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Das Essay „Daniel staunend begegnen“ will einen neuen, von den bisherigen Tradi-tionen möglichst losgelösten Zugang zum Verständnis des alttestamentlichen Danielbuches finden. Es will keine weitere Auslegung zum Verständnis, z.B. von Daniel 2 oder 7 oder 8 liefern, sondern voranschreitend neue Gedanken im Text auffinden, die über die bisherigen Identifikationsversuche gewisser Bilder und Zahlen hinausgehen. Entschieden wird deshalb gegen alle Auslegung Position bezogen, die einer begrifflichen Vorfestlegung des biblischen Textes entspringen. Insofern unter-scheidet sich das Essay von anderen Texten über das Buch Daniel. Es beginnt mit der Frage, ob wir in der Endzeit leben, eine Frage, die sich durch den ganzen Text zieht. Die Erörterungen zeigen, dass nicht nur spezifische politische, historische, militärische, ökonomische oder ökologische Ereignisse den Begriff Endzeit charakterisieren, sondern es auch und vor allem geistliche Entwicklungen sind, die die Endzeit bestimmen. Diese Entwicklungen, die der Prophet Daniel entwirft, zu erkennen und herauszuarbeiten ist das Ziel dieses Essays. Dem Essay liegt eine Auslegung „werkimmanenten Charakters“ zu Grunde, das heißt, es sollen die inhaltlichen und immanenten Bezüge des Textes aus ihm selbst aufgedeckt und untersucht werden. Daniel soll Daniel auslegen! Die strenge Bindung an die textliche Gestalt ist das oberste Prinzip aller werkimmanenten, interpretativen Annäherung. Intensives Lesen, Textstruktur und sprachliche Gestalt als Schlüssel zum Verständnis des Textes nutzen und vor allem das Fragende Verstehen mittels des hermeneutischen Zirkels sind, neben anderen, die wichtigsten Instrumente der werkimmanenten Interpretation. Gott hat im Traum des Nebukadnezar in Dn 2 den Verlauf der Weltgeschichte skizziert. Die zwischen Dn 2 und Dn 7 – 12 gestellten vier Kapitel liefern nun Inhalte, die zum Verständnis der Visionen von Dn 7 – 12 elementar sind. Die Auslegung in diesem Essay kann zeigen, dass die Beschreibung der Weltgeschichte des Traumes von Dn 2 mit Hilfe der theologischen Aussagen von Dn 3 – 6 in den danach folgenden Visionen ausgearbeitet und vielfältig erweitert wird.
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Seitenzahl: 490
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Matthias Dorn
Für
Christian und Patricia zu ihren Taufen
TABELLENVERZEICHNIS
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
DANKSAGUNGEN
EINE ERSTE BEGEGNUNG MIT DEM DANIELBUCH
ZUR PERSON DANIELS
METHODISCHE GRUNDLEGUNGEN
3.1 Was ist Prophetie?
3.2 Zur Auslegungsmethode
3.2.1 Zur historisch-kritischen Herangehensweise
3.2.2 Werkimmanenz: Daniel muss Daniel auslegen
3.2.3 Weitere Auslegungshilfen
3.2.4 Theologischer Ertrag und historische Zuordnung
3.2.5 Wider die begriffliche Präokkupation bei der Auslegung des Danielbuches
3.3 Die Struktur des Danielbuches als Schlüssel zu seinem Inhalt
3.3.1 Zur Struktur des Danielbuches
3.3.2 Chiasmus
3.3.3 Literarische Struktur des Danielbuches und zeitliche Abfolge der Ereignisse
3.3.4 Eine Klimax im Danielbuch
DANIEL 1: DIE KATASTROPHE
4.1 Der Weg in das zweite Exil nach Babylon
4.2 Ausbildung am babylonischen Hof
4.3 Klugheit, Integrität und Identität Daniels
4.4 Schlussbemerkung
DANIEL 2: DIE SCHAU DER WELTGESCHICHTE
5.1 Handlungsgang
5.2 Der Traum und seine Deutung
5.2.1 Die Statue
5.2.2 Die Menschengestalt der Statue
5.2.3 Nebukadnezar als Weltherrscher und Person: Das goldene Haupt
5.2.4 Identifizierung der Reiche des Standbildes
5.2.5 Regionale oder globale Sicht der Statue?
5.2.6 Der herabfallende Stein
5.3 Konsequenzen dieser Auslegung
5.3.1 Kein heilsgeschichtliches Wirken Gottes innerhalb der Statue
5.3.2 Welt- und Geschichtssicht von Daniel 2
5.3.3 Das Wesen des herabfallenden Steins
5.4 Daniel als Oberster der Weisen Babylons
GOTTES ZUSPRUCH UND WIRKEN ALS DIE BRÜCKE ZUM VERSTÄNDNIS DER SPÄTEREN VISIONEN DANIELS
6.1 Daniel 3: Nebukadnezar baut das Standbild als Reaktion auf seinen Traum
6.1.1 Handlungsgang
6.1.2 Auslegung
6.2 Daniel 4: Gottes Grenzsetzung der selbsternannten Grenzenlosigkeit
6.2.1 Handlungsgang
6.2.2 Auslegung
6.3 Daniel 5: Schmähung des Heiligen als Ausdruck der Mächtigen
6.3.1 Handlungsgang
6.3.2 Auslegung
6.4 Daniel 6: Daniels Rettung aus der Löwengrube als Vorbote von Erlösung und Auferstehung
6.4.1 Handlungsgang
6.4.2 Auslegung
6.5 Schlussfolgerungen und theologische Erträge für die weitere Auslegung
ERSTE ERWEITERUNG DER WELTGESCHICHTLICHEN SCHAU – DANIEL 7: DIE VISION DER VIER TIERE, DES GERICHTES UND DES MENSCHENSOHNES
7.1 Handlungsgang und Struktur
7.1.1 Handlungsgang
7.1.2 Struktur
7.2 Auslegung der vier Tiere
7.2.1 Tiere statt menschlicher Figur
7.2.2 Historische Zuordnung der vier Tiere
7.2.3 Das erste Tier ist nicht Babylon
7.2.4 Zweites und drittes Tier: Griechenland und Rom
7.2.5 Das vierte Tier: Römische Nachfolgereiche
7.3 Zehn Hörner und das Kleine Horn
7.3.1 Aktivitäten des Kleinen Horns
7.3.2 Das Reden des Kleinen Horns und seine Augen
7.3.3 Die Änderung der Festzeiten
7.3.4 Versuch einer Zuordnung des Kleinen Horns
7.3.5 Die Fristsetzung „eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit“
7.4 Ergänzungen zur Auslegung der vier Tiere in der Vision von Daniel 7
7.4.1 Das Gericht in Daniel 7 und das Erscheinen des Menschensohnes
ZWISCHENBEMERKUNG: KONSISTENZ UND DIVERGENZ DER VISIONEN DANIELS ALS AUSLEGERISCHES POTENZIAL
ZWEITE ERWEITERUNG DER WELTGESCHICHTLICHEN SCHAU – DANIEL 8: DIE VISION VOM WIDDER UND ZIEGENBOCK
8.1 Handlungsgang
8.2 Der Kampf der beiden Tiere
8.2.1 Der griechisch-persische Konflikt
8.2.2 Historische Zuordnung des Horns in Daniel 8 auf Antiochus IV Epiphanes
8.3 Neuansatz einer Auslegung der Vision von Daniel 8
8.3.1 Grundprobleme der Auslegung
8.3.2 „Zeit des Endes“ und die 2300 Abende und Morgen
8.3.3 Neue Symboltiere für bereits genannte Weltreiche
8.4 Das Horn in Daniel 8
8.4.1 Ursprung
8.4.2 Vergleich der Hörner in Daniel 7 + 8
8.5 Aktivitäten des Horns in Daniel 8
8.5.1 Fragestellung
8.5.2 Die Trennung von Schöpfer und Schöpfung
8.5.3 Gottesnähe nach der ersten Verfehlung
8.5.4 Parallele von Daniel 8 zur Turmbauerzählung in Genesis 11
8.5.5 Die Himmelsleiter in Jakobs Traum
8.5.6 Einflussnahme auf das Heiligtum?
8.5.7 Zusammenfassung des bisherigen theologischen Ertrages zur Vision in Daniel 8
8.6 Das Horn in der Vision von Daniel 8: Der Evolutionismus
8.6.1 Die Rolle von Nebukadnezars Traum des Baumes als auslegerischer Ansatz für die Vision in Daniel 8
8.6.2 Zum Begriffsvorrat der Vision
8.6.3 Evolutionismus und das Horn in Daniel 8
8.6.4 Die 2300 Abende und Morgen – Versuch einer zeitlichen Identifikation aus der Vision heraus
8.6.5 Das Ende des Evolutionismus und die 2300 Abende und Morgen
DRITTE ERWEITERUNG DER WELTGESCHICHTLICHEN SCHAU – DANIEL 9: EIN GESALBTER WIRD KOMMEN
9.1 Handlungsgang
9.2 Daniel als vorbildlicher Beter
9.2.1 Die literarische Position des Gebetes
9.2.2 Die Gebete in Daniel 2 + 9
9.2.3 Die Gebete in Daniel 6 + 9
9.2.4 Auswirkungen des Gebetes von Daniel 9
9.2.5 Gottes Reaktion auf das Gebet
9.3 Der Messias im Zentrum der Vision in Daniel 9
9.3.1 Die Charakterisierung der siebzig Wochen
9.3.2 Die Einmaligkeit des Gesalbten
9.3.3 König Kyrus
9.3.4 Historische Zuordnung des Gesalbten
9.3.5 Verheißene Errettung und Katastrophe
9.3.6 2300 Abende und Morgen und die siebzig Wochen
9.3.7 Das Ende der letzten Woche
DIE UNGEHEUERLICHKEIT DER GOTTESBEGEGNUNG IN DANIEL 10
10.1 Zur Stellung der Kapitel Daniel 10 - 12
10.2 Handlungsgang
10.3 Auslegung
10.3.1 Daniels aktueller Erkenntnisstand
10.3.2 Die Schau auf den Gesalbten
10.3.3 Die wunderbare Botschaft von Daniels Stärkung – Gott richtet Daniel auf
10.3.4 Engelfürsten der politischen Mächte – Beispiele der Operationalisierung des Bösen
VIERTE ERWEITERUNG DER WELTGESCHICHTLICHEN SCHAU – DANIEL 11: BESCHREIBUNG DES TATSÄCHLICHEN GESCHICHTSPROZESSES UND DESSEN BEENDIGUNG DURCH DEN ENGELFÜRSTEN MICHAEL (DANIEL 12,1-3)
11.1 Handlungsgang
11.1.1 Text und Struktur
11.2 Operationalisierung des Geschichtsprozesses in Form der Politik
11.2.1 Der Versuch der Weltherrscher, den Geschichtsverlauf von Daniel 2 - 11 zu revidieren
11.3 Das Erscheinen des Engelfürsten Michael
11.3.1 Zur Person des Engelfürsten Michael
11.3.2 Eine Bemerkung zur Begegnung mit Christus
11.3.3 Ursachen des Erscheinens des Engelfürsten Michael
11.4 Probleme einer historischen Zuordnung von Daniel 11
11.4.1 Zur Begrifflichkeit der Könige des Nordens und Südens
11.4.2 Zum Problem der zeitlichen Einordnung von Daniel 11
11.4.3 Versuche der historischen Zuordnung von Daniel 11
11.4.4 Weitere historische Zuordnungen von Daniel 11
ABSCHLIEßENDE ERWEITERUNG DER WELTGESCHICHTLICHEN SCHAU – DANIEL 12: DIE ZEITLICHEN ORDNUNGEN
12.1 Handlungsgang
12.2 Auslegung
12.2.1 Versiegelung und Verheißung eines zukünftigen Studiums des Danielbuches
12.3 Daniels Nichtverstehen
12.3.1 Eine Ergänzung zu den zeitlichen Ordnungen nach Daniel 12
12.3.2 Daniels Tod und Auferstehungsverheißung
RÜCKBLICK
LITERATURVERZEICHNIS UND INTERNETQUELLEN
Tabelle 1: Zeitangaben der Kapitel im Danielbuch
Tabelle 2: Zeitliche Abfolge der Kapitel im Danielbuch
Tabelle 3: Abfolge der historischen Kapitel im Danielbuch
Tabelle 4: Abfolge der prophetischen Kapitel im Danielbuch
Tabelle 5: Mechanismen der Politik in Daniel 11
Abbildung 1: Eine mögliche chiastische Struktur des Danielbuches (nach DOUKHAN 1987,6)
Abbildung 2: Karte des Römischen Reiches zur Zeit seiner größten Ausdehnung im Jahre 117 (Quelle: Wikipedia)
Abbildung 3: Löwe ohne Flügel auf den Seitenwänden der Prozessionsstraße Babylons (Pergamonmuseum, Berlin, Foto: M. Dorn)
Abbildung 4: Geflügelter Löwe aus dem Palast des persischen Königs Darius in Susa (Quelle: Wkipedia)
Abbildung 5: Das Reich Alexander des Großen (Quelle: Wikipedia)
Abbildung 6: Frühe Ausbreitung des Islam seit der Zeit Mohammeds (Quelle: Wikipedia)
Abbildung 7: Die vier Diadochenreiche als Nachfolgereiche des Alexanderreiches (Quelle: Wikipedia)
Abbildung 8: Münze mit dem Profil des Antiochus IV Epiphanes. Auf der Rückseite steht in griechischer Sprache: Antiochus, Gottes Bildnis, Bringer des Sieges (Quelle: Wikipedia)
Abbildung 9: Die siebzig Jahrwochen aus Daniel 9; Erklärung der Zahlen im Text
Zur Vermeidung urheberrechtlicher Probleme wurden die Abbildungen zwei und vier bis acht Wikipedia entnommen. Bei verminderter Druckqualität bitte auf die Bilder online zurückgreifen.
Bei der Erarbeitung und der anschließenden Formulierung dieses Essays wurde ich durch viele Freunde und Kollegen unterstützt.
Eine erste Gesamtschau der Dinge diskutierte ich im Sommer 2006 mit Johannes Naether, Prof. Dr. Rolf Pöhler, Thomas Röstel und Harald Weigt, alle Hannover. Sie haben das Manuskript Korrektur gelesen und viele wertvolle Ergänzungen, Hinweise und Verbesserungsvorschläge gegeben.
In Fragen der hebräischen Sprache bin ich Harald Weigt für seine geduldigen Hilfestellungen sehr dankbar.
Auf meinem Weg durch das Danielbuch hat mich Prof. Dr. Rolf Pöhler als zum Mitdenken bereiter und inspirierender Gesprächspartner begleitet. Seiner von Kompetenz geleiteten Diskussionsbereitschaft bin ich in besonderer Weise verpflichtet.
Seit meinem Aufenthalt in Thailand 1997-1998 darf ich Herrn Dr. Jürgen Lietz meinen Freund nennen. Er hat mit seinem klarsichtigen Denken den Text abschließend Korrektur gelesen.
Die Kantorei der Herrenhäuser Kirche, Hannover, führte im Spätherbst 2006 das Oratorium „Belsazar“ von Georg Friedrich Händel auf. Dadurch wurde ich mit diesem wunderbaren Werk überhaupt erst bekannt.
Die Taufen meiner beiden Kinder, Anlass zu Lob und Dank Gottes, stifteten eine fortzeugende Motivation, an der Fertigstellung zügig zu arbeiten. Nichts machte mich glücklicher, als wenn dieses Essay ihre geistliche Entwicklung stärken und fördern könnte.
Allerherzlichst aber danke ich meiner Ehefrau Brunhild, die in den letzten Jahren meine ständigen Gedankenexkurse und permanenten theologischen Auslassungen mit liebevoller Geduld begleitet hat. Ihre stete Unterstützung und Ermutigung waren von unschätzbarem Wert. Sie hat auch die mühevolle Kleinarbeit der ersten Korrektur des fertigen Manuskriptes auf sich genommen.
Leben wir in der Endzeit?
Schon ein flüchtiger Blick auf lokale, regionale, nationale, ja globale Entwicklungen suggeriert, dass die Welt in vielen Belangen aus den Fugen zu geraten scheint, so als sei ein Kollaps mit nicht mehr zu kontrollierenden Auswirkungen unabwendbar. Sorgenvolle Weltuntergangsstimmung beschleicht zunehmend das Denken der Menschen.
Die Terroranschläge vom 11. September 2001, der um sich greifende Terrorismus, der offensichtlich nicht zum Frieden befähigte Nahe Osten, die Kriege im Irak und in Afghanistan, die Grausamkeiten des Islamischen Staates. Und: die Explosion der Rohstoffpreise, die Abhängigkeit ganzer Volkswirtschaften von knapper werdenden Ressourcen, die Umweltzerstörung und eine mögliche, nahende Klimakatastrophe, immer häufiger auftretende Naturkatastrophen. Und: Die Degeneration der Werte, genauer: die Degeneration der Wertevorstellungen, die Auflösung der klassischen Familienstrukturen, die Zunahme der Kriminalität. Und: Der Wandel westlicher Gesellschaften in übernationale Wirtschaftsdiktaturen, die Suspendierung global handelnder Unternehmen aus der Verantwortung nationaler Wirtschaftskontrollen (Globalisierung), die Subordination des Menschen unter das Primat des wirtschaftlichen Handelns und die globale Finanzkrise samt der verfehlten Eurorettungspolitik. Und: Massenhaft soziale Verarmung und Verelendung, HIV und Aids, das sprunghafte Ansteigen der Migranten und Flüchtlinge weltweit. Und: Mediale Gleichschaltung statt kultureller Vielfalt …. Die Aufzählung könnte noch weitergeführt werden.
Dass diese Liste zutreffend und in gleicher Weise beklemmend ist, kann niemand ernstlich bestreiten. Aber sind damit schon die Indikatoren der Endzeit zutreffend beschrieben? Einige Vergleiche können hier helfen, die Relationen zu Recht zu rücken.
Die Umweltzerstörung und die mit ihr einhergehende Klimaveränderung sind mitnichten allein eine Ausprägung modernen wirtschaftlichen Verhaltens seit der Industrialisierung. Die Entwaldung des gesamten Mittelmeerraumes seit der Römerzeit und erneut seit dem Aufstieg der großen mediterranen Handelsstädte ist mindestens eine ebenso große ökologische Katastrophe wie das Waldsterben der letzten Jahrzehnte.
Noch viel detaillierter als es hier möglich ist, hat DIAMOND (2005) dargestellt, dass politisch-ökologisches Fehlverhalten von Gesellschaften eine der wesentlichen Ursachen für ihren Kollaps ist. Singularisiert DIAMOND diese Ursache, so nennt er jedoch acht Kategorien (DIAMOND 2005,18) an Maßnahmen, die sich an der ökologischen Grundlage der Gesellschaften vergreifen: Entwaldung und Lebensraumzerstörung, Probleme mit dem Boden (Erosion, Versalzung, nachlassende Fruchtbarkeit), Probleme mit der Wasserbewirtschaftung, übermäßige Jagd, Überfischung, Auswirkung eingeschleppter Tiere und Pflanzen auf einheimische Arten und steigender Pro-Kopf-Effekt der Menschen.
Diese die Menschheitsgeschichte in allen Zeiten und Regionen begleitenden Verhaltensweisen deuten darauf hin, dass auch der ökologische Kollaps – DIAMOND (2005,18-20) spricht vom „Ökozid“ – kein erst die Endzeit charakterisierendes Phänomen sein kann, sondern seit jeher Auswirkung politisch-gesellschaftlichen Fehlverhaltens war und ist.
Waren die wütenden Pestepidemien des ausgehenden Mittelalters nicht ebenso furchtbar wie es die erschreckenden Konsequenzen der HIV-Pandemie sind? Werden die Menschen, die zu jener Zeit im Angesicht des Schreckens dieser Epidemien gelebt haben, nicht mit dem gleichen Recht von der Endzeit, die nun anbrechen werde, gesprochen haben, wie es heute viele im Angesicht von HIV und Aids tun?
Und werden die deutschen Soldaten, die in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges im Blut ihrer Kameraden waten mussten, nicht auch von der Endzeit geredet haben, vielleicht sogar noch mehr als es jetzt eher Unbeteiligte bei den Nachwehen des zweiten Golfkriegs tun? Außerdem war in der ganzen Geschichte der Menschen der Krieg immer grausam, grässlich und furchtbar, zu keiner Zeit hatte er so etwas wie ein menschliches „Gesicht“, sieht man vielleicht einmal von den Auswirkungen der Genfer Konvention ab.
Die rapide zunehmende, massenhafte Verarmung, sogar in den Industrienationen, selbst in Deutschland, besonders aber in den Ländern der Dritten Welt, ist kein neues Phänomen. Seit jeher begleitet die Geißel der Armut die Menschen und prägte sich nur manchmal etwas schwächer oder stärker aus als in unserer Zeit. Und auch die Dominanz des wirtschaftlichen Lebens ist in seiner Radikalität nicht neu: Die wenigstens in einigen Staaten existierende sozialstaatliche Rückendeckung ist eine moderne gesellschaftliche Errungenschaft, die nur einem kleinen Teil der Menschen zu Gute kommen kann; und selbst in diesen Staaten waren die Menschen noch bis vor kurzem einem täglichen Kampf um ihr wirtschaftliches Wohlergehen ausgeliefert.
Und auch das weltweite Flüchtlingsproblem, das aktuell immer bedrängender wird, ist kein Charakteristikum allein der Gegenwart. In allen Jahrhunderten wurden Menschen entwurzelt, ihrer Heimat und Kultur beraubt, die Vertreibung der Deutschen aus den ihnen angestammten Gebieten in Osteuropa, das ähnliche Schicksal des palästinensischen Volkes, die fried- und ruhelose Geschichte des jüdischen Volkes, die Flucht der Hugenotten aus Frankreich, der gewaltige Exodus in die Neue Welt und die damit zusammenhängende grausame Verdrängung der amerikanischen Ureinwohner, die Völkerwanderung und natürlich die Umsiedlung ganzer Völker in der Antike gehören zum bitteren Bestand menschlicher Geschichte. Und das Danielbuch weiß auch von einer Vertreibung zu berichten: Ein Teil des jüdischen Volkes wurde nach Babylon geführt.
Selbst das Widererstarken der eher orthodoxen, intoleranten, teilweise sogar militanten Religionen, wie die christlich-nationale Rechte in den Vereinigten Staaten, der fundamentalistische Islam, der nationalistische Hinduismus Indiens, taugt nicht zur Charakterisierung der Endzeit. Schon ein schneller Blick zum Beispiel in die Geschichte Europas erkennt unmittelbar die verheerenden Konflikte, die den religiösen Umbrüchen folgten.
Diese Argumentation lässt sich zu jedem oben genannten Aspekt fortführen und man gelangt zu dem Schluss, dass es zu jeder Zeit Bereiche des menschlichen Lebens gab, die es ohne Abstriche gerechtfertigt hätten, von einer Endzeit zu sprechen. Deswegen sollten wir mit dem Heraufbeschwören endzeitlicher Weltuntergangsszenarien sehr zurückhaltend umgehen.
Leben wir in der Endzeit?
Auch die mehr oder weniger wissenschaftlich durchgearbeiteten und fundierten Annäherungen, unsere Welt oder unsere Gesellschaften zu beschreiben, können diese Frage letztlich nicht eindeutig beantworten, denn es hat zu allen Zeiten starke Umwälzungen der Gesellschaften gegeben, oft revolutionär, gewalttätig, oft in tiefen schnellen Brüchen. Tiefgreifende politische und gesellschaftliche Wandlungen dürften, da sie zu allen Zeiten stattfanden, kaum hilfreich sein, die Endzeit erschöpfend zu beschreiben.
Wenn also die verschiedenen Zustandsbeschreibungen der Welt, der Gesellschaften nicht zur Beantwortung dieser Frage taugen, dann stellt sich die Frage, ob es nicht andere Quellen gibt, die es auszuschöpfen gilt.
Leben wir in der Endzeit?
Theologisch stellt sich der Begriff Endzeit folgendermaßen dar: Mit Kreuzestod und Auferstehung Christi und seiner anschließenden Himmelfahrt ist der von Gott entworfene Erlösungsplan realisiert worden. Die Tür zu einem neuen, friedevollen, ohne das Böse als integralem Bestandteil charakterisierten Reich ist geöffnet. Das heißt, dass die Endzeit mit der Himmelfahrt Christi begonnen hat. Von daher läuft die Uhr der Welt jetzt rückwärts auf das Ende der (End)zeit, also auf die Wiederkunft Christi, zu. So betrachtet leben wir seit jeher in der Endzeit, oder, um im Bild von Dn 2 zu bleiben, der Stein, der die Statue zerstört, fällt schon herab. Endzeit im biblischen Sinne ist also die ganze Zeit vor der Wiederkunft Jesu Christi.
Rein historisch betrachtet verhält es sich anders. Dem Begriff Endzeit ist hier ein Bedeutungsrahmen zu eigen, der leicht missverstanden werden kann. Der Begriff verleitet dazu, die Endzeit nur von ihrem Ende her zu betrachten. Doch diese Denkstruktur, die alles in einem großen Ende, wie immer es auch beschaffen sein mag, münden sieht, verkennt, dass die Endzeit nicht nur vom Ende her zu denken ist, sondern dass ihr vielmehr eine geschichtliche Vergangenheit vorausging, aus der heraus sich die Endzeit in ihrer politisch-historischen Verwirklichung dann erst ergibt. Ist dem Begriff Endzeit wohl ein teleologischer Charakter zu zuerkennen, so ist sie aber auch als prozessualer Fortgang der ihr vorausgehenden historischen Entwicklung zu begreifen. Es ist aus der historischen Sicht nicht möglich und dem Verständnis des Begriffs nicht angemessen, dass die Endzeit spontan mit unbedingten neuen politischen oder historischen Wesensmerkmalen einsetzt, die zur Vorvergangenheit der Endzeit wenig oder gar keine Beziehung haben.
Man wird also gut daran tun, die Endzeit und die ihr vorausgehenden geschichtlichen Abläufe als eine prozessuale historische Einheit zu betrachten. Es ist genau dieses Verständnis von Endzeit, das das Buch des Propheten Daniel im Alten Testament auszeichnet. Es ist, wie Daniel von Gott selbst unterrichtet wird (12, 9)1, für die „letzte Zeit bestimmt“. Was sagt uns Daniel in Bezug auf unsere Frage:
Leben wir in der Endzeit?
Kaum ein Buch des Alten Testamentes hat mit seinen Erzählungen so weiten Eingang in das allgemeine Wissen gefunden, wie das des Propheten Daniel, sieht man einmal von der Genesis ab, zu dem das Danielbuch ganz besonders intensive Bezüge besitzt. Da sind die atemberaubenden Visionen mit ihren geheimnisvollen Symbolen und Zahlen, die eine fortdauernde, unentrinnbare Faszination ausüben; aber auch die bestürzenden Erzählungen von den drei Männern im Feuerofen, dem Wahnsinn Nebukadnezars, der Hybris des Königs Belsazar und der wunderbaren Rettung Daniels in der Löwengrube sind unvergängliche Bestandteile der Weltliteratur. Darüber hinaus sind sie theologisch fundamentale Passagen hoher Dignität von weitreichender Bedeutung.
Bevor wir uns dem Text zuwenden mit dem Versuch, ihn uns neu zu erschließen, gilt es noch zwei Aspekte besonders zu beleuchten: Einmal ist die Frage zu klären, wer dieser Daniel überhaupt war, und zum zweiten sind einige methodische Vorbemerkungen unabwendbar, um die Grundlage zu entwerfen, auf der aufbauend das Buch ausgelegt werden soll.
1 Textangaben aus der Heiligen Schrift erfolgen in Klammer. Wenn keine Nennung eines biblischen Buches erfolgt, ist automatisch das Danielbuch (Dn) gemeint. Alle deutschsprachigen Bibelzitate erfolgen nach der Übersetzung D. Martin Luthers in der 1984 revidierten Fassung.
So einmalig, ungewöhnlich und faszinierend wie das prophetische Buch Daniel ist auch sein Verfasser. In Daniel begegnet uns eine überragende Persönlichkeit nicht nur von beeindruckendem Format, sondern auch von persönlicher Integrität und überbordender intellektueller Kompetenz. Was wissen wir über Daniel?
SHEA (20022,7-10) beschreibt, dass im Jahr 1995 in der Nähe Jerusalems ein Grab gefunden wurde, an dessen Tür der Text „Dies ist das Grab Daniels“ stand. Die Schreibweise des Namens Daniel (d’any`l) entspricht dem Schreibstil vor dem Exil, archäologische Faktoren deuten darauf hin, dass die Anlage des Grabes aus frühpersischer Zeit stammt. Neben der Grabinschrift ist eine Szene in den Stein gehauen, die einen Mann in einer Grube mit zwei Löwen zeigt, die jedoch den Mann weder angreifen noch töten. Über dieser Szene ist ein Mann zu sehen, der aus einer Öffnung heraustritt.
Es handelt sich bei der dargestellten Szene offensichtlich um die in Dn 6 beschriebene wunderbare Rettung Daniels in der Löwengrube. Dieser bemerkenswerte archäologische Fund legt es nahe, dass wir durchaus von der Historizität der Person Daniels ausgehen dürfen. Es kann kein abschließender Beweis sein, sollte aber Anlass dazu geben, mit Zweifeln an der Existenz dieser Persönlichkeit eher zurückhaltend zu sein.
Ebenso wie das Volk Israel die Gebeine Josefs aus Ägypten mitgenommen hat (Ex 13,19; Jos 24,32), so hat man wohl auch Daniels sterbliche Überreste nach Jerusalem überführt. Es sollte also nicht erstaunen, dass Daniels Grab in Jerusalem und nicht im Zweistromland liegt.
Wichtiger aber als diese archäologischen Zeugnisse sind die, die die Heilige Schrift selbst über Daniel bereithält.
Der Name Daniel bedeutet: Gott ist mein Richter, und zwar in dem Sinne, dass „Gott mir Recht schafft“ (MAIER 20058,76). Das meint, dass Gott derjenige ist, der das letzte, abschließende und mächtigste Wort über diese Welt sprechen wird. Daniels Name ist damit schon Programm.
Dabei ist Daniel nicht nur selbst Prophet, sondern bereits erfüllte Prophetie, denn der hundert Jahre vor ihm lebende Prophet Jesaja weissagt dem König Hiskia (2Kö 20,16-18):
„Da sprach Jesaja zu Hiskia: Höre des HERRN Wort:
17 Siehe, es kommt die Zeit, dass alles nach Babel weggeführt werden wird, was in deinem Hause ist und was deine Väter gesammelt haben bis auf diesen Tag, und es wird nichts übrig gelassen werden, spricht der HERR.
18 Dazu werden von den Söhnen, die von dir kommen, die du zeugen wirst, einige genommen werden, dass sie Kämmerer seien im Palast des Königs von Babel.“
Daniel und seine Freunde sind die Erfüllung dieser prophetischen Aussage.
Nach den Texten in Dn 1 ist Daniel königlicher Abstammung (1,3-6), also aus vornehmem und adligem Haus. Dies dürfte mit dazu beigetragen haben, dass er sich in einem Palast eines Weltreiches klug und angemessen zu verhalten und zu bewegen wusste, wovon ja schon Dn 1 zu berichten weiß. Ihm war also royales Flair nicht fremd und fremd war ihm sicher auch nicht die Schattenseite eines solchen Flairs, das mit Intrigen durchtränkt war. Daniel brachte also eine persönliche Disposition mit, die ihn für die späteren Aufgaben bei Hofe qualifizierte.
Als Daniel mit einem Teil des Volkes Israel ins Exil nach Babylon geführt wird, wird er etwa 15 bis 18 Jahre alt gewesen sein. Er lebt siebzig Jahre im Exil (9,2) und wird dann Zeuge des ersten Teils des zweiten Exodus zurück in das verheißene Land. Daniel wird bei seinem Tod etwa 85 bis neunzig Jahre alt gewesen sein. Jerusalem und sein Tempel wurden 586 v. Chr. von den Truppen Nebukadnezars zerstört, sodass sich die Lebenszeit des Daniel, von der in seinem Buch berichtet ist, vom Ende des siebten bis ins sechste vorchristliche Jahrhundert erstreckt.
Daniel erfährt von Anfang an eine ungewöhnlich hohe Wertschätzung Gottes. Dies drückt sich zunächst darin aus, dass Gott ihm die Anrede „Du von Gott geliebter“ (10,11+19) zuteilwerden lässt. Daniels Gottergebenheit und sein leidenschaftliches Eintreten für sein Volk und den Glauben mögen die Ursache dafür sein, dass Gott das Herz dieses Mannes so wertschätzte. Wie MAIER (20058,363) vermerkt, werden neben Daniel mit ähnlichen Worten nur noch Mose in Num 12,7f, Maria, die Mutter Jesu in Lk 1,29f und natürlich Christus selbst in Mt 17 so genannt. Jesaja spricht so vom Gottessohn in Jes 42,1. Daniel wird von Gott selbst in einen kleinen, wahrhaft erlauchten Kreis gestellt.
Der mit Daniel, seinen drei Freunden und der jüdischen Oberschicht später ebenfalls nach Babylon exilierte Prophet Hesekiel erwähnt seinen Zeit- und Leidensgenossen Daniel in besonderem Zusammenhang (Hes 14,14+20):
„Wenn dann diese drei Männer im Lande wären, Noah, Daniel und Hiob, so würden sie durch ihre Gerechtigkeit allein ihr Leben retten, spricht Gott der HERR.“
Mit Noah und Hiob werden erneut zwei große und herausragende Persönlichkeiten mit Daniel gemeinsam genannt. Außerdem ist es interessant, dass es Gott im Gerichtsspruch über den König von Tyrus (Hes 28,3) als unstatthaft ansieht, sich „klüger als Daniel“ zu halten.
Wir schauen kurz auf das geistliche Umfeld des Volkes Israel und stellen fest, welche Dichte an wirklich geistlicher Größe hier wirkte. Daniel, Hesekiel, der im gelobten Land lebende Jeremia – ein bemerkenswertes Ensemble gesegneter Menschen!
So können wir Luther nur zustimmen, wenn er in seiner Vorrede zum Buch Daniel dessen Verfasser als „von Gott hoch geehrt, an Weisheit und Verstand über alle Menschen begabt“ beschreibt.
Wir tun also gut daran, in Daniel eine überragende Persönlichkeit in der Heiligen Schrift zu erkennen. Er ist fortzeugend vorbildlich und von souveräner Überlegenheit. Ohne jeden Zweifel verdient er auch das dem menschlichen Denken entstammende Prädikat „groß“. Wir lassen den biblischen Text direkt auf uns wirken (6,4)
„Daniel aber übertraf alle Fürsten und Statthalter, denn es war ein überragender Geist in ihm. Darum dachte der König daran, ihn über das ganze Königreich zu setzen.“
Ein größeres Kompliment könnte einem Staatsmann kaum zugedacht werden, einem Staatsmann, der dazu von tiefer Gläubigkeit durchdrungen ist.
Dies alles zusammenfassend verwundert es nicht, dass sich Gott Daniel aussucht, ihn den Verlauf der Weltgeschichte schauen zu lassen, eine Offenbarung von erstrangiger Bedeutung. Gott gewährt ihm auch Rettung und verheißt ihm nach der Gottesschau auf seine Herrlichkeit (10,5f) die Auferstehung! Gott versichert Daniel (12,13):
„Du aber, Daniel, geh hin, bis das Ende kommt, und ruhe, bis du auferstehst zu deinem Erbteil am Ende der Tage!“
Diese krönende Zusage Gottes beschließt dieses beeindruckende Leben.
Von der Kindheit dieses Lebens wissen wir nichts, nur so viel lässt sich sagen, dass er sowohl in seinem Selbstverständnis als Jude als auch im Glauben fest gegründet worden sein muss, denn sonst hätte er nicht schon im Knabenalter von 15 bis 18 Jahren mit solcher Konsequenz darauf geachtet, seine religiöse und kulturelle Identität zu waren. Dabei war er, wie sein späterer Lebensweg zeigt, durchaus zu Kompromissen fähig und hat diese glaubwürdig gelebt.
Sein späterer Werdegang bis zu höchsten politischen Ämtern erinnert zunächst an Mose. Dieser erhielt in Ägypten auf Anordnung der Tochter des Pharao an dessen Palast eine ebenso exquisite Ausbildung wie sie Daniel am Palast des Königs Nebukadnezar II in Babylon zuteilwurde. Beide erhalten hier das Wissen und die Befähigung zum Staatsmann. Es sollte uns aufmerksam machen, dass Gott offensichtlich keine besonderen Probleme für seine – hier sogar an Jahren kleinen – Kinder sieht, sie von qualifizierter weltlicher Seite ausbilden zu lassen. Vermitteln solche Lehrer ein Wissen anders oder besser als Lehrer, deren ständige Bezugnahme auf das Heilige Sachverhalte oder pädagogische Konzepte eher verwässern oder verbiegen? Beide Persönlichkeiten, Mose wie Daniel, gehen gestärkt und qualifiziert aus der Ausbildung heraus: Mose wird zum ersten großen Führer des Volkes Israel, Daniel zum Kanzler gleich mehrerer Könige und Weltreiche, und beide reüssieren in ihren jeweiligen Positionen und Ämtern.
Eine weitere Parallele zieht sich nach Ägypten: Zu Josef, dem Kanzler und zweiten Mann im Staat nach Pharao. So wie Josef die Träume seiner Mitgefangenen (Gn 40) und des Pharao deuten kann (Gn 41), so deutet auch Daniel den atemberaubenden Traum des Nebukadnezar (Dn 2). Gott eröffnet beiden, was die damaligen Herrscher träumten und öffnet ihnen so den Weg in die Staatsämter. Beide werden daraufhin Kanzler in den jeweiligen Reichen, beide werden zum großen Segen der jeweiligen Völker. Die Berichte der Genesis (Gn 41) über das kluge planerische Handeln Josefs sprechen ein beredtes Zeugnis, die Wertschätzung der verschiedenen Könige Daniel gegenüber ebenso.2
Dies führt zu einer wichtigen Schlussfolgerung: Daniel hat als großer Staatsmann vielen Königen gedient, und es ist für einen hochkarätigen Politiker wie Daniel, der als Kanzler eines bedeutenden Imperiums wirkte, kaum vorstellbar, dass er bei aller Entschiedenheit für sein eigenes Volk eine auf Palästina reduzierte oder fokussierte Sicht der Geschichte hatte. Es ist eher so, dass ein solcher Staatsmann auch so dachte, wie er lebte: nicht regional, sondern imperial. Er ist leidenschaftlicher Israelit, er ringt mit Gott für sein Volk, er lebt seinen Glauben authentisch und konsequent. Aber er ist weder engstirnig noch besitzt er einen kleinwinkeligen Horizont. So begegnet uns in Daniel der ebenso Gläubige wie weltlich Kompetente, der sich von Gott führen Lassende wie der das Reich Leitende und Lenkende.
Darüber hinaus erweist sich Daniel als genialer Literat. Das kunstvoll entworfene Buch aus seiner Feder bestätigt es, denn dessen fein gesponnene Struktur und der innere Beziehungsreichtum disponieren das Buch zur umgreifenden, weitangelegten Auslegung. Die zahllosen Auslegungen seit seiner Entstehung und seine Bedeutung für das Selbstverständnis der politischen Entscheidungsträger bis ins 19. Jahrhundert hinein bestätigen das.
Ein Aspekt soll die Skizze dieser Persönlichkeit beschließen: Daniel ist ein Mann des Gebetes. Seine in seinem Buch niedergeschriebenen Gebete sind in ihrer Dichte und inhaltlich-stilistischen Ausformung beispielgebend. Seine konsequente Gebetshaltung provoziert ja auch die Verurteilung zum Tod in der Löwengrube (Dn 6).
In kaum etwas dokumentiert sich der Glaube eines Menschen so sehr wie in seiner Gebetshaltung. Das Gespräch mit Gott offenbart den Charakter unseres Glaubens, wobei Gespräch nicht nur das gesprochene, gesungene oder gedachte Wort meint, sondern die sich im Gebet ausdrückende Haltung Gott gegenüber. Ist das Leben im Glauben ein Leben im Gottesbezug, so ist das Gebet ein besonders mächtiges Bekenntnis eben dieser Lebenshaltung. Die Rolle, die Daniels Gebete in seinem Buch spielen, gilt es noch ausführlich zu erörtern.
Wir tun also gut daran, bei einer Auslegung des Danielbuches die Dimension der Persönlichkeit des Autors in all ihrem Facettenreichtum nicht aus den Augen zu verlieren. So einmalig, ungewöhnlich und faszinierend wie sein Verfasser ist das prophetische Buch Daniel auch.
2 Daniel diente (MAIER 20016,90) folgenden Königen: Nebukadnezar, Evilmerodach, Neriglissar, Labasch-Marduk, Nabonid, Kyrus, außerdem den Vizekönigen Belsazar und Darius, dem Meder.
Wer biblische Texte auslegen will, muss sagen, wie und unter welchen Voraussetzungen er es tun will. Ohne eine solche methodische Grundlegung wäre ein Essay wie dieses unvollständig.
Dieses Essay erhebt nicht den Anspruch, Exegese im strengen akademischen Sinne zu betreiben. Eine solche Exegese müsste sich ausführlich zur Authentizität des Danielbuches äußern, hebräische und aramäische Sprache diskutieren und ließe methodisch korrekt letztlich nur textliche Bezüge zu, wenn diese stringent nachgewiesen wären. Dies ist nicht das Ziel dieses Essays.
Dass es so etwas wie Prophetie3 überhaupt gibt, liegt an Gottes Entschluss, sich durch berufene Menschen mitzuteilen (Amos 3,7). Prophetie kann mehrere Funktionen innehaben:
Prophetie ist Wegerleuchtung, sie vermittelt ein Wissen, eine Erkenntnis, die ohne sie nicht zu gewinnen wären. Prophetie ist in diesem Sinne Erleuchtung und Orientierung. Nach 2Pe 1,19-21 ist sie „Aufklärung" und Zielsetzung, sie ist Offenbarung Gottes durch Menschen (Apg 26,15-18,22f) und Gabe Gottes für die Menschen (1Ko 12,28;14,1ff).
Prophetie ist gegenwärtige Wahrheit, sie ist nicht nur Vorhersage im Sinne von Voraussagen der Zukunft. Sie öffnet zuerst die Augen für die Blickrichtung Gottes auf die Gegenwart und eröffnet so die Perspektive für die Zukunft. "Die Historiker können die Vergangenheit deuten. Um die Gegenwart zu deuten, bedarf es der Propheten." In diesem Sinne ist Prophetie also auch „Hervorsage“. Propheten sind Kritiker der Gegenwart, sie sind unbequeme Mahner zur Treue zu Gott und seinem Wort, Verkündiger der guten Zukunft Gottes, darum sind sie Boten der Hoffnung und des Friedens. Dies gilt exemplarisch für das Danielbuch. Sie bringen die Frucht des Geistes hervor (Gal 5,16-26) und wirken somit dem Fundamentalismus entgegen.
Aufdeckung der Vergangenheit als ein durch Gott gewirktes Geschehen ist auch Prophetie (Jo 16,4).
Die Sprache der Propheten ist voller Bilder. Sie sagen mehr als Klartext und sie überdauern die Zeit. Während Klartext im Laufe der Geschichte schwerer verständlich wird, bleiben die Bilder die gleichen und können aus jeder Zeit neu betrachtet werden. So kann Prophetie oft auch erst aus der Erfüllung rückschauend recht verstanden werden. Auch dies wird im Danielbuch deutlich: Die Visionen und ihre Bilder sind von zeitloser Gültigkeit und Faszination und werden immer neu im Zuge des Fortgangs der Geschichte ausgelegt und gedeutet.
Diese kurz gefasste Liste verdeutlicht die prominente Bedeutung, die die Prophetie im Rahmen der biblischen Bücher einnimmt. Prophetie ist mithin von zentraler Bedeutung und ein wesentliches Dokument der Macht Gottes.
Es gibt im Wesentlichen drei Herangehensweisen, Prophetie zu verstehen:
Die
präteristische
: Sie geht davon aus, dass sich die Prophetie in der Vergangenheit erfüllt hat. Für das Danielbuch hieße dies, dass sich alle Visionen bereits zum Zeitpunkt der Abfassung erfüllt hätten. Dann wäre das Danielbuch nur eine reflektierende, theologische Kommentierung der jeweiligen zeitlichen Ereignisse im Kleide „göttlicher Autorität“. Diese Einstellung findet sich vornehmlich in der historisch-kritischen Forschung wieder.
Die
futuristische
: Die Erfüllung der Prophetie wird in die Zukunft verlegt, also ist eine historische Zuordnung der prophetischen Aussagen noch gar nicht möglich.
Die
historische
: Prophetie wird in die zeitliche Kontinuität hineingelegt, also sowohl Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umgreifend. Hier ist zumindest die Chance zu einer historischen Zuordnung möglich und eine Zubereitung der Gläubigen auf kommende Entwicklungen hin denkbar.
In diesem Essay soll das dritte Verständnis von Prophetie, also das historische, zur Anwendung kommen, da Prophetie dann aktuell und relevant wird.
Von Bedeutung ist also der Faktor Zeit in der Prophetie: Wer Prophetie nur in die Zukunft projiziert, wird ihr ebenso wenig gerecht wie eine Beschränkung auf die Vergangenheit. Prophetie will aber, wie oben dargestellt, zeitübergreifend verstanden werden. Und eben dieser zeitübergreifende Charakter in der Prophetie überwindet ihre Fixierung. LISKE (2005) sagt deshalb zu Recht, dass Propheten auch eine göttliche Botschaft für die Gegenwart haben. Und da Gegenwart fortwährend neu präsent ist, bleibt Prophetie auch fortwährend mit ihrer Botschaft präsent.
Es gibt im Wesentlichen zwei diametral einander gegenüberstehende Positionen, das Danielbuch zu verstehen:
Die eine geht von zwei Quellen des Danielbuches aus (COLLINS 2001,2f): Die Kapitel Dn 1 – 6 sind sagenhaften Charakters und alt, zuerst nur oral übertragen, wohingegen die Kapitel Dn 7 – 12 in der Makkabäerzeit (2. Jh. v. Chr.) entstanden sind. In dieser Position herrscht ein präteristisches Verständnis von Prophetie, man sieht in der Sukzession der vier Reiche von Dn 7 als letztes Reich Griechenland und als Kleines Horn König Antiochus IV Epiphanes (KRATZ 2001,90ff). Die Prophetie des Danielbuches endet immer mit Griechenland und seinen Nachfolgereichen. Ausgangspunkt für diese These ist die „Unterstellung einer pseudonymen Verfasserschaft“ (KOCH 1980,9), also die Leugnung der Autorenschaft des Daniel. Diese Festlegungen sind von erheblicher Bedeutung: Wird die Verfasserschaft anonymisiert und in die Zeit des 2. Jh. v. Chr. gelegt, sind alle Visionen im Danielbuch bereits erfüllt und die historische und geistliche Relevanz des Buches Daniel ist abgeschlossen, es gibt keine Bezüge mehr in die Jetztzeit. Die ethischen Implikationen des Danielbuches blieben davon allerdings unberührt. Diese Position ist im Wesentlichen die der universitären-akademischen Theologie.
Die zweite Position sieht in Daniel eine historische Persönlichkeit zur Zeit des Exils des alten Bundesvolkes in Babylon und in ihm den Autor des Buches. Diese Position beinhaltet ein historisches Verständnis von Prophetie, wobei sich das vierte Reiche und die zehn Hörner von Dn 7 auf Rom und seine Nachfolgereiche erstrecken. Das Kleine Horn ist dann der Widersacher, neutestamentlich gesprochen, der Antichrist, der sich vielfältig ausprägt. Das Danielbuch beinhaltet mithin wichtige Botschaften für die Gegenwart und die Zukunft und ist deshalb für Christusgläubige und Kirche beziehungsweise Gemeinde insgesamt von herausgehobener Bedeutung.
Eine dritte Position ist die sich aus fundamentalistischen oder verschwörungstheoretischen Quellen speisende Durchwühlung des Danieltextes, die dann meistens mit spitzfindigen Rechnereien mit den geheimnisvollen Zahlen- und Zeitangaben des Buches Daniel hervortreten und behaupten, dass nun genau das des Rätsels Lösung sei. Eine auf den theologischen Ertrag gerichtete Auslegung – sofern dieser Begriff hier überhaupt angewandt werden darf – findet in diesen Kreisen nicht statt. Diese Ausführungen sollen hier nicht weiter verfolgt oder erörtert werden.
Beide erstgenannten Positionen sind inzwischen dogmatisch verfestigt und haben wenige Chancen, einander zu bereichern.
Die kritische Reflexion und Aufarbeitung der Argumente und Gegenargumente zur Entstehung und Authentizität des Buches Daniel würde den Rahmen dieses Essays sprengen und sind für sich schon Gegenstand umfassender und ausführlichster Erörterungen gewesen. Zwei Punkte sollen beispielhaft erwähnt werden. Das Danielbuch ist in zwei Sprachen geschrieben: Dn 1,1-2,4a ist in Hebräisch, Dn 2,4b-7,28 in Aramäisch, Dn 8,1-12,13 wieder in Hebräisch. Dieser Sprachwechsel könnte eine mögliche unterschiedliche Autorenschaft andeuten. Dann ist ein Wechsel in der Erzählerposition festzustellen: In Dn 1-6 wird von Daniel in der dritten Person gesprochen. In Dn 7-12 spricht Daniel von sich in der ersten Person. Dabei gilt es aber zu bedenken, dass Daniel in Dn 3 überhaupt nicht erwähnt wird und in 4,1-24.31-34 König Nebukadnezar in der ersten Person Singular spricht. Zumindest Dn 1-6 ist in dieser Hinsicht heterogen.
Es darf auch nicht übersehen werden, dass die Buchteile der verschiedenen Sprachen mit denen der unterschiedlichen Erzählerpositionen nicht kongruent sind (so auch KRATZ 2001,91). Weitere Probleme wie historische Unzuverlässigkeit verschiedenster Art, fehlerhafte Namens- und Verwandtschaftsbezeichnungen, Datierungsfehler und anderes mehr werden auch aufgeführt.
Diese ganzen Probleme sind in ihrer Bedeutung keineswegs zu leugnen und verdienten eine sorgsame und gründliche Auseinandersetzung. Im historisch-kritischen Bereich ist die Sachlage klar entschieden. Die Argumente gegen die Authentizität des Danielbuches gelten – so KOCH (1980,10) wörtlich – als „unwiderlegbar“4. Ist das wirklich so?
Im Kommentar der Wuppertaler Studienbibel zum Danielbuch geht MAIER (20058,98ff) den einzelnen Problemen nach und kann zu jedem vorgetragenen Einwand glaubwürdige Erläuterungen oder Klarstellungen anbieten. In nicht minder beeindruckender Weise tut dies auch LIEBI (1986). Auch in dem von F. HOLBROOK (1986) herausgegebenem Band „Symposium on Daniel“ werden zu den kritischen Argumenten gegen die Echtheit des Danielbuches substanzielle Gegenargumente vorgetragen, die weder fundamentalistisch noch dilettantisch sind. Diese und an anderen Orten vorgetragenen Gegenargumente lassen durchaus den berechtigten Schluss zu, dass die an der Einheit und Authentizität des Danielbuches geäußerten Zweifel nicht so zwingend und unwiderlegbar sind, wie behauptet wird, sodass die Glaubwürdigkeit des Danielbuches in seiner jetzigen Form keineswegs auszuschließen ist. Eine nüchterne und zu allen Seiten kritische Betrachtung kann derzeit nur feststellen, dass die Diskussion darüber mindestens noch nicht entschieden ist.
Im Übrigen sei daran erinnert, dass die Beweislast so liegt, dass nicht die Einheit und Echtheit zu beweisen ist, denn davon geht die gesamte Rezeption seit der Entstehung des Buches bis ins 18. Jahrhundert aus, sondern dass sie umgekehrt zu erbringen ist: Die Unechtheit wäre nachzuweisen. Dieser Nachweis ist aber, trotz aller Beteuerungen, bisher nicht abschließend vollzogen.
Für dieses Essay sollen deshalb die folgenden Festlegungen für die weiteren Gedankengänge grundlegend sein:
Daniel ist der Verfasser des Buches
Das Danielbuch stammt aus der Zeit des jüdischen Exils in Babylon aus dem 6. Jh. v. Chr.
Das Buch ist als ein in sich geschlossenes inhaltliches Ganzes zu sehen und zu interpretieren
Das Buch ist historisch glaubwürdig
Die berichteten Begebenheiten, Visionen und Träume beanspruchen wirklichkeitsgestaltenden Bezug und berechtigen neben einer vorrangig zu leistenden theologischen Auslegung auch zur historischen Zuordnung (
historisches
Verständnis von Prophetie).
Gestattet man dem Danielbuch das zu sein, was es als Teil der Heiligen Schrift sein will, nämlich von Gott autorisierte Wegweisung, wie zum Beispiel Mt 24,15, dann ist seine Relevanz für unsere heutige Zeit allemal gegeben: Dann betrifft es die Kirche, die Gemeinde, alle Gläubigen unserer Zeit!
Wie kann man nun das Danielbuch recht auslegen? Das heißt: Was sagt der Text, welches interpretative Potenzial besitzt er? Um das zu entfalten, kann nur vom Text ausgegangen werden, und da ist es die Aufgabe der Ausleger, die Aussagen der Heiligen Schrift vom Text her zu erklären. Der hannoversche Pastor HARALD WEIGT hat es treffend so formuliert: „Gott hat den Menschen Wahrheit offenbart, und die haben sie in ihren eigenen Worten niedergeschrieben.“ Das, was Gott in der jeweiligen Zeit als Wahrheit verkündet wissen will, also das, was als „gegenwärtige Wahrheit“ bezeichnet wird, ist aus dem biblischen Text zu gewinnen.
Es dürfen nicht die eigenen Konzepte in den Text hineininterpretiert werden! Merke: Der Text kann sich nicht wehren! Besonders dann nicht, wenn er nur dazu herhalten muss, eigene Prämissen zu untermauern!
Die auslegerische Freiheit findet im Text ebenso ihre Begründung wie ihre Grenze. Im Lichte dieser Grundlegung sind die folgenden methodischen Bemerkungen zu verstehen.
Zunächst ist die Frage zu stellen, welche Informationen Daniel selbst in den Text hineingelegt hat, um diesen zur Entfaltung zu bringen. Welche Daten hat er selbst angegeben, um dem Text Weite und Tiefe zu verleihen? Alle Bilder, alle Angaben, zum Beispiel von Personen und Namen, Orts- und Zahlenangaben sind so auszulegen, dass zunächst zu fragen ist, was teilt Daniel selbst dazu mit? Wie erklären sich die unterschiedlichen Begriffe, z. B. zu den Zeitangaben, aus dem Danielbuch selbst? Um diese Fragen in eine positive Formulierung zu übertragen, muss es dann heißen: Daniel muss Daniel selbst auslegen. Alles in diesem prophetischen Buch ist mit kluger Absicht aufgenommen worden und kann und darf zu Rate gezogen werden, wenn es um dessen Botschaft geht.
Wie schreibt Daniel, um ihn selbst zu verstehen? Um das zu ermitteln, wird eine Auslegung werkimmanenten Charakters angestrebt, das heißt, es sollen die inhaltlichen und immanenten Bezüge des Textes aus ihm selbst aufgedeckt und untersucht werden.
Was ist werkimmanente Auslegung (BERGHAHN 1979)? Diese Interpretationsmethode ist keine originär theologische, sondern entstammt der Germanistik der deutschen Nachkriegszeit. Sie war eine Antwort auf die politisch-ideologische Vereinnahmung der deutschen Literatur und ihrer Infiltration mit völkischem und nationalistischem Gedankengut während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland. Wesensmerkmal der werkimmanenten Methode ist die Fokussierung allein auf den Text und dessen Entkoppelung von allen anderen Relationen. Das Kunstwerk, hier also der dichterische Text, wird als ein „autonom erfahrbares Werk“ betrachtet. Die strenge Bindung an die textliche Gestalt ist das oberste Prinzip aller werkimmanenten, interpretativen Annäherung. Der Text wird praktisch isoliert.
Diese literaturwissenschaftliche Methode ist auch gut auf biblische Texte anzuwenden. Ihre ausschließlich textorientierte Herangehensweise lässt den biblischen Text zunächst für sich selbst sprechen. Wesentliche Methoden der werkimmanenten Interpretation zur Erschließung des Textes sind:
Intensives Lesen als erste Annäherung an den Text
Geschärfter Sinn für die ästhetische und inhaltliche Qualität eines Textes
Philosophische Genauigkeit und Akribie im Umgang mit den genannten Begriffen
Induktive Vorgehensweise, bestehend aus Lesen, Gliedern, Analysieren, Interpretieren und Schreiben
Fragendes Verstehen mittels des hermeneutischen Zirkels
Unterscheidung der direkten und der indirekten, also verschlüsselten, Aussagen und Aufspüren der Leerstellen, also des Nicht-Gesagten beziehungsweise Nicht-Gemeinten
Sind die Handlungsstränge schlüssig, wo sind Brüche und wie sind die zu erklären? Das ist besonders bei Dialogen von Bedeutung
Wie tragen Textstruktur und sprachliche Gestalt als Form des Textes zum Inhalt bei?
Nacherzählen als wichtiges Instrument zur Interpretation
Insgesamt ist die Textnähe das entscheidende Kriterium wissenschaftlicher Interpretationskunst, hier also auch für biblische Texte.
Der hermeneutische Zirkel bedarf einer besonderen Erläuterung. Er besteht aus einer fortdauernden Rückkopplung von durch intensives Lesen gewonnenem Vorverständnis einerseits und Textverständnis andererseits. Beide werden durch die zum induktiven Verfahren gehörenden Schritte in sich gegenseitig beeinflussender Weise entworfen und ausgebaut.
Die werkimmanente Methode offenbarte jedoch, so zeigte es der Fortgang der germanistischen Forschung, Probleme, deren Überwindung innerhalb der Methode selbst nicht gelang (BERGHAHN 1979,395f). Wir wenden diese Diskussion hier direkt auf das Danielbuch an.
Ist die so beschriebene Herangehensweise an den Text des Danielbuches auch textnah, so offenbart die werkimmanente Methode folgende Defizite. Da ist zunächst die dem Text unterstellte Autonomie. Man kann den Text zwar werkimmanent diskutieren, aber es gab einen bestimmten historischen Kontext, in dem der Text entstand, und selbst wenn die werkimmanente Auslegung diesen Kontext ignorierte, so bliebe der historische Kontext dennoch nicht irrelevant. Das heißt beim Danielbuch, dass bei dessen Auslegung die Rolle des exilierten Volkes und seine Situation in Babylon nicht unberücksichtigt bleiben dürfen.
Auch im Lichte der zeitübergreifenden Charakteristik des Prophetiebegriffs ist das wesentlich. Der Text ist in seiner Zeit entstanden und will in die Zeiten hinein wirken. Deshalb ist die Betrachtung des Textes im historischen Kontext unabdingbar. Nur darf dadurch der Primat des Textes als solcher nicht aufgelöst werden. Das wird die weitere Rolle, die die historische Zuordnung der Prophetie betrifft, wesentlich beeinflussen.
Die werkimmanente Methode hat die biografische Relation eines Textes zu seinem Autor unbeachtet gelassen. Die Intention des Verfassers sei allein aus dem Text selbst zu entwickeln. Das ist zwar vorstellbar, aber deswegen müssen biografische Elemente im Text nicht ignoriert werden. Für eine Persönlichkeit vom Zuschnitt eines Daniels gilt das in besonderer Weise.
Darüber hinaus besitzen Texte oft Bezüge zu psychologischen, sozialen oder ökonomischen Bedingungen, die es im Einzelfall nicht zu übersehen gilt.
Die Schwächen der werkimmanenten Interpretation liegen weniger in ihrem Methodeninventar als in der Restriktion auf die Alleingültigkeit dieser Methoden und der Suspendierung aller nicht originär-textlichen Komponenten als ergänzende Verständnisquellen des Textes.
Im biblisch theologischen Kontext bedeutet das vor allem, dass es sich beim Wort Gottes um das Heil dreht, das Gott den Menschen anbietet. Wie dieses Heil erfahrbar und erlebbar wird, ist darzustellen das Ziel des Wortes Gottes. Dies stets im Gedächtnis behaltend kann man auch einen biblischen Text wie das Danielbuch werkimmanent interpretieren – also auslegen.
Als weitere Auslegungshilfe dürfen alle jene Teile des Alten Testamentes herangezogen werden, die Daniel schon kannte. Besonders seine prophetischen Zeitgenossen, wie zum Beispiel Hesekiel5, sind wichtig. Auf welchem Boden des Alten Testamentes fußt Daniel?
Etwas anders aber verhält es sich mit den kanonischen Schriften, die zeitlich nach Daniel verfasst wurden. Zur werkimmanenten Auslegung des Danielbuches im hier skizzierten Rahmen dürfen die Teile der Heiligen Schrift, die zeitlich nach Daniel entstanden, nur als geschichtliche Bestätigung gesehen werden, nicht als interpretativer Schlüssel zum besseren Verständnis des Danielbuches.
Obwohl wir in der Zeit des Neuen Testamentes leben, sollten wir Daniel zunächst nicht mit den Augen des Neuen Testamentes lesen. Dies gilt auch für die Apokalypse des Johannes, die bei der Auslegung des Danielbuches zunächst keine Rolle spielen soll, denn sie beeinflusst die Auslegung Daniels in einer nicht dem danielschen Text angemessenen Weise. Es muss immer zunächst der Text des Danielbuches selbst in seiner ganzen Tiefe aufgearbeitet werden. Damit ist nicht geleugnet, dass Daniel im Neuen Testament oft aufgenommen wird. Das aber ist hier nicht die Frage. Es dreht sich bei der werkimmanenten Auslegung nicht um die Suche nach bestätigender textlicher Interpretation, sondern um die Entfaltung des Danielbuches auf ihm selbst!
Würde man das Danielbuch zum Beispiel im Lichte der Apokalypse lesen, dann eröffneten sich schier unermessliche Perspektiven. Wie sind die sieben Siegel (Offb 5,1-8,5) und die sieben Posaunen von Offb 8,6 bis 11,19 mit der Prophetie des Daniel zu harmonisieren? Wie fügen sich die Tiere der Vision von Offb 13 mit denen von Dn 7 zusammen? Welche Bezüge bestehen zwischen der Botschaft vom Untergang Babylons und dessen Gericht aus Offb 17,1-19,10 mit dem Untergang des babylonischen Reiches von Dn 5? Was ist mit der Lehre von den Tausend Jahren, dem Chiliasmus von Offb 20 und der danielschen Vision des Endes? Und wie gehören die Angaben über die prophetischen Zeiten der beiden Bücher zueinander?
Wir dürfen nicht vergessen, dass der Apostel Johannes den Propheten Daniel kannte6, aber Daniel hat sein Buch ohne eine Reflexion auf ein weiteres apokalyptisches Buch geschrieben. Wer Daniel – mit einem Auge immer auf die Apokalypse des Johannes schauend – auslegt, versagt sich die Chance, den danielschen Text in seiner unbedingten und originären Intensität zu entfalten.
Doch auch in anderer Hinsicht ist die Maßgabe, dass Daniel zunächst Daniel auslegen soll, wichtig. Es kann ja nicht ausgeschlossen werden, dass diese Regel nicht ausreicht, das Danielbuch vollständig zu erklären. Es könnte ja möglich sein, dass es Inhalte im Danielbuch gibt, die tatsächlich erst im Licht des Fortgangs des göttlichen Erlösungswerkes oder der geschichtlichen Entwicklung verständlich werden. Es ist jedoch oft so, dass die Prophetie überhaupt in der Rückschau für Auslegung und historische Zuordnung verständlich wird. Deswegen ist auch der historische Sachverhalt unumgänglich. Aber auslegerisch bedeutet das, dass die Suche nach späteren, besonders aber neutestamentlich-christlichen Inhalten, umso besser und erfolgversprechender geschehen kann, wenn die Grenze der werkimmanenten Auslegung erreicht ist. Die späteren und neutestamentlichen Texte sollten erst dann greifen, wenn die Defizite einer auf sich selbst aufbauenden Auslegung des Danielbuches abschließend als solche erkannt sind. Präzisere Begrifflichkeiten und schärfere Gedankenführung auf der einen und eine wesentlich geringere spekulative Auslegung auf der anderen Seite sind dann das Ergebnis.
Es ist nicht richtig, primär eine historische Realisierung der Prophetie, zu suchen, sondern zuerst ist der theologische Ertrag als Ziel der Auslegung zu erarbeiten. Die Auslegung des Danielbuches muss zunächst ihren geistlichen Charakter und ihre inhaltliche Ausgestaltung in werkimmanenter Weise erhalten. Ist der theologische Ertrag dann gewonnen, kann an eine historische Zuordnung gedacht werden.
Unter Theologische m Ertrag verstehen wir jene, sich aus der Auslegung ergebenden Inhalte eines Textes, die geistliche Verbindlichkeit besitzen.
Einen Inhalt als Erkenntnis also, der sowohl für den Glauben und seinen begrifflichen Bestand als auch im Vollzug des Glaubens in der Lebenswirklichkeit von Bedeutung ist. Dieser theologische Ertrag ist stets vor der historischen Zuordnung zu erarbeiten, aber nicht von ihr zu trennen. Erst nach der Erarbeitung des theologischen Ertrages ist zu klären, wie er sich wirklichkeitsgestaltend erfassen lässt. Die historische Entwicklung ist also aus der geistlichen Perspektive zu sehen, nicht ohne sie.
Dieses sind zwei voneinander nicht unabhängige, aber doch separate Schritte im Gedankengang. Das Danielbuch ist nicht erfasst, wenn nur Antworten auf die Deutungen der Bilder gegeben oder die geheimnisvollen Zahlen in die Geschichte platziert werden. Das ist zwar auch zu leisten, aber es darf nicht das alleinige oder vorrangig anzustrebende Ziel der auslegerischen Arbeit am Text verbleiben.
Zur begrifflichen Klärung sei nunmehr Folgendes festgelegt:
Auslegung ist jene Arbeit am Text, die seinen theologischen Ertrag hervorbringt, Zuordnung ist die Anwendung der Auslegung auf die historische, politische, geografische, institutionelle oder persönliche Ebene.
Erst in der gegenseitigen kritischen Überprüfung kann es zu substanziellen Aussagen kommen. Der gewonnene theologische Ertrag muss sich an der historischen Wirklichkeit messen lassen, er darf nicht losgelöst von ihm existieren, sonst mündet er in puristischer Metaphorisierung oder spiritueller Beliebigkeit. Dann wäre er nur Theorie, aber keine lebbare Erkenntnis mehr. Wenn die Auslegung des Textes ihre Bedeutung für den gelebten Glauben und die Schau auf den Gang der Weltgeschichte bewahren will, muss sie eben dessen Durchgriff in den Glauben gestatten und seine Projektion auf die Geschichte als sinnvoll und angemessen einordnen. Wer den Text nur im Spirituellen auslegen will, der gewinnt vielleicht eine entsprechende Botschaft, aber einen wirklichkeitserhellenden Bezug vermag er dann kaum zu gewinnen. Diesen Bezug aber will Gott gerade in seinem Wort vermitteln: Eine geistliche Ebene ist wichtig, aber ebenso ist es auch deren Transposition in den gelebten Glauben. Der theologische Ertrag existiert nicht um seiner selbst willen, er will auch gelebt und gestaltend umgesetzt werden. Der theologische Ertrag muss sich am Leben, an der Geschichte messen lassen.
Deshalb ist eine vorschnelle historische Fixierung der Visionen, Bilder und Zahlen unangemessen, denn dann verharrt man in der jeweils aktuellen Vordergründigkeit. Erst in der harmonischen, parallelen Entwicklung beider Aspekte ist die angemessene Art, mit dem Text umzugehen, gefunden. Das heißt nicht, dass die historische Zuordnung einen Beweis für die Richtigkeit der werkimmanenten Auslegung liefert oder prinzipiell zu liefern in der Lage ist, es heißt aber sehr wohl, dass die historische Zuordnung der Auslegung schlüssig sein muss.
Wer sich bei der Auslegung des Danielbuches den Rekurs auf die historische Wirklichkeit versagt, beraubt sich damit auch einer der stärksten Instrumente, das Überschießen der Auslegung zu unterbinden. Jede Auslegung, die losgelöst von der Wirklichkeit, und zwar in einem sie aufhellenden Bezug, entwickelt wird, mag selbst dann, wenn sie immanenten Charakters ist, letztlich nur spekulativ bleiben, denn ihre Bewährung und Überprüfung am historischen Sachverhalt erfolgt nicht.
Als einziges Element aus dem außerbiblischen Bereich und der postdanielschen Zeit, das die Auslegung ergänzen oder sogar überprüfen darf, bleibt also der historische Sachverhalt, da er als solcher Bestand hat.
Bei der werkimmanenten Auslegung des Danielbuches gilt es besonders, begrifflichen Präokkupationen oder dogmatischen Festlegungen, die einer freien Entfaltung der Auslegung Grenzen setzen oder Tabus etablieren, zu entgehen. Für dogmatische Festlegungen gibt es eine Reihe an Beispielen:
Das Kleine Horn in Dn 7 ist dasselbe wie das Horn in Dn 8, das wiederum identisch sein soll mit dem König des Nordens in Dn 11, 23-30. Solch einer Maßgabe folgen zum Beispiel S
HEA
(1999
2
,197) oder D
OUKHAN
(1987), aber auch K
RATZ
(2001).
Fixierte historische Zuordnung des Kleinen Horns auf das Papsttum
Ausschließlichkeit der zeitlichen Gültigkeit der Visionen bis zu Griechenland und Verwirklichung des Kleinen Horns von Dn 7+8 mit Antiochus IV Epiphanes (so zum Beispiel K
OCH
1980)
Festlegung auf eine wie auch immer geartete irdische Einflussnahme auf das himmlische Heiligtum (S
HEA
1999
2
,86-92) und andere
Diese begrifflichen Präokkupationen verfolgen meist nur das Ziel, die jeweiligen Bilder und Visionen auf bestimmte Institutionen oder Personen zu deuten. Ihnen ist dann oft zu eigen, dass sie die Inhalte der verschiedenen Visionen immer auf ein und dasselbe Ziel projizieren.
Und wenn es wirklich so wäre, dass die verschiedenen Visionen stets die gleichen Inhalte aufweisen, dann müsste man die Frage beantworten, warum das so ist, dass das bereits Offenbarte immer nur wiederholt wird. Dann wären die wiederholenden Visionen redundant, da sie nichts Neues beinhalten. Ist das die Intention des Danielbuches, dokumentiert sich so das intellektuelle Niveau seines Autors Daniel?
Wie kann man nun eine Auslegung des Danielbuches beginnen, die seiner Dimension gerecht wird? Der Schlüssel dazu liegt in seiner besonderen, genial gestalteten Struktur.
Eine erste Strukturierungsmöglichkeit besteht in einer Zweiteilung des Danielbuches. Dabei gelten Dn 1 - 6 als die erzählenden (narrativen), Dn 7 - 12 als die prophetischen Kapitel. Diese Aufteilung ist aber nicht konsistent, denn Dn 2 ist zwar im erzählenden Stil geschrieben, inhaltlich jedoch ein prophetisches Kapitel. Dn 9 gibt zu seinem größten Teil das beeindruckende Gebet Daniels wieder und ist nur in seinen letzten Versen prophetisch ausgerichtet. Dn 10 berichtet von einem Blick in die himmlische Sphäre, ist selbst aber nicht prophetisch. Daran kann man erkennen, dass diese Zweiteilung nicht hinreichend ist.
Darüber hinaus ist es wichtig, das Danielbuch nicht auf die prophetischen Kapitel 2, 7, 8, 9, 11 und 12 zu reduzieren. Wie wir gleich sehen werden, sind die prophetischen Kapitel so im Gesamttext platziert, dass die sie umgebenden Passagen integrale Voraussetzungen liefern, um die Visionen zu verstehen. Ohne diese Passagen wäre das nicht möglich, wenn die Voraussetzung gelten soll, dass das Danielbuch sich selbst auslegen kann. Erst in der Gesamtheit des Buches kann die Prophetie verstanden werden, und erhalten auch andererseits die Erzählungen das ihnen angemessene Gewicht.
Es gibt eine ganze Reihe an unterschiedlichen Vorschlägen, das Danielbuch zu strukturieren. Da ist zunächst die Aufteilung nach der Sprache, also den Hebräischen und den Aramäischen Teil (siehe oben). Wie bereits erläutert, ist das Danielbuch in zwei Sprachen geschrieben: Dn 1,1-2,4a ist in Hebräisch, Dn 2,4b-7,28 in Aramäisch, Dn 8,1-12,13 wieder in Hebräisch verfasst. Die kritischen Konsequenzen für die Problemfelder Autorenschaft und Abfassungszeit wurden schon dargelegt. Aber ist eine inhaltliche Systematik erkennbar? Die beiden prophetischen Kapitel 2 und 7 bilden die tragenden Säulen des aramäischen Sprachteiles, andererseits sind aber die prophetischen Kapitel Dn 7 - 9 inhaltlich eng aufeinander angelegt und weisen so viele innere Bezüge auf, die die Sprachdifferenz überlagern. Die inhaltliche Geschlossenheit des Danielbuches überwiegt hier.
Auch die andere, sprachlich begründete Strukturierung, die auf dem Wechsel der Erzählerposition beruht, lässt keine Systematik erkennen. In Dn 1 - 6 wird von Daniel in der dritten Person gesprochen, hier spielen die weltlichen Herrscher eine dominierende Rolle. In Dn 7 - 12 spricht Daniel von sich in der ersten Person, abgesehen von 10,1a, hier ist er mehr im Mittelpunkt des Geschehens. Kann eine solche Bewertung einer kritischen Prüfung standhalten? Richtig ist, dass ab Kapitel 7 Daniel selbst die Visionen erhält, die ihm später zum Teil durch den Engel Gabriel ausgelegt werden. Die Auslegung der Träume Nebukadnezars (Dn 2 + 4) und die Deutung der Schrift für Belsazar in Dn 5 sind sehr wohl Ereignisse, in denen Daniel zentral im Geschehen steht. Und: In den Visionen ab Kapitel 7 wird auch von den weltlichen Herrschern gesprochen, zwar nicht exemplarisch an lebenden Personen, wohl aber in prophetischer Schau. Im Übrigen ließe sich der Wechsel der Erzählerposition dadurch erklären, dass Daniel sicher Schreiber oder Sekretäre gehabt haben dürfte, die vielleicht sogar in von ihm autorisierter Weise die Berichte geschrieben haben. Oder sie könnten zum Teil aus Archiven stammen. Auch das Sprachelement der Erzählposition taugt nicht zur Strukturierung des Danielbuches als Grundlage für eine Auslegung.
Überdies sind die sich durch den Sprachwechsel und den Wechsel der Erzählposition ergebenden Strukturen nicht kongruent.
Die hebräische Sprache kennt, wie jede Kultursprache, ihre eigenen Stilmittel, um Inhalte besonders zu charakterisieren oder zu betonen. Eines dieser Stilmittel ist der Chiasmus (abgeleitet vom griechischen Χ [sprich: Chi]), er ist eine rhetorische Kreuzstruktur nach dem Prinzip ABC-C’B’A’, wobei sich A und A’, B und B’ und C und C’ inhaltlich aufeinander beziehen und ergänzen. Im Zentrum des Chiasmus steht im Hebräischen nun die Kernaussage des Textes. Obwohl auch die europäischen Sprachen diese Struktur, besonders in ihrer Lyrik, kennen, ist der Chiasmus im Hebräischen viel prominenter.
Dieses Stilmittel ist auch im Danielbuch erkennbar. Es spielt laut SHEA (19992, 20022) eine so überragende Rolle, dass er seine Kommentare danach aufbaut. Auch DOUKHAN (1987) widmet ihnen einen weiten Raum und stellt sie prominent dar. Der erste Chiasmus ist wie folgt aufgebaut:
A. Prophetie vom Lauf der Weltgeschichte mit der Statue (Dn 2)
B. Rettung der drei Männer im Feuerofen (Dn 3)
C. Nebukadnezars Hochmut, Wahnsinn und Rettung (Dn 4)
C’. Belsazars Blasphemie und Bestrafung (Dn 5)
B’. Daniels Rettung in der Löwengrube (Dn 6)
A’. Prophetie vom Lauf der Weltgeschichte mit den vier Tieren (Dn 7)
Dieser durch die korrespondierend angeordneten Inhalte sich ergebende Chiasmus ist offensichtlich. Nur was soll die Kernaussage dieses Chiasmus sein? Ein Kern im engeren Sinne ist nicht zu erkennen, die Begebenheiten sind nur symmetrisch angeordnet. Die Aussage, dass die Weltherrscher gottabgewandt, hochmütig, ja sogar gottlos sind, trifft nur auf Belsazar zu, denn Nebukadnezar demütigt sich vor Gott. Und ob das Urteil über die weltlichen Herrscher immer so negativ ausfällt, bleibt in Anbetracht des Verhaltens Darius’ in Dn 6 auch zweifelhaft. Es scheint so, als sei der Chiasmus angelegt, um eine in sich geschlossene literarische Komposition erkennen zu lassen. Shea (19992) gibt für den zweiten Teil des Danielbuches ab Dn 8 keinen Chiasmus an. Also könnte eine auf der Struktur dieses Chiasmus von Dn 2 - 7 aufsetzende Auslegung nur sehr begrenzt entwickelt werden, weil es wesentliche Elemente des Buches außer Acht lassen müsste.
DOUKHAN (1987,3-6) entwickelt jedoch eine konzentrische Struktur über das ganze Danielbuch hinweg, die sich in der folgenden Grafik darstellen lässt.
Abbildung 1: Eine mögliche chiastische Struktur des Danielbuches (nach DOUKHAN 1987,6)
In dieser konzentrischen Darstellung nimmt Dn 7 eine Sonderstellung ein. Dies ist inhaltlich sogar gerechtfertigt, denn hier wird der Menschensohn, eine der wichtigsten prophetischen Aussagen überhaupt, eingeführt. Die Sonderstellung von Dn 1 stellt kein Problem dar, denn es ist als Einleitungskapitel zu verstehen.
Doch substantiiert man nun diese Strukturierung, so wird man sich zu fragen haben, ob die Bezüglichkeit der Kapitel 9 + 10, also die Vision eines „ausgerotteten Gesalbten“ (9,26), die Gottesschau und die persönliche Aufrichtung Daniels in Dn 10 eine in sich geschlossene Mitte darstellen, die die Visionen von Dn 8 + 11 im Engeren und Dn 7 + 12 im Weiteren tragen? Außerdem darf man nicht außer Acht lassen, dass eine inhaltliche Erschließung nicht in solch einer intensiven Weise an eine spezielle Struktur der Sprache geknüpft sein sollte, dass sie sich lediglich demjenigen, der diese Sprache, hier das Hebräische bzw. das Aramäische, auf hohem Niveau beherrscht, zu vermitteln vermag.
Die Diskussion der vorgeschlagenen Strukturierungsmöglichkeiten des Danielbuches soll hier, auch weil sie nachher wenig Ertrag in der Auslegung bereit hält, nicht fortgeführt werden. Stattdessen ist nunmehr zu fragen, welche Struktur des Danielbuches durchgängig zu erkennen ist und darüber hinaus auslegerisches Potenzial besitzt.
Die sich als erstes anbietende Gliederung von Ereignissen in beschreibender Form ist die Beachtung der zeitlichen Reihenfolge. Die zeitliche Abfolge stellt ein unabhängiges und allgemeines Ordnungskriterium dar.7 Dies erleben wir bei jedem Buch, das wir lesen und bei jedem Film, den wir ansehen. Sich entwickelnde Handlungsstränge vermögen wir dann gut zu verfolgen, wenn wir ihre zeitliche Abfolge zu überschauen in der Lage sind. Zeitliche Rückblenden, die wir nicht klar als solche erkennen, erschweren das Lesen und provozieren Missverständnisse oder Unklarheiten. Im Film, der dieses Stilmittel durch entsprechende optische Aufbereitung noch besser nutzen kann, ist das auch so, obgleich der geübte Betrachter damit verhältnismäßig gut umgehen kann.
Wie sieht die zeitliche Folge der Ereignisse im Danielbuch aus? Der Text selbst gibt eine unmissverständliche Antwort:
Tabelle 1: Zeitangaben der Kapitel im Danielbuch