbar, aber zehn Stufen höhergedreht, verstärkt zu etwas Besserem. Hatte gelernt, auf ihre eigenen Begierden anzuspielen, als wären es gemeinsame Begierden. Irgendwo, tief in ihren Hirnen, feuerten die Synapsen und tuckerten in die Richtung, die sie vorgab. Die Leute waren erleichtert, dankbar, sich einzuklinken in etwas Größeres, Leichteres.

Und es tat gut, jemand anderes zu sein. Zu glauben, und sei es nur einen halben Moment lang, die Geschichte sei anders. Alex hatte sich ausgemalt, was für eine Person Simon gefallen würde, und das war die Person, die Alex ihm vorgab zu sein. Alex’ ganze abgeschmackte Vergangenheit wurde herausgelöst, bis es sogar ihr selbst allmählich so vorkam, als wäre nichts davon je passiert.

Simon glaubte, Alex habe im letzten Jahr ihren Collegeabschluss gemacht und sei gerade erst in die Stadt gezogen. Er glaubte, Alex’ Mutter sei Kunstlehrerin und ihr Vater Footballcoach an einer Highschool. Er glaubte, Alex sei in der Mitte des Landes aufgewachsen. Einmal fragte er sie, warum sie ihrer Familie nicht nahestehe — sie sagte, ihre Eltern seien sauer auf sie, weil sie nicht mehr in die Kirche gehe. »Arme kleine Sünderin«, sagte Simon, wobei er aufrichtig berührt wirkte von der Vorstellung, dass Alex ganz allein sei auf der Welt. Was gar nicht so falsch war. Simon hielt Alex für eine echte Person oder echt genug für seine Zwecke. Alex sprach von der Möglichkeit, weiterzustudieren, und diese Andeutung eines bescheidenen Lebens der Selbstverbesserung schien Simon zu beruhigen. Ehrgeizig im mildesten Sinne des Wortes.

Auf dem Rückweg vom Strand war die Straße noch bedeckt mit den Überbleibseln eines Sommergewitters, doch die meisten größeren Äste waren geräumt worden. Das fahle Sonnenlicht löschte jede Erinnerung aus, zuckrig hell auf den Zedernschindelhäusern.

All die Nebenwege sahen gleich aus. Bäume mit verflochtenen Kronen, die hier und da bei einer Auffahrt einen Hohlweg bildeten. Wege, gesäumt von ein und demselben tiefen Sommergrün, einem so dicht gepackten Grün, dass man nichts von dem Dahinterliegenden sehen konnte. Die Häuser waren versteckt hinter Hecken und Toren, boten keine erkennbaren Orientierungspunkte.

Alex war in Gedanken, also achtete sie nicht genau darauf, in welche Straße sie eingebogen war. Eine jähe Bewegung inmitten der Bäume ließ sie herüberschauen. Vielleicht ein Reh. Es gab sie hier in rauen Mengen, ewig sprangen sie über die Straßen.

Ein Hupen erregte ihre Aufmerksamkeit. Ein Auto kam ihr entgegen. Wieder hupte der Fahrer, nachdrücklicher. Sie war in einer Einbahnstraße, erkannte Alex — zu spät. Sie versuchte, in eine Auffahrt zurückzusetzen, um zu wenden. Sie musste den Abstand falsch eingeschätzt haben: Das Geräusch erschreckte sie, bis sie begriff, dass es von ihrem Auto kam. Oder besser gesagt, von Simons Auto. Die hintere Stoßstange stieß knirschend irgendwo an.

Der andere Fahrer stoppte nicht, bremste nicht mal ab.

Wäre sie nicht so aufgewühlt gewesen — der Rippstrom, Dom, der Schmerzmittelschleier —, wäre das vielleicht nicht passiert. Alex übte schon, was sie zu Simon sagen würde, kalkulierte genau, wie kindlich sie sich aufführen müsste, um seinem Ärger zu entgehen.

Während Alex ausstieg, um sich den Schaden anzusehen, ließ sie den Motor laufen. Sie war mit der hinteren Stoßstange gegen eine steinerne Böschungsmauer geprallt, eine von Simons kirschroten Heckleuchten war eingedrückt, und es fehlte ein nicht unwesentliches Stück davon. Sie fand es auf dem Boden, jetzt nur noch eine Streuung aus rotem Plastik. Die Reparatur würde vielleicht fünfhundert Dollar kosten, könnte schlimmer sein. Aber wer wusste das schon genau bei diesen Nobelautos, mit ihrer besonderen Mechanik, ihren speziellen Ersatzteilen, dem importierten Lack? Zumindest hatte die Stoßstange nur eine ganz kleine Delle. Sie sah sich um, als käme aus irgendeiner Richtung Hilfe, jemand, der auftauchen und das Heft in die Hand nehmen würde.

Simon würde unglücklich sein. Sein geliebtes Auto. Und es war ein Punkt, der gegen sie sprechen würde.

Der Rest des Autos sah okay aus, wobei sie beim Absuchen den Blick absichtlich unscharf stellte — für die Beichte war es besser, wenn Alex das volle Ausmaß des Schadens nicht kannte. Er schien sich jedenfalls in Grenzen zu halten.

Als sie Simons Haus betrat, sank schlagartig die Luftfeuchtigkeit auf null, die schockartige Kälte der Klimaanlage ließ den Nachmittag leicht unwirklich scheinen. Der Tag löschte sich selbst.

Simons Büro war in einem separaten Gebäude auf dem Grundstück — Alex konnte durchs Fenster den Deckenventilator laufen sehen, was bedeutete, dass Simon da war und arbeitete. Gut. Sie wollte ihn noch nicht sehen. Sie war zu sehr durch den Wind.

Denk nicht an das Auto, denk nicht an Dom, gib diesem neuen Gefühl von Grauen keinen Namen.

Ein paar Runden im Pool, beschloss sie.

Die Fliegengittertür zum Garten war so gebaut, dass sie nicht zuknallen konnte; sie schloss sich hinter Alex in Zeitlupenstille.

Simons Assistentin Lori saß an einem Tisch neben dem Pool, vor sich zwei Mobiltelefone. Sie wohnte in irgendeiner günstigeren Stadt, eine Autostunde entfernt, und stand vor Sonnenaufgang auf, um zu Simon zu fahren. Sie hatte ein Rosentattoo auf dem linken Unterarm und eine Freundin, mit der sie zusammenwohnte und die sie gelegentlich absetzte, die aber nie aus dem Auto ausstieg. Unter anderem war Lori für Simons Hund Chivas zuständig. Lori versuchte ständig, Chivas beizubringen, einen klitzekleinen Wanderrucksack zu tragen, um darin auf ihren Spaziergängen eine Wasserflasche zu transportieren. Nach ihrer Rückkehr saß Lori jedes Mal eine Stunde lang im Schneidersitz auf dem Fußboden und suchte mit zusammengekniffenen Augen und ungeteilter, ans Erotische grenzender Aufmerksamkeit Chivas’ Fell nach Zecken ab.

»Es ist die schlimmste Saison aller Zeiten«, hatte Lori zahlreiche Male angemerkt. »Überall Zecken. Die Rehe sind übersät davon.«

Jetzt kläffte Chivas unablässig den uniformierten Mann an, der im Gras hockte und den Gasgrill für die Labor-Day-Party wartete. Als der Hund dem Mann halb auf den Rücken sprang, blickte der Handwerker hilfesuchend zu Lori. Lori sagte nichts.

Alex bemerkte ein paar Löcher im Rasen, wo Chivas Erdhörnchen gejagt hatte. Simon würde verärgert sein, obwohl er den Hund abgöttisch liebte, sich nicht störte an seinen wässrigen blauen Augen, dem blassen Fellwuchs, der girlandenartig die Schnauze schmückte.

Alex breitete das große Badetuch über einen der Metallstühle aus und zog ihn zum Trocknen in die Sonne. Sie hatte das Gefühl, sich in normalem Tempo zu bewegen, normale Dinge zu tun.

»Wie war’s am Strand?«, fragte Lori, ohne richtig aufzublicken.

Vor ihr hatte es andere gegeben, das wusste Alex, andere junge Frauen mit Weekendern und hoffnungsvollen, gepflegten Körpern, andere Frauen, die um zehn Uhr morgens in die Küche schlenderten, um Kaffee zu trinken, den jemand anderes für sie zubereitet hatte, die sich den Baumwollslip aus der Poritze zupften und nach Simon umsahen. Dünne Mädchen in Tops, die Joghurt im Stehen aßen. Aber Alex hatte sie überdauert, war in ein anderes, permanenteres Gefilde gewechselt. Die anderen waren Geister; sie war real. Alex wohnte hier; ihre Kleider hingen im Schrank. Für den Rest des Sommers zumindest. Loris Meinung konnte ihr nichts mehr anhaben.

»Superschön.« Alex zwang sich zu lächeln, zwang sich, Loris Blick zu begegnen. Schwer zu sagen, wie stark Loris Abneigung gegen sie war. »Das Wasser war perfekt.«

Bevor Alex in den Pool stieg, streckte sie sich lange genug, um spüren zu können, dass Lori sie beobachtete. Ahnte Lori, dass irgendetwas nicht stimmte?

Alex tauchte mit einem Kopfsprung ins Wasser.

Der Pool war schmal, aber lang, ideal für die Bahnen, die Simon täglich mit manischer Konzentration zog. Er erzählte Alex, er treibe deshalb so viel Sport, weil er damals beim MBA-Studium in Europa dick geworden sei vom vielen Hamburgeressen — das sei alles gewesen, was er in der Fremdsprache bestellen konnte. Seitdem war er besessen davon, nie wieder dick zu werden, stand um sechs Uhr morgens auf, um auf einem Gerät achtzig Etagen Treppensteigen zu simulieren, dann weiter zum Pool, wo er fieberhaft Bahnen schwamm, bis die Sonne aufging.

Trotz all der frühmorgendlichen Bahnen war er ein schlechter Schwimmer, seine Technik zu sehr Gewohnheit, um jemals verbessert werden zu können.

»Vielleicht versuchst du’s mal so«, hatte Alex an ihrem ersten Tag hier gesagt und Simon eine Technik gezeigt, um seinen empfindlichen Rücken zu entlasten. »Das nimmt den Druck weg.«

Simon korrigierte ein paar Bahnen lang seine Technik, hielt sein ungestümes Bemühen im Zaum, dann ging er wieder über zu seiner alten Praxis.

»Du machst es schon wieder«, sagte Alex und schob sich durchs Wasser zu Simon. »Ich zeig’s dir.«

»Lass mal«, brummte Simon, Alex’ Hand abschüttelnd.

Sie zwang sich zu einem kurzen Lachen, setzte sich auf die Stufen des Pools. Simon kehrte schaumschlagend zu seinen Bahnen zurück. Was für ein Energieaufwand. Simon sagte etwas zu ihr, aber sie tat, als habe sie es nicht mitbekommen. Alex brachte ihre Hände zur Schöpfkelle zusammen und sammelte die Blätter, die abgerissenen Blüten von der Wasseroberfläche. Sie schuf einen nassen Haufen auf dem Beton, der den Pool umrandete, und brachte ihn zerstreut in Ordnung. Eine weitere Notiz zum Abheften also — Simon nicht korrigieren. Alex pflückte eine Biene aus dem Pool, nahm sie an ihrem hauchdünnen Flügel und fügte sie den anderen toten Dingen hinzu.

Wer würde das wegräumen? Irgendwer. Nicht sie.

Nach ein paar schnellen Bahnen ließ sich Alex auf dem Rücken treiben. Sie hörte ihren Herzschlag in den Ohren. Sie atmete vier Zähler ein, hielt vier Zähler, atmete vier Zähler aus. Direkt über ihr war der wolkenlose Himmel, ein Blau, das festgezurrt wirkte. Der Flughafen lag auf der anderen Seite des Highway — ein kleines Flugzeug beschrieb einen Bogen in ihrem Blickfeld, verlangsamte für die Landung.

Alex war tatsächlich mal in einem Helikopter geflogen, mit Simon auf dem Weg hier raus. Der Lärm war ohrenbetäubend gewesen, ein Lärm wie in Kriegsfilmen, und es war eigenartig, dieser Krach, der einem das Herz umdrehte, gepaart mit dem traumartigen Gefühl, senkrecht in die Luft zu steigen. Es war spät gewesen, die letzte Stunde vor dem Nachtflugverbot. Der Helikopter schien außerordentlich tief zu fliegen, so tief, dass sie zwischen den dunklen Baumkronen die beleuchteten Swimmingpools sehen konnte, die über die Landschaft verstreut waren, Inseln von Blau und Grün da draußen inmitten der Dunkelheit. Sie rechnete jederzeit mit einem Absturz — als verdiente solch unverhohlener Exzess, zügig bestraft zu werden.

Ein gedämpftes Geräusch, ein schlechtes Gefühl: Alex schlug die Augen auf und sah eine schattige Gestalt neben dem Pool stehen. Es war Lori, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Wie bitte?«, fragte Alex.

»Ich sagte, brauchst du noch was, bevor ich weg bin?«

Simons Schlafzimmer lag im hinteren Teil des Hauses, am Ende eines langen Flurs. Drinnen war es still, die Vorhänge waren geschlossen gegen das Tageslicht und die Hitze. Das Bett war so stramm bezogen. Solch schockierende Reinheit, die ans Perverse grenzte. Sie wollte sich auf dieses vollendet faltenlose Bett werfen, tat es aber nicht. Das vollendete Bett, die kühlen Räume: Es waren bescheuerte Dinge, einzeln betrachtet, aber zusammengenommen waren sie ein überzeugender Ersatz für ein Leben. Ein Leben, wo Leid keinen Platz zu haben schien, wo etwas wie Schmerz oder Unglück zu zerfasern begann und weniger wahrscheinlich wirkte. Und wer könnte etwas dagegen sagen, gegen den Wunsch, geschützt zu sein? Kein Problem war unlösbar. Konnte sie sich vorstellen, dass es immer weiter aufwärtsgehen würde? Dass das Glück immer mehr und mehr wurde, die Welt sich plötzlich in jedwede Richtung öffnete wie eine dieser Trickkisten mit den aufklappbaren Seiten, die zeigten, dass es keine Grenzen mehr gab.

Selbst diese Sache mit Dom könnte handhabbar erscheinen. Als könnte sie sie wieder richten.

Wie? Sie wusste es nicht genau.

Alex beruhigte sich, indem sie eine Inventur des Zimmers machte, die sich wiegenden Bäume hinter den Vorhängen beobachtete. Sie tat so, als habe sie die Benachrichtigungen der Mailbox nicht bemerkt. Sie spielte ein Spiel auf dem Handy, bei dem es darum ging, Diamanten einzusammeln, bevor sie von einer schwarzen Schildkröte gefressen wurden. Sie spielte so lange, bis die Schildkröte schließlich alle Diamanten gefressen hatte.

YOU LOSE, stand auf dem Display in blinkenden Wörtern, und sie ließ das Handy aufs Bett fallen.

Dieser Teil war tröstlich, das Sichzurechtmachen. Konkrete Maßnahmen ergreifen, das Ausführen der bekannten Schrittfolge. Alex war über die Jahre gut geworden in dieser Vorbereitungszeremonie.

Sie nahm sich Zeit an diesem Abend, arbeitete sich in Trance. Das Badezimmer vernebelte, die Klopapierrollen kräuselten sich in der Luftfeuchtigkeit. Bei all ihrer sorgfältigen Arbeit schien der Nachmittag weiter und weiter in die Ferne zu rücken. Alex starrte so lange in den Spiegel, bis auch ihr Gesicht abstrakt wurde, jetzt nur noch Licht und Schatten.

Sie tupfte sich Grundierung auf die Stirn, unter die Augen, entlang des Kiefers. Zügiges Hantieren mit einem feuchten Schwamm, um das Ganze zu verteilen und die Makel verschwinden zu lassen. Dann musste sie sich wieder zum Leben erwecken: Rouge, ein perlmuttfarbener Highlighter auf den Brauenknochen. Mit kurzen Strichen zog sie ihre Augenbrauen dunkel nach — realistischer, die kurzen Striche. Sie begegnete ihrem Blick im Spiegel, während sie schweigend die Wimpernzange zusammendrückte.

Dreizehn, vierzehn, fünfzehn Mal.

Wie viele der anderen Mädchen war Alex schnell dahintergekommen, dass sie nicht schön genug war, um zu modeln. Den Glücklichen ging das eher früher auf als später. Aber sie war groß genug und dünn genug, dass Leute sie häufig für schöner hielten, als sie war. Ein guter Trick.

Dünnes braunes Haar, schulterlang geschnitten. Kurze Finger mit dreckigen Nägeln — wie konnte sich ein Mädchen in diesem Jahrhundert so dreckige Fingernägel zuziehen? Hinzufügen zur aktuellen Liste:

Fingernägel sauber halten.

Atem frisch halten.

Keine Zahncreme im Waschbecken hinterlassen.

Sie rasierte sich die Achseln, zog den Rasierer in Form eines Kreuzes hin und her. Fuhr dann ein zweites Mal über die Haut, zuckte zusammen bei dem abgeschabten Gefühl. Die Haut war glatt, als sie fertig war, brannte etwas an den verletzten Stellen. Ihre Haare waren grenzwertig, am nächsten Tag würde sie sie waschen müssen, aber zurückgekämmt waren sie heute Abend noch in Ordnung. Simon mochte es nicht, wenn sie ihr in die Augen hingen — ein paar Sprühstöße Öl, damit sie glatt blieben, alles an der richtigen Stelle.

»Da ist sie ja«, sagte Simon beim Betreten des Schlafzimmers. Sein Anblick war wie ein Elixier — hier war es, Alex’ Leben. Genau so, wie sie es zurückgelassen hatte.

Wenn Simon Feierabend machte, wirkte er immer ein wenig konfus. Er tastete ständig geistesabwesend in seiner Hemdtasche nach dem Telefon.

»Wow.« Simon musterte sie wie immer von oben bis unten, eine so übertriebene Geste, dass es fast schon Slapstick war, ein Zeichentrickwolf im Anzug.

»Das ist ein tolles Kleid«, sagte er. »Du hast einen tollen Geschmack.«

Simon hatte ihr das Kleid gekauft.