Eisschwestern - Maren Schwarz - E-Book

Eisschwestern E-Book

Maren Schwarz

4,7

Beschreibung

Leipziger Buchmesse. Die erfolgreiche Krimiautorin Blanca Büchner stellt ihr neustes Buchprojekt vor, das auf einem realen Kriminalfall beruht. Damit begibt sie sich in tödliche Gefahr, denn jemand hat großes Interesse daran, dass die Geschehnisse im Verborgenen bleiben. Wenig später verschwindet Blanca spurlos. Der pensionierte Kommissar Henning Lüders beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Seine Nachforschungen führen ihn vom Vogtland an die Ostsee, wo er auf ein eiskaltes Geheimnis stößt …

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Seitenzahl: 248

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Maren Schwarz

Eisschwestern

Der vierte Fall für Henning Lüders

Zum Buch

Lügenfalle Buchmessezeit in Leipzig. Die vogtländische Krimiautorin Blanca Büchner spricht bei einer Gesprächsrunde in der Kuppelhalle der Leipziger Volkszeitung über ihr neuestes Buchprojekt, das auf einem realen Kriminalfall beruht. Ihr ist nicht wohl dabei, denn hat sie erst einmal Namen und Details preisgegeben, gibt es kein Zurück mehr. Tatsächlich verschwindet Blanca wenig später spurlos. Zurück bleibt ihre kleine Tochter Malena. Die polizeiliche Suche nach der Autorin verläuft erfolglos, weshalb sich der pensionierte Kriminalkommissar Henning Lüders des Falls annimmt. Bei seinen eigenmächtigen Ermittlungen, die ihn bis an die Ostsee führen, kommt er hinter ein eiskaltes Geheimnis und bringt sich dadurch selbst in große Gefahr.

Maren Schwarz, Jahrgang 1964, ist eine waschechte Vogtländerin, deren Krimis auf der Insel Rügen, ihrer zweiten Heimat, oder im Vogtland spielen. Neben Kriminalromanen schreibt sie Beiträge für verschiedene Kurzkrimi-Anthologien. Maren Schwarz ist Mitglied im »Syndikat«.

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Insellüge (2018)

Gesichtsverlust (2016, E-Book Only)

Inselfeuer (2015)

Eisschwestern (2013)

Treibgut (2012)

Zwiespalt (2007)

Maienfrost (2005)

Dämonenspiel (2005)

Grabeskälte (2004)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt

 

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Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2019

 

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Rebecca Schwarz

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-4192-9

Prolog

Mit der Nacht kam die Angst. Und mit der Angst kamen die Albträume. Ihr Körper fühlte sich wie eine einzige offene Wunde an. Es war ein Schmerz, der sich vom Unterleib aus wie ein Flächenbrand über den gesamten Körper ausbreitete. Lange Zeit hatte sie nicht verstanden, was mit ihr geschah. Und als das Begreifen einsetzte, hatte sie sich dagegen gesträubt. Schließlich konnte nicht sein, was nicht sein durfte.

Dabei hatte sie sich nur nach etwas Geborgenheit während des Gewitters gesehnt. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, wenn sie daran zurückdachte: Zuerst war lediglich ein fernes Donnergrollen zu hören gewesen. Sie hatte die Decke über den Kopf gezogen und gehofft, das Unwetter möge vorbeiziehen. Stattdessen waren dicke Regentropfen gegen die Fensterscheibe geprasselt. Plötzlich wurde es taghell. Nie würde sie das bedrohliche Grollen des in immer kürzeren Abständen folgenden Donners vergessen. Sie rollte sich wimmernd zusammen und presste ihre Hände auf die Ohren. Doch es half nichts. Als ein weiterer Donnerschlag das Haus erschütterte, rief sie in ihrer grenzenlosen Angst nach ihrer Mutter. Aber die war nicht da – war nie da, wenn sie sie am dringendsten brauchte. An jenem unseligen Abend hatte ihre Abwesenheit sie in seine Arme getrieben. In ihr stieg bittere Galle hoch bei der Erinnerung.

Was war sie nur für ein Hasenfuß gewesen! Sie hätte einfach warten können, bis das Gewitter vorbeigezogen war. Stattdessen hatte sie sich zu ihm geflüchtet. Wie schon so oft, hatte er sie in seine starken Arme genommen, als sie sich, am ganzen Körper zitternd, an ihn gepresst hatte. Nur war es an jenem Tag nicht dabeigeblieben. Diesmal hatte er seine Hände nicht unter Kontrolle halten können. Begierig waren sie über ihren Rücken hinab zu ihren Schenkeln gewandert. Ihr wurde immer noch schlecht, wenn sie an sein Stöhnen dachte. Als er in sie eindrang, hatte sie geglaubt, vor lauter Scham vergehen zu müssen. Nie würde sie den Schmerz und die Demütigung vergessen, die sie in jenem Augenblick verspürt hatte. Mit dem Schmerz hatte sie im Laufe der Zeit zu leben gelernt. Was war ihr auch anderes übrig geblieben?

Dabei war sie gerade erst zwölf gewesen. In einem Alter, in dem andere Mädchen noch mit ihren Puppen spielten, war sie ihrer Unschuld beraubt worden.

Nach dem Begreifen war die Wut gekommen. Und mit der Wut der Wunsch, sich von ihrem Peiniger zu befreien. Aber es gab niemanden, zu dem sie hätte gehen können. Niemanden, dem sie sich hätte anvertrauen können. Wer hätte ihr geglaubt? Also schwieg sie und ließ es zu, dass er sich immer und immer wieder an ihr verging. So verstrichen die Jahre und aus dem Kind wurde eine junge Frau. Hübsch anzuschauen, trotz ihrer innerlichen Narben. Doch wer sah die schon.

Um zu überleben, hatte ihre Seele sich einen Schutzpanzer zugelegt. Für eine Weile hatte sie tatsächlich geglaubt, unempfindlich gegen seine immer wiederkehrenden Grausamkeiten geworden zu sein.

Was für ein Trugschluss! Als sie den Irrtum bemerkte, war es zu spät, der Schaden bereits angerichtet. Gott allein wusste, wie sehr sie sich in jenen Nächten danach sehnte, das Rad der Zeit zurückzudrehen. Sie träumte davon, sich zu wehren. Was folgte, waren Selbstvorwürfe: Wie hatte sie ihm jemals blind vertrauen können? Dabei hatte es viele Hinweise gegeben. Doch die hatte sie nicht sehen wollen. Schließlich hatte sie keinen Grund gehabt, zu zweifeln. Ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Kehle: »Mutter!« Ein einziges Wort. Eine einzige Anklage.

Ihre Mutter hatte ein Leben lang geschwiegen. So lange, bis es zu spät war. Denn was sie selbst durch das Schweigen verloren hatte, konnte ihr niemand zurückgeben. Es hatte ihr Leben für immer zerstört.

Dabei gab es durchaus eine Zeit, in der sie geglaubt hatte, alles könnte sich zum Guten wenden.

Schließlich trug sie kein Kainsmal auf der Stirn. Nichts, was dagegensprach, ihr Leben selbstbestimmt in ihre Hände zu nehmen, als die Zeit dafür gekommen war.

Wäre sie damals nur etwas selbstbewusster gewesen, wäre ihr vieles erspart geblieben. So jedoch hatte sie sich blind auf sein Wort verlassen.

Auf das Wort eines Mannes, der plötzlich in ihr Leben getreten war und ihm einen Sinn gegeben hatte. Durch ihn hatte sie eine Zukunft für sich gesehen: ein Ende der Übergriffe und der Gewalt.

Doch statt sie davor zu beschützen, hatte er sie im entscheidenden Moment alleingelassen. Allein mit einer grausamen Entscheidung, deren Folgen sie unmöglich überblicken hatte können und die ihr Leben auf immer verändern sollte.

Niemand ahnte, welch schwere Bürde sie seither trug. Es war ein Fehler gewesen, ihm und seinen Versprechungen Glauben zu schenken. Sie hätte ihm niemals vertrauen, ihm niemals dieses Opfer bringen dürfen. Denn am Ende hatte er sie trotz allem verlassen.

Beschämt schloss sie die brennenden Augen und zwang sich, an etwas anderes zu denken. Aber es wollte ihr nicht gelingen. Dazu saßen die Schuldgefühle zu tief, war der Schmerz zu gegenwärtig. Während sie gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfte, ermahnte sie die Stimme der Vernunft, endlich damit abzuschließen. Es war vorbei, sagte sie sich. Dabei wusste sie, dass es nie vorbei sein würde. Nicht, solange sie ihren Erinnerungen ausgeliefert war.

Wie auf ein geheimes Stichwort hin schob sich das Bild einer Frau vor ihr inneres Auge, die kaum noch einem menschlichen Wesen glich, nur mehr eine leere Hülle war. Wie hätte sie ihr die Schuld dafür geben können, was ihr widerfahren war?

Kein Wunder, dass das längst überfällige Gespräch lediglich in ihrer Fantasie stattgefunden hatte. Die Zeit war gnadenlos mit jener Frau umgegangen. Sie hatte ihr Gedächtnis ausgelöscht. Keine Geste, kein Anzeichen von Erkennen. Keine Reue. Nichts.

1

Buchmesse: Leipzig, den 19. März 2011

Wände aus verspiegeltem Glas und Stahl hielten Blanca gefangen. Die Luft in der Kabine war stickig und trieb ihr einen feinen Schweißfilm auf die von der Visagistin gepuderte Stirn. Sie erhaschte einen Blick auf ihr eigenes Gesicht. In ihren Augen spiegelte sich Panik. Blanca spürte, dass sie gerade dabei war, einen schweren Fehler zu begehen. Doch für einen Rückzieher war es zu spät.

Mit einem leisen Summton öffnete sich die Fahrstuhltür. Lautes Stimmengewirr drang an ihr Ohr und beschleunigte ihren Herzschlag. Wiederholt strich sie sich mit der flachen Hand über ihr blondes Haar. Die Anspannung, unter der sie stand, war enorm. Verlier jetzt bloß nicht die Nerven!, ermahnte sie sich, als sie die in dezentes Licht getauchte Kuppelhalle der Leipziger Volkszeitung betrat. Über dem halbrund gewölbten Glasdach dehnte sich ein wolkenverhangener Abendhimmel, genauso grau und düster wie ihre derzeitige Verfassung.

Wie hatte sie sich nur auf ein so wahnwitziges Abenteuer einlassen können?

Wie aufs Stichwort kam Michael Scharnhorst, ihr Verleger, auf sie zugeeilt. »Da sind Sie ja endlich!« Erleichtert zog er sie beiseite. »Wir gehen gleich auf Sendung.« Er musterte Blanca wachsam. »Sie werden mich doch nicht enttäuschen?«, vergewissert er sich mit gedämpfter Stimme. »Ihr Versprechen«, drang er in sie. »Ich kann mich doch darauf verlassen?«

»Natürlich«, würgte Blanca hervor. Ihre Kehle fühlte sich heiß und trocken an. Schließlich konnte sie seit Tagen an nichts anderes mehr denken.

»Kommen Sie«, der Druck auf ihren Arm verstärkte sich, »man wartet schon auf uns.« Mit zufriedenem Lächeln deutete Michael Scharnhorst auf die vor der Bühne positionierten Fernsehkameras. Er genoss den Medienrummel ganz offensichtlich. Unter anderen Voraussetzungen hätte Blanca das wohl auch getan. In diesem Moment hingegen verstärkte er ihr Unbehagen.

Unter den rund 250 anwesenden Gästen machte sich gespannte Erwartung breit, als Blanca die Bühne betrat und auf dem schwarzen Ledersofa Platz nahm.

Sie gaben ein schönes Bild ab: die zierliche blonde Frau im bordeauxroten Kostüm und der grauhaarige Verleger im dunklen Nadelstreifenanzug.

Eine weitere Person zog die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich: »Ich freue mich, Ihnen zu unserer heutigen Talkrunde die Krimiautorin Blanca Büchner und ihren Verleger Michael Scharnhorst ankündigen zu dürfen. Mein Name ist Volkhardt Brömme«, fügte der Moderator, ein hagerer Endfünfziger mit aufmerksamen Augen und einem charmanten Lächeln, in die auf ihn gerichtete Fernsehkamera hinzu.

Dann kam Blanca ins Bild. Das grelle Scheinwerferlicht ließ sie noch blasser erscheinen, als sie es ohnehin war.

Obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug, sah man ihr nichts von ihrer Aufregung an. Sie befahl sich, tief ein- und auszuatmen. Dermaßen elend hatte sie sich lange nicht mehr gefühlt. Dabei war es nicht das Lampenfieber, das sie quälte, sondern ihr schlechtes Gewissen.

Als hätte der Moderator ihre Gedanken erraten, erkundigte er sich, ob es Pläne für ein neues Buch gäbe.

Diese Frage hatte Blanca befürchtet. Sie wusste, dass sie jetzt nur noch ein Wunder retten konnte. Oder ein Notlüge. Da Ersteres kaum zu erwarten war, entschied sie sich schweren Herzens für die zweite Variante. Schließlich konnte sie schlecht zugeben, dass es kein neues Projekt gab. Noch nicht einmal ein Konzept. Alles, worauf sie verweisen konnte, war eine ganz und gar aberwitzige Idee, auf die ihre Freundin Jenny sie gebracht hatte.

Jenny, die so untrennbar mit Blancas Mann Gregor verbunden war, dass dessen Bild sich plötzlich vor ihrem inneren Auge zu materialisieren begann: Gregor, wie er monatelang im Koma gelegen hatte. Nie würde Blanca den Moment vergessen, als er die Augen aufgeschlagen und sie angesehen hatte. Seither jagte eine Behandlung die nächste. Er musste so gut wie alles neu lernen: das Sprechen, das Laufen, sogar das Schlucken. Trotz aller seither erzielten Fortschritte lag noch ein langer und steiniger Weg vor ihm. Und das nicht allein in Hinblick auf die Dauer, sondern auch auf die Kosten. Kein Wunder, dass Blanca das Geld im Moment nur so durch die Finger ran.

Zum Glück hatte ihr der Verlag einen großzügigen Vorschuss in Aussicht gestellt. Der heutige Abend würde darüber entscheiden, ob sie ihn wert war: Gelang es ihr, den Erwartungen gerecht zu werden?

»Darf ich fragen, woran Sie im Moment arbeiten?«, riss die Stimme des Moderators Blanca aus ihren Gedanken. Eine eisige Hand umschloss ihr Herz und presste es mit stählerner Gewalt zusammen. Enger und immer enger, bis sie das Gefühl hatte, kaum noch atmen zu können. Glücklicherweise bemerkte niemand, wie viel Überwindung sie die folgenden Worte kosteten: »Mein neues Buch handelt von einem Mann, der wegen der Tötung seiner Ehefrau vor Gericht gestellt wird. Allerdings ist die Leiche der Frau bis heute unauffindbar. Sie …«

»Ein Mord ohne Leiche«, unterbrach sie der Moderator mit in Falten gelegter Stirn. »Stand darüber nicht erst kürzlich etwas in der Zeitung?«

Ihr Nicken ließ seine Augen aufleuchten. Wie bei einem Jäger, der eine vielversprechende Fährte wittert.

Ein Gefühl der Kälte breitete sich in Blanca aus. Dass er schon aus den wenigen Informationen die richtigen Schlussfolgerungen gezogen hatte, ließ sie das Schlimmste befürchten.

Geistesabwesend griff sie nach dem vor ihr stehenden Wasserglas. Während sie trank, dachte sie angestrengt darüber nach, wie sie dem Gespräch eine andere Wendung geben konnte. Doch Volkhardt Brömme kam ihr zuvor. »Ein Krimi, der auf einem authentischen Fall beruht«, hörte sie ihn mit einem undefinierbaren Unterton sagen. »Das klingt spannend. Erzählen Sie doch mal!«

Das war keine Bitte, sondern eine Aufforderung. Sie rief sich ins Gedächtnis, was Jenny ihr über den Fall berichtet hatte. Viel war es nicht. Gerade ausreichend, um eine abenteuerliche Geschichte daraus zu stricken. Wenn jemand das konnte, dann Blanca. Das Problem bestand darin, dass es diesmal nicht um ein Produkt ihrer Fantasie ging, sondern um die Realität: um Menschen aus Fleisch und Blut, deren Schicksal bewegte. Erst recht, wenn man es, so wie sie, neu zu schreiben plante. Kein Wunder, dass sie davor zurückscheute, Namen und Details preiszugeben. Denn hätte sie die erst einmal genannt, gäbe es kein Zurück mehr.

Blanca hatte diese Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als Volkhardt Brömme sich in Spekulationen über die Identität des mutmaßlichen Mörders erging. »Wie hieß der Mann doch gleich? Irgendwas mit …« Er verstummt, doch Blanca wusste, dass er lediglich so tat, als habe er den Namen vergessen. »Ah!« Triumphierend schlug er sich mit der Hand gegen die Stirn. »Jetzt fällt es mir wieder ein: Pettersen. Utz Pettersen.«

Nun war es heraus, ihr Schicksal besiegelt. Blanca ließ sich Zeit mit einer Antwort. Und als sie endlich weitersprach, war ihre Entscheidung gefallen. Lüge hin oder her. Sie hatte beschlossen, alles auf eine Karte zu setzen.

Als sie geendet hatte, herrschte für einen Moment betretene Stille. Gefolgt von einem Raunen.

Hatte sie wirklich geglaubt, man würde ihr diese Geschichte abkaufen? Vor lauter Scham wäre Blanca am liebsten auf der Stelle im Boden versunken. Wie hatte sie behaupten können, um das Schicksal der vermissten Frau zu wissen? Wie hatte ihr eine solch ungeheuerliche Lüge derart glatt über die Lippen gehen können?

Schließlich handelte es sich dabei um Informationen, die bislang nicht einmal der Polizei bekannt waren. Was würde Jenny dazu sagen? Was ihre Leser, wenn sie den Schwindel erst durchschauen würden?

Ein Blick in die Gesichter der Zuhörer machte ihr klar, dass sie zu weit gegangen war. Der Einzige, der sich nicht an der Brisanz ihrer Erzählung zu stören schien, war ihr Verleger. Ganz im Gegenteil: Seiner zufriedenen Miene nach zu urteilen, rechnete er sich in Gedanken gerade die zu erwartenden Verkaufszahlen aus.

2

Leises Weinen weckte Jenny. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, wo sie war. Draußen war es noch dunkel. Verschlafen knipste sie die Nachttischlampe an und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr: kurz vor halb sechs. Jenny kannte keinen Wecker, der verlässlicher gewesen wäre als Blancas Tochter. Mit einem ergebenen Seufzer schälte sie sich unter der Decke hervor, warf sich den Bademantel über und nahm die Kleine aus ihrem Bettchen. »Na, gut geschlafen, mein Schatz?« Liebevoll vergrub sie ihr Gesicht in Malenas flaumigem Haar, dem der für Babys so typische Geruch entströmte. Ein Duft, so unschuldig und rein, dass er mit nichts anderem vergleichbar war.

Als sie den Kopf hob, fiel ihr Blick auf Blancas Bett. Es war unberührt. Wahrscheinlich hatte sie im Wohnzimmer übernachtet. Das tat sie manchmal, wenn es spät wurde. Oder hatte sie ihr schlechtes Gewissen daran gehindert, die Nacht gemeinsam mit ihr in einem Raum zu verbringen?, fragte Jenny sich grimmig. Sie war immer noch stinksauer, wenn sie an die Fernsehsendung vom Vorabend zurückdachte. Was hatte Blanca sich bloß dabei gedacht? Wie hatte sie sich bloß zu einer solch abenteuerlichen Behauptung hinreißen lassen können?

Jenny wurde ganz schlecht, wenn sie an die Konsequenzen dachte. Bestimmt würde es hier bald vor Beamten wimmeln. Die Polizei ließ sich nicht für dumm verkaufen. Erst recht nicht, wenn es um einen so außergewöhnlichen Mordfall ging.

Und sie Idiotin hatte ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt, schalt Jenny sich in Gedanken. Dabei hatte sie ihrer Freundin lediglich die Angst vor dem bevorstehenden Fernsehauftritt nehmen wollen. Was sollte sie bloß erzählen?, hatte Blanca sie immer und immer wieder gefragt. Sie hatte die Frage wie ein böses Mantra wiederholt. Als wären ihr mit einem Schlag die Ideen ausgegangen. Insgeheim hatte Jenny so etwas seit Langem befürchtet. Der Druck und die Anspannung, die ihre Freundin belasteten, waren zu groß. Erst der Anschlag auf ihr Leben, dann die Schwangerschaft und zu guter Letzt Gregors Unfall. Jenny fröstelte, als sie daran zurückdachte.

Sie betrat das Wohnzimmer, wo sie Blanca schlafend auf der Couch vorzufinden hoffte. Doch das Sofa war leer.

Augenblicklich wich ihre Verärgerung der Sorge. Wo war ihre Freundin? Sie müsste längst zu Hause sein. Die Aufzeichnung hatte bis 22 Uhr gedauert. Normalerweise hätte Blanca gegen Mitternacht zurück sein müssen. Hoffentlich war ihr nichts passiert.

Das Kind, das sich in ihren Armen wand, riss Jenny aus ihren Gedanken. »Sch… Ist ja gut mein Spatz! Du bekommst gleich was zu trinken.« Sie ging in die Küche, um ein Fläschchen zu kochen.

Während die Kleine trank, wählte Jenny Blancas Handynummer. Doch es meldete sich lediglich eine Konservenstimme mit der Mitteilung, dass der gewünschte Gesprächspartner nicht zu erreichen sei. Jenny versuchte, sich einen Reim auf Blancas ungewöhnliches Verhalten zu machen. Konnte es sein, dass sie aufgehalten worden war? Dass sie die Nacht in einem Hotel verbracht hatte? Je länger sie darüber nachdachte, umso unwahrscheinlicher erschien ihr diese Möglichkeit. Seit Malena auf der Welt war, verhielt sich Blanca wie eine Glucke. Wahrscheinlich lag das an der tief sitzenden Verlustangst, die sie seit Gregors Unfall begleitete. Zudem hatte sie schon einmal einen Mann auf tragische Weise verloren. Jenny dachte daran, wie sie Blanca kennengelernt hatte: als eine völlig verängstigte Frau, der auf übelste Weise mitgespielt worden war. Erst von der eigenen Schwester, danach von einem verschmähten Liebhaber …

Inzwischen hatte Malena das Fläschchen ausgetrunken und begann zu quengeln. Wahrscheinlich war nun die Windel der Grund dafür. Später, nachdem Jenny mit der Kleinen im Bad gewesen war, wählte sie erneut Blancas Handynummer. Auch diesmal sprang nur die Konserve an. Allmählich machte Jenny sich ernsthafte Sorgen. Es war jetzt kurz nach neun. Dass Blanca sich nicht gemeldet hatte, entsprach so gar nicht ihrer Art. Zumal sie wusste, dass Jenny um eins ihren Dienst im Plauener Polizeirevier antreten musste.

Nach einer weiteren Stunde des Wartens rief Jenny in den rund um Leipzig liegenden Krankenhäusern an, um sich nach ihrer Freundin zu erkundigen. Vielleicht hatte sie einen Unfall gehabt und war nicht ansprechbar. Zur Sicherheit rief sie auch noch ein paar Kollegen an. Als sie damit keinen Erfolg hatte, beschloss Jenny, sich mit Blancas Verleger in Verbindung zu setzen. Immerhin hatte er den gestrigen Abend mit ihr verbracht. Sie sah kurz nach Malena, die friedlich in ihrem Stubenwagen schlummerte, und ging ins Arbeitszimmer, um Michael Scharnhorsts Handynummer in Blancas Adressbuch nachzuschlagen. Kurz darauf hatte sie ihn in der Leitung. Dem Geräuschpegel nach zu urteilen, befand er sich auf der Buchmesse. Seine Auskunft verstärkte ihre Sorge allerdings noch mehr. »Wir haben uns auf dem Parkplatz voneinander verabschiedet. Ich habe ihr noch eine gute Heimfahrt gewünscht«, hörte sie ihn sagen.

»Wissen Sie noch, wann das war?«

»Muss so um zehn nach zehn gewesen sein.«

Auch in der Rehaklinik von Gregor nahe Dresden, wo sie als Nächstes anrief, hatte man nichts von Blanca gehört. Wie es aussah, hatte sich ihre Freundin in Luft aufgelöst. Als es bis zum Mittag noch immer kein Lebenszeichen von ihr gab, beschloss Jenny, sie als vermisst zu melden. Ihr Gespür sagte ihr, dass Blanca sich in Gefahr befand.

Wäre Malena nicht gewesen, hätte sie sich selbst auf die Suche gemacht. Sie informierte ihren Vorgesetzten und bat um Urlaub. Schließlich hatte sie Blanca versprochen, sich um ihre Tochter zu kümmern.

3

Schweißgebadet schreckte Blanca hoch. Wo war sie? Es war stockdunkel. Ihre Augen waren mit einem Tuch verbunden, der Mund geknebelt. Panik stieg in ihr auf. Sie war gefangen. Nicht schon wieder! Ihr Herz begann zu hämmern, ihr Atem beschleunigte sich. Blanca schluckte. Ihre Kehle fühlte sich rau und trocken an. Die Zunge klebte wie ein Stück Leder am Gaumen. Sie versuchte, sich aufzurichten. Dabei fuhr ein jäher Schmerz durch ihren Körper. Ihre Hände und Füße ließen sich nur wenige Zentimeter bewegen.

Fesseln, schoss es ihr durch den Kopf. Sie erahnte den Strick um Handgelenke und Knöchel mehr, als dass sie ihn spüren konnte. Ihre Fingerspitzen tasteten über groben Stoff, der sich wie eine Wolldecke anfühlte. Blancas Bewegungen wurden von einer Matratze abgefedert. Sie rutschte ein paar Zentimeter nach unten, bis ihre Fersen kaltes Metall berührten. Erschrocken zuckte sie zurück. Ein unkontrolliertes Zittern durchlief ihren Körper. Das Druckgefühl in ihrer Brust verstärkte sich. Sauerstoff, sie brauchte Sauerstoff. Mit bebenden Nasenflügeln rang sie nach Luft. Es roch nach Schimmel und feuchtem Erdreich.

Voller Verzweiflung versuchte sie, die in ihren Eingeweiden wütende Angst niederzukämpfen. Das konnte einfach nicht wahr sein. Sicher träumte sie nur. Das war bloß ein böser Albtraum, aus dem sie gleich aufwachen würde, redete sie sich ein. Aber sie träumte nicht. Das hier war real. So real wie die klamme Kälte, die sie umgab. Blanca fröstelte. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren, geschweige denn eine Ahnung, wo sie sich befand. Das Letzte, woran sie sich vage erinnern konnte, war dieser Anruf. Wer sich auch immer hinter dieser Stimme verbarg, er hatte ihr ein äußerst lukratives Angebot unterbreitet. Ein Angebot, das sie auf keinen Fall hatte ablehnen können. Ohne zu zögern, war Blanca der Wegbeschreibung gefolgt. Ihr war keine Zeit zum Nachdenken geblieben. Die Stimme hatte ihr die Autobahnraststätte ›Linumer Bruch‹ als Treffpunkt genannt. Sie hatte versprechen müssen, allein zu kommen, und niemandem von dem Anruf zu erzählen.

Was nach ihrer Ankunft auf dem circa 60 Kilometer nördlich von Berlin entfernt gelegenen Parkplatz passierte, war so schnell abgelaufen, dass Blanca sich kaum darauf besinnen konnte. Sie war gerade ausgestiegen, als sie hinter sich Schritte hörte. Bevor sie sich umdrehen konnte, war sie niedergeschlagen worden. Filmriss.

Bittere Galle stieg in ihr auf, als sie begriff, was sie getan hatte. Wie hatte sie nur so dumm sein können, nach allem, was sie schon erlebt hatte? Plötzlich vernahm sie über sich ein kratzendes Geräusch. Es klang, als ob jemand einen schweren Gegenstand beiseiteschob. Kurz darauf knarrte eine Tür. Blanca hörte, wie jemand eine Leiter hinabstieg und sich ihr näherte. Holz ächzte unter der Last von Schritten. Ein kühler Windhauch streifte ihre Wange. Durch die verbundenen Augen konnte sie nicht sehen, wer den Raum betrat. Sie war starr vor Angst. Wenig später glitt eine eiskalte Hand über ihr Gesicht. Sie kam sich vor wie in einem Albtraum. Lass es nicht wahr sein. Bitte, bitte!, betete sie stumm. Alles, nur das nicht. Nicht schon wieder. Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf.

»Ich nehm dir jetzt den Knebel ab«, schnarrte eine tiefe Stimme nahe ihrem Ohr. Der Ton verursachte ihr eine Gänsehaut. Die Worte klangen gedämpft.

»Schreien lohnt sich nicht«, sagte die Stimme. »Hier unten hört dich eh niemand.«

Das Wort ›unten‹ weckte unangenehme Erinnerungen. Blanca musste daran denken, dass sie schon einmal in einer ähnlichen Situation gewesen war. Damals, in jenem unterirdischen Verlies. Sie zwang sich, die Bilder zu verscheuchen, die bei der Erinnerung daran aufkamen. Obwohl sie von dem Knebel befreit worden war, ging ihr Atem schnell und flach. Sie stand kurz vor einer Panikattacke. »Was wollen Sie von mir?«, würgte sie krächzend hervor.

»Was? Na, was wohl? Wissen, was du über Amelia herausgefunden hast.«

»Amelia?« Es dauerte einen Moment, bis Blanca den Namen einordnen konnte. Doch dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Amelia Pettersen! Unwillkürlich schnappte sie nach Luft. Deswegen also!

»Hören Sie, das ist ein Missverständnis«, sprudelte es atemlos aus ihr heraus. »Ich … ich hab nicht die geringste Ahnung, was mit ihr geschehen ist.«

Ein harter Schlag traf sie ins Gesicht. Ihre Wange brannte wie Feuer. »Verarschen kann ich mich selber.« Die Stimme hatte einen bedrohlichen Unterton angenommen.

Blancas Herz setzte für einen Schlag aus. »Ich weiß, und es tut mir leid. Ehrlich, ganz ehrlich! Aber was ich im Fernsehen gesagt habe, war eine Lüge. Erstunken und erlogen«, beeilte sie sich, die Wahrheit zu erzählen.

4

In der Plauener Polizeidienststelle hatte sich die Nachricht von Blancas Verschwinden wie ein Lauffeuer verbreitet. Betroffene Gesichter, wohin man sah. Die Truppe war eine eingeschworene Gemeinschaft, wo jeder jeden kannte und am Schicksal des anderen Anteil nahm.

Nachdem sich herumgesprochen hatte, dass Blancas Verschwinden mit dem am Vortag ausgestrahlten Fernsehbeitrag in Zusammenhang stehen könnte, war umgehend die Fahndung nach ihr eingeleitet worden. Sollte Jennys Verdacht sich bewahrheiten, musste man davon ausgehen, dass Blanca entführt worden war.

Während eine eigens dafür gebildete Soko alle notwendigen Maßnahmen ergriff, berief Jennys Chef eine Pressekonferenz ein. Die Medien würden ohnehin bald Wind von dem Fall bekommen; Blanca stand als beliebte Krimiautorin schließlich im Rampenlicht. Da konnte er sie genauso gut gleich informieren und um Mithilfe bitten.

Zwei Tage später gab es einen ersten Hinweis. Eine Polizeistreife entdeckte auf einem nördlich von Berlin gelegenen Autobahnrastplatz einen unverschlossenen Passat, auf den die vorliegende Beschreibung zutraf. Eine Überprüfung des Kennzeichens ergab, dass es sich um Blancas Auto handelte. Von ihr selbst fehlte allerdings jede Spur.

Angesichts der Umstände musste von einer Entführung ausgegangen werden.

Eine erste Auswertung der Spuren vor Ort ergab keinerlei Hinweise auf einen Kampf. Blanca schien das Fahrzeug in großer Eile verlassen zu haben. Sogar der Zündschlüssel steckte noch.

Inzwischen überschlugen sich die Spekulationen in den Medien. Bei der Polizei gingen etliche Hinweise ein; eine heiße Spur war jedoch nicht darunter. Auch die inzwischen landesweit ausgedehnte Fahndung erbrachte keine neuen Erkenntnisse.

Die ganze Zeit über stand Jenny in ständigem telefonischem Kontakt mit ihren Kollegen, während sie sich in Blancas Haus um deren Tochter kümmerte. Gerade als sie sich wieder einmal auf den neuesten Stand gebracht hatte, klingelte es an der Haustür. Es war Simon Seefeld, ihr Freund. Ihr Anblick zauberte ein Strahlen auf sein besorgtes Gesicht. Simon wurde von Nina Spindler begleitet. Sie und Blanca hatten sich während der Schwangerschaft kennengelernt. Vor Kurzem hatte Nina einen gesunden kleinen Jungen zur Welt gebracht.

»Dürfen wir reinkommen?«, riss Simon sie aus ihren Überlegungen.

Schnell trat Jenny einen Schritt zur Seite. »Aber sicher.« Sie führte sie ins Wohnzimmer.

Sobald sie auf der Couch Platz genommen hatten, kam Simon auf den Grund ihres Besuchs zu sprechen: »Nina hat gehört, dass Blanca vermisst wird, und möchte uns helfen.«

»Ich könnte mich um Malena kümmern, solange Blanca … nun, bis sie wieder da ist.«

Jenny war hin- und hergerissen. Einerseits hatte sie Blanca versprochen, sich um Malena zu kümmern. Andererseits waren ihr dadurch die Hände gebunden. Sie hasste es, zur Untätigkeit verdammt zu sein. Schließlich war sie Polizistin. »Das ist zwar lieb von dir«, druckste sie herum, »aber ich …«

»Nichts aber«, schnitt Simon ihr mit einer energischen Handbewegung das Wort ab. »Dein Pflichtbewusstsein ehrt dich zwar, ist aber in diesem Fall völlig fehl am Platz. Ich denke, das würde Blanca genauso sehen.«

»Ich weiß nicht.« Jenny schüttelte den Kopf. »Ich …« Statt weiterzusprechen, vergrub sie das Gesicht in ihren Händen und begann zu weinen. »Wenn ich es ihr aber doch versprochen habe«, würgte sie schluchzend hervor.

»Schon gut«, lenkte Simon ein. Er legte ihr einen Arm um die Schulter und zog ihren Kopf an seine Brust. Jenny derart verletzlich zu sehen, war für ihn eine völlig neue Erfahrung, die er erst einmal verdauen musste. »Pssst«, beruhigte er sie und strich ihr unbeholfen übers Haar. »Ist ja gut.« Als ihr Weinen verebbt war, schob er vorsichtig seine Hand unter ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Hör mal, mein Schatz«, begann er mit einer Eindringlichkeit, die nicht nur Jenny, sondern auch ihn selbst überraschte, »ich denke, Blanca weiß ganz genau, dass du Malena nie im Stich lassen würdest. Und das tust du ja auch nicht. Keiner von uns würde das je tun. Stimmt doch, oder?« Er warf Nina einen Hilfe suchenden Blick zu.

»Niemals!« Ninas burgunderrotes Haar wirbelte durcheinander, als sie den Kopf schüttelte. »Aber darum geht es ja auch gar nicht. Sondern darum, dir klarzumachen, dass Blanca deine Hilfe jetzt nötiger hat als Malena. Deshalb lass mich meinen Job machen und erledige du deinen.«

Wie selbstverständlich ging Nina hinüber zum Stubenwagen und nahm Malena auf den Arm. »Ob ich nun einen oder zwei kleine Plärrhälse zu versorgen habe, kommt am Ende fast aufs Gleiche raus«, bekräftigte sie ihren Entschluss. »Außerdem hat Blanca noch was gut bei mir. Ihr wisst doch, was passiert wäre, wenn sie mich damals nicht davor gewarnt hätte, dass mit dem Befund der Fruchtwasserspiegelung etwas nicht in Ordnung sein könnte. Mir wird immer noch ganz schlecht, wenn ich bloß daran denke, dass mein Kind um ein Haar einem Wahnsinnigen zum Opfer gefallen wäre …« Weiter kam sie nicht, weil ihre Stimme zu versagen drohte.

»Also gut«, gab Jenny sich geschlagen, »ihr habt mich überzeugt.«

Nachdem sie alles Notwendige für Malena zusammengepackt hatten, verabschiedeten sie sich voneinander. Ein wenig mulmig war es Jenny schon, als sie dem davonfahrenden Auto nachsah. Doch dann ermahnte sie sich. Sie hatte Wichtigeres zu tun, als Trübsal zu blasen. Eigentlich hätte es gar keine bessere Lösung geben können. Nina würde auf Malena achten, wie auf ihren Augapfel. Davon war sie überzeugt.

Jenny war gerade dabei, ihre Sachen zusammenzusuchen, als das Telefon klingelte. »Bitte entschuldigen Sie die Störung. Mein Name ist Lüders, Henning Lüders.« Der Anrufer schwieg einen Moment in der Hoffnung, dass ihr sein Name etwas sagte. »Wir sind sozusagen Kollegen. Ich … nun, ich habe früher mal im Auerbacher Polizeirevier gearbeitet«, ergänzte er, als die erhoffte Reaktion ausblieb. »Vielleicht sagt Ihnen der Fall Cora Birkner etwas?«

Jenny überlegte. Den Namen hatte sie schon einmal gehört, konnte ihn aber nicht gleich zuordnen.

»Inzwischen bin ich im Ruhestand. Unruhestand sollte ich wohl besser sagen«, fügte Lüders mit Verweis auf zwei kürzlich auf Rügen aufgeklärte Verbrechen hinzu.