Insellüge - Maren Schwarz - E-Book + Hörbuch

Insellüge E-Book und Hörbuch

Maren Schwarz

4,6

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  • E-Book-Herausgeber: GMEINER
    Hörbuch-Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Ein Toter gibt der Rügener Rechtsmedizinerin Leona Pirell Rätsel auf: Der Mann starb an einer Zyanidvergiftung. Das Gift befand sich in einem ausgehöhlten Zahn, weshalb zunächst der Zahnarzt des Opfers ins Visier des ermittelnden Kriminalkommissars, Peer Boström, rückt. Doch Leona glaubt nicht an dessen Schuld und begibt sich auf die Suche nach der Wahrheit. Dabei kommt sie einem gut gehüteten Geheimnis auf die Spur, bei dem es um die Begleichung einer alten Schuld geht.

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Seitenzahl: 216

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Zeit:5 Std. 42 min

Sprecher:Katja Hirsch

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Maren Schwarz

Insellüge

Kriminalroman

Zum Buch

Ungesühnt1986 verschwindet in Bayern ein Säugling. Der Fall wird nie aufgeklärt. Doch 30 Jahre später gerät er, im Zusammenhang mit einem mysteriösen Todesfall auf Rügen, wieder in den Fokus polizeilicher Ermittlungen. Ein Mann starb an einer Zyanidvergiftung, wie Rechtsmedizinerin Leona Pirell bei dessen Obduktion feststellt. Da sich das Gift in einem ausgehöhlten Zahn befand, gerät der Zahnarzt des Opfers unter Tatverdacht. Doch Leona glaubt nicht an seine Schuld und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Der Zufall spielt ihr einen Spindschlüssel in die Hände, der dem Toten gehört hat. Er führt Leona zum Schließfach eines Sportstudios, in dem sich ein Umschlag befindet. Dieser enthält eine Liste mit Kontonummern. Als sie zusammen mit Peer Boström, dem ermittelnden Kriminalkommissar, dieser Spur nachgeht, stößt Leona auf einen Sumpf aus Korruption und Machtmissbrauch und deckt ein gut gehütetes Geheimnis auf, bei dem es um die Begleichung einer alten Schuld geht.

Maren Schwarz, Jahrgang 1964, ist eine waschechte Vogtländerin, deren Krimis auf der Insel Rügen, ihrer zweiten Heimat, oder im Vogtland spielen. Neben Kriminalromanen schreibt sie Beiträge für verschiedene Kurzkrimi-Anthologien. »Insellüge« ist bereits ihr vierter Rügenkrimi im Gmeiner-Verlag und der zweite Fall für Rechtsmedizinerin Leona Pirell. Maren Schwarz ist Mitglied im »Syndikat«.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Gesichtsverlust (2016, E-Book Only)

Inselfeuer (2015)

Eisschwestern (2013)

Treibgut (2012)

Zwiespalt (2007)

Maienfrost (2005)

Dämonenspiel (2005)

Grabeskälte (2004)

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © thomasfuer/photocase.de

ISBN 978-3-8392-5630-5

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Es ist spätsommerlich warm an diesem Sonntag, dem 7. September 1986. Die Sonne scheint von einem strahlend blauen Himmel auf die Kleinstadt Medorf. Idyllisch, könnte man meinen.

Es ist kurz nach 14 Uhr, als Gundula Huber ihren knapp zwei Monate alten Sohn Gabriel in den an ihr Wohnhaus angrenzenden Garten bringt. Sobald er in seinem Kinderwagen eingeschlafen ist, geht sie ins Haus und legt sich hin. Eine Gewohnheit, die ihr an diesem Tag zum Verhängnis werden soll. Denn als sie in den Garten zurückkehrt, ist das Baby verschwunden.

Die daraufhin benachrichtigte Polizei setzt alle Hebel in Bewegung. Sämtliche Zufahrtsstraßen werden gesperrt. Großalarm wird ausgelöst, der nahe gelegene Wald durchforstet. Jedes Auto wird überprüft. Suchhunde sind im Einsatz. Ein Dorf befindet sich im Ausnahmezustand. Radiostationen melden erste Details. Eine ganze Nation fühlt mit den Eltern und Gabriels zwölfjähriger Schwester. Sie stehen unter Schock und werden ärztlich betreut. Doch trotz intensiver Suche bleibt das Baby verschwunden. Auch die Berichterstattung in den Medien kann daran nichts ändern.

Frankenpost, Montag, den 8.9.1986

Die Polizei bittet um Mithilfe!

Seit dem 7.9.1986 wird Gabriel Huber vermisst. Der knapp zwei Monate alte Säugling stammt aus dem oberfränkischen Medorf. Die von seiner Mutter gegen 16 Uhr alarmierte Polizei geht von einer Kindesentführung aus. Gabriel trug einen hellblauen Frotteestrampler mit weiß abgesetzten Bündchen der Marke Liegelind. Zum Zeitpunkt seines Verschwindens wog der Junge etwa 5.400 Gramm und war rund 60 Zentimeter groß. Wer kann Angaben zum Aufenthaltsort des Kindes machen? Sachdienliche Hinweise bitte an die Polizeiinspektion Kulmbach, an das Polizeipräsidium in Bayreuth oder an jede andere Polizeidienststelle.

Inzwischen ist die Suche mit Hubschraubern und Diensthunden verstärkt worden. Felder und Waldgebiete rund um Medorf werden durchkämmt. Drei Tage nach Gabriels Verschwinden sind 1.000 Beamte im Einsatz. Auf einer von der Staatsanwaltschaft und Kripo am Abend des 11. September einberufenen Pressekonferenz werden 10.000 D-Mark Belohnung ausgesetzt. Zeitgleich führen Ermittler eine Befragungsaktion durch, um Zeugen aufzuspüren, die um diese Uhrzeit im nahe gelegenen Waldstück joggen oder spazieren waren.

Zehn Tage später wendet sich der zuständige Leiter der Soko Gabriel mit einem offenen Brief an die Bevölkerung von Medorf und Umgebung. Er macht deutlich, welch entscheidenden Beitrag die Einwohner der Region zur Aufklärung des Vermisstenfalls leisten können. »Seit der Fall von den Medien aufgegriffen wurde, gingen mehrere Hinweise ein, denen sofort nachgegangen wurde. Leider gibt es noch immer keine konkreten Anhaltspunkte. Trotzdem bin ich der festen Überzeugung, dass wir den oder die Täter mit Ihrer Unterstützung zu fassen kriegen.« Am Ende seines Briefes bedankt er sich bei der Bevölkerung für die bisherige Unterstützung. »Wir tun alles in unserer Macht Stehende, um Gabriels Familie Gewissheit über das Schicksal des Jungen zu geben. Sollten Sie Informationen zum Aufenthaltsort des Kindes haben, setzen Sie sich bitte mit der Polizei in Verbindung.«

Am 26. September 1986 wird der Fall bei »Aktenzeichen XY« ausgestrahlt. Gabriels Mutter nimmt die Sendung zum Anlass, um sich in einem dramatischen Fernsehaufruf an den Entführer zu wenden: »Bitte gib uns unser Kind zurück oder sag uns, wo wir Gabriel finden können!« Doch die Telefone bleiben stumm.

Zwölf Tage später wird die flächendeckende Suche nach Gabriel aufgegeben und durch eine hinweisgebundene Suche ersetzt. Es gibt noch immer kein Motiv, keine Lösegeldforderung. Nichts, was Aufschluss über Gabriels Schicksal geben könnte.

1. Kapitel

Leona hielt sich ihre pulsierende Wange. Warum mussten Zahnschmerzen sich ausgerechnet dann einstellen, wenn man sie am wenigsten brauchen konnte? Entweder kurz vor dem Urlaub oder, wie in ihrem Fall, am Wochenende. Sonntagmorgen, um genau zu sein. Auf dem Weg ins Badezimmer verstärkte sich das dumpfe Pochen zu einem stechenden Schmerz. Es war zum Verrücktwerden. Erst die Sprunggelenkfraktur, dann die Schlafstörungen und nun spielten auch noch ihre Zähne verrückt. Kein Wunder, dass sie sich in letzter Zeit ausgelaugt und kraftlos fühlte. Dabei wusste sie genau, dass ein Großteil ihrer körperlichen Beschwerden auf ihre seelische Verfassung zurückzuführen war, dass sie in Wirklichkeit ihre Ängste widerspiegelten. Ängste, die sie seit dem Tag mit sich herumtrug, an dem sie aus der Klinik entlassen worden war. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, schrak sie zusammen. Daran konnten auch Peers Beteuerungen, die Polizei werde nicht eher ruhen, bis man Olrik Bruhns gefunden habe, nichts ändern. Allein der Name jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Kein Wunder, dass sie jede Nacht schweißüberströmt aufwachte. Aus einem Albtraum, in dem Bruhns die Hauptrolle spielte und der so realistisch erschien, dass sie noch immer seine Hände an ihrem Hals zu spüren glaubte.

»Du musst dich deinen Ängsten stellen«, hatte ihre Freundin Jenny ihr geraten. Aber das war leichter gesagt als getan. Ihr ganzes Leben hatte sich seit jener Schreckensnacht verändert. Es gab zwar Momente, da hielt sie es für möglich, in die Normalität zurückzufinden, doch dazu müsste Bruhns erst mal dingfest gemacht werden. Er war jetzt schon so lange untergetaucht, dass es mit jedem Tag unwahrscheinlicher wurde, ihn aufzuspüren.

Mit einem resignierten Seufzer ließ Leona Wasser in ihren Zahnputzbecher laufen und griff nach der Zahnbürste. Als ihr Blick dabei den Spiegel streifte, zuckte sie erschrocken zurück. Die Frau, die ihr daraus entgegenstarrte, hatte gerötete Augen, bleiche Haut und eine geschwollene Wange. Was der Spiegel nicht zeigte, waren die Schmerzen, die sich dahinter verbargen. Leona musste dringend zum Zahnarzt. In Gedanken sah sie sich in einem überfüllten Wartezimmer sitzen. Allein die Vorstellung verursachte ihr Unbehagen und verstärkte ihre Angst vor der Behandlung. Wer ging schon gern zum Zahnarzt? Doch wenn sie ihre Beschwerden loswerden wollte, blieb ihr nichts anderes übrig. Womit sie beim nächsten Problem angelangt war. Ihr letzter Zahnarztbesuch lag fast zwei Jahre zurück. Damals hatte sie noch in Netzschkau gewohnt und war regelmäßig zur Kontrolle gegangen. Auf Rügen hatte sie sich noch nicht um einen neuen Zahnarzt gekümmert. Augenblicklich meldete sich ihr schlechtes Gewissen: selbst schuld.

Sie ging in die Küche, um in der Ostseezeitung vom Vortag die Nummer des für das Wochenende zuständigen Bereitschaftsdienstes nachzuschlagen. So erfuhr sie, dass der für das Mönchgut und damit für Lobbe, wo sie wohnte, zuständige Zahnarzt Bissati hieß. Seine Praxis lag in Göhren und befand sich in der Nähe der Kirche. Er nahm das Gespräch persönlich entgegen. Seine Stimme war wohlklingend und weich, fast schon väterlich, was Leona als gutes Omen wertete. Wird schon schiefgehen, versuchte sie sich Mut zuzusprechen, als sie ihren in die Jahre gekommenen Passat kurz darauf am Strandhaus vorbei in Richtung Göhren lenkte. Dort angekommen, parkte sie vor der Kirche und ging die letzten Meter zu Fuß.

Der Mann, dem sie sich wenig später gegenübersah, war ein Stück größer als sie und erinnerte sie an Omar Sharif in seinen besten Jahren. Seine dunklen Haare waren an den Schläfen von ersten grauen Strähnen durchzogen und verliehen ihm einen vornehmen Eindruck. Was sie sofort faszinierte, waren seine Augen. Sie blickten so sanftmütig und waren dabei von einem so dunklen Braun, dass es ihr für einen Moment die Sprache verschlug. Bevor es peinlich werden konnte, weil sie ihn so intensiv musterte, bat Bissati sie mit einem aufmunternden Lächeln, auf dem Behandlungsstuhl Platz zu nehmen. Während sie ihm ihre Beschwerden schilderte, ließ er sich von der Arzthelferin einen Mundschutz reichen und streifte sich dünne Latexhandschuhe über. Seine Finger waren lang und feingliedrig. Leona fiel auf, dass er keinen Ehering trug. Doch was besagte das schon. Trotzdem verursachte die Vorstellung, er könnte unverheiratet sein, ein angenehmes Kribbeln in ihrem Bauch, das jedoch genauso schnell verschwand, wie es gekommen war, als Bissati damit begann, ihre Zähne abzuklopfen. Seinen Handgriffen war die Routine unzähliger Jahre anzumerken. Auch wenn Leona es selbst kaum glauben konnte, fing sie an, sich in seiner Gegenwart in der Praxis wohlzufühlen. Etwas ging von ihm aus, dem sie sich nur schwer entziehen konnte. Sein orientalisches Aussehen gefiel ihr und auch seine muskulösen Arme, die sich unter dem weißen Kittel abzeichneten. Wie es sich wohl anfühlen mochte, von ihm im Arm gehalten zu werden?

Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden, diesmal vor Scham. Was war nur in sie gefahren? Leona wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie nie mehr solche Gefühle für einen Mann hatte haben wollen. Vollkommen unvorbereitet hatten sie sie übermannt, und das in einer Situation, in der ihr Leben praktisch kopfstand. In der die kleinste Erschütterung ausreichte, um sie aus der Bahn zu werfen. Leona konnte es sich einfach nicht erklären. Als ihre Blicke sich wie zufällig begegneten, spürte sie, wie etwas in ihr aus dem Lot geriet. Der Moment währte nur ein, zwei Herzschläge. So lang, bis Bissati sie in geschäftsmäßigem Ton bat, den Mund weiter zu öffnen. Dann war er vorbei. Der Anblick des Bohrers katapultierte Leona blitzartig in die Realität zurück und rief ihr ins Gedächtnis, in welcher Situation sie sich befand. Sie saß auf einem Zahnarztstuhl und warf ihrem Zahnarzt vielsagende Blicke zu. Blieb nur zu hoffen, dass ihr Gegenüber nichts von ihren romantischen Anwandlungen mitbekommen hatte.

Als hätte Bissati ihre Gedanken erraten, hielt er mitten in seiner Bewegung inne und zwinkerte ihr aufmunternd zu. »Keine Sorge, Sie haben es gleich überstanden.«

Leona schloss die Augen und versuchte sich zu entspannen. Was bei dem durchdringenden Geräusch des Bohrers alles andere als einfach war. Erstaunlicherweise verspürte sie keinerlei Schmerzen. Stattdessen ließ der Druck endlich nach. Wie es aussah, war sie noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Und das gleich in doppelter Hinsicht.

»Und, besser?«, erkundigte sich der Arzt.

»Viel besser!« Das klang erleichtert.

»Gut, dann würde ich Sie bitten, morgen wiederzukommen und bis dahin die Wange zu kühlen.«

In der darauffolgenden Nacht schlief Leona das erste Mal seit langer Zeit wieder einmal durch. Dementsprechend ausgeruht fühlte sie sich, als sie am nächsten Morgen zu Doktor Bissatis Praxis aufbrach. Während sie erneut auf seinem Stuhl Platz nahm, tat ihr Herz ein paar unvernünftig heftige Schläge. Ohne zu ahnen, welche Gefühle seine bloße Gegenwart in ihr auslöste, erkundigte Bissati sich nach ihrem Befinden. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass die Schwellung zurückgegangen war, ließ er eine Röntgenaufnahme anfertigen. Deren Auswertung bestätigte seine Vermutung: Um den Zahn zu erhalten, musste Leona sich einer Wurzelbehandlung unterziehen. Was bedeutete, dass sie sich noch öfter sehen würden.

2. Kapitel

Pünktlich zu Beginn der großen Ferien legte der Sommer eine Pause ein. Nach zwei Wochen, in denen das Quecksilber auf über 30 Grad geklettert war und der Insel einen zusätzlichen Urlauberansturm beschert hatte, zeigte sich der Himmel an diesem Montagmorgen wolkenverhangen und grau. Das richtige Wetter für die Urlauber, um dem Ozeaneum in Stralsund einen Besuch abzustatten oder die Insel mit dem Auto zu erkunden. Sicher würde es bald kein Durchkommen mehr auf den schon jetzt kurz vor einem Verkehrsinfarkt stehenden Straßen geben.

Es war zehn vor acht, als Heintje Gutmann sein Taxi vor dem Binzer Bahnhofsgebäude zum Stehen brachte. Nieselregen ließ den Tag noch trüber erscheinen. Der mürrische Zug, der seit Tagen um seinen Mund lag, vertiefte sich. Dabei war es weniger das Wetter, das ihm zu schaffen machte. Reiß dich zusammen, ermahnte er sich. Man musste ihm seine schlechte Stimmung ja nicht vom Gesicht ablesen können. Das würde seine Probleme nicht lösen. Zudem war es schlecht fürs Geschäft, das auch schon bessere Zeiten gesehen hatte.

Der erste Fahrgast an diesem Morgen war eine ältere Dame, die nach Thiessow gefahren werden wollte. Der Anzahl ihrer Koffer nach zu urteilen, hatte sie einen längeren Inselaufenthalt geplant.

Der eine kommt, der andere geht, schoss es Heintje durch den Kopf, als er die Kofferraumklappe öffnete. So war das Leben. Erst gestern hatte er einen Stammgast nach Rostock zum Flughafen gefahren: eine ältere Frau aus Lobbe, die ihn seit Jahren für diese Tour buchte. Sie verbrachte den Sommer bei ihrer Tochter im Ausland, um dem Urlauberansturm zu entgehen. Heintje wusste, dass sie erst im Herbst zurückkommen würde. Dann, wenn die letzten Feriengäste die Insel verlassen hatten und wieder Ruhe eingekehrt war.

Sobald er das Gepäck seines Fahrgastes verstaut hatte, nahm er hinter dem Lenkrad Platz und fuhr los. Während er sein Taxi durch Binz steuerte, versuchte er, ein Gespräch in Gang zu bringen. Normalerweise fiel es ihm nicht schwer, mit seinen Fahrgästen zu plaudern. Doch heute wollte es ihm einfach nicht gelingen, sich zu konzentrieren. Worüber hätte er auch reden sollen. Etwa über das Wetter und damit über den Regen, der inzwischen eingesetzt hatte?

Als er seinen Fahrgast abgesetzt hatte, war es kurz nach neun. Zeit, um sich auf den Weg zu seinem nächsten Termin zu machen. Er musste zwar erst in einer Dreiviertelstunde in Binz sein. Doch Heintje ging gern auf Nummer sicher. Erst recht an Regentagen wie diesem. Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als er die Bremslichter des vor ihm fahrenden Audis aufleuchten sah. Soweit das Auge reichte, reihte sich Stoßstange an Stoßstange. Heintje schaltete in den zweiten Gang herunter. Inzwischen befand er sich auf Höhe des Windschöpfwerks Adler, eines denkmalgeschützten Windrads. Als kurz darauf die ersten Häuser von Middelhagen in Sicht kamen, ging ein heftiger Regenschauer über der Insel nieder. Während die Scheibenwischer seines Wagens gegen die Wassermassen ankämpften, tat sich vor ihm ein Waldstück auf, dessen Straße von trichterförmigen Erdhängen begrenzt wurde und in den zwischen Göhren und Baabe gelegenen Kreisverkehr mündete.

Kurz nachdem Heintje sich in die nach Sellin führende Hauptstraße eingefädelt hatte, ging gar nichts mehr. Inzwischen war es 9.21 Uhr. Genervt verdrehte er die Augen. Das konnte heiter werden. Während der Motor seines Autos lustlos vor sich hin tuckerte, drang aus der Ferne ein schriller Pfeifton an sein Ohr. Gleich darauf sah er den Rasenden Roland, Deutschlands älteste Schmalspurbahn, in Rauchschwaden gehüllt herannahen. Auf Höhe des ehemaligen Haltepunktes Philippshagen winkte ihm ein kleiner Junge aus einem der überfüllten Waggons zu.

Automatisch hob Heintje die Hand, um den Gruß zu erwidern. Lokführer müsste man sein, dachte er. Dann würde er jetzt nicht im Stau stecken, sondern könnte ungehindert mit der Bäderbahn über die Insel düsen. Wobei »düsen« angesichts der Höchstgeschwindigkeit von gerade einmal 30 Kilometern pro Stunde kaum der richtige Ausdruck war. Aber egal, er käme wenigstens voran. Der nächste Halt der Bahn war, wie Heintje wusste, Göhren, von wo aus es im Zweistundentakt über Baabe, Sellin und Binz nach Putbus ging und von dort aus weiter nach Lauterbach. Wer wollte, konnte unterwegs einen Abstecher nach Granitz machen. Heintjes Gesicht nahm einen verträumten Ausdruck an, als er an die Aussicht dachte, die sich ihm bei seinem letzten Besuch vom Turm des Jagdschlosses aus geboten hatte. Man konnte den Faden natürlich auch noch weiterspinnen und die Zugfahrt mit einer Schifffahrt kombinieren. Heintjes Gedanken eilten zur Mole nach Lauterbach, wo täglich ein Fahrgastschiff zur Insel Vilm ablegte. Der einzige Wermutstropfen bestand darin, dass die Führung über die unter Naturschutz stehende Insel, die zu DDR-Zeiten ranghohen SED-Funktionären und deren Familienangehörigen als Urlaubsdomizil gedient hatte, auf maximal 30 Personen pro Tag begrenzt war. Zählte man zu den Glücklichen, wurde man neben wunderschönen Fotomotiven mit einer Vielfalt der verschiedensten Pflanzen- und Tierarten belohnt. Darunter etliche bizarr geformte Bäume, die schon zahlreichen Malern als Motiv dienten, wie zum Beispiel Carl Gustav Carus in seinem bekannten Gemälde »Eichen am Meer«. Heintje liebte diesen Anblick und kam immer wieder hierher. Im Anschluss machte er jedes Mal einen Abstecher zu Kapitän Nemos Nautilus, einem Restaurant in Neukamp. Heintje lief das Wasser im Mund zusammen, als er an die in Dillrahmsoße angerichteten Lachsstreifen dachte, die man ihm dort an seinem letzten Geburtstag auf gebutterten Bandnudeln serviert hatte. Während er sich in Erinnerung daran genießerisch mit der Zunge über die Lippen leckte, verspürte er ein Kribbeln, das sich vom Magen aus über den gesamten Körper zu verteilen schien. Heintjes Herz hämmerte so heftig, dass er glaubte, es wolle ihm die Brust sprengen. Sein Atem ging schnell und flach. Von einer blitzartigen Übelkeit befallen, rang er gierig nach Luft. Sauerstoff, er brauchte Sauerstoff. Schweiß trat ihm aus allen Poren und sein Blick verschleierte sich. Während draußen der Regen unvermindert gegen die Windschutzscheibe trommelte, machte sich nackte Panik in ihm breit. Er wollte um Hilfe rufen. Doch über seine Lippen kam bloß ein kehliges Krächzen. Wie von einem Fieber geschüttelt, begannen seine Arme und Beine unkontrolliert zu zittern. Heintje bäumte sich auf. Es war ein letzter verzweifelter Versuch, seine Lunge mit Sauerstoff zu füllen. Dann schwanden ihm die Sinne und er brach über dem Lenkrad zusammen.

Der Notruf ging um 9.43 Uhr ein. Obwohl bis zum Eintreffen des Rettungswagens nur wenige Minuten verstrichen, kam für Heintje Gutmann jede Hilfe zu spät. Dem Notarzt blieb nur noch, den Totenschein auszustellen und die Polizei über das Vorliegen einer unklaren Todesursache zu informieren. Schließlich ging es um die Frage, ob Fremdverschulden den Tod bewirkt haben konnte oder nicht. Was wiederum den Staatsanwalt und die Rechtsmedizin auf den Plan rief.

3. Kapitel

Leona hätte die vor ihr liegende Strecke mit verbundenen Augen zurücklegen können, so vertraut war sie ihr inzwischen. Erst Sellin, dann Baabe, danach die lange Gerade bis zum Kreisverkehr. Noch ein paar Kilometer und sie wäre zu Hause. Nur, dass zuvor noch ein Einsatz auf sie wartete. Ein ungeklärter Todesfall mit verdächtiger Auffindesituation, hatte es am Telefon geheißen. So dicht, wie der Verkehr mittlerweile war, konnte es nicht mehr weit sein. In der Ferne aufflackerndes Blaulicht bestätigte ihre Vermutung. Die Polizei hatte eine schmale Rettungsgasse gebildet, gerade breit genug, um ungehindert durchzukommen. Leona fuhr bis an den mit rot-weißem Flatterband abgesperrten Bereich heran.

Als sie ausstieg, kam ihr Peer Boström, seit Jahren ein guter Freund und gleichzeitig der in dem Fall ermittelnde Kriminalkommissar, mit aufgespanntem Regenschirm entgegen. Seine Miene verriet Verwunderung und eine Spur von Befangenheit. Auch wenn er versuchte, sich nichts davon anmerken zu lassen. »Schön, dich zu sehen«, begrüßte er sie mit einem zaghaften Lächeln. »Ich wusste gar nicht, dass du schon wieder im Dienst bist.«

Während Leona sich zu ihm unter den Schirm flüchtete, warf er einen verstohlenen Blick auf ihren Knöchel. Anscheinend hatte die Sprunggelenkfraktur keine dauerhaften Schäden hinterlassen.

»Ich denke, die Zeit war reif«, erwiderte Leona. »Das Leben muss schließlich weitergehen.«

Für einen Moment standen sie so dicht beieinander, dass Peer dem Impuls widerstehen musste, sie in seine Arme zu schließen. Allein die Vorstellung verursachte einen wohligen Schauer. Dabei wusste er genau, wie gefährlich es war, mit dem Feuer zu spielen. Noch einmal würde er bestimmt nicht so glimpflich davonkommen wie damals in jener Finnhütte, in die dieser Wahnsinnige Leona verschleppt hatte. In seiner grenzenlosen Erleichterung darüber, dass sie noch am Leben war, hatte Peer einen unverzeihlichen Fehler begangen. Und obwohl Leona weder ihm gegenüber noch gegenüber seiner Freundin Marlies je ein Wort darüber verloren hatte, ahnte er, dass sie genau wusste, was er für sie empfand.

Mit einem verhaltenen Seufzer zwang Peer seine Gedanken in die Gegenwart zurück. Und damit zum Grund für ihr Hiersein. Er warf Leona einen besorgten Blick zu. Sie sah schmal und blass aus. Gezeichnet von dem auf sie verübten Anschlag. Peer hätte ihr gerne etwas Aufmunterndes gesagt, doch noch bevor er etwas äußern konnte, wechselte Leona das Thema: »Na dann mal los. Wo ist die Leiche?«

»Gleich um die Ecke.« Peer wies auf ein nur wenige Meter entfernt stehendes Taxi. Während er ihr eine Zusammenfassung gab, holte Leona ihren Einsatzkoffer aus dem Auto und folgte ihm durch den nunmehr nur noch leichten Nieselregen. Der Tote befand sich unter einer Einmaldecke aus dem Rettungswagen, über die sich ein provisorischer Regenschutz spannte. Um Schaulustige fernzuhalten, hatte man den Bereich abgesperrt und einen Sichtschutz errichtet. Nachdem Leona sich kurz mit dem diensthabenden Notarzt ausgetauscht hatte, ging sie neben dem Toten in die Hocke und schlug die Decke zurück. Das Erste, was ihr an dem Leichnam auffiel, war sein knallrot angelaufenes Gesicht. Sofort begannen in ihrem Kopf die Alarmglocken zu schrillen. Könnte sich um eine Vergiftung durch Kohlenmon­oxid oder Zyanid handeln, notierte sie sich in Gedanken, bevor sie dazu überging, ihre Eindrücke mit der Kamera festzuhalten. Der Tote war circa 50 Jahre alt. Die von der Polizei im Handschuhfach des Taxis sichergestellten Papiere wiesen ihn als Heintje Gutmann aus, wohnhaft in Altensien. Leona registrierte, dass der Mann sportlich durchtrainiert und gepflegt wirkte. Er war mit Jeans und einem über der Brust aufgeschnittenen Poloshirt bekleidet und lag auf dem Rücken. In genau der Position, in der ihn die beiden Rettungssanitäter nach erfolgloser Wiederbelebung zurückgelassen hatten. Sein Mund stand offen, der Unterkiefer war in Richtung Brust abgesackt. Die Farbe seiner Mundschleimhaut erinnerte Leona an reife Kirschen. Er schien keine Verletzungen zu haben. Nachdenklich betrachtete Leona seine Augen. Sie hatten einen starren Blick und unnatürlich große Pupillen, wiesen jedoch keine Einblutungen auf, die auf ein Gewaltverbrechen hätten hinweisen können. In seinem Gesicht und am Hals hatten sich kirschrote Totenflecken gebildet, deren Lage und Ausprägung der Auffindesituation entsprachen, wie sie von den Rettungssanitätern geschildert worden war. Zeugenaussagen zufolge war Heintje Gutmann plötzlich über dem Steuer zusammengesackt. Lange konnte er so nicht gelegen haben. Sonst wären die Totenflecken in seinem Gesicht durch das Lenkrad ausgeprägter. Leona ging davon aus, dass sie dort allmählich verschwinden und neue an den rückwärtigen Körperpartien auftauchen würden. Einem Impuls folgend beugte sie sich über den Mund des Toten und sog schnuppernd die Luft ein. Sie nahm jedoch nur eine säuerliche Ausdünstung wahr.

»Kannst du schon etwas sagen?«, erkundigte sich Peer, der von Leona unbemerkt hinter sie getreten war.

»Dazu ist es noch zu früh«, sagte sie und vertröstete ihn auf die für den Nachmittag anberaumte Obduktion. Sie gab dem Bestatter ein Zeichen, der schon auf seinen Einsatz wartete.

Stunden später fuhren Leona und Peer nach Greifswald in die Rechtsmedizin, wohin Gutmanns Leiche zwischenzeitlich überstellt worden war. Als sie zusammen mit dem zuständigen Staatsanwalt, Jens Graf, den Obduktionssaal betraten, war Kai Mertens, Leonas Sektionsassistent, gerade dabei, den Leichnam vorzubereiten. Obwohl er im nächsten Monat 32 wurde, wirkte er wie ein Student aus dem ersten Semester. Ein schlaksiger junger Mann mit Rastalocken und Nickelbrille. Doch Leona hatte schnell erkannt, dass man gut daran tat, sich nicht von seinem Äußeren täuschen zu lassen. Sie begrüßten einander kurz.

Leona, die ihre Alltagskleidung inzwischen gegen einen grünen Kittel mit Gummischürze und eine Plastikhaube für ihre Haare eingetauscht hatte, ließ ihren Blick über den auf dem Autopsietisch liegenden Mann gleiten. Das blendend weiße Licht verlieh ihm ein gespenstisches Aussehen. Ein Eindruck, der durch die kirschroten Totenflecke verstärkt wurde. »Lässt sich schon sagen, woran er gestorben ist?«, erkundigte der Staatsanwalt sich, der ihrem Blick gefolgt war.

»Klarer Fall von Zyanidvergiftung«, kam Kai Mertens ihr zuvor. Die Worte waren ihm so selbstverständlich über die Lippen gekommen, dass es Leona für einen Moment die Sprache verschlug. Sie war zwar einiges von ihrem Sektionsassistenten gewöhnt. Doch dass er sich so weit aus dem Fenster lehnte, hatte sie bis jetzt noch nie erlebt. Noch dazu vor versammelter Mannschaft.

»Wenn das so ist, können wir ja auf die Obduktion verzichten.« Leonas sarkastischer Ton schien seinen Zweck nicht zu verfehlen.

»Tut mir leid. Ich wollte nicht …«

»Ihre Entschuldigung können Sie sich sparen«, fiel Leona ihm ungewohnt heftig ins Wort. »Wenn Sie jetzt bitte an Ihren Platz gehen würden, damit wir anfangen können.«

Obwohl ihr Tonfall klarstellte, dass es besser war, ihrer Aufforderung nachzukommen, rührte Kai Mertens sich nicht vom Fleck. »Wollen Sie denn gar nicht wissen, wie ich darauf gekommen bin?«, beharrte er trotzig.

Bevor Leona etwas erwidern konnte, hörte sie ihn sagen, er habe es gerochen. Das musste sie erst mal verdauen. Was, wenn er recht hatte? Sie hatte ja selbst auf eine Zyanidvergiftung getippt. Verunsichert beugte sie sich über das Gesicht des Toten und sog noch einmal schnuppernd die Luft ein. Doch da war nichts. Nicht einmal ein Hauch von Bittermandel. »Also ich kann nichts riechen«, entgegnete sie.

Ihre Worte ließen Kai Mertens hinter seiner Nickelbrille erröten. »Keine Sorge, das ist genetisch bedingt.«

Leonas grüne Augen sprühten vernichtende Blitze. »Was soll das heißen?«

»Dass nur etwa 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung den für Blausäure, und damit auch für Zyanid, typischen Bittermandelgeruch wahrnehmen kann.« Kai Mertens trat einen Schritt beiseite. »Die Herren können sich gerne davon überzeugen.«

»Nicht nötig«, wiegelte Peer ab, um die fast greifbare Spannung, die sich in dem Raum ausgebreitet hatte, nicht noch zu verstärken.

»Wir glauben Ihnen auch so«, pflichtete ihm der Staatsanwalt bei. »Wenn wir jetzt endlich beginnen könnten«, fügte er mit Blick auf die über der Tür hängende Uhr hinzu.