Damit wir uns verstehen! - Markus Muliar - E-Book

Damit wir uns verstehen! E-Book

Markus Muliar

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Beschreibung

Wenn Fritz Muliar, der "alte König", die Bühne der Familie betrat, nahmen alle, auch sein Enkel Markus, die ihnen zugedachten Rollen ein. Die Beziehung zu Großvater Fritz, dem österreichischen Volksliebling und Kammerschauspieler, war von Ehrfurcht und Sehnsucht, von schmerzhafter Sprachlosigkeit und Distanz geprägt. Als Markus Muliar die Tagebücher seines Großvaters entdeckt, beginnt er zu verstehen, warum es so schwierig war für Fritz und seine Generation, über das Erlebte, Erlittene und Empfundene zu sprechen, und welche Folgen dieses Schweigen bis heute für die Enkelgeneration hat. Was steckte hinter den heroisierenden Erzählungen, den bagatellisierten Vorfällen und dem erstickenden Schweigen, das das Leben mit dem Großvater beherrschte? Die Einzelhaft im französischen Auxerre, die erste große Liebe im Wien der Vorkriegszeit, die Schrecken der Front - Fritz Muliar wollte sie verdrängen und vergessen. Er sonnte sich in seinen Erfolgen, die ihn in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zum Star machten, eine Zeit, die Markus Muliar als Kind miterlebte. In dieser einfühlsamen autobiografischen Erzählung zeigt Markus Muliar auf, wie das Verdrängte dazu führte, dass Großvater und Enkel nie zu einer emotional herzlichen Beziehung finden konnten - ein Schicksal, das viele Familien kennen.

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MARKUS MULIAR

MEIN GROSSVATER UND ICH

geschrieben von Karin Heim

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-218-00981-2 Copyright © 2015 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien Alle Rechte vorbehalten Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus Fotos auf dem Schutzumschlag: Sabine Hauswirth; Axel Zeininger, Privatarchiv Markus Muliar Typografische Gestaltung und Satz: Sophie Gudenus Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Inhalt

I. VORHANG AUF

II. VERSCHWORENE GESELLSCHAFT

III. DER ALTE KÖNIG

IV. REISE NACH FRANKREICH

V. UND JETZT ICH

VI. AN DICH, MUTTERAus Fritz Muliars Tagebüchern

VII. EPILOG

Danksagung

Für meinen Operper!

I. VORHANG AUF

Die Erinnerung ist ein Produkt der Zwischenzeit.

Stefan Karner

„Fröhliche Weihnachten! Ihre Marika Rökk“

Diese Grußbotschaft war das Erste was ich sah, als ich den überdimensionierten Schuhkarton öffnete, den mir mein Großvater im Alter von fünfzehn Jahren mit den Worten: „Vielleicht kannst später einmal was damit anfangen“ in die Hand gedrückt hatte. Er war damals unbesehen in einer Ecke gelandet, um erst zwanzig Jahre später durch Zufall wieder zum Vorschein zu kommen. Als mir die verstaubte Schachtel, im wahrsten Sinne des Wortes und aus dem obersten Regal des alten Vorzimmerschranks, wieder in die Hände fiel, konnte ich mich schon gar nicht mehr an sie erinnern. Ebenso vorsichtig wie neugierig hob ich den Deckel an. Mir strömte leicht verstaubte Luft entgegen, die sich über viele Jahre im Inneren der Schachtel gesammelt hatte. Mit dem feinen Geruch von altem Papier und Druckerschwärze atmete ich auch etwas ein, das ich vergessen geglaubt hatte. Es roch nach meinem Großvater.

Nie werde ich den Eindruck vergessen, den der erste Anblick der vielen vollgeschriebenen, vergilbten losen Zettel, Briefe und Schreibblöcke, Zeile um Zeile mit seiner Handschrift gefüllt, auf mich machte. Das Entdecken und Erforschen des Schachtelinhalts geriet für mich, wie Alices Sturz in den Brunnen, zu einer Reise in ein Wunderland, das ich nie erwartet hatte und das mich als einen anderen zurückkommen ließ. Ich fiel in eine Welt, die ich zuvor nicht zu kennen vermochte, und je mehr ich mich damit beschäftigte, desto mehr verschlang mich die Geschichte – meine eigene.

Meine Urgroßmutter Lea hatte vor fast hundert Jahren damit begonnen, in dieser Schachtel Briefe, darunter auch solche meines Urgroßvaters, Urkunden und Fotos aus ihrem Leben und dem meines Großvaters zu sammeln. Vor allem aber hatte sie Briefe aufgehoben und auch Tagebucheinträge. Vorsichtig und voller Respekt für die wunderbare Einzigartigkeit dieses Fundes begann ich Schicht für Schicht abzutragen, arbeitete mich immer tiefer durch Postkarten, Briefe, Dokumente, fand einen von ihm dichtbeschriebenen Schreibblock, übertitelt mit „An Dich, Mutter“. „Glaub mir ja keiner, der diese Zeilen liest, dass ich hier ein Tagebuch anlegen will, in dem ich der Umwelt all das eröffne, was meine Seele und mein Inneres bewegt.“ Mit diesen Worten begannen die Tagebuchaufzeichnungen meines Großvaters. Ich betrachtete eingehend Familienfotos, Engagementabrechnungen, Spielpläne aus dem Simpl, und dann fiel mir das erste Programm mit Hakenkreuz in die Hände, ein KdF-Veranstaltungsprogramm für einen „Bunten Abend“ 1940. Meine Großmutter hatte alles gesammelt und aufgehoben, was ihren Sohn betraf.

Je weiter ich in diese Kiste voll Vergangenheit eindrang, desto mehr eröffnete sich mir meine eigene Geschichte. Ich bekam Antworten auf Fragen, die ich nie gestellt hatte. Und wie Alice fiel ich immer tiefer, tauchte ein in eine Welt, die ich mir niemals vorgestellt hatte. Meine Familie hatte immer vorausgesetzt, dass ich alles wüsste – aber niemand machte sich Gedanken darüber, wie dieses Wissen zu mir kam. Man spielte nicht mit mir Schach, weil ich es nicht konnte. Es wurde von mir erwartet, Dinge zu können und zu wissen, die mir niemand beigebracht hatte. Es wurde erwartet, dass ich mir alles selbst beibrachte. Wenn ich etwas nicht wusste, wurde man ärgerlich. In meiner Kindheit hatte ich das ständige Gefühl einer Holschuld, ohne zu wissen, was es denn genau war, das ich holen sollte. Wenn man nichts weiß, kann man auch nicht die richtigen Fragen stellen. Ich hätte mir gewünscht, dass die älteren Generationen ihr Wissen auch ungefragt mit mir geteilt hätten. Ihre Erfahrungen auch ungefragt weitergegeben hätten. Mit einem Schauspieler in der Familie gelebt zu haben bedeutet nicht, dass man selbst schauspielern kann, zu wissen, dass Krieg war bedeutet nicht, zu wissen, wie er sich anfühlte und was er aus einem macht. Als Kind von jüdischen Freunden und Bekannten umgeben gewesen zu sein heißt nicht, dass man ihre Geschichte und Geschichten kannte. Einer der Lieblingssätze meines Vaters war: „Meine angeborene Bescheidenheit verbietet es mir, mit meinem Wissen zu protzen.“ Nun wünsche ich mir, er hätte es doch getan und sein noble Zurückhaltung weniger gepflegt – vielleicht hätte ich vieles schon früher verstehen können, auch ihn. Ich habe meinen Vater nach seinem Tod zu schnell vergessen, und mein Großvater gab mir als Ersatz für Gespräche eine Kiste voller Erinnerungen, Gefühle und Gedanken. Zwanzig Jahre lang war sie gut verstaut, erst jetzt habe ich sie geöffnet.

Der Inhalt dieser Kiste und was er in mir auslöste war der Beweggrund, dieses Buch schreiben zu wollen. Der Anstoß, es auch wirklich zu tun, erfolgte schon bald darauf, als es zu einer Begebenheit kam, die mir zeigte, dass die Zeit reif war, unsere Geschichte aufzuschreiben. Als nämlich meine Mutter bei einem Theaterbesuch für die Pause am Buffet Sekt und Brötchen auf unseren Namen vorbestellt hatte und wir dort bei unserer Ankunft im Pausenraum alles vorbereitet fanden … auf den Namen JULIA.

Da ist etwas in mir passiert.

Den Namen Muliar hochzuhalten war oberstes Gesetz, man redete nicht über Dinge, die einen Schatten darauf werfen hätten können. Dass ich meinen Namen immer öfter buchstabieren musste, daran hatte ich mich in den letzten Jahren schon gewöhnt. Doch nun war der Bann gebrochen. Wir, die wir uns unter diesem Namen versammelt hatten, waren Geschichte geworden. Nun war es mir erlaubt zu erzählen, zu schreiben, zu berichten. Es war mir erlaubt, einen Blick auf die Geschichte zu werfen, meinen Blick. Ich konnte mir erlauben, dieses Buch zu schreiben.

Resümieren bedeutet für mich, „etwas fassen zu wollen“. Die Beziehung zwischen Großvater und Enkel war nicht einfach und ich habe Fragen, die er heute nicht mehr beantworten kann – die er aber auch im Leben nicht hätte beantworten wollen oder auch können, wenn ich sie ihm damals schon gestellt hätte.

So bin ich gezwungen, mir meine eigene Geschichte zu machen, selbst die Lücken zu füllen. Die einzelnen Geschichten und Anekdoten sind interessant oder auch unterhaltsam – zum großen Ganzen fehlt aber doch immer etwas. Dieses Buch enthält erzählte und erlebte Geschichte und Geschichten, und auch von ihm selbst aufgezeichnete Gedanken und Gefühle, die mir geholfen haben zu verstehen und zu erkennen.

II. VERSCHWORENE GESELLSCHAFT

Ich bin nicht verrückt – meine Wirklichkeit ist nur eine andere als deine.

Lewis Caroll, Alice im Wunderland

Verworren

Mit 27 Jahren bekam meine Mutter innerhalb von drei Monaten zwei Kinder. Meine Schwester und mich.

Unsere leibliche Mutter hatte ein Jahr davor beschlossen, dass ein Familienleben doch nicht ihren Vorstellungen entsprach und meinen Vater mit uns beiden Kindern, damals sieben und drei Jahre alt, sitzen gelassen. Sie hatte einen Sohn geboren, damit war ihre Pflicht getan. Ursprünglich wollte sie, damals junge Journalistin, durch ihre Heirat wohl ihrer strengen, reichen Familie entkommen und eine Künstlerehe führen. Mein Vater Hans war zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens nur ein junger Juwelier gewesen, mit kreativer Begabung und dem Talent, Menschen für sich einzunehmen. Doch verhalf ihm dies schon bald zu Erfolg und er erwartete, dass sie den Platz an seiner Seite in einer Gesellschaft einnahm, die kaufkräftige Kunden verhieß. Sie gab ihren Beruf auf, erlernte das Goldschmiedehandwerk und brachte es innerhalb weniger Jahre zum Meister darin. Mein Vater machte sie zum Kompagnon in der Werkstatt und benannte das Atelier in der Wiener Innenstadt in Doris und Hans Muliar um.

Wieder in das Korsett gesellschaftlicher Repräsentationspflichten eingeengt zu werden, erschien ihr auf Dauer jedoch unerträglich. „Hätte ich im Wald spazieren gehen wollen, wäre ich ein Reh geworden“, meinte sie damals. Waren Arbeit und Familie für meinen Vater eine Einheit, so empfand sie diese Vermischung als ausgesprochen belastend und fühlte sich von ihm im Stich gelassen. Freiheit und Selbstverwirklichung erschienen ihr ab einem gewissen Punkt, um genau zu sein nach drei Jahren Ehe, erstrebenswerter – ein Leben ohne Familie und Kinder verlockender.

Ich war damals zu klein, um diesen Umstand zu begreifen oder auch zu bedauern, und bin bis zum heutigen Tag sehr glücklich über diese Entwicklung, denn sie bescherte mir meine „wahre“ Mutter Andrea. Sie war die beste Mutter, die ich mir nur wünschen konnte – und zweifellos eine bessere als es mir meine biologische Mutter jemals war. Andrea ist und bleibt auch die einzige, die ich als „Mutter“ bezeichne – obwohl ich sie bis heute beim Vornamen nenne.

Dass Kinder nicht von ihren eigenen Eltern aufgezogen werden, hatte in unserer Familie allerdings so etwas wie Tradition. Es zieht sich einem roten Faden gleich durch unsere Geschichte und verbindet uns so auf eine gewisse Art und Weise.

Meine Großmutter wohnt in einem Schloss

Von meinem Verständnis her waren nicht nur die Eltern, sondern auch die Großeltern getrennt, denn meine Großmutter hatte ihren Peppino und mein Großvater seine Franzi.

Meine Großmutter Gretl wohnte im Schloss Laxenburg, dem ehemaligen Wohnsitz des unglücklichen Habsburger Kronprinzen Rudolf und seiner Gemahlin Stephanie von Belgien, wenige Kilometer außerhalb der Stadtgrenze von Wien. Ich kann mich noch gut an unsere Ausflüge zur Großmama erinnern. Wenn uns der Parkwächter freundlich durch das große schmiedeeiserne Tor winkte, hatte ich als kleines Kind immer den Eindruck, meine Großmutter wäre mindestens Schlossherrin. Ihrem Gehabe nach hätte sie das auf jeden Fall sein müssen. Tatsächlich jedoch gehörten die Räume der Gemeinde Laxenburg: eine dunkle Mietwohnung im Erdgeschoß, gleich neben den ehemaligen Stallungen gelegen, mit zwei Meter dicken Wänden, in denen früher die Bediensteten des Schlosses untergebracht gewesen waren.

Mein Großvater hatte Gretl nach seiner Entlassung aus der englischen Kriegsgefangenschaft in Graz kennengelernt und recht flott geheiratet. Sie war damals eine sehr schöne junge Frau aus gutem Hause mit schauspielerischen Ambitionen; ein altes Postkartenfoto aus der Zeit ihres Kennenlernens zeigt Fritz und Gretl gemeinsam auf der Bühne. Auf die Rückseite hatte sie für ihn geschrieben: „Damit du dich an mich erinnerst wenn ich einmal berühmt bin.“ Mein Großvater feixte schadenfroh, als er mir die Karte zeigte, denn eine Berühmtheit wurde sie zu ihrem unendlichen Bedauern nie. Aus ihrer ersten Ehe brachte Gretl ihren vierjährigen Sohn Heinz mit, der uns und meinem Großvater viele Jahre lang als „echtes“ Familienmitglied eng verbunden blieb. Ein Jahr später kam mein Vater, „Hansi“ genannt, zur Welt – weitere vier Jahre später betrachteten meine Großeltern ihre Beziehung als gescheitert und ließen sich wieder scheiden. Hansi landete bei der Mutter seines Vaters, Halbbruder Heinz lebte ebenfalls schon bei seiner Großmutter.

Als verhinderte Schauspielerin, laut meinem Großvater in Ermangelung von Talent, fand sie Mittel und Wege, sich im Wien der Nachkriegszeit gebührend in Szene zu setzen und damit immer gut durchzukommen. Sie hatte nach dem Krieg eine Fabrik und gleichzeitig ein großes Vermögen geerbt – das sie innerhalb relativ kurzer Zeit durchbrachte. Jede ihrer Unternehmungen hatte einen gewissen Glamour. So lieferte sie damals, als Alkohol Mangelware und nur mit guten Beziehungen zu haben war, in ihrem elfenbeinfarbenen Cabrio Whiskey an noble Wiener Innenstadtlokale wie die berühmt-berüchtigte Eden Bar und ähnliche Etablissements aus. Später lernte sie ihren Peppino kennen, der im Schweizer Tessin lebte, über viel Geld verfügte und meiner Großmutter viele Jahre lang ein Leben nach ihrem Geschmack bot. Er hatte nur einen – kleinen – Makel: Er war verheiratet und sehr katholisch, Scheidung kam für ihn nicht in Frage. Nachdem also eine Taube nicht in Reichweite war, nahm meine pragmatische Großmutter Gretl den Spatz in der Hand und lebte in einer risikobehafteten, außerehelichen Beziehung mit ihm. Ausländische Ehebrecherinnen wie sie konnten damals wegen dieses Vergehens noch aus der Schweiz ausgewiesen werden. Passiert ist allerdings nie etwas und Gretl genoss die Annehmlichkeiten, die Peppino ihr bieten konnte, in vollen Zügen. Die Wohnung war prachtvoll und hoch über dem Lago Maggiore gelegen – erreichbar war sie nur über einen Aufzug, der im Inneren des Berges nach unten führte. Man fuhr mit dem Auto hinauf auf den Berg, wo sich eine kleine Hütte befand. Diese betrat man, um in einen Lift einzusteigen, der ins Innere des Berges hinab führte. Neben der riesigen Terrasse, die zur Wohnung gehörte und einen grandiosen Panoramablick über den See und die Berge bot, gab es auch einen Indoor-Pool, der das Schwimmen im Berg ermöglichte. Ich kam mir vor wie in einem James Bond-Film, wenn wir Gretl und Peppino im Sommer besuchten, um Urlaub zu machen. Mein Vater urlaubte mit uns Kindern gemeinsam im Sommer dort, was sich für mich dann wie viele Wochen anfühlte. Vermutlich waren es aber nur einige wenige Tage, die wir in Gesellschaft meiner Großmutter verbrachten. Ich wollte nie gern Zeit mit ihr verbringen. Meine Großmutter war eine echte Salondame, die in Gesellschaft aufblühte und die Aufmerksamkeit aller Anwesenden erwartete und genoss. Anderen, und auch uns Kindern gegenüber, zeigte sie sehr wenig Gefühl und hörte prinzipiell nie zu. Sie war kein netter Mensch und hatte Ressentiments gegen meine Mutter. Da sie aber konfliktscheu war und von jedem geliebt und angehimmelt werden wollte – sogar von Leuten, die sie selbst nicht ausstehen konnte –, versuchte sie uns Kinder zu instrumentalisieren, um Andrea wieder loszuwerden. Dazu war ihr jedes Mittel recht, und als ich eines Tages von einem Besuch bei ihr nach Hause kam, fragte ich meine Mutter: „Die Omama sagt, dass alle Stiefmütter böse sind. Stimmt das?“ Von da an musste ich nicht mehr alleine Zeit bei ihr verbringen.

Wenn wir bei ihr waren, kamen immer Freunde vorbei, sodass wir alles in allem sehr bewegte Tage inmitten der Schweizer Berge verbrachten, jedoch hauptsächlich auf der Terrasse, umgeben von Erwachsenen in Partylaune. In ihr obligates, immer gut gefülltes Sektglas tat meine Großmutter dann immer schon vorsorglich eine Kopfschmerztablette – vermutlich, damit sie ausgiebig trinken konnte, ohne einen Kater zu bekommen. Bei einer ihrer Geburtstagspartys sang ihr schwarzer Beo, dessen Voliere sich ebenfalls mit uns allen auf der Terrasse befand, zum Amüsement aller Anwesenden laut „La Cucaracha“ und alle sangen mit, am lautesten meine Großmutter. Erst Jahre später kam mir einmal die Übersetzung unter und brachte mich noch einmal zum Lachen, weil ich dabei an das Geburtstagsständchen ihres Vogels dachte:

Die Küchenschabe, die Küchenschabe kann nicht mehr aufrecht gehen, denn sie hat kein, denn ihr fehlt – Marihuana zum Rauchen.

Meine Taufe fand ebenfalls in Form einer Terrassenparty im Tessin statt, Peppino übernahm scheinbar freudig meine Patenschaft. Kurz vor meinem Schuleintritt beschlossen meine Eltern, mich taufen zu lassen, um mich nicht den damals noch verbreiteten Hänseleien, oder gar – wie es meinem Vater in der Volksschule ergangen war – Repressalien auszusetzen. Er war wegen der „Mischehe“ seiner Eltern (Gretl war evangelisch, mein Großvater Fritz katholisch) in die letzte Reihe gesetzt worden. Mir sollte nichts Derartiges wegen eines fehlenden Glaubensbekenntnisses widerfahren können. Eigens für diesen festlichen Anlass wurde mir ein kleiner dunkelblauer Anzug angefertigt, ein Dreiteiler. Bei der Ankündigung des „Gilets“ brach ich in Verzweiflung aus und weinte mir zur Belustigung aller die Augen aus dem Kopf: „Ich will keinen Anzug aus Gelee!“

Leider konnte sich der gute, wohlhabende Peppino mit den schicken Sportwagen nicht dazu durchringen, sie zu heiraten – er war ja schon verheiratet – und verließ sie nach mehr als zehn Jahren für eine Jüngere. Ich glaube, es war – recht klassisch – seine Sekretärin. Seine Funktion als Taufpate legte er damit wohl auch zurück, jedenfalls hörte ich nie wieder von ihm. Gretl zog nach Wien zurück, fand eine Bleibe in Laxenburg, und erinnerte sich daran, dass sie auch hier Familie hatte. Diese forderte sie fortan gnadenlos ein, und so ging mein Vater einmal die Woche mit ihr in sein Stammlokal, das „Café Korb“, mittagessen. Er nannte es den „Muttertag“. Darüber hinaus vermied er allerdings jeden Kontakt. Er ging prinzipiell nie selbst ans Telefon, aus Angst, seine Mutter könnte anrufen. Unsere Videokamera an der Eingangstür hatten wir, entgegen dem allgemeinen Glauben, nicht aus Gründen der Sicherheit oder der Angst, überfallen und ausgeraubt zu werden, sondern vielmehr, damit mein Vater im begehbaren Schrank verschwinden konnte, sobald ihr Gesicht vor der Tür auftauchte. Dieses Verhalten zeigte Wirkung auf uns alle, auch auf mich. Wenn ich ab und an von meinen Eltern mit den Worten: „Komm Markus, jetzt rufst du deine Großmutter an“ dazu aufgefordert wurde, Enkelpflichten zu erledigen, verwählte ich mich immer absichtlich. Als ich mit einem Blinddarm-Durchbruch im Spital lag, stellte ich mich schlafend, als sie mich besuchen kam. Ihre rücksichtslose Lebensfreude war mir als Kind unheimlich.

Der Mann im braunen Jogger

„Wie kann ein so lustiger Mensch so unsympathisch sein“, meinte meine Mutter einmal, als mein Großvater sich wieder einmal unangenehm in den Mittelpunkt der Familie gespielt hatte. Weise hielt sie sich jedoch zeit ihrer Ehe im Hintergrund, bemüht, um ihres Mannes und des lieben Familienfriedens willen nicht anzuecken, und kam so leidlich gut mit ihm aus. Dieses Glück war nicht allen beschert, die im Laufe seines Lebens mit ihm zusammentrafen, galt er doch schon zu Lebzeiten nicht gerade als Menschenfreund.

Mein Großvater trat als Mann im braunen, samtigen Jogging-Anzug in unser Wohnzimmer und in mein Leben. Nach den Probearbeiten am Burgtheater kam er immer so gewandet zu uns nach Hause, um einen Mittagsschlaf zu halten. „Die Werkstatt“ wurde ja immer und von allen, Verwandten, Freunden, Kunden, gerne einmal „auf einen Sprung“ besucht. Dass wir dort auch wohnten, war von keinerlei Bedeutung. Heute würde man das wohl „Open House“ nennen, allerdings fand es bei uns täglich statt.

Mein Großvater war damals wohl fast schon auf dem Zenit seiner Karriere und ein sehr bekannter Theater- und Filmschauspieler. Die harten Jahre seiner Jugend waren lange vorbei – und die mageren 50er und 60er Jahre auch. Seine Popularität und vor allem der finanzielle Erfolg waren erst recht spät, und mit dem „Schwejk“ gekommen, dessen beide Teile 1968 und 1972 gedreht wurden. Diese Rolle machte ihn berühmt und im gesamten deutschen Sprachraum bekannt und beliebt. Der „Schwejk“ war eine Zäsur im Leben der gesamten Familie Muliar – der Erfolg hat ihn und damit uns alle verändert. Seine Freunde sagen mir bis heute, dass er durch diesen Höhenflug ein anderer geworden war. Auch unser Hund hieß Schwejk. Er schaute immer so lieb traurig.

Als ich geboren wurde, war er bereits „der“ Muliar, und er war auch in der Familie ein Star. Wir Kinder mussten immer höflich sein, er war distanziert zu uns. Ich kann mich nicht erinnern, jemals auf seinem Schoß gesessen zu haben. Ich kenne nur ein Foto, in dem er mich im Arm hält – das wurde 1977 für eine Illustrierte gemacht, als ich elf Monate alt war. Mit Kindern konnte er nicht viel anfangen. Das war schon bei meinem Vater so, den er in die Obhut der Großmutter gab. Für seine Söhne Alexander und Martin hatte er sich mit seiner zweiten Frau Franziska zweifellos eine bessere Mutter ausgesucht. Wann immer möglich, floh er aber vor der Lebhaftigkeit der Kinder und der dadurch entstehenden Unruhe im Haus ins Kaffeehaus, um seine Ruhe zu haben. Die dortige Lärmkulisse hingegen störte ihn überhaupt nicht. Und bei uns Enkeln war es natürlich genauso. Dem Opapa jauchzend in die Arme zu stürzen wäre undenkbar gewesen. Wenn er da war, schlichen wir auf Zehenspitzen durch die Wohnung, um ihn nicht zu stören und nur ja nicht seine Aufmerksamkeit zu erregen, denn das ging zumeist nicht gut für uns aus.

Der größte Unsicherheitsfaktor bei seinen Besuchen war, dass man nie wusste, welcher Fritz Muliar da bei der Tür hereinkam. Manchmal war er gütig, toll und konnte unglaubliche Dinge erzählen. Er konnte, mit Erwachsenen, sehr angeregt plaudern und ein interessanter Gesprächspartner sein. Dann war er witzig und charmant und wusste genau, was gut ankam bei seinem Gegenüber. Leider war er aber vor allem dann gut gelaunt, wenn er im Ausland auf Tournee unterwegs war. Zuhause war er von jeher eher grantig. Was vor allem die weiblichen Mitglieder unseres Familien- und Freundeskreises unangenehm berührte, war, dass sein Frauenbild mit zunehmendem Alter immer schlechter wurde. Männergesellschaft war ihm lieb, das Konzept gemischtgeschlechtlicher Freundschaft war ihm unbekannt und auch völlig unnötig in seinen Augen. Frauen waren für ganz bestimmte Dinge da, Männer für andere – und das war gut so. Im Alter hatte er an Frauen auch immer etwas auszusetzen, an den Frauen seines Sohnes sowieso. Was auf Gegenseitigkeit beruhte, denn auch mein Vater mochte die Frauen meines Großvaters nicht. Wohl vor allem weil sie, im wahrsten Wortsinn, Fremdkörper in der Beziehung der beiden waren. Etwas, das sie als trennend empfanden. Ihre gemeinsame Erziehung durch Lea hatte die beiden wie Brüder zusammengeschweißt. Lea war die große Gemeinsamkeit im Leben von Vater und Sohn, denn die gleiche Mutter zu haben schafft sicher eine sehr spezielle Situation. Zwischen den „Vata“ und seinen „Hansi“ passte kein Blatt Papier – sie waren vielmehr wie Brüder. Viele, die sie kannten, aber auch die beiden selbst waren der Ansicht, dass sie füreinander Lebensmenschen waren. Das tägliche Telefonat war selbstverständlich, jede Neuigkeit, alles was sie bewegte, wurde zuerst mit dem anderen geteilt. Mein Großvater wusste, dass er, wann auch immer, bei seinem Sohn auftauchen konnte, und seine Erwartung, dass jemand für ihn da war, nie enttäuscht wurde. Auch wenn sie nicht immer einer Meinung waren, respektierten sie die des anderen und fanden immer wieder schnell zu ihrer gewohnten Innigkeit. So teilten sie Dinge miteinander, von denen alle anderen ausgeschlossen blieben.

Bei aller Gemeinsamkeit gingen sie aber doch immer wieder mit gewissen Themen unterschiedlich um. Werte standen für Emotionen, und sowohl mein Vater als auch mein Großvater waren auf diese Weise sozialisiert worden. Dies könnte durch die Erfahrung von Mangel, die mein Großvater während der Kriegsjahre gemacht hatte, ausgelöst worden sein, vermutlich aber auch zum Teil durch meine Urgroßmutter Lea, bei der ja beide aufgewachsen waren. Lea hatte einen sehr spezifischen Standpunkt zu materiellem Reichtum: Er machte sie absolut glücklich. Eine Anekdote, die sie sehr gut charakterisiert, erzählte mein Vater immer wieder gerne: Als sie gegen Ende ihres doch recht langen Lebens – sie wurde einundachtzig Jahre alt – schon sehr krank war, mussten er oder Fritz ihr immer wieder ihre lederne, mit Samt ausgeschlagene Schmuckschatulle bringen. Sie residierte damals bereits ausschließlich in ihrem Bett und leerte dann ihren gesamten Schmuck auf die Bettdecke. Danach sortierte sie ihn so lange, bis sie sich beruhigt hatte, legte alles an und schnaufte dann zufrieden: „Jetzt geht’s ma gleich besser!“

Mein Vater hat darunter gelitten und ist vielleicht auch deshalb Juwelier geworden, um sich seine Emotionen in Form von Preziosen selbst zu schaffen – und natürlich, um sein kreatives Talent zum Ausdruck zu bringen. Hochzufrieden war er, wenn er nach dem Verkauf eines Schmuckstückes nach Hause kam und sagen konnte: „Davon können wir jetzt einen Monat leben.“

Geld behandelten die beiden Männer denkbar unterschiedlich. Mein Vater trug sein Bargeld stets akribisch sortiert, die Scheine nach Größe geordnet und mit der Vorderseite nach oben gefaltet, in seiner Geldspange. Bei wiederkehrenden Gelegenheiten nahm er seine Geldspange heraus, um diese Ordnung zu überprüfen und bei Bedarf zu sortieren oder neue Geldscheine sorgfältig einzuordnen. Auf wundersame Weise hatte er auch niemals alte, durch den Gebrauch vieler Hände weich gewordene Geldscheine bei sich. Mein Großvater hingegen verwahrte sein Geld in der Hosentasche und immer in Form eines unsortierten Haufens, den er dieser dann lose entnahm. Immer wieder sortierte mein Vater im „Gutruf“ während des gemeinsamen Mittagessens mit dem Großvater dessen Scheine und ordnete sie kopfschüttelnd in die Geldspange, das ließ er sich nicht nehmen.

Während mein Vater für sich und seine Familie in der Wiener Innenstadt einkaufte, die bekanntermaßen kein billiges Pflaster ist, war mein Großvater stolzer Stammkunde beim Ausverkauf im Modehaus Tattlinger in Groß-Enzersdorf. Als dieses seine Pforten schloss, kaufte er vorzugsweise im Modehaus Tlapa, im Wiener Arbeiterbezirk Favoriten gelegen. Wie dies mit seiner Vorliebe für Maßhemden des österreichischen Modeschöpfers Fred Adlmüller zusammenpasste, hat sich mir nie erschlossen. Abseits gewisser Rollen, die er auf der Bühne spielte, konnte er sich endlos über den seiner Meinung nach verschwenderischen Lebensstil in der Tuchlauben erregen.

Als er mich eines Tages recht unvermittelt fragte, was meine Socken gekostet hätten, antwortete ich wahrheitsgemäß: „200 Schilling“. Sie waren vom Traditionsherrenausstatter Knize am Graben, gleich in unserer Nähe, und mein Vater hatte sie für mich besorgt. Mein Großvater schnaufte sehr empört und strafte mich daraufhin mit Verachtung. Manchmal aber betrat er während eines gemeinsamen Spaziergangs durch die Wiener Innenstadt scheinbar wahllos eines der noblen Geschäfte am Graben oder Kohlmarkt und fragte dann unvermittelt: „Möchtest du einen Gürtel? Brauchst du ein Hemd?“ Wenn man bejahte, kaufte er einem dann en passant unheimlich teure Dinge.

Wenn mein Großvater nicht mit dem Wunsch nach einem Mittagsschlaf zu uns kam, wollte er unterhalten werden. Allerdings nur kurz und möglichst mit fertigen Geschichten. Eine Zeit lang versuchte ich immer wieder, kleine Erlebnisse erzählerisch vorzubereiten, um ihn mir gewogen zu stimmen und wohl auch um ihm zu gefallen. Meist wurde ich jedoch schon unterbrochen, bevor ich am Ende angelangt war, er übernahm den Erzählerpart – und war zufrieden. Letztendlich hörte er doch lieber sich selbst zu als anderen. Außer, wenn ihm eine Geschichte wirklich sehr gut gefiel, das konnte man daran erkennen, dass er sie dann später als seine eigene erzählte. Wenn er anderen Menschen auch nicht gerne zuhörte, so war er doch ein sehr guter Beobachter, allerdings aus rein beruflichen Gründen. Nicht umsonst war er für seine Imitationen und Sprachkopien berühmt. „Schau, den spiel ich auch noch einmal“, zeigte er uns immer wieder Menschen auf der Straße, im Kaffeehaus, oder wo er eben dazu kam, menschliche Eigenheiten, Sprache und Mimik zu beobachten, die er für die Ausgestaltung eines Charakters auf der Bühne verwenden konnte. Alles, was er spielte, hatte er schon einmal gesehen. In einem seiner letzten Stücke an der Josefstadt, dem „Panther“ von Felix Mitterer, basierend auf einem Gedicht von Rainer Maria Rilke, gab er einen an Alzheimer Erkrankten. Er hatte die Symptome und das Verhalten an Patienten im Alters- und Pflegeheim Lainz studiert und spielte seine Rolle grandios. Man brauchte den Text gar nicht zu verstehen, man konnte vielmehr an seiner Körperhaltung erkennen: „Jetzt ist er drinnen in der Rolle – jetzt ist er draußen“.

Bei den Tempelbesuchen mit seinem „Papa“ konnte mein Großvater Fritz von frühester Kindheit an tiefgehende Einblicke in jüdische Gebräuche und Traditionen gewinnen. Auch lernte er einiges an Hebräisch und studierte eingehend die jüdische Sprachmelodie. Er war aufgrund seiner angeborenen Musikalität ein begnadeter Imitator und konnte nahezu alles und jeden imitieren: Tanten, Onkel, Schauspieler, aber auch seine Lehrer, was diese eindeutig nicht begeisterte, ja mitunter zur Verzweiflung trieb. Mein Großvater besaß ein naturgegebenes Talent, Sprachfärbungen zu erkennen und wiederzugeben. Wienerisch, Jiddisch, Tschechisch, Ungarisch, sämtliche Sprachen der ehemaligen k.u.k. Monarchie. Lachend rühmte er sich damit, sogar italienische Opernarien nachsingen zu können, wobei er bloß hervorragend kopierte, ohne auch nur ein Wort italienisch – oder singen – zu können. Imitationen, von ihm „Kopien“ genannt, waren auch sein Startkapital in seiner Karriere als Kabarettist. Später ermöglichte ihm seine perfekte Imitation des Jiddischen, große Erfolge mit dem Erzählen jüdischer Witze zu feiern. Und auch sein Erfolg als Schwejk basierte maßgeblich auf seiner Begabung zu „böhmakeln“, also deutsch mit böhmischer Sprachfärbung zu sprechen.

Vor allem aber wollte er Geschichten hören, die er weitererzählen konnte. Viele Schauspieler, die ich kennengelernt habe, haben etwas Schwammhaftes. Sie saugen auf und geben es als ihr Eigenes wieder ab, ob Sprache, Melodie, Gestik, Mimik, Verhalten, aber alles wird besser erzählt. Mein Großvater verfügte über die in Gesellschaft sehr beliebte Gabe, die gleichen Geschichten immer wieder zu erzählen, jedoch auf das jeweilige Publikum zugeschnitten.

„Markus“, meinte er einmal zu mir, „man braucht keine neuen Witze, man braucht nur ein neues Publikum.“ So gibt es etwa familienintern, aber auch für die Öffentlichkeit, die unterschiedlichsten Versionen davon, wie er zur Schauspielerei kam: In den späten 70er Jahren1 erzählte er in einem Interview, wie sein Vater Mischa Muliar ihn 1935 mit der Lieferung eines Schmuckstücks beauftragte, das der Burgschauspieler Ewald Balser für seine Frau in Auftrag gegeben hatte. Balser gehörte damals zu den größten und bekanntesten deutschsprachigen Schauspielern, und der junge Fritz ergriff die Gelegenheit zu einem spontanen Vorsprechen. Da er nichts dafür vorbereitet hatte, rezitierte er das Schiller-Gedicht „Die Glocke“, das er aus der Schule kannte. Balser war laut dieser Version perplex über das improvisierte Vorsprechen und murmelte etwas in der Art wie „recht passabel“, was mein Großvater als „meine Weihe zum Orden der Schauspieler betrachtete“, obwohl er vermutete, dass Balser nur einen guten Abgang gesucht hatte.

1 Fritz Muliar-Interview in BUNTE, „Ich bin das schwarze Schaf der Familie“, 15.6.1977, Archiv Theatermuseum Wien.

In seinen autobiografischen Erinnerungen „Melde gehorsamst, das ja!“ aus dem Jahr 20032 klingt das dann doch etwas anders. So habe ihm Vater Mischa Muliar auf Drängen seiner Mutter und sein eigenes inständiges Bitten hin einen Vorsprechtermin bei seinem langjährigen Kunden Ewald Balser verschafft. „Völlig ahnungslos“ sei er dann bei diesem angekommen und habe, weil unvorbereitet, „Die Kraniche des Ibykus“ aufgesagt. Balser habe ihn danach auch noch etwas aus der Zeitung vorlesen lassen und gemeint, dass er bestimmt begabt sei, er ihm aber trotzdem nicht raten würde, ans Theater zu gehen. Vielmehr habe er ihm den gutgemeinten Ratschlag gegeben, lieber Englisch zu lernen und nach London zu gehen, da Hitler wohl bald einmarschieren werde und Wien für Nicht-Arier kein sicherer Ort mehr wäre.

2 Aufgezeichnet von R. Wagner u. V. Paschalk, Wien 2003.

Ein und dieselbe Geschichte, zweifellos interessant, aber völlig unterschiedlich erzählt. Meinem Großvater war es immer wichtig, sein Publikum gut zu unterhalten.

Es hat mich in diesem Zusammenhang übrigens immer sehr amüsiert, dass ausgerechnet das DDR-Regime ihm als einem der wenigen Schauspieler und Ausländer so weit vertraute, dass er auf seinen Reisen nach Ostberlin Live-Interviews in Radio oder Fernsehen geben durfte und diese unzensiert gesendet wurden. Man meinte dort ihn gut zu kennen.

Mein Großvater kokettierte gerne mit seiner Nähe zum „Proletariat“, so bezeichnete er seine Verbundenheit mit dem „kleinen Mann“, den er ja auch gerne darstellte. Wie weit er diesem aber tatsächlich entstammt, darf bezweifelt werden – ein Juwelierssohn gilt wohl eher nicht als Abkömmling der Arbeiterklasse. Sicherlich hat er aber durch seinen Aufstieg zum Schauspieler an den großen Theatern, und nicht zuletzt am Burgtheater, die Familie in gesellschaftlich zuvor unbekannte Höhen geführt. In eine solche Höhe wurde ich hineingeboren, beim Abstieg wurde mir zeitweise schwindlig, doch erkannte ich später, dass mir die vermeintlich luftige Position meiner Familie wohl nur so hoch erschien, weil ich selbst so klein war. Wie oft schrumpften die Dinge dann auf ein realistisches Maß, als ich selbst groß wurde. Damals aber lebte ich in dem Gefühl, als ältester Sohn des ältesten Sohnes eine besondere Stellung innerhalb der Familie, aber auch in der Gesellschaft zu haben. Mein pubertäres Selbstverständnis bezog ich daraus, der Enkel eines Mannes zu sein, der etwas aus sich gemacht und es damit geschafft hatte. Es gibt nur eine Familie Muliar. Alle, die im Wiener Telefonbuch stehen, sind mit mir verwandt. So baute ich mir einen Kokon auf, in dem ich sehr komfortabel lebte. Gleichsam in Watte gepackt war ich weich gebettet, und die Geräusche und Geschehnisse der Welt um mich herum drangen nur sehr gedämpft zu mir herein. In meiner Welt hatte ich eine privilegierte Stellung, meine Lehrer wussten, dass ich der Enkel meines Großvaters war. Sie wussten, wer „er“ war. Mir wurde der Vorzug gegeben, ich war privilegiert, ohne zu wissen warum, selbst hatte ich ja bis dahin noch nichts geleistet. Ich hatte nur diesen einen Großvater. Sein Glanz färbte auf uns alle ab, er ließ auch mich in einer glanzvollen Überheblichkeit aufwachsen, über die ich heute nur mehr den Kopf schütteln kann.

Dass der Erfolg meines Großvaters auf vielen Jahren langer, harter Arbeit, auf Talent, Durchhaltevermögen, Tüchtigkeit und Disziplin beruhte, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht einmal einen Gedanken wert. Wo sein Status herkam war mir egal, denn ich glaubte damals, ihn bereits zu besitzen. Ich wollte mich als Kronprinz fühlen und suhlte mich im Gedankengut der Erbfolge. Wenn der Großvater König war und mein Vater als König in seinem Reich galt, das mir die Welt war, was sollte mich davon abhalten, ebenso König zu werden, wenn meine Zeit gekommen war?

Sehr selten, aber doch habe ich manchmal das Gefühl, dass es mich zur Schauspielerei hinzieht. Ich frage mich dann immer wieder, ob dieser Wunsch mit der ersehnten Nähe zu meinem Großvater zu tun hat oder damit, dass ich mit einem Schauspieler in der Familie aufgewachsen bin. Oder ob es tatsächlich nur etwas mit mir zu tun hat. Als Kind schnitt ich Gesichter vor den Spiegelwänden in unserem Vorzimmer und trat dann mit dem jeweiligen Ausdruck in den Wohn-Arbeitsraum vor das immer ausreichend versammelte Publikum, also unsere jeweiligen Gäste. Auch mir war das Publikum wichtig, und ob aus purer Höflichkeit oder nur in der Hoffnung, dass es bald wieder vorbeigehen würde: Alle haben mir beim Gesichterschneiden zugeschaut.

Bis heute habe immer noch lebhaft das einzige gemeinsame Spiel meiner Kindheit mit meinem Großvater in Erinnerung. Als ich meinen heiß geliebten Kaufmannsladen bekam und alle bei mir einkaufen mussten, spielte auch der Großvater gerne mit mir. Und im Gegensatz zu allen anderen Erwachsenen, die zu mir mehr oder minder begeistert „einkaufen“ kamen, „spielte“ er tatsächlich und machte alles immer ganz genau: „Klingeling, die Tür zum Laden geht auf, ein Kunde tritt herein, er lüftet seinen Hut, Grüß Gott …“ sagte er dann, perfekt in Regie und Schauspiel. Und wehe, ich spielte nicht genauso sorgfältig mit!

Talent aber geht nicht automatisch auf die nächsten Generationen über und auch Erfolg ist nicht vererbbar. Der hat viele Väter, wie ich im Laufe meines Lebens gelernt habe.

Es war mir in meiner Kindheit geläufiger, „der Enkel von Fritz Muliar“ zu sein, als dass ich zu ihm selbst eine wirkliche Beziehung hatte. Das Verhältnis zu ihm war später oft davon überlagert, dass jeder wusste, wer ER ist, also der, den alle kennen. Auch innerfamiliär wurde er als derselbe gesehen, als der er von außen gesehen wurde. Es gab keine Trennung zwischen der privaten und der öffentlichen Person Fritz Muliar, keine größere Emotionalität, durch die wir ihm als Familie näher gestanden hätten. Meine direkten Zusammentreffen mit dem Großvater waren sehr oft von Anspannung geprägt. Von meiner Seite her. Auf seiner Seite wohl eher von etwas wie ärgerlicher Verwunderung über meine so gar nicht seinen Vorstellungen entsprechende Persönlichkeit. Was genau ich hätte tun oder sein müssen um sein Wohlgefallen zu finden, habe ich leider nie herausfinden können.

Wie weit wir oft auseinanderlagen, zeigte mir folgende Geschichte, leider eher schmerzvoll, auf: Mein Großvater erzählte immer wieder gerne, wie er 1964 die Rolle des Bösewichts in der James Bond-Verfilmung „Goldfinger“ ablehnen musste, weil er kein Wort Englisch sprach. Die Rolle ging dann an Gert Fröbe, der damit eine Weltkarriere begründete, was meinen Großvater doch sehr „gewurmt“ haben muss. Leider bekam er nie eine Rolle in einem gleichwertigen französischen Film angeboten, denn Französisch sprach er sehr gut – Englisch aber, die Sprache der internationalen Filmindustrie, gar nicht. Da mir sowohl in der Schule als auch vom Leben beigebracht wurde, dass es erstens nie zu spät ist, um etwas zu lernen, und dass zweitens lernen mit Humor leichter geht, brachte ich meinem Großvater von einer Australienreise einmal ein Buch mit englischen Witzen mit, denn Witze mochte er. Nachdem ich es ihm überreicht hatte, brach ein Donnerwetter über mich herein, das seinesgleichen suchte. Er hatte das Gefühl, ich wollte mich über ihn lustig machen.

Ein anderes Mal begleitete ich ihn nach einem Besuch bei uns zu seinem geparkten Auto. Er war grantig, ich war deswegen nervös und angespannt. Bei der Kleeblattgasse nahm er mir seine Tasche ab, die ich für ihn getragen hatte, drehte sich unvermittelt zu mir um und sagte todernst: „Wirst schon sehen wo’st bleibst, der dritte Weltkrieg kommt bestimmt“, stieg grußlos in seinen Wagen und fuhr davon.

Die meisten Zusammenkünfte mit ihm waren jedoch ohnehin weniger privater als vielmehr offizieller Natur und fanden im Kreis von Familie und Freunden statt, was sie allerdings nicht unbedingt angenehmer machte. Wir alle hatten dieselbe Funktion wie das Publikum bei Theaterpremieren, Feiern oder Ehrungen.

Ein goldener Stab als Schlüssel zu meiner Welt

Entgegen allem, was mein Vater in seiner Kindheit und Jugend erlebt hatte, war er ein echter Familienmensch, wobei er den Begriff „Familie“ eben stark erweiterte und auch auf „Nicht-Verwandte“ ausdehnte. Und bis heute kann ich nur froh darüber sein, dass er sich in Andrea verliebte. Die beiden kannten sich schon eine Weile, doch als es endlich passierte, ging alles ziemlich schnell. Es dauerte drei Monate vom Entschluss der beiden bis zu ihrer Hochzeit. Mein Vater war wohl in der Zeit, die er mit uns allein verbringen musste, auf der Suche gewesen oder hielt zumindest beständig Ausschau nach einer Frau mit integriertem Mutterinstinkt. Er gehörte definitiv der Sorte Mann an, die es als nahezu gegen die Natur betrachtete, sich mit den Bedürfnissen kleiner Menschen auseinanderzusetzen, von Haushaltspflichten gar keine Rede. Ein Jahr lang lebten wir mit meinem Vater allein, und seine Arbeit und das Leben mit einem Vierjährigen und einer Achtjährigen waren nervenaufreibend für ihn, aber auch für uns. Es gab viele Käsebrote für uns zu essen in dieser Zeit. Gut kann ich mich noch an ein von ihm zubereitetes Abendessen erinnern: klägliche Knödel mit Ei, die er uns als „Schnupsburger“ verkaufen wollte – die Enttäuschung stand uns ins Gesicht geschrieben. Mein Vater war restlos überfordert und es war klar: Eine Frau musste her!

Erzählungen nach gab es in dem Zeitraum bis zu Andrea viele „Tanten“, an die ich mich jedoch nicht erinnern kann. Und auch wenn Tina, nur vier Jahre älter als ich, sich in dieser Zeit als fürsorgliche und gute große Schwester erwies, so war es doch dringend notwendig, dass wir beide bald eine Mutter bekamen. Wir waren sicher nicht verwahrlost, aber es war allen Beteiligten klar, dass diese Lebensform für uns nicht zukunftsträchtig war. Für jemanden, dessen Lebensmittelpunkt die Arbeit war, war es jedoch nicht so einfach, die Richtige zu finden, die auch noch bereit sein sollte, ihr Leben an seiner Seite mit zwei Kindern zu teilen.

Glücklicherweise waren alle Versuche erfolglos und er erkannte endlich den Menschen, der zu uns passte. Oft machen sich ja Frauen an Männer über deren Kinder heran, mein Vater machte sich über uns Kinder daran, die perfekte Frau und Mutter zu finden – und er fand Andrea, die meine Mutter wurde. Andreas Mutter kannte er schon lange und verehrte schon sie als eine großartige und vollendete Dame von großer Eleganz – gepaart mit Intelligenz. Andrea war also die Tochter einer Frau, die er grenzenlos bewunderte und sie, obgleich um einiges jünger als mein Vater, hatte ihm immer signalisiert, dass sie ihn großartig fand. Schon als Schulmädchen kellnerte sie nebenbei in den Räumen der Freimaurer und hatte meinem Großvater bereits Torte serviert, bevor sie noch meinen Vater kennenlernte. Ihre Zwillingsschwester war vor ihr geboren worden und sie kam für die Ärzte sehr unerwartet einige Minuten danach zur Welt. So kam es, dass die Babys eine kurze Weile lang „Susanne und die andere“ genannt wurden, bis sie dann endlich den Namen Andrea erhielt.