Dag Hammarskjöld - Die längste Reise ist die Reise nach innen - Oliver Kohler - E-Book

Dag Hammarskjöld - Die längste Reise ist die Reise nach innen E-Book

Oliver Kohler

5,0

Beschreibung

Dag Hammarskjöld begibt sich auf seinen letzten Flug. Stationen seines Lebens ziehen vor seinem geistigen Auge vorbei. Er blickt zurück und erkennt mehr und mehr, worauf es wirklich ankommt. Dieser Flug wird eine Reise zu sich selbst, nach innen - und ohne Wiederkehr. Bis heute konnte nicht geklärt werden, ob der Absturz der UN-Maschine im September 1961 an der Grenze zu Sambia ein Unfall oder politisch motivierter Mord war. Oliver Kohler gelingt ein eindrucksvolles Porträt des berühmten UN-Generalsekretärs - eines engagierten Politikers, wachen Träumers und christlichen Mystikers. Nach seinem Tod fand man seine Tagebücher. Unter dem Titel "Zeichen am Weg" wurden sie weltberühmt. Dieses Buch zeigt durch eine thematische Auswahl die Leitgedanken und das geistige Zentrum eines unkonventionellen Zeitgenossen.

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Oliver Kohler

Dag Hammarskjöld

Die längste Reise ist die Reise nach innen.

Auszüge aus dem Tagebuch des UN-Generalsekretärs

Foto: UN/DPI

Eine Annäherung an Dag Hammarskjöld, den zweiten Generalsekretär der Vereinten Nationen, zu wagen, bringt einen Schriftsteller, einen Maler und einen Verlag mit den Lesern dieses Buchs auf eine gemeinsame Spur. Die fünfzigjährige Wiederkehr seines mysteriösen Todes auf einer Friedensmission signalisiert Aktualität. Das eigentliche Interesse gilt dabei nicht der Kriminalistik. Die Faszination einer originellen, nicht opportunistischen, sondern wertorientierten Persönlichkeit voller Komplexe und Visionen ist groß. Er war einer jener seltenen Politiker, die Kompetenz und Augenmaß, Mut und Demut, Bildung und Spiritualität in sich vereinen.

Dieses Buch ist weder Biographie noch historische Erzählung. Es sammelt vielmehr Reflexe und Resonanzen. Die Erde aus Hammarskjölds Welt geht in neue Bildkompositionen ein. Der Innere Monolog vernetzt Tatsächliches mit Imaginiertem. Hammarskjöld, so fotogen er auf den unzähligen Pressebildern wirkt, bedient keine Klischees. Wer sich aber auf ihn einlässt, findet vielleicht einen Begleiter in den Umbrüchen und Aufbrüchen dieser Jahre.

Inhalt

Nicht ich, sondern Gott in mir

Dich wählte der Weg

… ein Schimmer Gold in dem Eisengrau

Meine Mittelmäßigkeit erkennen

Der Einsatz sucht uns, nicht wir den Einsatz.

Hunger nach Gerechtigkeit

Ein Examen, dem keiner entgeht.

Acht Schritte oder neun

Augenblick

I

Berufung

II

Weg

III

Einsamkeit

IV

Verantwortung

V

Bescheidenheit

VI

Gott

VII

Leben

VIII

Schweigen

IX

Licht

Jeder Tag ein Leben

Epilog

Hinweise

Die längste Reise

ist die Reise nach innen.

1950

Suche nicht die Vernichtung. Die wird dich finden.

Suche den Weg, der zur Vollendung führt.

6. Oktober 1957

Nicht ich, sondern Gott in mir

Will man Dag Hammarskjöld charakterisieren, will man sein Leben beschreiben, wo soll man beginnen? So viele Rollen hat er in seinem nur 56 Jahre währenden Leben gespielt, so viele Aufgaben übernommen: der große Friedensstifter, der UN-Generalsekretär, der stellvertretende Außenminister, der Politiker, der Präsident des Reichsbankdirektoriums, der Wissenschaftler, der kluge Verhandler, der Friedensnobelpreisträger, der Sohn aus wohlhabendem Hause, der Einsame, der Mystiker, der Gottsucher – vielleicht auch: der Verschwörer? Viele Geschichten ranken sich um seine Person, am aufreibendsten die um seinen Tod und am unklarsten, bis heute, die Spekulationen über dessen Ursache.

Abgesehen aber von und mitten in allem politischen Tagesgeschäft und allen diplomatischen Verhandlungen war Dag Hammarskjöld zeitlebens ein zutiefst religiöser Mensch. Das ist es, was mich am meisten beeindruckt am Leben dieses großen Politikers und Philo- oder vielleicht sollte man sagen Theosophen: diese ganz klare und doch immer neu suchende Beziehung zu Gott, sein Glauben, der ihn stets begleitete und der ihm oft so viel zumutete, den er je neu zu fassen und zu begreifen suchte und auf den er all sein Handeln und Denken gründete. Die Tiefe dieser Gottesbeziehung und das grundlegende Vertrauen in Gottes Begleitung und Führung – bei aller erlebten Einsamkeit und allen Zumutungen dieses Lebens – sind gebündelt in dem Satz, den Dag Hammarskjöld in seinem Tagebuch verewigte und der neben den schlichten Lebensdaten seinen Grabstein im Dom von Uppsala ziert: „Icke jag utan gud i mig“ – „Nicht ich, sondern Gott in mir“. Mit dieser auf die kürzest mögliche Formel gebrachten theologischen Grundaussage, mit diesem Credo seines Lebens macht Dag Hammarskjöld sein ganz eigenes Verständnis eines Lebens im Dienste Gottes und der Menschen deutlich – und steht damit zugleich in der Tradition vieler großer christlicher Kunstschaffender und Theologen. Denken Sie etwa an Johann Sebastian Bachs „Soli Deo Gloria“ oder an Franz von Assisis Bitte: „Herr, mache mich zu einem Werkzeug deines Friedens.“ Wer so von sich weg weist, wer seine Bedeutung so zu relativieren und alle ihm zufallende Ehre auf deren Urheber zu beziehen weiß, ist in der Lage, von sich ab und auf das große Ganze zu sehen – und damit in letzter Konsequenz wirklich Großes zu vollbringen.

Wie seine Rolle im Kongo-Konflikt auch ausgesehen haben mag, welche Umstände schließlich zu seinem Tod führten, ob ein tragischer Unfall, Sabotage oder ein gezielt geplantes Mordkomplott: Dag Hammarskjölds Leben bleibt ein faszinierendes Beispiel einer lebenslangen Gottsuche, eines Lebens im Dienste des Friedens und der Menschen – und ein Beispiel dafür, auf wie vielfältige, manchmal unverständliche und oft ungewöhnliche Weise Gott einen Menschen finden und in dessen Leben wirken kann.

Nikolaus Schneider

Dich wählte der Weg1

Aus dem Leben des Dag Hammarskjöld

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.

Friedrich Hölderlin

1 Alle Titel dieses Essays finden sich im Tagebuch von Dag Hammarskjöld.

Nur der verdient Macht, der sie täglich rechtfertigt.

Das Mädchen räkelt sich in der Sonne. Endlich hat sie die Flucht aus der Kleinbürgerlichkeit ihrer Eltern geschafft. Ihre Haut bekommt einen attraktiven hellbraunen Teint. Sie trägt nur einen Hauch von Bikini. Andere im riesigen Pool sind nackt. Eigentlich chillt sie lieber mit Mitschülern. Doch die älteren Herren sind großzügig. Sie lassen sich ihre Blicke und mehr etwas kosten. Allen voran der Ministerpräsident.

Das Mädchen hechelt wie ein Hund. Endlich hat sie das Fluchtgeld zusammen und zwängt sich auf den Kahn des Schleppers. Nirgendwo Schatten. Ihre Haut platzt auf. Den dritten Tag schon treiben sie auf dem offenen Meer. Das überlastete Boot lässt sich kaum manövrieren. Eigentlich wäre sie lieber weiterhin in dem Internat bei den Nonnen aus Europa. Doch die Herren ihres Landes sind grausam. Sie sparen nicht an Gewalt gegen den verabscheuten Stamm. Allen voran der Präsident.

Die beiden jungen Frauen könnten Schwestern sein. Irgendwann strandet das Boot an der Küste Italiens. Die Villen sind nicht weit. Begegnen werden sie sich vermutlich nie. Nahe sind sie sich dennoch. Verantwortungsträger vergehen sich an der Generation Zukunft. Eingesetzt, um in ein besseres Dasein zu führen, verführen sie lieber die ihnen Anvertrauten.

Opfer wird es immer geben. Jede Epoche hat ihr Areal des Unfassbaren, ihren Ground Zero. Vielleicht reißen die momentanen Krisen nicht schonungsloser in Abgründe als jene von gestern und vorgestern. Die Stürme aller Jahrhunderte ähneln sich. Das Gefühl der Fassungslosigkeit entsteht heute aber im Blick auf die Männer am Steuer und auf der Kommandobrücke. Oft gehen sie nicht als Letzte von Bord, sondern als Erste. Ihr Rettungsboot bietet allen Komfort. Sie spielen hoch, aber ohne eigenen Einsatz. Verspielt sind dann eben die Biographien derer, die ihnen vertraut haben, ihnen anvertraut waren. Selbst irgendwann und irgendwie gekränkt, misshandeln sie lieber weiter, statt den Teufelskreis zu zerbrechen. Als Marionetten spüren sie ihre Defizite am wenigsten. Auf ein solches Vakuum an Autorität lauert der Faschismus wie ein ausgehungerter Wolf. Sind die Leitfiguren und Lichtgestalten wie Dominosteine in einem Skandal gekippt, schlägt die Stunde eines neuen Führers. Die selbst fabrizierte Makulierung der Mächtigen ist kein Kavaliersdelikt. Ihr Versagen verschleißt Vertrauen. Der Glamour ihrer Abgänge blendet den Blick auf die wirklichen Untergänge. Ihre Kaltschnäuzigkeit lässt eine Kultur des Miteinanders abkühlen bis zur Erfrierung. Sie setzen aufs Spiel, was ihnen nicht gehört: „eines jeden einziges leben“ (Reiner Kunze).2 Die Krise der Macht im Einundzwanzigsten Jahrhundert ist vor allem eine Krise der Mächtigen.

Deshalb gilt: aufhorchen, aufmerksam werden und aufsehen, wenn jemand anders handelt, eine Alternative lebt und zu überraschenden Sätzen fähig ist: „Was die ,Elite‘ von der ‚Masse‘ scheidet, ist nur die Forderung nach Qualität. Und dies in einer Verantwortung für alle allen gegenüber und für die Vergangenheit der Zukunft gegenüber, eine Verantwortung, welche eine demütige und spontane Integration im Lieben spiegelt – in dessen unendlicher Perspektive und niemals wiederkehrendem Jetzt.“3

Es ist an der Zeit, sich an Dag Hammarskjöld zu erinnern. Er verkörpert eine Alternative. Die Beschäftigung mit ihm ist kein Akt von Denkmalpflege. Er lässt sich nicht wegsperren in die Abteilung für moralische Staatsmänner, an denen Besucher des Wachsfigurenkabinetts in sicherem Abstand vorbeigeführt werden. In ihm kehrt die Kategorie des Angemessenen in die politische Sphäre zurück. Er gibt das Menschenmögliche für die Menschlichkeit. Seine Intelligenz versucht sich an den unlösbaren Konflikten des Globus. Der Schliff eines alten Adelsgeschlechtes dient ihm zur subtilen Taktung einer zielorientierten Diplomatie. Als leidenschaftlicher Leser verhundertfacht er die Linien seines eigenen Horizonts. Die Exzellenz seiner Bildung befähigt ihn, innovativ zu denken und werthaltig zu handeln. Lange bevor sie in der Psychotherapie aus uralten Traditionen neu konturiert wird, lebt er die Achtsamkeit. Seine persönlich konzipierte Neugestaltung eines interreligiösen Meditationsraums im New Yorker UNO-Gebäude und seine Tränen um einen Affen während seiner letzten Mission entspringen derselben Quelle. Nicht die Anzahl der Jahre, sondern ihre Sinnhaftigkeit sind ihm wichtig. Wer sein Leben früh verliert, kann dennoch sein Ziel erreichen. Dag Hammarskjöld hat den Tod akzeptiert und für das Leben gearbeitet. Bis zuletzt. „Noch einige Jahre, und dann? Das Leben hat Wert nur durch seinen Inhalt – für andere. Mein Leben ohne Wert für andere ist schlimmer als Tod. Darum – in dieser großen Einsamkeit – diene allen. Darum: wie unbegreiflich groß, was mir geschenkt wurde, wie nichtig, was ich ,opferte‘.“4

Ihn zu erfassen, ja, zu verstehen fällt nicht leicht. Unter Bäumen wäre er als Tiefwurzler anzusehen. Vieles bleibt rätselhaft, manches geheimnisvoll. Das macht ihn posthum zur Projektionsfläche mitunter obskurer Weltdeutungen. Ein Glücksfall ist dabei nur, dass er selbst eine Art Logbuch seiner Reise geschrieben hat. Dem tabellarisch erfassbaren Lebenslauf stellt dieses Tagebuch prägende Erfahrungen und leitende Gedanken zur Seite. Radikal bis zur Selbstentblößung, analytisch und fromm, flüstern diese wenigen Seiten die innere Verortung eines Politikers, der das Chaos der Welt eindämmen wollte. Memoiren sind dies nicht, keine Reflexionen und Maximen eines erfolgreichen Politikers, sondern Fragmente unbedingter Menschlichkeit. Events und Erfolge bleiben außen vor. Ein Andeuter, ein Spurensucher und Zeichenleser schreibt darin von sich, als gehe es nicht um ihn. Statt eines Ghostwriters hofft er dabei auf den Geist aus der Höhe, der – im Sinne Augustins – ein unruhiges Herz irgendwann ankommen lässt. Für Dag Hammarskjöld gilt: „Vorbild ist, wer auch tapfer ist vor sich selbst.“5 Was hat es auf sich mit diesem Globalisierer des Friedens? Wer war dieser Brückenbauer zwischen Staaten und Völkern, der nachts Bücher übersetzte? Wie kam er zu einer Überzeugung wie jener: „Durch Unrecht – niemals Recht. Durch Recht – niemals Unrecht“?6

… ein Schimmer Gold in dem Eisengrau

Schweden ist seine Heimat. In der malerischen Landschaft um den Vättersee erhebt sich die Villa Liljeholmen. Dort bringt Agnes Almquist-Hammarskjöld am 29. Juli 1905 ihren vierten Sohn zur Welt. Seine Vornamen vernetzen ihn mit Vorfahren: Dag Hjalmar Agne Carl. Traditionen erweisen sich in dieser Familie als Ressourcen. Die Familie der Mutter entwickelt sich im Spätmittelalter aus agrarischem Milieu. Bald werden aus zinspflichtigen Bauern Männer in leitenden geistlichen Ämtern, Professoren, Abgeordnete des Reichstages und Künstler. Carl Jonas Love Almquist, 1793 geboren, ist ein Virtuose in der Kunst, mit Sprache schöpferisch umzugehen. Dag Hammarskjöld setzt dieses schriftstellerische Erbe in der grandiosen Verknappung und Präzision seiner Tagebuchminiaturen fort. Das breit gefächerte Engagement der väterlichen Vorfahren wurzelt in einem der alten Adelsgeschlechter Schwedens. Aus Småland im Süden Schwedens stammend, wurde es als einhundertfünfunddreißigste Familie in das Ritterschaftshaus eingeführt. Familie Hammarskjöld lebt elitär und engagiert, bleibt nicht bei dem Erreichten stehen. Nicht hinterfragbare Privilegien ersetzen sie durch Bildung. Das überschaubare Reich ihrer Anwesen tauschen sie gegen Komplexität einer modernen Gesellschaft. Statt eines zufriedenen Ausblicks auf das Gut und die Güter sehen sieHunger und Krieg. Sie sind keine Heiligen, aber beseelt von einem Ethos. Niemals machen sie es allen recht. Ihre Leidenschaft gilt dem Versuch, es richtig zu machen. Das Risiko wahrgenommener Verantwortung ist ein ungleich höheres als die Wahrnehmung alter Vorrechte. Hjalmar Hammarskjöld, der Vater, setzt mitten im Ersten Weltkrieg die Rationierung von Lebensmitteln durch. Die Einschränkung sollte das Überleben sichern. Viele sehen aber in ihm den verabscheuungswürdigen Räuber des Nötigsten. Als Dag Hammarskjöld 1953 den Sitz des verstorbenen Vaters in der Schwedischen Akademie einnehmen soll, kommt er in seiner Antrittsrede auf dieses Dilemma zu sprechen: „Ein reifer Mann ist sein eigener Richter. Am Ende ist seine einzige feste Stütze die Treue gegenüber der eigenen Überzeugung. Die Ratschläge anderer mögen ihm willkommen oder wertvoll sein, aber sie befreien ihn nicht von seiner Verantwortung. Daher kann er sehr einsam werden, daher muß er auch mit offenen Augen das Risiko auf sich nehmen, einer halsstarrigen Selbstgenügsamkeit beschuldigt zu werden. Als sich der Krieg in die Länge zog und die Schwierigkeiten zunahmen, wurde dies Hjalmar Hammarskjölds Schicksal.“7 Die Einsamkeit in einem hohen Amt wird der Sohn auszukosten haben bis zu dem verlassenen Tod amEnde einer Dienstreise. Das Alleinsein aber spürt er von Kindheitstagen an. Er stammt aus derselben Wurzel und ist doch nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt wie sein Vater. Die unbeirrbare Härte und Zielgerichtetheit vieler seiner Verwandten als Generäle, Minister und Diplomaten mischt sich in ihm mit der vibrierenden Sensibilität seiner Mutter. In dem Jungen wächst eine weit verzweigte Innenwelt als Pendant zu der Fähigkeit, Außenwelt zu gestalten. Strukturiert der Vater das Familienleben durch wiederkehrende Riten und verbringt die Ferien oft allein, wird der Sohn gar keine Familie gründen. Schreitet der Vater im schwarzen Frack und Zylinder auf dem eingeschlagenen Weg der Pflicht, so ist der Sohn ein Wanderer. Schwäche, so könnte man vermuten, Schwächung, das Buddenbrook-Syndrom8 eines fortschreitenden Verfalls. Es ist anders. In Dag Hammarskjöld erlischt die Tradition des Politikers als Titan, der sich mit eisernem Willen gegen Mächte und Gewalten stemmt. In ihm konturiert sich ein alternativer Typus eines Entscheidungsträgers: diszipliniert, kompetent, bis ins Detail informiert, die Komplexität der Probleme anerkennend. Die Kraft kommt nicht länger aus der eigenen Persönlichkeit, sondern aus einem Weltethos, an dem der Politiker teilhat. Eigene Schwäche steht nicht mehr im Widerspruch zu effizienten Strategien. Ehrlichkeit und Ernst sind die einzigen Begleiter in die Arena.

Eine Schwarzweißaufnahme von 1920 zeigt vier junge Männer in edler Kleidung, vornehm gestylt, die Dezenz des Adels. Dag passt ins Bild. Er ist der Jüngste dieser vier Brüder, aber kein Außenseiter. Ihre Blicke sind offen, analytisch wach und dialogisch. Ein Quartett der Verfügbaren bilden sie, nicht martialisch, aber maskulin. Die Fotografien seiner frühen Kindheit sprechen eine andere Sprache. Blonde Locken fallen bis auf die Schultern. Ein zweireihiger Mantel, eine weiße Kappe voller Eleganz und schmale Schuhe machen aus dem vierten Sohn visuell eine erste Tochter. Solche Transformationen durch Kleidung und Frisur sind keine Seltenheit um die Jahrhundertwende. Vielleicht wird der vierte Sohn zur Projektionsfläche des Weiblichen, das in der strengen Kühle des Patriarchats zu erfrieren droht. Wie ein Langstreckenläufer nach einem verpatzten Start gelingt es ihm dennoch, an die intellektuellen und kulturellen Vorgaben seiner Brüder anzuknüpfen. Seine sexuelle Identität bleibt ihm rätselhaft. Nacktheit findet sich in etlichen Notaten seines Tagebuchs. Ein einzelner Mensch tritt schutzlos den Wirklichkeiten des Daseins gegenüber. Manchmal bedeutet nackt dann auch: frei. Ein Garant für Partnerschaft ist dies nicht. Seine Biographie sieht ihn bis zu deren Tod 1940 im Umfeld seiner Mutter. In der permanenten öffentlichen Wahrnehmung als Generalsekretär erreichen ihn viele Gesten des Verliebtseins. Er kann auf dieser Klaviatur spielen – wählt aber stets nur die kleine Form, den Walzer, die Kunst des Augenblicks. Ein lebenslanges Duett stimmt er nicht an.

Zu den Begleiterinnen und Begleitern seiner Nächte werden Bücher. Im Februar 1923 besteht er siebzehnjährig das Abitur mit hervorragenden Noten. Längst ist er ein leidenschaftlicher Leser geworden. Er bleibt es, wenn sich auch Akten auf seinem Schreibtisch türmen. Sein Verständnis des Menschen sensibilisiert sich an der radikalen Ehrlichkeit zeitgenössischer Autoren. Als Student belegt er Literaturgeschichte, Erkenntnistheorie, Französisch und Nationalökonomie. An die eigentlichen Studien dockt er Lesezeiten an. So wird er vertraut mit Texten von Joseph Conrad, Thomas Wolfe, Hermann Hesse, Thomas Mann, Emily Dickinson und Katherine Mansfield, aber auch mit den Thesen und Theorien von Oswald Spengler, Karl Marx und Sigmund Freud.

Sein Gespür für Bauwerke als Orte des Angemessenen und des Geheuchelten, des Offenen und des Intriganten, der Gastfreundschaft und der Vereinsamung bildet sich in den Räumen seiner Jugend. Als Oberpräsident veranlasst der Vater einen Umzug der Familie nach Uppsala. Das dortige Schloss geht auf Gustav Wasa (1545) zurück. Riesig in seiner Ausdehnung und doch ein Fragment, denn nur zwei der vier Türme werden ausgeführt. Prunkvoll und repräsentativ, zugleich gezeichnet von hungrigen Bränden und versäumten Ausbesserungen. Mittendrin bewohnt die Familie eine Wohnung. Den Jungen öffnen sich viele Wege und Einsichten. Vielleicht wird ihm das Schloss zu einem Sinnbild in seinem späteren Engagement für ein Haus der Welt. Das Große ist auch das Gefährdete. Die Dimensionen finden ihr Maß am Menschlichen. Man kann fasziniert und besonnen zugleich sein. Er liest diese Einsichten nicht als mahnende Feuerschrift an den Wänden. Sie sickern in ihn ein, werden Teil seines mentalen Grundwassers, Quelle für Mut und Bescheidenheit. 1927 hält er die Festrede zum dreihundertjährigen Jubiläum seiner Studentenverbindung. Zeitlebens wird er diese Form der Rhetorik und Kommunikation nutzen. Sie erlaubt ihm den Transfer auch komplexer Zusammenhänge und ist doch näher am Empfänger als ein schriftliches Statement. Die Zuhörerschaft kann Anlass zur Nervosität sein, bietet aber die Chance der Unmittelbarkeit. Redner und Rede verschmelzen vor ihren Augen und Ohren. Dringt etwas hindurch, setzt es sich vielleicht mit Nachhaltigkeit fest. Die jährlichen Rechenschaftsberichte vor der Vollversammlung der UNO wickelt er nicht gelangweilt ab. Seine Vision einer ethisch verorteten Politik findet darin ihre Konkretion. Die Ausschläge des Pendels können nur mit Bewunderung wahrgenommen werden: hier die vollen Ränge, die vollen Säle, der Wald von Mikrophonen, dort der Rückzug in die Leere Lapplands, in die Weite des Wesentlichen. Hier der Applaus, dort das Schweigen, hier die Details und dort die Abstraktion. Hammarskjöld wird kein Star und kein Eremit. Das Faszinierende seines Wirkens besteht auch in der geschmeidigen Vereinigung des Unvereinbaren. Er nimmt das Laute mit in die Stille und ergreift aus ihr neu das Wort.

Meine Mittelmäßigkeit erkennen