Dangerous Attraction - Michelle D. Steward - E-Book

Dangerous Attraction E-Book

Michelle D. Steward

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Beschreibung

Christine schreibt unter Pseudonym erfolgreiche Romane, hält sich jedoch konsequent aus der Öffentlichkeit heraus. Nach einem persönlichen Schicksalsschlag hat sie sich zurückgezogen – bis sie Eric Walker begegnet, einem gefeierten Theater- und Filmschauspieler mit ebenso charismatischer wie undurchsichtiger Ausstrahlung. Zwischen beiden entsteht eine Verbindung voller Tiefe, aber auch Zerrissenheit. Während Christine sich zum ersten Mal emotional öffnet, merkt Eric, wie sehr er sich nach mehr als oberflächlichem Ruhm und kurzfristigen Beziehungen sehnt. Doch ihre aufkeimende Liebe gerät ins Wanken, als eine unsichtbare Bedrohung auftaucht: Jemand verfolgt Eric, Anschläge häufen sich, und die Gefahr wird real. Hinter allem steckt eine eifersüchtige Ex-Geliebte, die Erics Rückweisung nicht verkraftet hat – und bereit ist, alles zu zerstören. In einem dramatischen Finale opfert Christine sich beinahe für ihn – ein Moment, der alles verändert. Gemeinsam fassen sie neue Pläne: ein gemeinsames Buchprojekt, ein Leben ohne Masken – und vielleicht sogar eine Familie. Gefährliche Nähe ist eine Geschichte über Vertrauen, zweite Chancen, die Kraft der Liebe – und die Schatten der Vergangenheit.

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Seitenzahl: 458

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dangerous Attraction

- Wenn Nähe zur Gefahr wird -

von

Michelle D. Steward

“All the world’s a stage, and all the men and women merely players.”

— William Shakespeare, As You Like It

VORWORT

Jeder Mensch spielt eine Rolle – im Leben wie auf der Bühne.

Manche Rollen sind freiwillig, andere auferlegt.

Manche sind Schutzschild, manche bloße Lüge.

Manchmal reicht eine Begegnung. Ein besonderer Mensch.

Und Mauern fallen …

… während dunkle Schatten erwachen.

Dies ist die Geschichte von zwei Menschen, die lernen, sich zu zeigen – trotz Angst, trotz Gefahr.

Von Täuschung und Wahrheit, Bühne und Abgrund.

Und davon, dass der größte Mut manchmal darin liegt, jemanden hinter die Fassade blicken zu lassen …

… selbst, wenn dort längst jemand lauert, der alles zerstören will …

– M. D. Steward

PROLOG

„Give me that man

That is not passion’s slave and I will wear him

In my heart’s core, ay, in my heart of heart.“

— William Shakespeare, Hamlet

Es war das Highlight des Jahres, und Christine hatte sich wie immer akribisch auf die Düsseldorfer Fantasy Convention vorbereitet. Die letzten Abende hatte sie in ihrem Wintergarten verbracht – ihrer kleinen Oase voller Erinnerungen. Zwischen üppigen Grünpflanzen, die ihre Eltern einst aus Italien mitgebracht hatten, lag ein Hauch mediterraner Leichtigkeit in der Luft. Wenn die Abendsonne durch die Holzlamellen fiel und die Blätter in warmes Licht tauchte, fühlte es sich an, als säße sie irgendwo in der Toskana. Hier war das Denken leicht, das Planen ein Vergnügen.

Mit dem Laptop auf dem Schoß, einem Glas Weißwein auf dem Tisch und leiser Filmmusik im Hintergrund, hatte sie mit einem Lächeln an ihren Ideen gefeilt. Die Musik schwebte wie ein leises Versprechen durch den Raum – vertraut, inspirierend – wie ein Soundtrack zu ihrem Leben.

Jetzt stand sie mit Thomas auf der Bühne im größten Konferenzsaal des riesigen Hotel- und Kongress-Centers. Die Luft war aufgeladen von Erwartung, ein leichter Geruch nach Technik und Lampenwärme lag in der Dunkelheit. Die Fenster waren abgedunkelt, die Scheinwerfer blendeten. Christine spürte das Licht auf ihrer Haut wie ein warmes Streicheln, sah aber nur die ersten fünf Reihen – der Rest des Publikums lag wie ein dunkles Meer vor ihr.

Trotzdem spürte sie sie alle. Die gebannte Stille, das kaum merkliche Rascheln, wenn jemand sich im Sitz bewegte, das kollektive Einatmen bei einer Pointe. Rund eintausend Menschen waren gekommen – und sie hörten zu.

Sie war ruhig, fokussiert – aber in ihren Fingerspitzen kribbelte noch das Adrenalin. Ein kurzer Blick zu Thomas. Sein Lächeln war dezent, aber stolz. Ihr gemeinsamer Vortrag war gut angekommen. Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt.

Früher waren diese Panels oft zu akademisch gewesen – eine Aneinanderreihung von Fakten ohne Seele. Doch Christine hatte das Konzept verändert. Sie lebte das, worüber sie sprach. Bezog das Publikum ein, stellte Fragen, war charmant, spontan, manchmal sogar provokant – und immer nahbar. Jedes Jahr war ihr Slot besser besucht, mittlerweile sogar beliebter als mancher Auftritt der Stars aus den Verfilmungen.

Diese Convention war ohnehin besonders. Einige Schauspieler kamen seit Jahren – und das nicht aus Pflichtgefühl. Es war der Geist der Veranstaltung, der familiäre Umgangston, der die Menschen band. Die Fans bekamen ihre Autogramme, ihre Fotos – aber sie wussten auch, wann es genug war.

Wenn sich einer der Stars am Abend unter die Partygäste mischte, war das keine Sensation – es war einfach... richtig. Teil dieses magischen Wochenendes, in dem Fantasie und Realität mühelos ineinander flossen.

Die Erinnerungen an den gestrigen Abend lagen noch frisch in ihrem Inneren, selbst hier, im Licht der Bühne, als Christine mit Thomas und dem älteren John in der stilvollen Pianobar bei einem Glas Wein zusammensaß. Gedämpftes Licht spiegelte sich auf den dunklen Holzflächen, Kerzen flackerten auf kleinen Marmortischen, und die Luft war schwer vom Duft nach altem Leder und einem Hauch Zigarrenrauch.

Die Musik war live, aber zurückhaltend – jazzige Klavierklänge, die sich geschmeidig unter die Gespräche legten, als wollten sie niemanden stören, nur begleiten. Jeder Ton schien dort zu landen, wo er hingehörte.

John saß lässig zurückgelehnt in einem der schweren Clubsessel, ein Glas Rotwein in der Hand. Die Linien in seinem Gesicht erzählten von langen Drehtagen, langen Nächten – und einem Leben voller Geschichten. Er hatte mit Spielberg gearbeitet, mit anderen Größen der Branche, aber das ließ er nie heraushängen.

Sein Lächeln kam schnell, sein Humor trocken wie ein guter Whiskey – treffend, nie verletzend. Wenn er sprach, wirkte es, als würde er die Dinge eher beobachten als bewerten, als hätte er längst verstanden, was wichtig war – und was nicht.

An diesem Abend war Christine nicht nur mit Thomas, ihrem Kollegen von der Literature Society, unterwegs. Auch ihre Freundin Anna begleitete sie – zum ersten Mal.

Anna hatte eine schwere Krebserkrankung überstanden, gerade so. Ihr Körper war wieder zu Kräften gekommen, aber ihr Blick blieb oft leer, ihre Gedanken schienen wie gefangen hinter einer unsichtbaren Wand. Christine hatte sie mitgenommen, um ihr etwas davon zurückzugeben, was der Alltag ihr noch schuldig war: Leichtigkeit. Nähe. Leben.

John hatte keine Sekunde gezögert. Als Anna sich ein wenig unsicher hinter den beiden gehalten hatte, war er aufgestanden, hatte sie mit einem offenen Lächeln empfangen und sie in eine warme Umarmung gezogen – selbstverständlich, nicht aufgesetzt. Kein Mitleid, kein falscher Trost. Nur ehrliches Willkommen.

Sie saßen zu viert beisammen, der Klang des Pianos im Rücken, als die halbe Besetzung einer bekannten Amazon-Fantasy-Serie die Bar betrat. Stimmen erhoben sich, einige Köpfe drehten sich, doch die Atmosphäre blieb gelöst.

Einige der Schauspieler grüßten freundlich – alte Bekannte, die zur Convention gehörten wie das Cosplay und der Applaus. Doch einer stach hervor: der Hauptdarsteller Tom.

Christine spürte es sofort. Die Gespräche am Tisch flackerten einen Moment lang, so wie das Kerzenlicht, wenn ein Luftzug durch den Raum ging. Vor zwei Jahren hatte Tom mit seiner arroganten Art für Unmut gesorgt. Zu laut, zu fordernd, zu sehr von sich selbst überzeugt. Viele Fans hatten sich über sein Verhalten beschwert.

Doch diesmal wirkte er … anders. Nicht gänzlich verändert, aber zurückhaltender. Statt des üblichen Designeranzugs trug er schlichte Jeans und ein graues Hemd, das seine Gesten ungewohnt unauffällig machte. Sein Gang war immer noch selbstbewusst, aber ohne das übertriebene Imponiergehabe von früher.

„Was ist denn mit dem los?“ Christine beugte sich leicht zu Lesley, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Hat er seine Überheblichkeit zu Hause gelassen?“

Lesley grinste, nahm einen Schluck von seinem Drink. „Er will sich von ihr scheiden lassen. Aber es ist noch nicht offiziell.“

Christine nickte nur knapp. „Keine Frage.“ Ihre Stimme war ruhig, fast tonlos. Klatsch und Tratsch waren nie ihr Ding gewesen. Persönliches sprach man nicht aus, wenn es nicht von den Betroffenen selbst kam. Diskretion war hier keine Option – sie war Gesetz.

Gerade, als sich das Gespräch am Tisch wieder zu verteilen begann und das Lachen leiser wurde, öffnete sich die Tür der Bar ein weiteres Mal – und für einen Moment war es, als hielte die Luft den Atem an.

Ein Mann trat ein, den hier niemand erwartet hätte. Nicht heute. Nicht je.

Eric Walker.

Groß gewachsen, durchtrainiert,  athletisch und entspannt in seiner Haltung. Seine schwarz-braunen Haare fielen leicht zerzaust über die Stirn, als hätte er es eilig gehabt. Sein Gesicht zierte leichter Bartschatten, was bei ihm keine Seltenheit war. Seine durchdringenden blauen Augen waren kühl und aufmerksam, fast so, als könnten sie durch jeden Blick mehr sehen, als er verraten wollte.

Er war einer der herausragendsten Schauspieler des Vereinigten Königreichs, gefeiert für seine Tiefe, seine Präsenz – und sein Schweigen. Sein letzter Film war ein cineastisches Ereignis gewesen, vielfach ausgezeichnet. Die Kamera hatte ihn geliebt – wie immer. Und doch war er der Oscar-Nominierung knapp entgangen, was seinem Ruf kaum geschadet hatte. Im Gegenteil. Es gab Rollen, in denen er mehr sagte, ohne ein Wort zu sprechen, als andere in seitenlangen Monologen.

Doch Eric war nicht nur Schauspieler. Er war ein Rätsel.

Er lebte zurückgezogen, fernab jeder Selbstdarstellung. Premieren – ja, die ließ er sich nicht nehmen. Aber Interviews, rote Teppiche, Small Talk? Fehlanzeige. Sein Privatleben war ein Nebel aus Spekulationen und Andeutungen. Fotos? Kaum. Geschichten? Vage.

Was selbst in der Branche kaum jemand wusste: Eric schrieb.

Unter einem Pseudonym veröffentlichte er Thriller – düster, klug konstruiert, mit Figuren, die so lebensecht wirkten, dass man meinte, ihnen auf der Straße begegnet zu sein. Seine Sprache war präzise, melancholisch, beinahe poetisch. Sie ließ Raum zwischen den Zeilen – genau dort, wo sich der wahre Mensch versteckte.

Und nun stand er hier.

Nicht am Rand. Nicht in sicherer Entfernung.

An ihrem Tisch.

Er trug ein schlichtes, dunkles Hemd, das seine lässige Eleganz unterstrich. Kein Aufsehen, keine Auffälligkeit – und doch war da eine Präsenz, die man nicht ignorieren konnte.

Die Schatten der tief hängenden Barleuchten malten harte Linien über sein Gesicht, betonten die kantigen Wangenknochen und die feine Narbe am Kinn, das stille Spiel seiner Mimik. Seine Augen – das kühle Blau – ruhten ruhig auf der kleinen Runde, ohne Eile, ohne Regung. Distanziert. Fast abweisend. Und doch – etwas daran blieb haften. Wie ein Gedanke, der sich nicht abschütteln ließ.

Als er schließlich das Wort ergriff, überraschte seine Stimme. Dunkel, samtig, tief – wie ein guter Rotwein, der langsam den Gaumen umspielt. Selbst, wenn Eric leise sprach, lauschten alle automatisch, denn jeder Ton schien bewusst gewählt, jeder Satz sorgfältig platziert.

Offenbar hatte John ihn überzeugt. Oder überredet. Oder beides.

Er zog sich einen Stuhl heran, setzte sich mit einer Bewegung, die wie beiläufig wirkte – aber aufmerksam war. Als würde er jedes Detail wahrnehmen, jedes Wort abwägen, bevor es fiel.

Christine hielt unwillkürlich den Atem an.

Etwas hatte sich verschoben in diesem Moment, kaum merklich, aber spürbar. Eine neue Energie lag in der Luft, kaum greifbar, wie der erste Ton eines Liedes, das man noch nie gehört hat – und doch weiß, dass es einen nicht mehr loslassen wird.

Was sie in diesem Moment noch nicht wusste:

Dieser Abend würde alles verändern.

KAPITEL 1

„What’s in a name? That which we call a rose by any other name would smell as sweet.“

— William Shakespeare, Romeo and Juliet

Christine lehnte sich leicht zurück in ihren Stuhl, die Finger locker um das Glas Wein gelegt, ohne es wirklich zu spüren. Der warme Schein der gedämpften Barlichter umhüllte sie wie ein vertrauter Mantel, doch innerlich war sie angespannt – ein stiller Kontrast zu der lässigen Haltung, die sie nach außen zeigte.

Sie wusste genau, wovon die Rede war – war sie doch selbst eine jener Erfolgsautorinnen, die ihre Thriller unter einem Pseudonym veröffentlichten. Der Grund dafür lag tief, fast wie eine unsichtbare Mauer um ihr Leben gebaut: Nach dem Tod ihres Ex-Mannes hatte sich das halbe Dorf in trüben Tuscheleien verloren. Das Pseudonym war für sie nicht nur Schutz, sondern auch Distanz – eine Möglichkeit, sich innerlich von ihm und der Vergangenheit abzugrenzen.

Ihr Blick glitt kurz zu Thomas, der gerade etwas erzählte und dabei die Hände lebhaft bewegte. Christine schmunzelte leise, doch zugleich schlich sich ein Hauch Melancholie in ihre Augen. Ihr erster Roman – ein zaghaftes Experiment – hatte das Interesse eines renommierten Verlages geweckt, der sie wieder mit Sarah zusammenbrachte, ihrer langjährigen Freundin und heutigen Agentin. Sarah, die ihr Fels in der Brandung war und die ihr diesen Schutzschild der Anonymität ermöglichte.

Christine spürte, wie ihr Herz bei dem Gedanken an die wiederholten Anfragen des Verlags schneller schlug. Lesungen, Signierstunden – Aktivitäten, vor denen sie sich instinktiv drückte. Sarah hatte stets ein Auge darauf, solche Einladungen abzuwehren. Und doch wusste Christine: Sie war es den Fans längst schuldig, den Schleier zu lüften. Aber die Angst, die Kontrolle zu verlieren, saß tief.

Sie richtete sich ein wenig auf, strich eine Strähne ihres hellbraunen Haars zurück und nahm einen kleinen Schluck von ihrem Wein. Ihr Blick verlor sich in der dunklen Oberfläche des Glases, als wollte sie dort Antworten suchen. Dann sah sie auf – direkt in die Runde, in der sich vertraute Stimmen und das sanfte Klirren von Gläsern mischten. Heute, dachte sie, könnte heute vielleicht der Moment sein, an dem sich etwas verändert.

Ihre Freundin Anna, ebenfalls aus dem Englischstudium, war vor ihrer Krankheit als Dolmetscherin für einen der größten Fernsehsender Deutschlands tätig gewesen. Eine Weile hatte sie in Berlin gelebt, hektisch, erfolgreich – bis die Diagnose kam. Danach kehrte sie zurück in die rheinhessische Heimat, in ein kleines Dorf bei Geisenheim. Der Ort, gelegen auf einer Anhöhe zwischen sanften Weinbergen, mit weitem Blick auf den Rhein, beflügelte Christines Fantasie immer wieder.

Die beiden kannten sich seit der Grundschule. Während des Studiums hatten sie eine Wohnung geteilt – aus finanziellen Gründen und weil sie sich ergänzten. Ihre Freundschaft war wortlos geworden in all den Jahren, auf stille Weise tief. Als neue Beziehungen kamen, wurde das gemeinsame Wohnen unpraktisch. Doch die Verbindung blieb.

Annas Partnerschaft zerbrach nach drei Jahren. Christine dagegen hatte geglaubt, den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Was folgte, war jedoch keine gleichberechtigte Liebe, sondern ein leiser, schleichender Machtverlust. Kaum verheiratet, nahm er sich, was er für sein Recht hielt. Dass sie noch studierte, störte ihn. Er wollte eine Frau zum Vorzeigen – und Kinder, möglichst bald.

Nach zwei Jahren Ehe war sie tatsächlich schwanger – doch das Kind verlor sie früh. Die nüchternen Erklärungen der Ärzte halfen ihr, die Trauer einzuordnen. Von ihm jedoch kam nichts als Wut und Vorwürfe.

Ihre Eltern hätten sie jederzeit aufgenommen. Doch sie wollte selbst entscheiden, wann und wie sie ging. Und ob überhaupt.

Er blieb immer öfter aus. Überstunden, Sportverein, angeblich neue berufliche Chancen. Doch irgendwann erkannte sie, was dahintersteckte: Eine Affäre mit einer blonden, kaum volljährigen Frau. Er selbst hatte die Dreißig gerade überschritten. Als Christine die Scheidung forderte, hatte er nur gelacht.

„Und wovon willst du leben?“

Er wusste, dass die Wohnung auf seinen Namen lief, auch wenn sie die Hälfte der Miete trug. Sie würde mittellos dastehen. Und so blieb sie. Wartete, bis das Urteil rechtskräftig war. Fast ein Jahr unter einem Dach – ein Schwebezustand zwischen Wut, Resignation und stillem Trotz.

Gerade als sie ihre letzten Sachen packte, stand die Polizei vor der Tür.

Er war betrunken Auto gefahren, hatte einen Unfall verursacht. Die andere Fahrerin überlebte schwer verletzt – er selbst nicht.

Christine hatte ihn einmal geliebt. Vielleicht. Doch das, was geblieben war, war vor allem Wut. Ihre Trauer hielt sich in Grenzen. Und doch war es seltsam, plötzlich allein zu sein – nach vier Jahren des Zusammenlebens.

Sie war zurück in ihr Studium gekehrt, hatte alle Energie hineingelegt. Mit Auszeichnung promoviert, Literaturwissenschaft, ihre Leidenschaft. Das Gerede im Heimatdorf war eine Prüfung für sich. Manche meinten, sie habe ihn in den Tod getrieben. Von seinen Demütigungen, seinen Affären wollte niemand etwas hören. Aber der Spott gab ihr Kraft.

Was lange in ihr geschlummert hatte, fand nun den Weg auf Papier. Geschichten, in denen sie entscheiden konnte, wie viel Wahrheit in der Fiktion verborgen lag. Aus diesen Notizen wurde ihr erster Roman. Sieben Jahre war das nun her.

In dieser Zeit hatte sich ihr Leben verändert. Ihre Wunden waren nicht verschwunden, aber vernarbt. Sie war gewachsen, innerlich klarer, still entschlossener. Und sie hatte sich geschworen, nie wieder einen Mann so nah an sich heranzulassen, dass er Macht über sie gewann.

Die sogenannte Gesellschaft hatte sie längst abgeschrieben. Sie jedoch nahm eine Stelle an der Realschule im Nachbarort an – obwohl sie fürs Gymnasium qualifiziert gewesen wäre. Nicht aus Mangel an Ehrgeiz, sondern aus dem Wunsch nach Ruhe. Und aus einem leisen Triumph: Keiner dieser engstirnigen Menschen ahnte, dass eine gefeierte Autorin unter ihnen lebte.

Nach der Scheidung hatte sie eigentlich ihren Geburtsnamen wieder annehmen wollen. Doch er hatte die nötigen Papiere nie unterschrieben, und ein Gerichtsverfahren hätte zu viel Unruhe gebracht. Also blieb es bei dem Namen.

In der Welt der Bücher aber wurde aus Dr. Christine Francesca Becker schließlich jemand anderes – Fran Baker.

Sie hatte vieles abgestreift in den vergangenen Jahren: Träume, die zu groß gewesen waren. Ängste, die zu lange genährt worden waren. Und falsche Loyalitäten, die sie Kraft gekostet hatten. Zurück blieb eine Frau mit scharfen Gedanken, ruhiger Stimme und einem Namen, der vielleicht nicht der ihre war – und doch näher an ihrem wahren Ich lag als je zuvor.

KAPITEL 2

„I do love nothing in the world so well as you – is not that strange?“

— William Shakespeare, Much Ado About Nothing

Manchmal fragte sie sich, ob sie in der falschen Zeit lebte. Während andere begeistert von Algorithmen, Rankings und E-Book-Verkäufen sprachen, hielt Christine lieber ein echtes Buch in der Hand – eines mit raschelnden Seiten und dem unverwechselbaren Duft von Druckerschwärze. Die Literature-Society war ihr Rückzugsort, ein Ort für Menschen, die an das geschriebene Wort glaubten, nicht an seinen Marktwert.

Und doch saß sie heute hier – in der eleganten Pianobar des Kongress-Centers auf einer der größten Conventions Europas. Gedämpftes Licht spiegelte sich auf der Oberfläche des schwarzen Flügels. In der Luft lagen das leise Klirren von Gläsern, das gedämpfte Summen ruhiger Gespräche und jenes kaum greifbare Gefühl, dass dieser Abend etwas Besonderes war.

Und gegenüber von ihr: ein Mann, der angeblich kalt, arrogant und unnahbar sein sollte. Nichts an ihm erinnerte sie auf den ersten Blick an Literatur, und doch war da etwas.

Im ersten Moment, als John sie einander vorstellte, war er ihr tatsächlich so erschienen, wie ihn die Medien beschrieben – reserviert, fast abweisend. Aufrecht, die Arme locker vor der Brust verschränkt, den Blick kühl sondierend. Bis jener mit einem vermeintlich klugen Spruch daherkam und sie spontan konterte.

„Wer die Zügel in der Hand hält, darf sich nicht wundern, wenn das Pferd irgendwann scheut“, sagte John mit diesem belehrenden Tonfall, der wohl als charmant gemeint war.

Christine hob eine Augenbraue, während sie das Glas in ihrer Hand leicht drehte. „Oder es wirft den Reiter einfach ab – besonders, wenn der zu viel redet.“

John tat empört, stemmte gespielt die Hände in die Seiten. „Du kannst doch nicht … einfach so meine Autorität untergraben!“, schimpfte er lachend.

„Wie du siehst – ich kann! Und das war noch freundlich formuliert“, gab sie zurück, ein Lächeln auf den Lippen, das süßer klang, als es gemeint war. Ihre Stimme blieb ruhig, aber ihre Haltung war aufrecht, selbstsicher.

Eric, der das Ganze beobachtet hatte, rang kurz um Fassung. Ein kurzes Zucken in seinem Mundwinkel – dann lachte er plötzlich laut auf. Ein echtes, tiefes Lachen, das seine Haltung vollkommen veränderte. Die kühle, distanzierte Aura fiel von ihm ab, als wäre sie nie da gewesen. Er lehnte sich zurück, lockerte den Kragen seines Jacketts ein wenig und schüttelte leicht den Kopf, als könne er selbst nicht glauben, wie sehr ihn die Szene amüsierte. Seine blauen Augen – eigentlich so kalt wie das Meer bei Sturm – leuchteten warm. Lebendig. Nahbar.

„Wenn das dein normaler Umgangston ist“, sagte er mit gespielter Ernsthaftigkeit, „bist du entweder furchtlos – oder erstaunlich kreativ im Überleben zwischen Intelligenz und Ironie.“

Christine hob eine Braue, beugte sich ein klein wenig vor – gerade so viel, dass es auffiel, aber nicht ausreichte, um wirklich zu provozieren. Ihre Haltung blieb gelassen, die Schultern entspannt, ihre Stimme ruhig. Nur in ihren Augen flackerte kurz ein kaum greifbarer Funke auf.

„Ich nenne es: elegant effizient. Und meistens tödlich präzise.“

Eric ließ seinen Blick nicht von ihr weichen. Die Andeutung eines Lächelns spielte um seine Lippen, als er erwiderte: „Dann solltest du das patentieren lassen … bevor sich noch jemand darin verliert.“

Christine blinzelte – kaum merklich, aber lange genug, um eine innere Bewegung zu verbergen. Dann richtete sie sich mit einem sachten Lächeln wieder auf, als wäre nichts gewesen.

Oh verdammt … nicht jetzt. Nicht er.

Niemand schien etwas zu bemerken. Aber Eric ganz sicher.

Tom, der es – wie schon vor zwei Jahren – nicht lassen konnte, hatte sich unterdessen an den Flügel gesetzt. Mit theatralischem Ernst schlug er die ersten Takte von Wicked Game an und begann zu singen. Noch hielt er sich ganz passabel, als Eric sich leicht zu ihr herüberbeugte. Sein Arm streifte beinahe ihren, doch er blieb auf respektvoller Distanz.

„Ist zwar nicht mein Song, aber er macht das nicht schlecht, oder?“, flüsterte er.

„Noch!“, antwortete sie ebenso leise, den Blick weiterhin auf Tom gerichtet. „Wenn er’s nicht gelernt hat, wird er sich gleich wieder quälen – und uns mit!“

„Du bist entsetzlich ehrlich!“, stellte er fest, ein leises Schmunzeln in der Stimme.

„Ich kann nicht lügen – du würdest es sofort bemerken. Ich bin nun mal keine Schauspielerin“, erwiderte sie mit einem kleinen, entschuldigenden Achselzucken.

„Autsch!“ Er verzog das Gesicht, verstummte – und lauschte weiter. Als Tom die hohen Töne anpeilte, konnte man deutlich hören, wie sehr er seine Stimme damit malträtierte.

Anna schüttelte sich. „Kann dem bitte jemand sagen, dass man den Song auch tiefer ansetzen kann? Das tut ja beim Zuhören weh!“

Thomas lachte. „Das hat Chrissy schon vor zwei Jahren versucht. Hoffnungslos!“

„Seid ihr jedes Jahr hier?“, fragte Eric beiläufig, während sein Blick zwischen den anderen und Christine hin und her wanderte.

„Ja, und seit fünf Jahren – eigentlich seit Christine dabei ist – läuft es richtig gut“, erklärte Thomas.

„Absolut!“, pflichtete ihm John bei. „Ich kenne das noch von früher – da war der Saal nicht mal zur Hälfte gefüllt. Dabei waren die Themen genauso spannend und informativ. Du solltest es dir ansehen, Eric!“

Er zögerte. Schon heute Abend hatte er zugesagt – obwohl er lieber allein gewesen wäre. Die Trennung von seiner letzten Freundin Rebecca lag nun fast ein halbes Jahr zurück. Es war in Ordnung gewesen – mehr noch, es hatte sich wie eine Erleichterung angefühlt. Aber die ständigen Anrufe von ihr, die Diskussionen über persönliche Dinge, auf deren Herausgabe er noch wartete – all das nagte an ihm. Besonders in den letzten Tagen hatte sie ihn förmlich bedrängt. Es zerrte an seiner Geduld, an seiner Energie. Und er wusste: Das Letzte, was er jetzt brauchte, war Kompliziertes.

Doch dann war da dieser Blick. Und dieses Lächeln.

Als John ihn angerufen und gefragt hatte, ob er der Einladung diesmal folgen würde, hatte sich das wie eine willkommene Fluchtmöglichkeit angefühlt.

„Ich sollte mich einfach darauf einlassen“, hatte er sich gesagt. Wenn es wirklich so war, wie John es beschrieb, würde ihn hier niemand mit privaten Fragen bedrängen.

Und tatsächlich – auch an diesem Abend wurde das ein weiteres Mal bestätigt.

Das Gespräch drehte sich bald um die Feinheiten der englischen Sprache – insbesondere in Romanen, die in früheren Zeitaltern spielten oder durch regionale Dialekte an Authentizität gewannen. Die Runde war lebhaft, aber niemals aufdringlich. Es war genau die Mischung aus Leichtigkeit und Tiefe, die Eric in den letzten Monaten vermisst hatte.

Christine amüsierte sich köstlich über Erics Versuch, einen schottischen Akzent zu imitieren – aber Anna konnte das ganz offensichtlich besser. Die beiden fochten einen kleinen Wettstreit aus, der mehr Lachen als Ernst erzeugte. Und es war unübersehbar, wie sehr Anna dabei aufblühte.

Sie hätten noch stundenlang in den bequemen Loungesesseln sitzen und plaudern können. Doch auch der schönste Abend ging irgendwann zu Ende.

Sie verabschiedeten sich – nicht ohne das Versprechen, am nächsten Abend wieder in dieser Runde zusammenzukommen.

Eric trat in das Hotelzimmer, zog die Tür hinter sich zu – und für einen Moment schien es, als bliebe alles draußen, was heute gewesen war.

Der Raum empfing ihn mit gedämpftem Licht, cremefarbenen Wänden und der fast lautlosen Effizienz eines Hauses, das daran gewöhnt war, Menschen ihre Ruhe zu lassen. Auf dem Tisch stand eine kleine Schale mit polierten Äpfeln, die Minibar war diskret hinter dunklem Holz verborgen. Alles wirkte aufgeräumt. Klar. Und doch nicht kalt.

Er warf das Sakko über die Rückenlehne des Sessels und lockerte den Kragen seines Hemdes. Dann blieb er stehen, die Hände in den Taschen, und ließ den Blick durch den Raum schweifen.

Die Aussicht ging über die Dächer der Stadt – nicht spektakulär, aber weit. So wie dieser Abend: ruhig, unaufgeregt, aber überraschend offen.

Kein Blitzlicht, keine Interviews. Kein Gespräch, das in Richtung einer neuen Rolle drängte. Stattdessen: Sprache. Bücher. Schottischer Dialekt. Ein Augenblick, in dem er sich einfach unterhalten hatte, ohne ständig darauf zu achten, wie er wirkte.

Er ließ sich auf das breite Bett sinken, stützte sich mit den Ellbogen hinter dem Kopf ab und starrte an die Decke.

Vielleicht war es das – diese leise Selbstverständlichkeit, mit der niemand ihn zum Mittelpunkt machte. Oder das Lächeln, das nicht aufgesetzt wirkte. Die Art, wie sie konterte, ohne zu verletzen.

Er wusste es nicht genau. Noch nicht.

Aber es war da. Ein erstes, kaum greifbares Kribbeln.

Kein Donnerschlag. Nur ein leiser Nachhall, der blieb, obwohl der Abend längst vorbei war.

KAPITEL 3

„Our doubts are traitors, and make us lose the good we oft might win, by fearing to attempt.“

— William Shakespeare, Measure for Measure

Ihr Panel an diesem Nachmittag übertraf alles bisher Dagewesene. Der Saal tobte, als Christine und Thomas die Bühne betraten. Warmes Licht fing ihre Silhouetten ein, während sich die Spots auf der erhöhten Bühne langsam auf sie zuschwenkten.

Christine ließ den Blick über die vollbesetzten Stuhlreihen schweifen – und stutzte.

John hatte angekündigt, ihren Vortrag zu besuchen, aber mit seinem Begleiter hatte sie nicht gerechnet. So introvertiert und distanziert, wie man es ihm nachsagte, war er offenbar doch nicht. Und gestern Abend war von Arroganz auch nichts zu spüren gewesen. Zurückhaltung, ja – doch wer tat das nicht, wenn einem das Gegenüber fremd war?

Sein Blick suchte sie. Nicht aufdringlich, aber aufmerksam. Wach.

Ein feines Prickeln breitete sich in ihrer Magengegend aus.

Sie rückte das Mikro zurecht, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, obwohl keine gefallen war – eine beiläufige Bewegung, hinter der sich ein Hauch von Nervosität verbarg.

Sollte sie es wagen? Würde er wirklich mitmachen?

Im Bühnenhintergrund projizierte ein stilisiertes Wappen das Reich der alten Geschichte auf eine hohe Leinwand – flankiert von zwei Stoffbannern, die an mittelalterliche Standarten erinnerten und mit Symbolen aus der Fantasywelt versehen waren. Es war eine Hommage an die Bücher und ihre Verfilmungen, ohne aufdringlich zu wirken – eher ein atmosphärischer Rahmen, der Bühne und Saal wie eine Szenerie aus einem anderen Zeitalter verband.

Auch die Literature-Society hatte eine Überraschung im Gepäck: Zu einer der bekanntesten Fantasy-Geschichten des verstorbenen Autors Peter Melton hatte man ein alternatives Ende gefunden, das sie nun vorstellten.

Thomas begann mit der bekannten Handlung: „Der Ausgang der Story ist uns ja allen bekannt – der Held stirbt, und mit ihm sein Erbe. Die Blutlinie erlischt, und das Reich wird von Vettern regiert.“

Christine trat einen halben Schritt vor. Sie hob das Kinn leicht, holte Luft, und ein Lächeln klang in ihrer Stimme mit.

„Doch seiner Frau war das wohl nicht recht. In einem Brief an ihn schreibt sie, dass schon genug Blut geflossen sei – sie wünsche sich sein Überleben. Und siehe da: Es existiert ein Manuskript, das genau das zeigt – der Held überlebt, das Reich blüht auf. Und Frauen spielen dabei eine wichtige Rolle. Leider endet das Fragment abrupt.

Steven Melton, der Enkel des Autors, hatte uns gebeten, einen passenden Autor zu finden, der die Geschichte vollendet – mit einem Happy End, wie es sich Mrs. Melton wohl gewünscht hätte.

Was meint ihr? Sollte das Projekt umgesetzt werden?“

Sie blickte ins Publikum – kurz, aber bewusst. Ihr Blick glitt über die Reihen, verweilte einen Wimpernschlag länger an einem bestimmten Punkt. Ihre Finger umschlossen das Mikro fester, als sie die Reaktion hörte: laut, spontan, zustimmend.

John trat an eines der Publikumsmikrofone, die in regelmäßigen Abständen zwischen den Stuhlreihen aufgebaut waren. „Ist damit auch der Fortbestand des ganzen Volkes gemeint?“

Thomas nickte. „Im Manuskript wird erwähnt, dass die Frauen und Kinder, die man zum Schutz zurückließ, wiederkehren. Ja, Griffin wird seine Frau wiedersehen.“

Eine Zuschauerin fragte: „Welche Autoren kommen infrage? Hat die Society schon jemanden angesprochen?“

„Ja, doch noch nicht festgelegt“, sagte Christine. Ihre Stimme war ruhig, aber das leichte Heben der Schultern verriet ihre Spannung. „Wir wollten erst wissen, ob das Interesse überhaupt da ist. Was gäbe es Besseres, als euch, die Fans, zu fragen?“

Eric saß wie gebannt da. Erst gestern hatte er Christine kennengelernt, und ihre humorvolle, offene Art hatte ihn sofort beeindruckt. Doch jetzt, wie sie das Publikum auf der Bühne fesselte, zog sie ihn vollständig in ihren Bann. Als sie fragte, ob die Society das Projekt weiterführen solle, brandete zustimmender Applaus auf.

Es ging um seine Rolle, seinen Charakter. Doch als Autor fühlte er sich in diesem Genre fremd – Meltons fantastische Welt lag ihm nicht. Als jemand den Namen Sarini nannte, einen Fantasy-Autor, der gelegentlich für Meltons Stil verantwortlich gemacht wurde, nickte Thomas zustimmend.

Christine jedoch ließ nicht locker: „Kommt schon, das kann nicht alles sein! Nur einen Namen in den Raum zu werfen, der am Ende vielleicht absagt, ist zu wenig. Vielleicht gibt es jemanden, der den Helden besser kennt als jeder andere. Jemanden, den es direkt betrifft. Ich wüsste zu gern, wie er darüber denkt.“ Es war ein spontaner Versuch.

Ihr Blick suchte Eric, traf ihn direkt – und plötzlich spürte sie das leichte Kribbeln in ihrem Bauch, ein ungewohntes Zittern in den Knien. Um nicht zu zeigen, wie sehr ihn ihr intensives Ansehen verunsicherte, ließ sie sich entspannt mit überschlagenen Beinen am Bühnenrand nieder, die Hände locker auf den Knien.

Kaum merklich zögernd erhob sich Eric – nicht zur Treppe, sondern in einem fließenden, selbstbewussten Schritt zu ihr. Das Publikum jubelte, während er sich neben sie setzte. Sein Blick funkelte, die blauen Augen voller Energie und Wärme.

Christine nutzte den Moment, um sich kurz zu sammeln, fühlte, wie sich die Anspannung in ihr löste. Er nahm ihr das Mikrofon ab, seine Stimme war ruhig und klar: „Ich denke, das ist eine Chance. Ein neuer Anfang für eine neue Geschichte.“

Er sprach mit Leidenschaft über den Charakter, schilderte seine Sicht auf Robin, seine tiefe Verbundenheit mit der Rolle. Bei einer besonders emotionalen Passage wurde sein Blick plötzlich düsterer, als ob ein Schatten darüber hinwegzog. Christine beobachtete ihn aufmerksam – die Augen sind das Tor zur Seele, dachte sie.

Eric atmete tief durch. Normalerweise fiel es ihm leicht, in Rollen zu schlüpfen, doch hier, neben ihr, unter ihren offenen, forschenden Augen, kostete es ihn spürbar Kraft. Schon am Vorabend war er mehr er selbst gewesen, als er es lange gekannt hatte. Vielleicht lag es nicht nur an den Gesprächen. Vielleicht war es etwas anderes.

„Wären Sie generell an einer Mitarbeit interessiert?“, fragte Christine vorsichtig. „Beratend vielleicht – Sie kennen den Charakter besser als jeder andere. Es wäre sicher im Sinne von Mister Melton. Noch steht niemand fest, aber wenn die Fans dafür sind, könnte es Realität werden. Übrigens: Sarini steht zur Debatte, Frank Newton hat momentan eine Kopie des Manuskripts, und Steven Melton selbst hat zuletzt auch Fran Baker ins Spiel gebracht.“

Das Publikum brach in Applaus aus.

Jessy, die Koordinatorin, erschien am Bühnenrand und deutete auf die Uhr – das Panel neigte sich dem Ende zu.

„Wie soll ich da nein sagen?“, antwortete Eric mit einem warmen Lächeln. „Es ist eine wunderbare Chance, noch einmal Teil dieser Welt zu sein – auch ohne neue Verfilmung.“

„Dann freuen wir uns auf eine kreative Zusammenarbeit“, schloss Christine und reichte ihm die Hand.

Er nahm sie fest, seine Berührung war warm und bestimmt. Als er sich von der Bühne gleiten ließ, hielt er ihre Hand noch einen Moment – was wie eine spontane Showeinlage wirkte, war in Wahrheit ungeplant. Er wollte sie einfach nur berühren, sie für einen Augenblick ganz nah bei sich haben.

Das warme Lächeln, das sie ihm schenkte, ging ihm tief unter die Haut. Behutsam legte er die linke Hand an ihre Taille. Christine lachte, ein echtes, herzliches Lachen, das ihn unerwartet berührte.

Ihr Blick wanderte zu Anna, die etwas abseits saß. Ihr Gesichtsausdruck war nachdenklich, fast traurig. Schon beim Frühstück hatte sie oft von Eric gesprochen. Christine zog einen Schritt zurück, spürte den nötigen Abstand.

„Danke!“, flüsterte sie.

Eric nickte ihr zu. „Darf ich dich noch zur Bühne begleiten?“

„Gern!“, erwiderte sie, hakte sich leicht bei ihm unter.

Zurück auf der Bühne verbeugte er sich galant, schenkte ihr ein ehrliches Lächeln. Christine konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, während der Saal noch immer tobte.

Thomas wies auf den nächsten Künstler hin, und sie zogen sich hinter die Bühne zurück.

„Du bist der Wahnsinn! Wenn du jetzt noch Fran Baker für das Manuskript gewinnen kannst …“, sagte Thomas mit einem freundlichen Lächeln und hob kurz die Augenbrauen. „Die Konstellation wäre wirklich gut. Und du weißt, sie ist Stevens Favoritin.“

Christine nickte leicht, hielt den Blick kurz bei ihm. „Und du? Was meinst du?“

Thomas zuckte kaum merklich mit den Schultern. „Egal, wie es ausgeht – ich will, dass es gut wird. Aber ja, ich denke, sie ist die beste Wahl. Vielleicht gerade wegen der weiblichen Perspektive.“

Christine spürte ein leichtes Ziehen in der Brust, unsicher, ob sie dem gerecht werden könnte. Sie faltete die Hände locker vor sich, während ihr Blick kurz zu Thomas wanderte – offen, erwartungsvoll.

Als ihr Blick auf die Uhr an Thomas’ Hand fiel, zuckte sie leicht zusammen. „Mist“, murmelte sie leise, ein flüchtiger Schatten von Eile in ihrer Stimme. Ihre Finger spielten nervös aneinander. „Ich muss mich beeilen. John wartet noch auf Fotos.“

Sie drehte sich langsam um, ihr Blick blieb kurz an Anna hängen, deren Gesicht einen Hauch von Traurigkeit zeigte. Christine atmete kurz tief durch, sammelte sich. „Ich will sie nicht enttäuschen.“

Mit einem kleinen Lächeln verabschiedete sie sich von Thomas und machte sich dann zügig auf den Weg.

Anna wartete bereits am hinteren Bühneneingang. Ihre Haltung war ruhig, aber der ernste Ausdruck in ihrem Gesicht sagte alles.

Christine zwang sich zu einem Lächeln. „Puh, geschafft! Und jetzt zu John – sonst ist das Fotoshooting vorbei, und du hast schließlich dafür bezahlt.“ Ihre Stimme klang betont leicht, fast fröhlich, doch ihr Magen war ein Knoten aus Gedanken und Gefühl. Ein innerer Sturm, für den sie keinen Namen fand, nur ein Ziehen, ein Drängen, das sie nicht zuordnen konnte.

Anna sah sie lange an. „Du hast ihn wirklich zur Mitarbeit überreden können. Das war … verrückt.“ Ihre Stimme war leise, fast ehrfürchtig.

Christine wich ihrem Blick aus, senkte kurz den Kopf, als müsste sie sich sammeln. „Ja“, erwiderte sie schließlich, und ihre Finger strichen unbewusst eine lose Haarsträhne hinters Ohr. „Und du wirst – wenn es soweit ist – als Fran Bakers Assistentin den Kontakt halten. Was hältst du davon?“

Anna zögerte. Doch bevor sie etwas sagen konnte, war Christine schon einen halben Schritt weiter, innerlich wie äußerlich. Sie wollte nicht hören, was in Annas Blick lag. Konnte es nicht riskieren.

Denn sie war mehr als eine Kollegin. Anna war ihre Vertraute, vielleicht ihre einzige wirkliche Freundin. Und was auch immer Christine in diesen letzten Minuten gespürt hatte – sie durfte es nicht größer werden lassen. Nicht auf Kosten dessen, was zwischen ihnen bestand.

Nicht wegen eines Moments, der vielleicht nur durch Aufregung und Nähe entstanden war. Nicht wegen eines Gefühls, das morgen schon verblassen konnte, wenn der Alltag sie wieder in ihre Schranken wies.

KAPITEL 4

„Love looks not with the eyes, but with the mind; and therefore is winged Cupid painted blind.“

— William Shakespeare, A Midsummer Night’s Dream

Sie standen in der Schlange zur Shooting-Location im zweiten Stock, wo sich auch die Workshops und Ausstellungen hinter holzvertäfelten Wänden verbargen. Der Flur roch nach alten Teppichen und zu vielen Menschen auf engem Raum. Stimmengewirr mischte sich mit dem rhythmischen Klicken von Kameraauslösern.

„Was hältst du von Eric? Ich meine – als Mensch?“, fragte Anna flüsternd, während sie sich leicht zu ihr hinüberbeugte. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch, fast verloren im Trubel.

Noch standen sie dicht nebeneinander, nahezu parallel in der Warteschlange. Doch der nächste Schritt würde sie trennen – zumindest für den Moment.

Christine zuckte mit den Schultern. „Er scheint ganz nett zu sein. Aber ob das echt ist oder nur Show … keine Ahnung.“ Ihre Stimme klang beiläufig, fast gleichgültig. Doch sie spürte, wie ihre Finger sich ineinander verschränkten, ganz so, als müsste sie sich selbst festhalten.

Sie hatte keine Antwort – nicht einmal für sich selbst. Der Moment auf der Bühne war wie aus einer anderen Zeit gewesen. Zu nah, zu flüchtig, zu viel. Erst wenn sie wieder zur Ruhe kam, würde sie begreifen, was davon wirklich gewesen war – und was vielleicht nur eine Inszenierung. Ihre oder seine.

Es war das übliche Durchschleusen der Fans – ein paar freundliche Worte, eine gestellte Szene. Alles streng durchgetaktet, überwacht von Koordinatoren und Security, die peinlich genau darauf achteten, dass niemand den Schauspielern zu nahekam – es sei denn, diese ließen es zu.

Die beiden Reihen, in denen sie und Anna bislang nebeneinander angestanden hatten, trennten sich nun. Christine spürte den Wechsel sofort – ein Riss in der stillen Verbundenheit. Plötzlich war da Raum. Raum für Gedanken, die sie lieber verdrängt hätte.

Sie zwang sich, nicht an Eric zu denken.

Durch die halb geöffneten Türen fiel ihr Blick auf John, der gerade einem jungen Mädchen liebevoll den Arm um die Schultern legte. Sein Lächeln wirkte mühelos, beinahe väterlich. Der zweite Raum – jener, in dem Eric sich mit den Fans ablichten ließ – lag noch verborgen hinter einer weiteren Kontrolle. Nur die Security entschied, wer passieren durfte.

Neben ihr lächelte Anna still vor sich hin. Und für einen flüchtigen Moment empfand Christine echte Freude – Freude darüber, dass es wieder Dinge gab, auf die sie sich freuen konnte. Dass Hoffnung wieder möglich war.

Dann war sie an der Reihe.

Sie betrat den nächsten Raum – und sah Eric.

Er stand vor der Kulisse, perfekt ausgeleuchtet, makellos gestylt, die Haltung souverän. Die Frau an seiner Seite lächelte verlegen, suchte seine Nähe. Und Eric? Er schenkte ihr denselben höflich-distanzierten Ausdruck, mit dem er auch gestern auf der Bühne gewirkt hatte. Professionell. Berechenbar. Kühl.

Christine trat unauffällig beiseite, beobachtete, wie er sich Anna zuwandte.

Er war freundlich, beugte sich ein wenig zu Anna, sagte etwas, das sie erröten ließ. Doch sein Blick … war nicht derselbe wie vorhin. Nicht offen. Nicht verletzlich. Nicht echt.

Er spielt, dachte sie. Und wusste zugleich, dass nur wenige diesen Unterschied überhaupt bemerken würden.

Sie hatte gelernt, auf die Zwischentöne zu achten. Auf das, was unausgesprochen blieb. Auf die winzigen Verschiebungen in Haltung und Blick, die andere übersahen. Ihr Mentor hatte ihr beigebracht, dass die Wahrheit oft nicht in den Worten lag – sondern im Moment davor. Oder danach.

Und genau diesen Moment hatte sie gerade gesehen.

Inzwischen war sie die Letzte in der Reihe, die zu John trat. Er wartete im grellen Studiolicht, perfekt ausgerichtet vor dem Banner, das sich wie eine überlebensgroße Kulisse hinter ihm spannte.

„Ich hatte schon befürchtet, du hättest mich vergessen!“, rief John lachend.

„Wie könnte ich?! Wir hätten uns nur fast in Diskussionen verloren.“

Er zog sie kurzerhand in die Arme. „Fran Baker, nehme ich an.“ Sein Lächeln war ein stilles Kompliment.

Sie nickte – und musste ebenfalls lachen, als er sie wie zum Tanz herumwirbelte. Der ältere Herr wusste noch immer, wie man Frauen für sich gewann.

Christine ließ sich fallen – in dem sicheren Glauben, er würde sie auffangen.

Doch es waren nicht seine Arme, die sie hielten.

Ein kurzer Blick über die Schulter – und ihr Herz begann zu hämmern.

Eric.

So nah, dass sie seinen Duft wahrnahm – frisch, herb, mit einem warmen Unterton wie dunkle Schokolade. Die Art von Nähe, die man nicht vergisst.

„Bleibt genau so!“, rief Daniel, der Fotograf, enthusiastisch.

Christine hob den Blick – direkt in Erics Augen. Und diesmal war da nichts Zurückhaltendes. Kein höfliches Lächeln. Kein höflicher Abstand. Sein Blick war offen. Klar. Und tief.

Wie auf der Bühne – nur eindringlicher, echter. Wie ein Tor – zu etwas, das sie längst verloren glaubte.

Instinktiv wollte sie sich lösen, Distanz schaffen – doch keiner von beiden ließ sie los.

Erics Arm ruhte sicher an ihrer Taille, während John ihre Hände hielt. Und für einen Moment war sie gefangen – nicht körperlich, sondern in diesem merkwürdig vertrauten Gleichklang. Als hätten sich alte und neue Welten kurz berührt.

Die Kamera klickte – mehrmals.

Dann löste sich der Bann. Sie trat zurück, gerade weit genug, um wieder atmen zu können, ohne unhöflich zu wirken.

Daniel reichte ihnen die Bilder. Er grinste, schob dabei eine Augenbraue in die Höhe und sagte nur:

„Ich habe lange kein so attraktives Paar fotografiert.“

Die Bilder waren tatsächlich fantastisch geworden. Fast zu gut. Doch Christine wusste, dass sie sie vor Anna würde verstecken müssen – gerade, weil es mehr Aufnahmen waren als üblich.

Neid war noch nie ein guter Ratgeber gewesen.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Eric ebenfalls einen Umschlag unauffällig in seiner Jackeninnentasche verschwinden ließ.

Ein schelmisches Lächeln umspielte seine Lippen, und in seinen Augen blitzte es.

Wie ein Kind, das heimlich etwas von der Großmutter zugesteckt bekommt, dachte sie – und musste sich ein Lächeln verkneifen.

Da traten bereits die Guides heran, bereit, die beiden Männer zur Autogrammstunde zu geleiten.

„Bleibt es bei der Pianobar nachher?“, rief John über die Schulter.

„War doch ausgemacht, oder?“ Christine hob leicht die Augenbrauen. „Ich halte mich an meine Versprechen.“

Dann, mit einem Grinsen:

„Wir müssen es ja nicht übertreiben!“

Anna erwartete sie auf der anderen Seite des großen Treppenaufgangs, wo Daniels Starporträts ausgestellt waren.

Sie bemerkte nicht einmal, wie die beiden Männer durch die Hintertür verschwanden, um direkt in den darunterliegenden Saal zu gelangen – dorthin, wo die Fans bereits wieder in langen Reihen warteten, um ein Autogramm zu ergattern.

„Hey, alles klar?“, fragte Christine, als sie bei ihr war.

„Ja, nur ein bisschen müde.“ Annas Stimme war weich, beinahe verträumt. „Er ist einfach wundervoll – supernett, genau wie gestern Abend. Und er hat gefragt, ob ich heute Abend auch wieder dabei bin. Vielleicht bilde ich mir zu viel ein, aber …“

Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen.

Ein leiser Stich durchfuhr Christine. So viel Hoffnung in Annas Augen – und sie selbst stand am Rand eines Abgrunds, den Anna nicht einmal ahnte.

„Dann solltest du dich vielleicht etwas ausruhen – damit du fit bist. Und die Autogrammstunde auf morgen verschieben“, empfahl Christine.

Anna nickte zustimmend. „Und was machst du?“

„Ich muss noch das morgige Panel vorbereiten – und mit Thomas sprechen.“

Sie machten sich auf den Weg zu ihren Zimmern. Im Grunde stand das Konzept längst, aber nach den Eindrücken des Tages würden sie ein paar kleine Anpassungen vornehmen müssen. Vieles würde ohnehin vom Publikum abhängen.

Unterwegs zog Anna die Bilder aus dem Umschlag. „Was meinst du – soll ich eines der beiden fürs Autogramm nehmen? Oder lieber ein anderes kaufen?“, fragte sie zögernd.

Christine warf einen Blick darauf. „Ich weiß nicht … Sie sind beide sehr schön – fast zu schade, um sie mit Text zu bedecken.“

Sie hatte sie sich genau angesehen.

Und tatsächlich – da war nichts von der Wärme, die sie bei Eric gespürt hatte. Seine Augen auf dem Foto – präzise, aber leer. Wie Glas, das keinen Blick zurückwirft.

Was war das bloß? fragte sie sich. Bilde ich mir das alles nur ein?

Allein in ihrem Zimmer zog Christine ihre eigenen Bilder aus dem Umschlag.

John – charmant, väterlich, ein echter Gentleman, der sie zum Lachen gebracht hatte. Und dann das Bild mit Eric, aufgenommen in dem Moment, als John sich dezent zurückgezogen hatte.

Ihr Blick blieb an Eric haften – selbst auf dem Foto war diese Wärme in seinen Augen zu sehen, fast greifbar, als könnte sie den Raum erfüllen. Ein Herzklopfen stieg in ihr auf, das selbst das Bild nicht verbergen konnte.

Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen. Die Erinnerung an seine starken Arme, sein Aftershave – frisch, warm, männlich – holte sie zurück in den Augenblick.

Noch nie hatte sie sich so gefühlt: geborgen und gleichzeitig frei.

Das Gefühl war berauschend und beängstigend zugleich.

Sie wusste, dass sie nicht länger verdrängen konnte, was in ihr vorging. Dieses Kribbeln in ihrem Bauch, das allein bei dem Gedanken an ihn erwachte, sprach eine deutliche Sprache.

Doch jetzt, nicht jetzt. Nicht vor Anna.

Anna, ihre einzige wirkliche Freundin, die sie gebraucht hatte wie nie zuvor. Die so zerbrechlich wirkte, als stünde sie kurz davor, wieder in die Dunkelheit zu fallen.

Christine durfte diese fragile Verbindung nicht aufs Spiel setzen.

Aber was war mit ihr? Mit ihren eigenen Wünschen? Ihren Träumen, die langsam wieder zu flammen begannen?

Sie spürte das Ziehen zwischen Verantwortung und Sehnsucht, zwischen Freundschaft und dem Drang, sich selbst nicht zu verlieren.

Eric hatte gerade die letzten Autogramme geschrieben und schüttelte kurz die Hand aus, um die verkrampfte Haltung zu lösen, als John zu ihm trat. Sie befanden sich nahe dem gläsernen Aufzug, der geräuschlos die Gäste zwischen den Stockwerken transportierte. Die langen, ruhigen Flure hinter ihnen wirkten wie eine kleine Oase der Ruhe – ganz ohne aufdringliche Fans oder hektischen Trubel.

„Ich ziehe mich jetzt für eine Weile zurück. Essen wir gegen halb acht? Kommst du mit?“

„Gerne, John! Du hattest recht – es ist wirklich angenehm hier.“

John grinste.

„Keine aufdringlichen Fans, keine dummen Fragen, oder? Darf ich fragen, warum du dich so zurückziehst? Ich meine, ich brauche den Rummel nicht mehr, aber du bist jung – die meisten leben das doch aus.“

„Das hat verschiedene Gründe. Irgendwann ist es zur Gewohnheit geworden“, antwortete Eric offen. Die Tatsache, dass sie sich von diesem einen gemeinsamen Projekt kannten, erleichterte ihm das Gespräch. John war eben trotz seines Erfolges ein echter britischer Gentleman.

„Nach den ersten Erfolgen am Theater war ich auf ein paar Partys. Da wurde mir klar, wie viele Kollegen ihre eigene Person in den Vordergrund stellen. Das bin ich nicht. Mir ist wichtig, dass meine Arbeit für sich spricht. Als dann der große Hype kam, wurde es mir zu viel – Fanpost, Presse, ständige Aufmerksamkeit. Meine damalige Freundin hat das nicht ausgehalten.“

John nickte wissend.

„Nicht jede Frau kann es ertragen, ihren Mann mit der Öffentlichkeit zu teilen.“

„Das wäre nicht das Problem gewesen – Sarah ist selbst Schauspielerin. Aber sie ist bis heute nicht über Nebenrollen hinausgekommen.“

„Und sie kam mit deinem Erfolg nicht klar?“, fragte John.

Eric nickte.

„Irgendwann warf sie mir vor, ich sei abgehoben. Da wurde mir klar, dass sie mich gar nicht kannte. Und meine letzte Beziehung war kaum besser. Beide haben nur das in mir gesehen, was sie sehen wollten. Aber nie konnte ich der sein, der ich wirklich bin.“

„Dann hast du es früh erkannt“, sagte John. „Ich selbst brauchte erst eine teure Scheidung, um das zu begreifen. Meine zweite Frau ist genau das, was ich mir immer gewünscht habe. Eine Partnerin auf Augenhöhe. Sprachwissenschaftlerin, klug, liebevoll – sie akzeptiert mich mit all meinen Macken.“

„Und noch immer sehr attraktiv, wenn ich das sagen darf?“, bemerkte Eric augenzwinkernd.

„Das wird sie freuen! Sie lacht mich immer aus, wenn ich ihr das sage.“

Sie hatten ihre Zimmer im dritten Stock erreicht, die nur wenige Türen voneinander entfernt lagen.

„Dann bis später – halb acht reicht, denke ich.“

„Ja. Und danach Pianobar?“

„Selbstredend! Auch wenn ich meiner Frau treu bin, heißt das nicht, dass ich auf die Gesellschaft einer bildschönen und klugen Frau verzichten muss. Im Gegenteil – Portia brennt schon auf die Neuigkeiten, die Christine heute angekündigt hat.“

John lachte und verschwand um die Ecke, während Eric noch einen Moment in der ruhigen Atmosphäre verweilte.

Eric hatte sich auf dem breiten Hotelbett ausgestreckt. In der Hand hielt er die beiden Bilder. John hatte recht – Christine war atemberaubend. Und klug. Vor allem aber war sie echt. Ihr Lachen, ihre Wärme, diese meergrünen Augen – nichts daran war gespielt. Nur ein einziger Blick hatte gereicht, und er war ihr verfallen. Im Grunde war er ihr bereits wie ein Hund gefolgt als sie ihn im Panel zu sich geholt hatte.

Unweigerlich musste er an Rebecca denken. Wie hätte sie wohl reagiert, wenn er damals so auf die Bühne gegangen wäre? Sicherlich hätte sie es für unmöglich gehalten – und ihm später eine Szene gemacht. Nicht so Christine. Sie hatte gelacht. Ihn mit einem offenen, warmen Lächeln begrüßt.

Wieder sah er sich die Bilder an. In John hatte er wohl wirklich einen Freund gefunden – etwas, das er bisher nie so wahrgenommen hatte. Doch noch faszinierender war die Frau in seinen Armen. Ihr langes, hellbraunes Haar fiel in sanften Wellen über ihre Schultern und ihre Brust. Es hatte sich richtig angefühlt, sie zu halten. Sie so nah zu spüren.

Leise flüsterte er den Namen, der sich seit ihrem Auftritt in seinem Kopf eingebrannt hatte:

„Dr. Christine Becker …“

Auch das zweite Foto war schön – sie mit John, er selbst daneben, als würde er sie fast an sich reißen wollen.

Plötzlich überkam ihn ein trüber Gedanke. Was, wenn sie vergeben war? Verheiratet sogar?

Eric, du Idiot, dachte er. Eine Frau wie sie – Single? Unmöglich.

Er wollte sich nicht vorstellen, dass sie morgen Abend in den Armen eines anderen Mannes lag. Er musste es wissen. Und doch fürchtete er die Antwort.

Denn eines war ihm klar geworden: Das hier war anders. Besonders. Vielleicht war er zum ersten Mal in seinem Leben wirklich verliebt.

Bei keiner anderen – und es waren nicht viele – hatte er sich je so gefühlt wie jetzt. Und er wünschte sich, dass es wenigstens eine Chance gab. Eine echte Chance.

KAPITEL 5

„Her passions are made of nothing but the finest part of pure love.“

— William Shakespeare, Antony and Cleopatra

Eine Stunde später stand Eric frisch geduscht, den Bart inzwischen zu einem gepflegten Drei-Tage-Schattenschnitt angewachsen, vor Johns Tür. Jeans, hellblaues Hemd, dunkelblaues Sakko – dezent, aber gut geschnitten. Seine Hände in den Taschen, der Blick kurz prüfend den Flur entlang – dann hob er kurz die Hand und klopfte.

John öffnete mit einem Lächeln, das sich sofort in seinen Augen widerspiegelte. „Pünktlich wie ein Uhrwerk – sehr sympathisch.“ Er warf sich das Jackett über die Schulter und trat zu ihm in den Gang.

Gemeinsam gingen sie zum Aufzug. Das weiche Teppichmuster dämpfte ihre Schritte, der Gang lag ruhig da, nur vereinzelt war hinter geschlossenen Türen ein Murmeln oder das Klacken von Absätzen zu hören. Keine Fans, keine neugierigen Blicke – nur entspannte Hotelruhe.

Der Glasaufzug glitt lautlos nach unten. Unter ihnen öffnete sich die helle Lobby mit den niedrigen Sitzgruppen, dem gläsernen Kamin und einer eleganten Mischung aus Steinboden und Holzverkleidung. Die wenigen Gäste, die dort saßen, nahmen kaum Notiz von ihnen. Eric lehnte sich mit einer Schulter gegen die Wand des Aufzugs, die Hände locker in den Taschen.

„Wann warst du zuletzt hier?“, fragte er beiläufig.

„Vor drei Jahren“, antwortete John. „Und davor … in Christines erstem Jahr, also vor fünf. Du hättest sie damals sehen sollen. Sie hatte das Panel direkt vor mir und war entsprechend nervös. Ich habe ihr gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen – auch im Publikum sitzen nur Menschen, die es erst mal besser machen müssen.“

Eric schmunzelte, als die Türen sich öffneten. „Ich finde es spannend, wie sie die Leute abholt und motiviert.“

John nickte, während sie durch die Lounge in Richtung des kleinen Speisesaals gingen, der ihnen für den Abend reserviert war. Die Luft roch nach frisch gebackenem Brot und Kräutern. Warmes Licht spiegelte sich auf den Gläsern der eingedeckten Tische.

„Christine ist Lehrerin“, erklärte John, während er die Tür zum Raum aufhielt. „Und ich wette, eine verdammt gute – wenn sie ihre Schüler so begeistert wie hier das Publikum. Das Engagement bei der Literature-Society macht sie zusätzlich lebendig. Letzten Sommer habe ich sie in London getroffen – zusammen mit meiner Frau. Sie war dort bei einem Treffen der Society. Es waren ähnlich amüsante Gespräche wie gestern Abend.“

Eric zog leicht die Brauen hoch, während er sich setzte. Lehrerin. Da wäre er gerne noch einmal Schüler gewesen.

Doch seine eigentliche Frage war damit noch nicht beantwortet.

Christine und Anna hatten sich am reichhaltigen Buffet bedient, Thomas leistete ihnen Gesellschaft. Die Gespräche blieben höflich und oberflächlich – ein bisschen über Lieblingsautoren, über vergangene Conventions, über das Wetter. Sie saßen im abgetrennten Bereich für Vortragende und Workshopleitende, gemeinsam mit Cosplayern, Spielleitern und anderen Kreativen – eine bunte, lebendige Gruppe, die dennoch deutlich weniger Aufmerksamkeit auf sich zog als die „Stars“ im separaten Salon.

Als sie sich schließlich auf den Weg zur nahegelegenen Pianobar machen wollten, spürte Christine eine innere Unruhe aufsteigen.

Eric.

Allein der Gedanke an ihn reichte aus, um ihr Herz schneller schlagen zu lassen. Sie durfte das nicht zulassen. Nicht jetzt. Nicht so.

„Geht ihr schon vor“, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln. „Ich dreh’ noch eine kleine Runde an der frischen Luft.“

Thomas nickte, Anna sah sie prüfend an, sagte aber nichts. Zum Glück.

Christine schlug den Weg Richtung Foyer ein. Hinter den gläsernen Türen öffnete sich die Nacht. Die Luft war kühl, klar und angenehm ruhig – ein willkommener Kontrast zur stickigen Konferenzhalle. Sie atmete tief ein, schloss kurz die Augen.

Sie brauchte diesen Moment. Diese Distanz.

Wenn er in ihrer Nähe saß, würde Anna es bemerken – irgendwann. Sie kannte sie zu gut. Christine wusste selbst kaum, wie lange sie das Spiel noch aufrechterhalten konnte. Vielleicht halfen sachliche Gespräche, vielleicht half ihre Routine als Rednerin. Doch wie lange noch?

Sie spürte es bereits. Diese Neugier. Dieses Ziehen.

Der Mann hinter der höflich-distanzierten Fassade hatte etwas in ihr berührt, das sie längst verloren glaubte. Und ihr Schwur, ihre Vorsicht – alles geriet ins Wanken.

Sie musste sich zusammenreißen. Sehr sogar.

Als sie die Pianobar betrat, empfingen sie gedämpftes Licht, leise Jazzklänge und das sanfte Klirren von Gläsern. Die Luft war erfüllt von warmem Stimmengewirr, einem Hauch Zigarrenrauch und süßlichem Vanilleduft. John und Eric hatten sich gerade erst gesetzt, rückten noch ihre schweren Sessel zurecht. Ganz der britische Gentleman schob John ihr den Stuhl zwischen sich und Thomas zurecht. Anna und Eric saßen gegenüber.

Christine fluchte innerlich. Mist. Jetzt musste sie auch noch beiden ins Gesicht sehen.

Am liebsten wäre sie auf dem Absatz kehrtmachend gegangen. Doch als sich ihre Blicke trafen, war es wieder da – dieses Kribbeln, das sich warm und ungebeten in ihren Bauch schlich.

Sie zwang sich, wegzuschauen, doch ignorieren konnte sie ihn nicht. Anna, die ihre Unruhe sofort bemerkte, sah sie fragend an.

„Ich fürchte, ich habe zu viel und zu schnell gegessen“, erklärte Christine mit einem entschuldigenden Lächeln. „Aber das Buffet war einfach zu gut.“

Das schien zu genügen – auch als Erklärung für ihren kleinen Spaziergang – und lieferte zugleich harmlosen Gesprächsstoff für die nächsten Minuten.

Nach dem ersten Glas eines überraschend weichen Pinot Gris entspannte sie sich etwas. Ihr Plan schien aufzugehen – solange sie sich an neutrale Themen hielten. Bald schon kam das Gespräch auf ihr Panel vom Nachmittag, und Eric fragte, ob eine Zusammenarbeit mit Fran Baker tatsächlich denkbar sei.

Jetzt war Vorsicht geboten.

„Warum nicht? Soweit ich weiß, hat sie noch niemanden gebissen“, erwiderte Christine trocken. „Anna hat sich vor Kurzem bei ihr um das Lektorat der englischen Übersetzungen beworben.“

„Du hast sie getroffen?“, fragte John neugierig mit einem Seitenblick auf Christine.

„Leider noch nicht. Alles läuft über den Verlag“, erklärte Anna. „Aber wir hatten E-Mail-Kontakt und haben bereits telefoniert.“

„Die meisten stellen sich Fran als alte Dame mit grauen Haaren und Hornbrille vor“, warf Eric ein.

Christines Blick verengte sich. Wut flackerte in ihr auf.

„Denkst du das auch?“, fragte sie bemüht sachlich.

„Nein“, entgegnete er ruhig. „Was immer sie davon abhält – sie wird ihre Gründe haben, warum sie die Öffentlichkeit meidet. Vielleicht sieht sie es ähnlich wie ich: weniger Rummel, mehr Ruhe. Die Arbeit im Vordergrund, nicht die eigene Person.“

Seine Worte klangen ehrlich, fast nachdenklich. Christine nickte. Ihre Wut verrauchte.

„Die Einstellung gefällt mir. Das ist einer der Gründe, warum ich diese Convention so mag. Hier begreifen viele endlich, dass hinter den Rollen Menschen stehen – mit ganz normalen Bedürfnissen. Und meistens danken sie es mit Respekt.“

„Absolut!“, stimmte John zu.