Dämonenspiel - Maren Schwarz - E-Book

Dämonenspiel E-Book

Maren Schwarz

3,8

Beschreibung

Eine Reihe mysteriöser Vorkommnisse führt dazu, dass sich das beschauliche Leben von Blanca Büchner, einer erfolgreichen Krimiautorin aus dem Vogtland, schlagartig ändert. Alles beginnt damit, dass sie eines Morgens ein mit Trauerflor zusammengehaltenes Liliengesteck vor ihrer Haustür findet. Von diesem Moment an überschlagen sich die Ereignisse: Pia Sandner, ihre beste Freundin, wird tot aufgefunden. Starb sie eines natürlichen Todes oder half jemand nach? Kurz darauf kommt auch Pias Ehemann bei einem fingierten Verkehrsunfall ums Leben. Für die Polizei steht die Schriftstellerin schnell als Hauptverdächtige fest. Und diese hat in der Zwischenzeit eine furchtbare Entdeckung machen müssen: Das Manuskript für ihren neuesten Kriminalroman diente als Anleitung für die Morde an den Sandners! Während die Ermittlungen ihren Lauf nehmen, hat Blanca eines Nachts einen merkwürdig realen Traum. Sie vernimmt eine Stimme, die zu ihr spricht und sie in Angst und Schrecken versetzt. Alptraum oder Realität? Die Erkenntnis, dass Letzteres zutreffen könnte, bringt sie fast um den Verstand ...

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Maren Schwarz

Dämonenspiel

Handlung und Personen sind frei erfunden. Sollte es trotzdem Übereinstimmungen geben, so würden diese auf jenen Zufällen beruhen, die das Leben schreibt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

1

Noch bevor Blanca das Gebinde auf den steinernen Treppenstufen liegen sah, bemerkte sie dessen Duft, eine beklemmende Süße wie der Geruch von etwas Verwesendem. Es waren weiße Lilien, mit einem schwarzen Trauerflor zusammengehalten – Friedhofsblumen, schoss es ihr durch den Kopf.

Blanca stockte der Atem. Was sollte das? Unbehaglich sah sie sich um. Nichts deutete darauf hin, dass jemand ins Grundstück eingedrungen war. Die hölzerne Gartenpforte war fest verschlossen. Nach dem ersten Schreck hatte sie sich sogleich davon überzeugt. Auch konnte sie sich nicht vorstellen, wie irgendwer es schaffen sollte, den mannshohen Bretterzaun zu überwinden. Da ihr augenblicklich nichts Besseres einfiel, hob sie die Blumen auf, um sie in die Mülltonne hinterm Haus zu werfen.

Mit einem Schlag hatte der Tag, der so vielversprechend begann, seinen Zauber verloren. Nach dem langen kalten Winter, der diesmal kein Ende nehmen wollte, kam es ihr wie eine Wohltat vor, von einem Sonnenstrahl, der durch die Jalousie fiel, geweckt zu werden. Nichts hielt sie mehr im Bett. Sie hatte das Fenster weit geöffnet, um die milde Märzensonne hereinzulassen. Endlich hatte der Frühling Einzug gehalten! Nachdem sie sich genüsslich gedehnt und gestreckt hatte, ging sie nach unten, um ihr Frühstück zu bereiten. Während die Kaffeemaschine lief, presste sie zwei Orangen aus, bestückte den Toaster und hörte sich nebenbei den Wetterbericht im Radio an. Er versprach für den heutigen Tag angenehm warme Temperaturen mit viel Sonnenschein.

Eine halbe Stunde später stand Blanca mit kritischer Miene vor ihrem Kleiderschrank, um sich etwas Passendes zum Anziehen auszusuchen. Nach sorgfältiger Prüfung fiel ihre Wahl auf ein lindgrünes Kostüm und eine cremefarbene Seidenbluse. In weniger als sechs Stunden würde sie vor einem, wie sie hoffte, zahlreich erschienenen Publikum ihr viertes Buch vorstellen.

Sie war Autorin. Das kaum Vorstellbare, sich in kürzester Zeit einen Namen zu machen, war ihr gelungen. Natürlich wusste sie, dass sie es ohne das dazugehörige Quentchen Glück niemals so schnell geschafft hätte. Aber wie auch immer, sie hatte allen Unkenrufen zum Trotz ihr Ziel erreicht. Die Verkaufszahlen belegten, dass ihre Bücher bei den Lesern ankamen. Obwohl auf den ersten Blick wohl kaum jemand hinter der zierlichen Erscheinung eine Kriminalautorin gesucht hätte, war sie genau diesem Metier verfallen. Manchmal konnte sie sich selbst nicht erklären, wie sie auf all die absonderlichen Szenarien, von denen ihre Bücher handelten, kam. Aber bisher hatte sie sich darüber keinerlei Gedanken gemacht. Warum auch? Es machte ihr Spaß zu schreiben, und den Leuten schien es ganz offensichtlich zu gefallen.

Nachdem sie sich angekleidet hatte, ging sie noch einmal ins Bad. Während sie ihr weizenblondes Haar, das ihr in schweren Locken bis über die Schultern reichte, kämmte, begutachtete sie sich kritisch im Spiegel. Obwohl ihr jegliche Eitelkeit und Koketterie fern lagen, pflegte sie Wert auf ihr Äußeres zu legen. Das, so fand Blanca, war sie ihrem Publikum schuldig.

Mit etwas Rouge versuchte sie die durchscheinende Blässe, die auf ihrem schmalen Gesicht lag, zu überdecken. Auf Wimperntusche verzichtete sie, da ihre Augen auch so schon übergroß zur Geltung kamen. Sie waren rehbraun und besaßen einen warmen Glanz. Bei näherer Betrachtung schien es, als ob goldene Pünktchen darin tanzten. Ein Hauch von Melancholie umgab sie, ohne dass Blanca sich dessen bewusst gewesen wäre.

Nach einer abschließenden Musterung, die zu ihrer Zufriedenheit ausfiel, ging Blanca nach unten. Sie nahm ihre Aktenmappe und die Autoschlüssel an sich und verließ das Haus. Bis zu diesem Augenblick umspielte ein zufriedenes Lächeln ihre Lippen.

Nach ihrer Entdeckung war es erstorben und einer ratlosen Miene gewichen. Von einem Moment auf den anderen hatte die Sonne ihre wärmende Kraft verloren. Selbst das Blau des Himmels kam ihr nicht mehr so intensiv wie noch vor kurzem vor. Bedrückt fuhr sie ihren Wagen, einen fünf Jahre alten Passat Kombi, aus dem Stallgebäude, das ihr als Garage diente. Früher waren hier Schweine und Hühner untergebracht. Sie gehörten ihren Schwiegereltern, die eine kleine Bauernwirtschaft betrieben. Doch nach ihrem Tod verkaufte Franjo, ihr Mann und Alleinerbe, die Tiere und funktionierte den Stall zur Lagerhalle um. Er hatte sich nach der Wende einen Verleih von Heimwerkergeräten aufgebaut. Das Gebäude eignete sich ideal zum Abstellen seiner mit der Zeit immer umfangreicher werdenden Gerätschaften. Doch jetzt herrschte hier nur noch gähnende Leere. Nach dem Tod ihres Mannes hatte Blanca sein Geschäft aufgelöst. Der Auktionserlös und das Geld, das ihre Bücher einbrachten, garantierten ihr ein finanziell sorgenfreies Leben.

Seit über einer Stunde lenkte Blanca nun schon ihren Wagen durch die von Sonne überflutete Landschaft. Sie wohnte im Burgsteingebiet, abseits der Zivilisation. Direkt vor ihrer Haustür erhob sich die malerische Kulisse der Burgstein-Ruinen, zweier Kirchen, errichtet an den einstigen Grenzpunkten der Bistümer Bamberg und Naumburg. Erstmals um Fünfzehnhundert erwähnt, waren sie als Wallfahrtsorte bekannt. Ihr Haus lag inmitten eines urwüchsig wuchernden Mischwaldes. Bemooste Gesteinsbrocken begrenzten die verschlungenen Waldwege. Manchmal, wenn Blanca mit Peter und Paul, ihren zwei Huskies, durchs Dickicht spazieren ging, glaubte sie, in ein anderes Zeitalter geraten zu sein. Hier war die Natur noch unberührt, das Wasser der Bäche klar und der Gesang der Vögel unbeschwert. Ein einziges Haus, unterhalb ihres Anwesens, befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft.

Ein schmaler Feldweg führte hinunter nach Ruderitz, dem nächsten Dorf. Beidseits der gepflasterten Dorfstraße standen schlichte, aber liebevoll hergerichtete Häuschen. In den Bauerngärten, im Sommer von Malven und Sonnenblumen umstanden, scharrten Hühner vergnügt gackernd im Sand. Eine Schafherde graste an den seicht ansteigenden Hängen oberhalb des Ortes. Munter plätschernd schlängelte sich ein kleiner Bach, die Kemnitz, durchs Tal. Blanca sog all diese Bilder wie ein Schwamm in sich auf. Sie liebte diese sorglose, dörfliche Idylle, die so gar nichts Bedrohliches an sich hatte. Hier kannte jeder jeden. Blanca konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass hinter den biederen Fassaden der Häuser unheilvoll dunkle Schatten lauern könnten.

In Gedanken versunken hatte sie mittlerweile schon längst die in Richtung Norden führende Bundesstraße erreicht. Zur Unterhaltung hatte sie sich eine Kassette von Sarah Brightman eingelegt. Durch die Windschutzscheibe hindurch schien die Sonne angenehm warm auf ihre Haut.

Längst hatten die beklemmenden Geschehnisse des Morgens sich verflüchtigt und bis zu dem Moment, als sie die Spinnen sah, war sie bereit gewesen zu glauben, dass es sich dabei um einen Dummenjungenstreich handelte.

Zuerst dachte sie, einer optischen Täuschung unterlegen zu sein. Als sie aber genauer hinsah, gab es keinerlei Zweifel mehr. Auf dem Armaturenbrett wimmelte es von Spinnen. Keine von ihnen war größer als zwei Zentimeter. Ihrer auffälligen schwarz-weißen Körperzeichnung nach, konnten es nur Zebraspinnen sein. Obwohl Blanca diese Tiere noch nie in Natura gesehen hatte, ahnte sie sogleich mit untrüglichem Instinkt, um welche Sorte es sich handelte. In einem ihrer vorangegangenen Bücher hatte sie einen Mord mit Hilfe dieser Spinnen beschrieben. Blancas Gedanken überschlugen sich. Völlig verwirrt lenkte sie ihren Wagen an den Straßenrand. Kaum war er zum Stehen gekommen, riss sie die Fahrertür auf und hetzte nach draußen. Aus all den wirren Empfindungen, die auf sie einströmten, kristallisierte sich eine erschreckende Erkenntnis: Jemand hatte versucht, sie auf die gleiche Art und Weise wie in ihrem Buch beschrieben, zu töten. Als Blanca sich der ganzen Reichweite des soeben Erlebten bewusst wurde, war ihr, als ob eine eisige Hand nach ihrem Herzen griff. Ihre Knie begannen zu zittern. Sich am Auto abstützend umrundete sie dieses, um sich auf einem Stück Wiese am Wegrand hinzusetzen. Ihr Magen rebellierte. Immer und immer wieder kreisten ihre Gedanken um ein und dieselbe Frage: Was wäre geschehen wenn …

Hätte es sie ihr Leben kosten können, wenn auch sie, wie von ihr beschrieben, an einer krankhaften Spinnenphobie gelitten hätte? Sie wusste keine Antwort darauf. Nach einer endlosen Weile hatte sie sich soweit beruhigt, dass es ihr gelang, ihren Wagen von den achtbeinigen Plagegeistern zu befreien. Mit einem Handfeger der im Kofferraum lag, kehrte sie die Tiere nach draußen. Als sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, stieg sie ein und fuhr weiter. All ihre Sinne waren zum Zerreißen angespannt. Unaufhaltsam breitete sich ein unangenehm ziehender Kopfschmerz vom Hinterkopf her aus. In der nächsten Ortschaft steuerte Blanca ein Gasthaus an, um sich eine Tasse Kaffee zu bestellen. Entgegen ihrer Art trank sie ihn schwarz. Er schmeckte bitter und abgestanden. Erneut rebellierte ihr Magen. Ihre Kopfschmerzen nahmen an Heftigkeit zu. Mit fahrigen Händen kramte sie in ihrer Handtasche nach einer Packung Pillen. Angewidert spülte sie zwei der Kopfschmerztabletten mit dem letzten Schluck Kaffee hinunter.

Wenig später saß sie schon wieder hinter dem Steuer ihres Wagens. Glücklicherweise war sie rechtzeitig von zu Hause losgefahren. So musste sie nun nicht auch noch hetzen, um pünktlich zu ihrer Lesung zu kommen. Ihr Kopf fühlte sich wie mit Watte gefüllt an. Während sie völlig verkrampft das Lenkrad umklammert hielt, suchte ihr ängstlicher Blick immer und immer wieder das Armaturenbrett nach Spinnen ab.

2

Im Nachhinein wusste Blanca nicht mehr, wie sie die Lesung überstanden hatte. Bis auf ein Gesicht waren all die zahlreich erschienenen Gäste zu einer einzigen unscharfen, konturlosen Masse verschmolzen. Dieses eine aber war es, was Blanca, nun da sie sich auf der Heimfahrt befand, ununterbrochen beschäftigte. Sie kannte den Mann, der in der zweiten Reihe saß und sie die ganze Zeit über ungeniert angestarrt hatte! Zwar war es Jahre her, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, aber sie wusste augenblicklich, um wen es sich handelte. Angestrengt versuchte sie sich auf seinen Namen zu besinnen.

Während der Tag in die Nacht überging und die Dunkelheit sie einhüllte, versank Blanca in längst vergessen gewähnten Erinnerungen. Sie war wieder achtzehn Jahre alt – jung und begehrenswert. Die Jungen hatten sich damals die Köpfe nach ihr verrenkt. Sie hätte sie alle haben können, und das wusste sie auch ganz genau. Aber anstatt sich für einen von ihnen zu entscheiden, vergnügte Blanca sich vielmehr damit, mit ihnen und ihren Gefühlen zu spielen. Ihr eine böswillige Absicht darin zu unterstellen hätte jedoch nicht der Wahrheit entsprochen. Tatsächlich war Blanca lediglich gedankenlos und leichtfertig. Sie genoss es wie ein Falter von einer Blüte zur nächsten zu flattern. Allerdings gab es da eine Grenze, die sie niemals überschritt.

Ihr vor Augen stand mit einem Mal wieder jener Weihnachtsabend vor fast zwanzig Jahren. Nach dem Abendessen war sie, wie auch schon im Jahr zuvor, mit dem Bus zum Tanzen in eines der Nachbardörfer gefahren. Es war eiskalt, und sie hatte sich fröstelnd in ihren neuen Pelzmantel gekuschelt. All das sah sie so deutlich vor sich, als wäre es gestern gewesen.

Wie gewöhnlich wurde sie im Laufe des Abends des Öfteren um einen Tanz gebeten. Diesmal befand sich unter den Tänzern ein junger Mann, den sie bis dahin noch nie dort gesehen hatte. Er war groß und breitschultrig. Sein schwarz gelocktes Haar und die dunklen Augen erinnerten Blanca an einen amerikanischen Filmstar, für den sie einmal geschwärmt hatte. Bereitwillig ließ sie sich von ihm zur Tanzfläche führen. Leichtfüßig schwebte sie alsbald übers Parkett. In seinen Armen fühlte sie sich wie eine Feder. Nachdem die Musik verklungen war, lud er sie zu einem Glas Sekt an der Bar ein. Dabei erfuhr sie auch seinen Namen. Er hieß Uwe Puff. Blanca erinnerte sich, dass es ihm sichtlich unangenehm war, ihn zu nennen. Sie versuchte ihn daraufhin mit den Worten: »Uwe finde ich ganz nett«, zu trösten.

Ja und so war er auch – nett. Er wich den restlichen Abend nicht mehr von ihrer Seite. Als es an der Zeit war nach Hause zu gehen, stellten beide fest, dass sie nicht weit voneinander entfernt wohnten. Blanca wurde abgeholt. Uwe hätte den Heimweg zu Fuß antreten müssen. Natürlich bot sie ihm an, mit ihnen zu fahren. Auf diese Weise erfuhr er, wo sie wohnte. Als er sich von ihr verabschiedete, versprach er, sich zu melden.

Schon am nächsten Tag hatte Blanca ihn vergessen. Obwohl er gut aussah und zudem äußerst charmant war, verschwendete sie keinen weiteren Gedanken an ihn. Der Mann, der ihr gefährlich werden konnte, musste erst noch geboren werden.

Damit, was wenige Tage später geschah, hatte Blanca daher auch nicht gerechnet. Als sie von einem Spaziergang mit ihrem Hund zurückkam, löste sich eine Gestalt aus der Dunkelheit. Es war Uwe. »Hallo Blanca«, begrüßte er sie mit einem verlegenen Lächeln. »Ich hab auf dich gewartet. Deine Eltern sagten mir, dass du mit dem Hund draußen seist.« Er streckte ihr seine Hand entgegen. »Ganz schön kalt, findest du nicht auch?«, fragte er, von einem Bein auf das andere tretend, um sich etwas zu erwärmen. Blanca nickte. Sie ahnte, was nun kommen würde. Mit Sicherheit würde er sie gleich um ein Rendezvous bitten. Wie um ihre Vermutung zu bestätigen, fragte Uwe auch prompt: »Hast du Silvester schon was vor?« Gespannt wartete er auf eine Antwort. Blanca zögerte. Auf Grund seines unverhofften Erscheinens hatte sie vorgehabt, ihm einen Korb zu geben. Doch nun besann sie sich. Für den Jahreswechsel hatte sie tatsächlich noch keinerlei Pläne. Zu Hause sitzen wollte sie auf keinen Fall. Daher entschied sie sich, seinen Vorschlag, den er ihr sicher gleich unterbreiten würde, wohlwollend in Erwägung zu ziehen. »Bislang habe ich noch nichts vor«, hörte sie sich sagen. Uwe strahlte. »Das ist ja wunderbar«, freute er sich. »Ich befürchtete schon, zu spät gekommen zu sein. Ich habe nämlich Karten für den ›Kakadu‹. Ich würde dich gerne einladen, mit mir dorthin zu gehen. Was hältst du davon?« Erwartungsvoll sah er Blanca an. Diese musste nicht lange überlegen. Der ›Kakadu‹, eine Tanzbar in der Kreisstadt, galt mit Abstand als die nobelste Adresse weit und breit. Auf normalem Wege war es fast unmöglich Karten dafür zu bekommen, noch dazu für solch einen Abend. Da brauchte man schon Beziehungen. Aber Blanca sorgte sich nicht darum, wie Uwe an die Karten gekommen war – Hauptsache er hatte sie. Die Aussicht, den Jahreswechsel in besagtem Lokal zu verbringen, versetzte sie in Hochstimmung. Ohne zu überlegen sagte sie zu.

Die Silvesternacht gestaltete sich genauso, wie sie es vorausgesehen hatte. Die Kapelle, die zum Tanz aufspielte, war ebenso erstklassig wie das Essen und die Getränke. Blanca bereute es nicht eine Minute lang, Uwes Einladung gefolgt zu sein. Selbst dann nicht, als dieser um Mitternacht ihre Lippen mit einem leidenschaftlichen Kuss verschloss. Zu Beginn des Abends war er ihr noch ziemlich steif und verklemmt erschienen. Doch mit der Zeit und dem ein oder anderen Glas Sekt und Wein wurde er merklich lockerer. Blanca konnte sich noch genau daran erinnern, wie er sie den ganzen Abend über anhimmelte. Es war ihr peinlich. Obwohl sie sich schon so manches Mal in einer ähnlichen Situation befunden hatte, wusste sie nicht so recht, wie sie sich verhalten sollte. Trotz allem genoss sie den Abend. Auf dem Nachhauseweg hatte sie dann sogar Mühe, sich Uwes Annäherungsversuchen zu erwehren. Beschwipst wie er war, hatte er all seine Hemmungen über Bord geworfen.

Am übernächsten Tag stand er mit einem Blumenstrauß vor ihrer Tür, um sich für sein Verhalten zu entschuldigen. Er wirkte so zerknirscht und ehrlich betrübt, dass Blanca nicht anders konnte, als ihm zu verzeihen. Ehe sie sich versah, schaffte Uwe es, sich erneut mit ihr zu verabreden. Ein Rendezvous ergab das nächste und so kam es, dass Blanca und er im Bekannten- und Freundeskreis bald schon als Paar galten. Dabei war sie sich keineswegs sicher, ob sie das eigentlich wollte. Wenn er sie küsste, war ihr das zwar nicht unangenehm, aber es entfachte auch keine Leidenschaft in ihr.

Uwe trug sie auf Händen. Er las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Blanca fand sein Verhalten unterwürfig, und es stieß sie ab. Doch damals hatte sie nicht den Mut, ihm das ins Gesicht zu sagen. Wenn er mit ihr zusammen war, versuchte er zunehmend ihr Leben zu bestimmen. Wochentags studierte er in Leipzig. Doch an den Wochenenden wurde er zu ihrem Schatten. Sie konnte keinen Schritt tun, ohne dass er wusste, wohin sie ging. Blancas Unwillen wuchs. Eines Nachmittags dann, als Uwe sie bat, sich mit ihm zu verloben und eine baldige Heirat in Aussicht stellte, brachte er das Fass zum überlaufen. Mit steigender Erregung hörte Blanca sich an, was er zu sagen hatte. Ihre Frustration entlud sich in harten Worten. Rücksichtslos zerstörte sie Uwes Illusion, der er sich bislang hingegeben hatte. Sie sagte ihm, dass sie nicht im Traum daran dächte, sich jetzt schon zu binden: »Ich will mein Leben genießen, reisen, vielleicht auch studieren, aber doch nicht heiraten. Wenn du das von mir geglaubt hast, dann tut es mir Leid. Außerdem nervt es mich, dass du ständig versuchst mir vorzuschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe.«

Blanca erinnerte sich an Uwes ungläubigen Blick. Wie ein waidwundes Reh hatte er ausgesehen. »Heißt das, es ist aus zwischen uns?« In seiner Frage schwang soviel Verletzlichkeit und Angst mit, dass Blanca es nicht übers Herz brachte ihn abzuweisen: »Ich habe nicht gesagt, dass es aus ist. Nur, dass ich mir etwas mehr Spielraum wünsche. Du engst mich ein und das stört mich. Lass mir ein wenig mehr Freiheiten. Mehr will ich doch gar nicht.«

Uwe versprach es hoch und heilig. Doch das Netz, das er um sie wob, wurde immer engmaschiger. Eines Tages sah Blanca sich gezwungen zum Befreiungsschlag auszuholen. Nichts war geplant. Alles ergab sich ganz spontan. Uwe hatte sie zu einer Faschingsparty eingeladen. In ihrer Erinnerung sah Blanca sich vorm Spiegel stehen. Sie hatte sich für das Kostüm einer Ordensschwester entschieden. Züchtig und bieder, so als ob sie kein Wässerchen trüben könnte, lächelte ihr Spiegelbild ihr entgegen. Doch das, was sie Stunden später tat, stand in krassem Gegensatz dazu.

Zunächst war sie mit Uwe zu dieser Party gegangen. Als sie eintrafen, war die Stimmung auf Grund des in Strömen fließenden Alkohols dementsprechend übermütig. Anfangs tanzte sie mit ihm. Wie gewöhnlich wachte er über jede ihrer Gesten und folgte ihr auf Schritt und Tritt. Blanca reichte es. Sie wollte ihn loswerden. Hier und heute schien ihr der geeignete Ort dafür zu sein. Obwohl sie wusste, dass das, was sie beabsichtigte, ganz und gar nicht der feinen englischen Art entsprach, zögerte sie keine Sekunde lang ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Zunächst suchte sie sich einen hübschen Jungen aus. Schnell fand sie einen, der ihr auf Anhieb gefiel. Ohne dass Uwe es mitbekam, versuchte sie nun, den Blickkontakt mit ihm herzustellen. Es dauerte nicht lange, und sie hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Ungeachtet dessen, dass er ihr schon etwas angeheitert erschien und sie mit leicht glasigem Blick ansah, hielt es Blanca nicht davon ab, mit ihm zu flirten. Das Weitere gestaltete sich wie erhofft. Er kam, um sie zum Tanzen aufzufordern. Obwohl Uwe die ganze Zeit neben Blanca stand, konnte er nicht verhindern, dass die beiden sich ins Getümmel stürzten. Sie tanzten eng umschlungen. Uwes Miene verriet Fassungslosigkeit über soviel Dreistigkeit. Wenig später, als Blanca und ihr Cowboy, denn als solcher war er kostümiert, sich dann auch noch küssten, drückte sie unverhohlenen Hass aus. Uwe konnte nicht glauben, was er zu sehen bekam. In seinen Augen war der Kerl sternhagelvoll und Blanca konnte sich seiner nicht erwehren. Das war für ihn die einzig mögliche Erklärung. Als der letzte Ton des Liedes verklungen war, stürmte Uwe auf die Tanzfläche. Kaum war es ihm gelungen, sich zwischen Blanca und deren Partner zu schieben, krachte auch schon seine Faust in dessen Gesicht. Bevor Uwe zum zweiten Schlag ausholen konnte, griff Blanca ein. Wutentbrannt schob sie sich an ihm vorbei, um sich beschützend vor ihrem völlig verdutzten Begleiter aufzubauen. »Sag mal, spinnst du?«, ging sie auf ihn los.

Darauf war dieser nicht vorbereitet gewesen. Er hatte gehofft, dass Blanca ihm dankbar sein würde, wenn er sie aus den Klauen dieses Betrunkenen rettete. Doch nun stellte sich die Situation gänzlich anders dar. »Hau ab und lass dich nie wieder bei mir blicken. Ich hab dich satt!« Nachdem Blanca ihm diese harten Worte entgegen geschleudert hatte, wandte sie sich von ihm ab. Ihren Cowboy, der sich seinen schmerzenden Schädel hielt, schob sie vor sich her. Uwe sah sie erst bei der Heimfahrt wieder. Blanca saß auf dem Schoß ihres Wildwesthelden und ließ sich die ganze Busfahrt über ungeniert von ihm küssen. Anstatt sich diskret im Hintergrund zu halten, suchte Uwe sich einen freien Platz, den beiden direkt gegenüber. Als Blanca einmal kurz hochblickte, begegneten sich ihre Blicke. Uwes waren voller unverhohlenen Hasses.

Die aufgeblendeten Scheinwerfer eines ihr entgegenkommenden Lasters schreckten Blanca aus ihren Gedanken auf. Eine Zeitlang richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Straße vor sich. Doch die Vergangenheit holte sie bald wieder ein. Rückschau haltend wunderte sie sich darüber, welche Erinnerungen jener Mann, der ihr heute bei der Buchlesung aufgefallen war, in ihr geweckt hatte. Denn bei jenem Mann und dem angetrunkenen Cowboy von einst handelte es sich um ein und dieselbe Person. Blanca traf sich danach noch ein paar Mal mit ihm. Zum Teil aus Trotz, zum Teil aber auch, weil sie ihn anziehend fand. Mit seinem Dreitagebart und seinen stahlblauen Augen faszinierte er sie. Eine Zeitlang glaubte Blanca sogar, in ihn verliebt zu sein. Wenn er sie ansah, begann ihr Herz heftig zu schlagen. Zudem war er ganz anders als Uwe. Er behandelte sie nicht, als sei sie sein Eigentum. Das tat ihr gut. Doch bald schon musste sie einsehen, dass er dafür andere, nicht misszuverstehende Vorstellungen von einer Partnerschaft hatte. Als Blanca erkannte, dass es ihm nur darum ging, sie so schnell wie möglich in sein Bett zu bekommen, gab sie ihm den Laufpass.

An dieser Stelle ihrer Betrachtungen angelangt, fiel ihr wie aus dem Nichts auch plötzlich wieder sein Name ein. Er hieß Torben Frey.

Augenblicklich stand ihr der letzte gemeinsame Abend, den sie mit ihm verbrachte, wieder vor Augen. Mit Schrecken dachte sie daran, wie grob er wurde, als sie sich von ihm trennte. In seiner Männlichkeit gekränkt, hatte Torben viele unschöne Dinge zu ihr gesagt. Unter anderem hatte er sich abfällig über ihre angebliche Prüderie geäußert. »Erst anmachen und dann das Blümchen ›Rührmichnichtan‹ spielen, das hab ich gern …« Torbens Worte hallten noch heute, fast zwanzig Jahre später, in ihrem Kopf nach.

Auf Grund dieser unschönen Episode schwor Blanca sich, die nächste Zeit solo zu bleiben. Doch ganz so einfach, wie sie sich das vorstellte, sollte es nicht werden. Zwar hatte sie sich Torben vom Halse geschafft und bis zum heutigen Tag nie wieder etwas von ihm gehört, geschweige denn gesehen, doch mit Uwe war das nicht so leicht.

Eines Abends, als sie allein vom Tanz nach Hause ging, stand er plötzlich vor ihr. »Hallo, Blanca!« begrüßte er sie, als wenn es das Normalste auf der Welt sei, ihr mitten in der Nacht über den Weg zu laufen. Blanca besann sich noch deutlich darauf, welche Furcht er ihr eingejagt hatte.

»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich wollte nur, dass du weißt, dass ich dir wegen damals nicht mehr böse bin. Es war meine Schuld. Ich hätte dich nicht so bedrängen sollen. Jetzt sehe ich das ein. Es tut mir Leid. Wenn ich mein Verhalten doch nur rückgängig machen könnte …« Zerknirscht sah er Blanca dabei an. »Was hältst du von einer zweiten Chance. Meinst du nicht, dass ich sie verdient hätte?«, hakte er nach, als Blanca schwieg.

»Ich bin müde. Und außerdem glaube ich nicht, dass ich das will.« Sie versuchte sich an ihm vorbei zu schieben. »Dass du was willst?« Uwe stellte sich bewusst naiv. Blanca begann wütend zu werden. »Dir eine zweite Chance zu geben«, entgegnete sie kurz und bündig. »Und jetzt entschuldige mich. Ich muss morgen früh raus.« Ohne einen Gruß wandte sie sich ab und ging davon. Uwe hielt sie nicht zurück.

Am nächsten Morgen tat es Blanca Leid, so schroff gewesen zu sein. Doch gesagt war gesagt und sie hatte ja auch nicht vor, sich jemals wieder mit Uwe einzulassen. Sie war froh, diese Beziehung für immer beendet zu haben. Am nächsten Tag befand sich ein Brief von Uwe in der Post. Darin entschuldigte er sich erneut für sein Verhalten, schob ihre ablehnende Haltung auf sein unverhofftes Erscheinen mit dem er sie verängstigt hatte. Erneut bat er sie, ihm eine zweite Chance einzuräumen. Blanca schrieb ihm noch am selben Tag zurück. Diesmal fielen ihre Worte milder aus, ihre Meinung jedoch änderte sie nicht. Regelmäßig erhielt sie nun mindestens zweimal pro Woche Post von ihm.

Eine Zeit lang machte sie sich noch die Mühe, darauf zu antworten. Doch als er nicht zu begreifen schien, dass es aus war und stattdessen immer wieder versuchte, sie zurückzugewinnen, obwohl sie ihm klargemacht hatte, dass das hoffnungslos sei, beschloss Blanca den Schriftverkehr zu beenden.

In unmissverständlichen Worten teilte sie Uwe ihre Absicht mit und bat ihn, ihr keine Briefe mehr zu schicken. Tatsächlich schienen ihre Worte Wirkung zu zeigen. Allerdings nur kurzzeitig. Uwe entschloss sich, zur Abwechslung wieder einmal persönlich auf der Bildfläche zu erscheinen. Blanca war verärgert. Sie fühlte sich belästigt. Er wollte einfach nicht verstehen, dass es aus war. Immer wieder lauerte er ihr auf. Auch seine Briefe erreichten sie weiterhin. Blanca zerriss sie alle. Sie wusste sich nicht anders zu helfen. Anfangs war sie ratlos, manchmal auch wütend. Irgendwann, so sagte sie sich, wird er es einsehen und dann wird er mich in Ruhe lassen.

Doch es sollte noch zwei Jahre dauern, bis er endlich zu begreifen schien und aus ihrem Leben verschwand. Blanca atmete auf.