Zwiespalt - Maren Schwarz - E-Book

Zwiespalt E-Book

Maren Schwarz

4,6

Beschreibung

Die erfolgreiche Krimiautorin Blanca Büchner erwartet mit 40 Jahren ihr erstes Kind. Gerade ist sie mit ihrem Mann auf den Lochbauernhof im Vogtland gezogen - dieser soll mit einem Fluch belegt sein. Kurz darauf fällt Blancas Mann durch einen Unfall ins Koma. Auch die Vorbesitzerin des Hofs erlitt ein schweres Schicksal: Sie nahm sich das Leben, nachdem sie ein Kind mit schwerem genetischen Defekt abtreiben lassen musste. Bei einer Fruchtwasseruntersuchung stellt Blancas Arzt auch bei ihrem Kind einen solchen Defekt fest. Kurze Zeit später ist er tot. Blanca glaubt nicht an einen Unfall und beginnt zu ermitteln.

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Maren Schwarz

Zwiespalt

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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www.gmeiner-verlag.de

© 2007 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

Prolog

Seit zwanzig Jahren versah Martin Eichfeldt nun schon seinen Dienst als Lokführer bei der Bahn. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass es in dieser Zeit nie zu nennenswerten Zwischenfällen gekommen war.

Von einer den Bahnsteig stürmenden Gruppe Jugendlicher aus seinen Erinnerungen gerissen, warf er einen Blick auf die Bahnhofsuhr. Es war kurz nach einundzwanzig Uhr. Martin rückte die seinen kahlen Schädel bedeckende Mütze zurecht und nahm seinen Platz hinter dem Schaltpult ein. In wenigen Minuten würde er zur letzten Fahrt seiner heutigen Schicht aufbrechen. Normalerweise benötigte er eine Stunde und sechsundvierzig Minuten für die Strecke von Zwickau bis ins tschechische Kraslice. Ein kritischer Blick auf den wolkenverhangenen Nachthimmel ließ ihn hoffen, dass das Wetter ihm keinen Strich durch die Rechnung machen möge. Obwohl ein vom Volksmund als Altweibersommer bezeichneter Tag hinter ihm lag, war der nahende Herbst bereits zu spüren. Vor allem die Nächte waren schon empfindlich kühl. Kurz nachdem die Vogtlandbahn den Hauptbahnhof verlassen hatte, setzte ein leichter Nieselregen ein. Wenig später zog Nebel auf und erschwerte die ohnehin schon eingeschränkte Sicht. Martin beeindruckte das wenig. Schließlich hatte er schon bei viel extremeren Wetterkapriolen seinen Dienst versehen.

Ohne dass seine Wachsamkeit darunter litt, war seinen Handgriffen die Routine unzähliger Jahre anzumerken. Schließlich gab es immer wieder brenzlige Situationen, bei denen ein unachtsamer Augenblick ungeahnte Folgen haben konnte. Erst kürzlich hatte er miterleben müssen, wie durch eine falsch gestellte Weiche beinahe zwei Züge miteinander kollidiert wären. Er bekam jetzt noch Gänsehaut, wenn er daran dachte. Den Blick konzentriert nach vorn gerichtet, passierte er soeben ein Waldstück. Hinter einer Kurve geschah dann das Unfassbare. Durch Nebel und Nieselregen hindurch sah er direkt vor sich eine Gestalt auf den Gleisen liegen. Das Licht der Zugscheinwerfer gab ihrem Umriss Kontur. Trotz sofort eingeleiteter Notbremsung schaffte er es nicht rechtzeitig, den Triebwagen der Vogtlandbahn zum Stehen zu bringen.

Seither verfolgte ihn dieser Albtraum jede Nacht und ließ ihn schweißgebadet aufschrecken. Der ohrenbetäubende Lärm schrill aufkreischender Bremsen und der Anblick der in Todesangst auf ihn gerichteten Augen hatten sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Obwohl er sich immer wieder sagte, dass ihn keine Schuld traf, gelang es ihm nicht, die Schrecken jener Nacht zu verarbeiten, geschweige denn zu vergessen. Unmittelbar nachdem der Zug zum Stehen gekommen war, hatte er noch die Geistesgegenwart besessen, einen Notruf abzusenden. Dann jedoch war er zusammengebrochen und unter Schock stehend ins nahe gelegene Klinikum Obergöltzsch eingeliefert worden. Den zur Unglücksstelle gerufenen Beamten hatte sich ein Bild des Grauens geboten. Über ein Umfeld von mehreren Metern verstreut lagen entlang der Gleise und des Bahndamms Körperteile und abgetrennte Gliedmaßen. Selbst der Kopf der Leiche war bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die mit Blut getränkten Überreste der einst blond gelockten langen Haare ließen die Beamten von der Spurensicherung davon ausgehen, dass sie es mit einer weiblichen Person zu tun hatten. Die Tote zu identifizieren erwies sich jedoch schwieriger als gedacht. Zumal auch zwei Tage nach dem Unglück noch keine Vermisstenanzeige vorlag, der man das Opfer hätte zuordnen können. Ein mit den Initialen ›A. S.‹ versehener Anhänger, der an einer Goldkette befestigt war, bot zunächst den einzigen Hinweis. Bis auf dieses Schmuckstück waren keinerlei verwertbare Gegenstände im Umfeld des Unfallortes gefunden worden, die Rückschlüsse auf die Person der Toten zugelassen hätten. Die sterblichen Überreste waren in die Rechtsmedizin überstellt worden. Obwohl der Obduktionsbericht noch ausstand, ging die Polizei nach dem am Tatort vorgefunden Bild von Selbstmord aus.

1

Emma Schilling war zwölf, als ihre Großmutter ihr von dem Fluch erzählte, der über dem Lochbauernhof lag.

Nie würde sie diesen Tag vergessen. Ehrfürchtig staunend hatte sie zu Füßen der alten Frau gesessen und ihren Worten gelauscht. Verwundert fragte sich Emma, wie lange das wohl schon her sein mochte. Mittlerweile war sie auch nicht mehr jung. In der seither vergangenen Zeit hatte sie wiederholt mit ansehen müssen, wie der Fluch in schöner Regelmäßigkeit seine Opfer einforderte. Nichts und niemand schien ihm Einhalt gebieten zu können. Längst schon war auch sie zu der Überzeugung gelangt, dass unter der dichten Efeuschicht, die das jahrhundertealte, an ihr Grundstück grenzende Gemäuer überzog, ein tragisches Geheimnis verborgen lag. Die traurigen Vorfälle der jüngsten Zeit schienen ihr wieder einmal recht zu geben.

Als sie hörte, dass Malena Orrs letzter Wohnsitz von einem Maklerbüro zum Verkauf ausgeschrieben werden sollte, beschlich sie eine böse Vorahnung. Selbst wenn sie wollte, hätte sie das nahende Unheil nicht aufhalten können. Hier waren Kräfte im Spiel, die mit dem gesunden Menschenverstand nicht zu fassen, geschweige denn zu erklären waren.

Es blieb nur zu hoffen, dass sich kein Käufer für das Anwesen finden würde. Die Einheimischen würden es nicht erwerben. Aber was war mit den Fremden, jenen, die nichts von der Vergangenheit des Lochbauernhofes wussten?

Mythos und Wahrheit hatten ihre Fäden über die Jahrhunderte hinweg so engmaschig miteinander verwoben, dass niemand mehr sie voneinander zu trennen vermochte. Emma Schilling war die letzte Überlebende ihrer Generation, die mit eigenen Augen die Auswirkungen jenes düsteren Sterns, der über den Bewohnern des Lochbauernhofes zu hängen schien, bezeugen konnte. Obwohl Emma auf die neunzig zuging, war ihr Verstand klar und sie erinnerte sich an alle Schicksale. Während sie am Küchenfenster saß und die Morgensonne genoss, kreisten ihre Gedanken wieder einmal um das Nachbargrundstück. Einem inneren Zwang folgend, schloss sie die Augen. Zeit und Raum verflüchtigten sich und eines der wohl düstersten Kapitel der Menschheitsgeschichte tat sich vor ihr auf. Man schrieb das Jahr 1720. Durch den Einfluss der Kirche waren Aberglaube und Hexenwahn weit verbreitet. Hannes Lochbauer versah seinen Dienst als Verwalter des Rittergutes Rützengrün, zu dessen Gemarkung auch das von ihm bebaute Land gehörte. Das späterhin als Lochbauernhof bekannte Anwesen lag inmitten des Waldes. Nicht lange, nachdem er mit Lene, seinem Weib, Einzug gehalten hatte, gebar sie ihm in kurzer Folge zwei Töchter. Schenkte man der Überlieferung Glauben, so war das Erste der Kinder gesund, das Zweite jedoch lahm und missgestaltet. Es wurde gemunkelt, etwas Missratenes stecke in Lene. Ihr Äußeres untermauerte diese Vermutung. Unangenehm berührt wichen die Menschen vor ihrem stechenden Blick zurück. Zudem ging sie krumm. Widerspenstiges graues Haar umgab ein Gesicht, das vor der Zeit gealtert war. Wenn sich ihr schiefer, zahnloser Mund zu einem Lächeln verzog, dachten alle, sie grinse nur. Man ging ihr aus dem Weg. So kam es, dass sie unbemerkt im Schutz der Wälder ihr Dasein fristete. 

Dabei war sie herzensgut, hätte keiner Fliege etwas zuleide tun können. Es traf sie tief, als sie bemerkte, dass die Leute bei ihrem Anblick Unbehagen empfanden. Sie bekam es schmerzlich zu spüren, wenn sie, was von Zeit zu Zeit einmal geschah, mit ihrer Familie die selbstgewählte Einsamkeit verließ, um an einer Hochzeit oder einem Sauschlachten teilzuhaben. Wo immer sie auch auftauchte, sah sie Erschrecken in den Augen der Leute. Mit der Zeit hatte Lene gelernt, sich in ihr Schicksal zu fügen. Ging sie dennoch einmal aus, hatte sie es sich angewöhnt, den Kopf demütig gesenkt zu halten. Dann aber starb ihr Mann und von da an herrschte bittere Not. Tagein tagaus musste sie hart schuften, um sich und ihre Kinder durchzubringen. Es kam ihr zugute, dass die Töchter verheiratet waren. Die lahme Irma und Marie hatten Kinder und wohnten zusammen mit ihren Familien in Mutters Haus. Als Lene eines Tages wieder einmal im Dorf zugange war, um selbst geflochtene Weidenkörbe zum Verkauf anzubieten, wehte ihr der Duft frischen Wellfleisches und gekochten Sauerkrautes entgegen. Ihr knurrte der Magen vor Hunger. Auf Bauer Gerstgers Hof war ein Sauschlachten in vollem Gange. Auf einen Teller Wurstbrühe hoffend, näherte sie sich den geschäftig umhereilenden Mägden. In diesem Moment betrat die Hausfrau in Begleitung ihres siebenjährigen Sohnes Martin den Hof, der, als er die ärmliche, in Lumpen gehüllte Gestalt der Lochbauer Lene gewahr wurde, in schallendes Hohngelächter ausbrach. Als seine Mutter ihm Einhalt gebot, trachtete der Knabe danach, das Weib auf andere Art und Weise zu demütigen. »Lumpenlene, krumme Beene, Lumpenlene, krumme Beene ...«, verspottete er sie.

Lene fühlte Wut in sich aufsteigen. Sie blickte das Kind mit ihren stechenden Augen an. »Dass dich ...!«, würgte sie heraus.

Weiter jedoch kam sie nicht, denn Verwünschungen kamen ihr nur schwer über die Lippen. Stattdessen ging sie schweigend davon. Tags darauf erkrankte der Sohn des Bauern an hohem Fieber. Alle Versuche, es zu senken, scheiterten. Auch Ärzte und Quacksalber wussten keinen Rat. Das Fieber wollte nicht sinken. In ihrer Todesangst erinnerte sich die Bäuerin an Lenes stechenden Blick und ihren Ausruf. Sie musste es gewesen sein. Sie hatte das Kind verhext. Noch am selben Tag wurde Lene aus ihrer Behausung gezerrt und Anklage gegen sie erhoben. Alles, was Beine hatte, versammelte sich entlang der staubigen Dorfstraße, um an dem Schauspiel teilzuhaben. Das eilig einberufene Ortsgericht befand sie der Hexerei für schuldig.

Weil sie die Tat jedoch beharrlich leugnete, brachte man sie ins Rittergut Obergöltzsch. Es war üblich, dass jedes Rittergut über seine eigene Gerichtsbarkeit verfügte. Bei besonders schwerwiegenden Delikten jedoch, wie in Lenes Fall durch ihr beharrliches Leugnen verursacht, versammelten sich die angrenzenden Gerichte zu einem gemeinsamen Rechtsspruch.

Die Entscheidung des hochnotpeinlichen Halsgerichts ließ nicht lange auf sich warten. »Gesteht das Weib nicht, so wendet die scharfe Frage an!«

Die scharfe Frage war eine heuchlerische Umschreibung der Folter. Sie bestand aus zwei Fragen mit ein- und derselben Antwort: Gesteht Ihr Eure Untat? Wenn ja, so steht darauf der Tod. Leugnet Ihr? So macht Ihr Euch selbst schuldig, und es steht darauf der Tod.

Als man ihr Pflöcke unter Fuß- und Zehennägel trieb, gestand Lene, wahnsinnig vor Schmerz, sich der Hexerei schuldig gemacht zu haben. Dass der Sohn des Gerstgers Bauern sich inzwischen von seinem Fieber erholt hatte, interessierte schon längst niemanden mehr. Ein Exempel musste statuiert werden. Zudem hatte das Ganze noch einen anderen, nicht zu unterschätzenden Nebeneffekt. Rechtfertigte doch Artikel 218 der Carolina, der peinlichen Halsgerichtsordnung, zu der nach damaliger Zeit Recht gesprochen wurde, das Vermögen der zum Tode verurteilten Person zu konfiszieren. In Lenes Fall bedeutete das die Einziehung des Lochbauernhofes. Um dem in dieser Sache als Ankläger fungierenden Scharfrichter sein Amt zu versüßen, versprach man ihm nach Lenes Tod deren Grundstück. Der für seine unermessliche Habgier bekannte Henkersknecht wies das Gericht an, Lene der Wasserprobe zu unterziehen. Weil die Angeklagte das ihr zur Last gelegte Delikt gestanden hatte, war es bei Halsgerichten üblich, das Urteil sofort zu vollstrecken.

Dabei band man der entkleideten beschuldigten Person den rechten Daumen an die linke große Zehe, sodass sie sich nicht rühren konnte, worauf sie der Henker an einem Seil in ein Gewässer, Fluss oder Teich hinabließ. Das wurde insgesamt dreimal gemacht. Ging die Angeklagte unter, bewies das ihre Unschuld, schwamm sie obenauf, bezeugte das ihre Schuld. Denn die Wasserprobe stützte sich auf die Meinung, dass der Teufel den Hexen eine spezifische Leichtigkeit verlieh. Der Erfolg der Wasserprobe hing zumeist vom Henker ab. Nachdem der Schiedsspruch sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen hatte, fanden sich zahlreiche Schaulustige ein. Es reizte das einfache Volk, die nackte, hilflose Lene kreuzweise zusammengebunden am Strick unter Wasser zappeln zu sehen. Dass damit die Sittlichkeit verletzt und die Grausamkeit gefördert wurde, erwog niemand. Kaum hatte sie das Wasser berührt, versank Lene. Dass damit nach dem Gesetz ihre Unschuld bewiesen war, wurde geflissentlich ignoriert. Ihr Schicksal war besiegelt. Der Henker zog sie erst wieder an die Wasseroberfläche, als sie im kühlen Nass ertrunken war.

Gemäß der mit dem Scharfrichter getroffenen Vereinbarung wurden nach Lenes Tod die Töchter mit ihren Familien vor die Tür gesetzt. Kurz darauf hielt der Henkersknecht Einzug. Überlieferungen besagten, dass noch im selben Jahr, in dem die Lochbauer Lene den Tod gefunden hatte, auch die Familie des Scharfrichters von einer unbekannten Seuche dahingerafft wurde. Doch auch nachfolgende Bewohner blieben nicht von Unheil verschont. Rätselhafte Krankheiten, wie das von Soldaten eingeschleppte hitzige Fieber und eine vergleichsweise hohe Säuglingssterblichkeit unter den auf dem Lochbauernhof geborenen Kindern, führten im Laufe der Jahrhunderte zu der Behauptung, auf dem Haus laste ein Fluch.

Wie um seine allgegenwärtige Präsenz wieder einmal unter Beweis zu stellen, hatte er nun auch Malena Orr, die letzte Bewohnerin des einst von der Lochbauer Lene bewohnten Anwesens, ereilt. Nachdem ihr vor einem halben Jahr wie aus heiterem Himmel der Mann weggestorben war, stellte sich zu allem Übel auch noch heraus, dass das Kind, welches sie unter ihrem Herzen trug, nicht lebensfähig war. Den Rat ihres Arztes befolgend, entschied sie sich für einen Abbruch der Schwangerschaft. Doch die seither auf ihrem Gewissen lastende Schuld wog zu schwer, um damit weiterleben zu können. Malena schnitt sich in ihrer grenzenlosen Verzweiflung die Pulsadern auf. Der Fluch, davon war Emma Schilling überzeugt, hatte ein weiteres Opfer gefordert. Sie erinnerte sich an den Moment, als man Malenas sterbliche Überreste in einem schmucklosen Blechsarg aus dem Haus getragen hatte. Obwohl die Sonne schien, fröstelte Emma.

2

Der Anblick des leer stehenden Hauses berührte Gregor Stolze auf eine ganz eigentümliche Art und Weise. Ohne benennen zu können weshalb, fühlte er sich magisch angezogen. Die Morgensonne beschien seine brüchigen, von Efeu überzogenen Mauern. Eine ovale Schiefertafel unterhalb des mit Schindeln gedeckten Daches verriet, dass es im Jahre 1720 erbaut worden war. Es stand inmitten einer kleinen Siedlung auf einer Waldlichtung. Die einzige Zufahrtsstraße stellte ein vom Regen ausgespülter Feldweg dar. Ein Schild zeigte an, dass es zum Verkauf stand. Gregor konnte sein Glück kaum fassen. Sein Handy zückend, rief er die angegebene Telefonnummer an. Der Anschluss gehörte einem in Auerbach ansässigen Maklerbüro. Nachdem er einen Termin vereinbart hatte, ging er lächelnd zu seinem Wagen zurück. Blanca wird Augen machen, dachte er, als er, ein Lied auf den Lippen, seinen Dienstwagen auf die B 169 lenkte.

Während der Fahrt ließ er die hinter ihm liegenden Monate vor seinem inneren Auge Revue passieren. Nachdem Blanca sich von den Schrecken des auf sie verübten Anschlags erholt hatte, waren sie einander nähergekommen. Sein Misstrauen und sein daraus resultierendes Verhalten hatte sie ihm inzwischen großmütig verziehen.

Als er ihr am zweiundzwanzigsten November, ihrem neununddreißigsten Geburtstag, einen Heiratsantrag machte, willigte sie freudestrahlend ein. An einem frostig kalten Januartag wurde sie seine Frau. Dem festlichen Anlass entsprechend, trug Blanca ein ihre zerbrechliche Figur vorteilhaft betonendes Kostüm aus cremefarbener Seide. Gregor hatte noch nie eine schönere Braut gesehen. Dieser Meinung war auch Jenny Melms, die von ihrem Kollegen gebeten worden war, als Trauzeugin zu fungieren. Die anschließende Feier fand im engsten Kreis statt. Mittlerweile waren sie schon fast vier Monate verheiratet. Wie doch die Zeit verging! Gregor musste über sich selbst lächeln, wenn er daran dachte, wie skeptisch er anfangs einer erneuten Bindung gegenübergestanden hatte. Schließlich war er ein gebranntes Kind. Wenn ihm seine Kollegin damals nicht ins Gewissen geredet hätte, wäre er womöglich heute noch verbittert und einsam. Jenny hatte sogleich erkannt, dass Blanca aus ganz anderem Holz geschnitzt war als Sonja, seine Exfrau. Weder hatte sie etwas von deren Eitelkeit noch von ihrer Selbstgefälligkeit. Blanca hatte sich noch nie verstellen können. Trotz ihres Erfolges war sie einsam gewesen und hatte sich verzweifelt nach Liebe und Geborgenheit gesehnt. Und nun erwarteten sie ein Baby. Anfangs hatte Blanca nicht darauf zu hoffen gewagt – schließlich ging sie auf die vierzig zu. Als sich ihre Vermutung bestätigte, waren sie außer sich vor Freude und beschlossen, sich nach einem Heim umzusehen.

Seit jenen dramatischen Vorkommnissen im Frühjahr des vergangenen Jahres, die Blanca fast das Leben kosteten, war sie durch nichts mehr zu bewegen, in ihr Haus im Burgsteingebiet zurückzukehren. Ein glücklicher Zufall hatte ihnen schnell einen Interessenten zugespielt, der zudem auch noch gewillt war, den von ihnen geforderten Kaufpreis zu zahlen. Seither wohnten sie in Gregors Stadtwohnung. Sie lag in der Rosengasse, einem der malerischsten Winkel von Plauen. Mit etwas gutem Willen ließ es sich dort zu zweit leben. Für ein Kind jedoch war kein Platz. Blanca, die es gewohnt war, fernab der Zivilisation zu leben, wünschte sich auch für ihren Nachwuchs einen solchen Ort zum Aufwachsen. Ihrer erdrückenden Enge wegen stand die Vogtlandmetropole ihren Plänen entgegen. Vielmehr schwebte ihnen ein im Grünen gelegenes Häuschen vor. Zur gleichen Zeit bewarb sich Gregor, einer Ausschreibung folgend, um eine vakante Stelle im Auerbacher Polizeirevier. Die inmitten sanft ansteigender Wälder und Wiesen gelegene Stadt im Herzen des Vogtlands hatte ihm schon immer gefallen. Seit der Zusage verging kein Tag, an dem er nicht die in der ›Freien Presse‹ erscheinenden Immobilienanzeigen studierte. Der Tipp mit dem Haus allerdings stammte von Hajo Krögers, einem seiner neuen Kollegen, dem das zum Verkauf angebotene Anwesen bei einer seiner Streifenfahrten aufgefallen war. Wenn der Preis stimmte und sich die Bausubstanz als solide erweisen würde, könnten sie mit etwas Glück bald schon stolze Hausbesitzer sein. Gregor ging davon aus, dass auch Blanca begeistert sein würde. Gregor kannte sie mittlerweile gut genug, um das einschätzen zu können.

3

Schon wenige Wochen später, Anfang Mai, rumpelte ein vollbeladener Umzugslaster über die holprige Zufahrtsstraße ihrem neuen Zuhause entgegen. Blanca genoss ihre Schwangerschaft und fühlte sich wie neu geboren. Daran änderte auch die seit Wochen andauernde morgendliche Übelkeit nichts. Die Schwangerschaft hatte ihrem Leben einen neuen Sinn gegeben und ihr geholfen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und nach vorn zu schauen. Sie freute sich auf ihr neues Heim und darauf, es gemütlich auszustaffieren.

Soweit das Auge reichte, säumten dunkelgrüne Fichten das von einer sanft ansteigenden Weide begrenzte Anwesen. Die grasende Schafherde verlieh der bei den Einheimischen als Hahnenhäuser bekannten Siedlung etwas Malerisches. Ihr Name resultierte aus dem Dreißigjährigen Krieg. Der Überlieferung zufolge soll im Jahre 1639 ein Hahnenschrei die vor den schwedischen Truppen im Meierhof Zuflucht suchenden Wernesgrüner verraten und der feindlichen Heerschar den Weg gewiesen haben. Neben dem Lochbauernhof gehörten noch zwei weitere Grundstücke zu der Waldsiedlung. In einem davon lärmte eine muntere Gänseschar. Kaum war der Umzugslaster zum Stehen gekommen, schlug ein die Schafe und das Nachbargrundstück bewachender Schäferhund an. Einem bedrohlichen Bellen folgte ein kehliges Knurren, das nach einiger Zeit in ein winselndes Jaulen überging. Sein Anblick erinnerte Blanca an Peter und Paul, ihre beiden Huskies. Es war ihr schwer gefallen, die Hunde dem Nachmieter ihres Hauses im Burgsteingebiet zu überlassen – ihres Wohlergehens wegen gab es damals jedoch keine andere Alternative. In Gregors Stadtwohnung konnten sie die Tiere schließlich nicht halten. Einzig die Aussicht, dass es ihren geliebten Vierbeinern in ihrer gewohnten Umgebung gut gehen würde und sie die beiden jederzeit besuchen konnte, hatte den Trennungsschmerz etwas lindern können.

Als Blanca aus ihrem dem Umzugslaster vorausfahrenden Passat Kombi stieg, sah sie erneut jene alte Frau, die ihr schon bei ihrem ersten Besuch aufgefallen war. Genau wie damals hatte die grauhaarige Greisin ihren Beobachtungsposten hinter einem der Fenster bezogen. Ihrer unbewegten Miene war nicht zu entnehmen, was sie über die Neuankömmlinge dachte. Ob sie das Paar als Eindringlinge betrachtete? Blanca nahm sich vor, sie gelegentlich einmal zu besuchen. Einen wehmütigen Augenblick lang musste sie an Arnulf Ziegler, ihren ehemaligen Nachbarn denken, der den Racheplänen eines Geistesgestörten zum Opfer gefallen war. Ihr Gesicht wurde starr. Gregor, dem das nicht entgangen war, trat neben sie und legte beschützend den Arm um ihre Schulter. Obwohl keiner von beiden ein Wort sagte, konnte Blanca spüren, dass er den Grund für ihren Stimmungswechsel kannte. Geistesabwesend ließ sie es zu, dass er ihre Hand nahm und sie mit sich zog. An der Haustür angelangt, hob er seine Frau hoch, um sie über die Schwelle zu tragen. »Was soll das denn?«, wehrte sie sich lachend.

Nachdem er sie wieder abgesetzt hatte, verschloss er ihre Lippen mit einem zärtlichen Kuss. Ein von der Tür her kommendes Räuspern riss sie aus ihrer Versunkenheit. »Wenn Sie uns verraten, wo die Sachen hinkommen sollen, könnten wir schon mal damit beginnen, abzuladen und sie ins Haus zu bringen«, unterbrach einer der beiden Möbelpacker ihre stumme Zwiesprache.

Gregor war anzumerken, dass er sich wie ein ertappter Schuljunge fühlte. Blanca wusste genau, dass der geschäftsmäßige Ton, mit dem er den Männern seine Anweisungen erteilte, seine Verlegenheit überspielen sollte. Wenige Stunden später befanden sich dank ihrer tatkräftigen Unterstützung sämtliche Umzugsgüter an ihrem Platz. Als die Möbelpacker gegangen waren, ließ sich die werdende Mutter erschöpft auf einen der neu erworbenen Küchenstühle sinken. Obwohl Gregor ihr streng untersagt hatte, selbst mit Hand anzulegen, hatte sie es sich nicht nehmen lassen, die Arbeiten wenigstens zu überwachen. Nun sah sie sich zufrieden in ihrem neuen Reich um. Das helle Eichenmöbel gab dem Raum einen freundlichen Anstrich. Durch das über der Spüle liegende Sprossenfenster schien die Sonne herein, malte ihre Kringel auf die in lindgrüner Farbe gehaltenen Wände und beleuchtete die beige marmorierten Fliesen. »Und, zufrieden mit deinem Werk?«, erkundigte sich Gregor.

Bevor Blanca dazu kam, sich zu äußern, ließ sie ein leises Pochen zusammenschrecken. Sie blickte zum Fenster. Eine Efeuranke hatte sich vom Putz gelöst und schlug, vom Wind bewegt, von außen gegen die Scheibe. Belustigt über ihre Schreckhaftigkeit schüttelte sie den Kopf. Sie musste sich wohl erst wieder daran gewöhnen, dass sie nicht mehr in der Stadt lebte. Angefangen von den knarrenden Holzdielen bis hin zum Heulen des Windes im Kamin und dem Rauschen des Waldes gab es da nun mal Geräusche, mit denen sie sich erneut vertraut machen musste. Dafür wurden sie mit einer geradezu himmlischen Ruhe belohnt. Weder drang Straßenlärm an ihr Ohr, noch verpesteten Auspuffgase die Luft. Hier wurde das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims nur vom gelegentlichen Knarren des Gebälks oder dem Ruf eines Eichelhähers unterbrochen.

Das Haus hatte  im Laufe der Jahrhunderte schon mehrfach ein anderes Aussehen bekommen. Bis auf die Grundmauern, einen massiven Feldsteinsockel und die tragende Holzkonstruktion war nach und nach fast alles erneuert worden. Die letzte unter Gregors Regie vorgenommene Veränderung bestand darin, die wurmstichige Dielung durch Fliesen und einen flauschigen Teppichbodenbelag zu ersetzen. Lediglich auf dem Speicher war alles belassen worden. Auf die beiden, durch eine Holztreppe miteinander verbundenen Etagen verteilt, befanden sich acht unterschiedlich große Räume unter dem Dach des Hauses. Niedrige Decken und hervorstehende Holzbalken verliehen ihnen je nach Nutzung einen einzigartigen Charme.

Schon nach kurzer Zeit hatte sich Blanca eingelebt. Neben der Arbeit an ihrem neuen Roman waren ihre Tage damit ausgefüllt, ihr Heim behaglich auszugestalten, Gardinen auszusuchen und Bilder aufzuhängen. In der verbleibenden Zeit widmete sie sich der Einrichtung des Kinderzimmers. Nachdem sie den Wänden einen sonnig gelben Anstrich verpasst und sie mit Figuren aus Walt Disneys Bambi verziert hatte, machte sie sich auf die Suche nach passenden Möbeln. Bei der Inspektion des Speichers war sie auf eine alte Wiege gestoßen. Sie hatte ihr so gut gefallen, dass sie sich dazu entschloss, sie restaurieren zu lassen. Wickeltisch, Schrank und Bettchen samt Zubehör hatte sie bei einem Versandhaus in Auftrag gegeben. Die Zeit bis zur Anlieferung wollte sie nutzen, um endlich auch nach einem Frauenarzt in der Nähe ihres Wohnsitzes Ausschau zu halten. Der anstehenden Untersuchungen wegen nach Plauen zu fahren, war ihr auf Dauer schlichtweg zu anstrengend. Denn obwohl sie die Schwangerschaft bisher ohne nennenswerte Probleme gemeistert hatte, merkte sie doch hin und wieder, dass sie nicht mehr die Jüngste war.

Um ihren Vorsatz in die Tat umzusetzen, griff sie sich das Telefonbuch und machte es sich auf der Couch gemütlich. Sie entschied sich für einen in Auerbach ansässigen Gynäkologen namens Fröhlich. Die werdende Mutter nahm es als gutes Omen. Während sie die Nummer wählte, beschlichen sie dann aber doch Zweifel. Schließlich kannte sie den Mann gar nicht. Sie verließ sich lediglich auf ihre Intuition, und diese hatte sie in der Vergangenheit schon des Öfteren im Stich gelassen. Doch noch bevor sie es sich anders überlegen konnte, wurde am anderen Ende der Leitung abgenommen. »Frauenarztpraxis Doktor Fröhlich, Schwester Maike am Apparat«, meldete sich eine sympathische Frauenstimme, die sofort nach einem freien Termin suchte.

»Wenn es Ihnen recht wäre, könnte ich Sie morgen Vormittag einschieben. Würde Ihnen zehn Uhr passen?«, hörte sie die Sprechstundenhilfe fragen.

Blanca fühlte sich erleichtert, so schnell und problemlos zu einem Termin gekommen zu sein. Aus Erfahrung wusste sie, dass man sich bei den meisten Frauenärzten auf eine ziemlich lange Wartezeit einrichten musste.

Nach einem Blick auf ihre Armbanduhr erhob sie sich, um in die Küche zu gehen und das Abendessen vorzubereiten. Es war kurz vor fünf. In einer Stunde würde Gregor von der Arbeit heimkommen. Während sich Blanca überlegte, was sie auf den Tisch bringen sollte, musste sie daran denken, dass es in ihrem Leben eine Zeit gab, in der sie gar nicht mehr wusste, wie viel Spaß das Kochen machen konnte. Erst seit sie mit Gregor zusammenlebte, hatte sie es wiederentdeckt. Es bereitete ihr Freude, ihn mit einem guten Essen zu verwöhnen, und er gehörte zu den Männern, die das zu schätzen wussten, zumal seine bisherigen Mahlzeiten zum Großteil aus Fastfood bestanden. Jetzt, da er den Unterschied bemerkte, erkannte er erst, wie ungesund er sich bisher ernährt hatte.

Sie öffnete den Kühlschrank, um dem Tiefkühlteil eine Packung Seelachsfilet und dem Gemüsefach einen Eisbergsalat, eine Gurke und einen Beutel mit Fleischtomaten zu entnehmen. Sie hatte sich für eine Fischmahlzeit mit Salat entschieden. Während sie den Seelachs zubereitete und das Gemüse wusch, ließ sie zu ihrer Unterhaltung das Radio laufen. Blanca hatte es sich während der Küchenarbeit angewöhnt, MDR Info einzuschalten, ein Programm, das sie rund um die Uhr mit den neuesten Nachrichten und allen aktuellen Informationen versorgte. Mit der Zubereitung des Abendessens beschäftigt, hörte sie anfangs nur mit halbem Ohr zu: »...entschieden sich die Richter, den Mann wegen Totschlags zu einer mehrjährigen Haftstrafe zu verurteilen. Dem aus Bayern stammenden Familienvater wird zur Last gelegt, seinen damals gerade einmal zwei Monate alten Sohn mit einem Kissen erstickt zu haben. Der Junge litt seit seiner Geburt an einem genetischen Defekt, welcher mit schwersten körperlichen Schäden einhergeht ...«

Die Worte drangen erst nach und nach in Blancas Bewusstsein. Sie hielt inne, um den weiteren Ausführungen des Nachrichtensprechers zu lauschen. Noch während sie sich betroffen fragte, was den Vater dazu getrieben haben mochte, das eigene Kind zu töten, lieferte ihr der Ansager die Antwort auf ihre Frage. »...Der Angeklagte rechtfertigte seine Tat mit der Begründung, seinem Sohn die Schmerzen der vor ihm liegenden medizinischen Eingriffe ersparen zu wollen. Nach vorsichtiger Schätzung der behandelnden Ärzte hätten ihm an die zwanzig zum Teil gravierende Operationen bevorgestanden. Selbst unter Ausschöpfung aller medizinischen Möglichkeiten hätte das Kind unter ständigen Schmerzen leiden und man mit einem frühzeitigen Tod rechnen müssen. Unserer der Verhandlung beiwohnenden Reporterin zufolge herrschte eine emotionsgeladene Stimmung im Gerichtssaal, zumal der Vater sich nach der Tat selbst angezeigt und seine Beweggründe schonungslos offengelegt hatte. Die Anwälte hatten es sich mit ihrem Urteil nicht leicht gemacht ...«

Blanca schaltete ab. Innerlich aufgewühlt, konnte und wollte sie den Ausführungen nicht länger zuhören. In der einsetzenden Stille ließ sie in einer beschützenden Geste ihre Hände über ihren bereits leicht gewölbten Bauch gleiten. ›Wie furchtbar‹, war alles, was sie denken konnte. Ihr Gehirn war wie leergefegt. Von einer sonderbaren Schwäche erfasst, griff sie Halt suchend nach einem der Küchenstühle und ließ sich darauf nieder. Während sie das soeben Gehörte noch einmal Revue passieren ließ, tobten in ihr die widersprüchlichsten Gefühle. Schon der bloße Gedanke, ein behindertes Kind bekommen zu können, versetzte sie in Panik. Blanca hatte dieses Thema bisher erfolgreich verdrängt. Doch nun konnte sie nicht länger so tun, als ob es sie nichts anginge. Schließlich war sie selbst ja auch nicht mehr die Jüngste. Wenn das Kind zur Welt käme, wäre sie vierzig. Schon mit fünfunddreißig zählt man laut Statistik zur Gruppe der Risikoschwangerschaften. Und dieses Risiko nahm mit jedem weiteren Lebensjahr zu. Was, wenn sich herausstellen sollte, dass mit dem unter ihrem Herzen heranwachsenden Leben etwas nicht in Ordnung wäre? Ihr Frauenarzt hatte ihr sicher nicht umsonst angeraten, eine Fruchtwasseruntersuchung vornehmen zu lassen. Seinen Worten nach handelte es sich dabei um eine reine Vorsorgemaßnahme. Er hatte es ihr freigestellt, sich dem Test zu unterziehen. Sollte sie sich dagegen aussprechen, würde sie ihm das lediglich mit einer Unterschrift bestätigen müssen. Vorschrift war schließlich Vorschrift. Doch hatte sie noch nicht allzu viele Gedanken daran verschwendet. Schließlich ging es ihr den Umständen nach gut, und sie fühlte sich wohl. Nun allerdings sah sie das Ganze aus einer anderen Perspektive. Ihre Überlegungen führten zwangsläufig zu der Frage, was wäre wenn ...

Sie wusste keine Antwort darauf. Allein schon der Gedanke verursachte ihr Übelkeit. Als Gregor von der Arbeit nach Hause kam, saß sie noch immer grübelnd am Tisch. Ein Blick auf ihre bekümmerte Miene verriet ihm, dass etwas vorgefallen sein musste. »Hallo Schatz«, begrüßte er sie.

Mit einem missglückten Lächeln erhob sich Blanca von ihrem Platz, um sich von ihm in die Arme nehmen zu lassen. Seine Nähe tat gut und löste ihre Erstarrung. Nach einer Weile schob Gregor sie sanft von sich. »Was hast du denn? Du bist ja ganz blass!«

Seine Frau seufzte. »Keine Angst, es geht mir gut. Wahrscheinlich ist meine momentane Gemütsverfassung nur dem Beginn einer ausgeprägten Schwangerschaftspsychose zuzuschreiben. Lass uns später darüber reden. Der Fisch müsste gleich gar sein. Ich muss mich nur noch rasch um den Salat kümmern.«

Nach dem Essen brachte Blanca dann die Sprache auf das, was sie beschäftigte. Sie wählte die Radioberichterstattung als Ausgangspunkt, um Gregor ihre Ängste anzuvertrauen. Dieser hörte schweigend zu. »Ausschließen kann man so etwas natürlich nie«, musste er zugeben. »Trotzdem wäre es besser, wenn du dir nicht alles so zu Herzen nehmen würdest. Ich finde, du solltest dir morgen erst mal anhören, was dein Arzt zu dem Thema zu sagen hat. Sollte auch er dir zu dieser Fruchtwasseruntersuchung raten, finde ich, du solltest dich dem nicht verschließen. Dann hast du Gewissheit und musst dich nicht mit deinen Ängsten herumschlagen.«

»Und was, wenn sich dann herausstellt, dass mit unserem Kind etwas nicht in Ordnung ist?«, unterbrach ihn Blanca, der anzumerken war, wie sehr ihr das Thema an die Nieren ging.

Gregor griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand. »Jetzt mach dich nicht verrückt! Wir sprechen hier schließlich über ungelegte Eier. Mach diesen Test und dann sehen wir weiter.« Damit war das Thema fürs Erste beendet. Blanca war froh, dass Gregor ihr die Entscheidung abgenommen hatte. Sie würde sich dem Test unterziehen. Zumindest hätte sie danach Gewissheit. Über alles Weitere würde sie entscheiden, wenn es soweit wäre.