Dann fressen sie die Raben - Beatrix Gurian - E-Book

Dann fressen sie die Raben E-Book

Beatrix Gurian

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Beschreibung

Nach dem vermeintlichen Selbstmord ihrer Schwester fühlt sich Ruby permanent beobachtet und verfolgt. Jemand steckt ihr das Foto eines toten schwarzen Jungen zu. Warum und was hat das mit den rätselhaften Andeutungen ihrer Schwester zu tun, die um ihr Leben kämpft? Die Polizei hält alles nur für einen schlechten fremdenfeindlichen Scherz. Doch dann steht Ruby plötzlich ihrem Verfolger gegenüber.

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Seitenzahl: 407

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Die Autorin

Beatrix Gurianwurde 1961 geboren. Bevor sie ihren Traum vomBücherschreiben verwirklichen konnte, studierte sieTheater- und Literaturwissenschaften. Danach arbeitete sieknapp zehn Jahre als Redakteurin beiverschiedenen Fernsehproduktionen.Seit 2000 schreibt sie Romane für Erwachsene,

Jugendliche und Kinder.Die Autorin lebt mit ihrer Familie in München.Mehr Infos unter: www.beatrix-mannel.de

Titel

Beatrix Gurian

Dann fressen sie die Raben

Impressum

Erste Veröffentlichung als E-Book 2012© 2012 Arena Verlag GmbH, WürzburgAlle Rechte vorbehaltenAlle Suren zitiert nach www.koransuren.deCovergestaltung: Frauke SchneiderISBN 978-3-401-80126-1www.arena-thriller.dewww.facebook.com/arenathrillerMitreden unter forum.arena-verlag.de

Die Scharen von mächtigen Raben

Es fliegen im Abend tief über die ÄhrenDie Scharen von mächtigen Raben,Wie Geheimnisse lautlos, die sich begraben,Wie Gedanken, die sich im Zwielicht mehren.Und es hängen die Ähren zum Straßengraben,Als ob sie Sehnsucht nach Menschen haben.Es steht noch ein Mäher im Klee, im dunkeln;Du hörst nicht die Sense, du siehst nur ein Funkeln.Es huscht noch ein Vogel schnell in die Hecke,Die Feldwege schlängeln sich hinter Verstecke,Die Raben kreisen und machen Runden,Tauchen unter und sind in der Erde verschwunden.Max Dauthendey (1867-1918)

I

Jede Seele wird den Tod kosten; und Wir stellen euch mit Bösem und Gutem auf die Probe; und zu Uns werdet ihr dann zurückgebracht. ((21:35))

Zuerst fällt nur sein Schatten auf den großen weißen Engel aus Stein, dann springt er über die Mauer, wo seine Füße lautlos und luchsgeschmeidig auf der harten Erde landen, während seine Hände den langen Spaten ausbalancieren.

Ungeduldig wischt er die im Mondlicht aufschimmernden Tränen von seinem Gesicht und beginnt, die Reihen der Gräber abzusuchen. Immer wieder bleibt er stehen, verharrt regungslos und lauscht in die Dunkelheit. Erst wenn er sicher ist, dass ihm niemand folgt, holt er wieder Luft, ein tiefer Atemzug, der oft zu einem jämmerlichen Aufschluchzen wird. Dann presst er die freie Hand vor den Mund wie einen Knebel.

Er muss lange suchen, bis er findet, was ihn auf den Friedhof getrieben hat: ein frisches Grab, über und über bedeckt von prächtigen Gestecken und Rosenkränzen, mit Trauerschleifen, die im Mondlicht seidig glänzen.

Er sinkt vor dem Grab auf die Knie und beugt den Kopf zur Erde. So verharrt er eine lange Zeit. Nur ein leises Rascheln stört die Friedhofsruhe. »Verzeihung«, murmelt er immer wieder, »es tut mir leid, vergebt mir, aber ich habe keine Wahl.«

Schließlich erhebt er sich und beginnt, die schweren Kränze zur Seite zu räumen. Er packt sie behutsam an wie zerbrechliche Kostbarkeiten. Doch mit der Zeit wird er schneller und schon bald läuft ihm der Schweiß in Strömen über das Gesicht.

Er greift nach dem Spaten und beginnt, das Grab auszuheben, das bald wie eine frische Wunde in der Erde klafft. Immer wieder vergewissert er sich, dass er aus dem Loch noch herauskommt. Kurz bevor er es alleine nicht mehr schafft, legt er den Spaten zur Seite und schleicht durch die Gräberreihen zurück zum Engel an der Mauer.

Er legt seine Hände vor den Mund. Ein lockendes Vogelgeräusch tönt durch die Dunkelheit. Eine Strickleiter wird über die Mauer geworfen, dann ein schwarzer Müllsack, der mit einem lautem Knistern und Krachen auf der Erde landet.

Schmerz verzerrt sein Gesicht, als hätte man ihn geschlagen, er rennt zu dem Sack, wirft sich neben ihn, umschlingt ihn mit seinen Armen, presst seine Wange dagegen und ist dankbar, dass ihn seine Mutter so nicht sehen kann.

Hinter ihm lassen sich noch zwei junge Männer in schwarzen Hosen und dunklen Kapuzenpullovern von der Mauer herabfallen. Einer packt die Strickleiter und hängt sie sich um, dann beugen sich beide zu dem Jungen, trennen ihn sanft, aber unerbittlich von dem Sack. Jeder von ihnen greift sich wortlos ein Ende des offensichtlich schweren Pakets.

Der Junge steht auf, ringt mühsam um Beherrschung. Schließlich weist er ihnen mit dem Kopf die Richtung und sie brechen auf.

Diesmal bleibt niemand stehen, um zu lauschen, alles geschieht in größter Eile. Als sie das offene Grab erreicht haben, laden die beiden den Sack ab, springen, ohne eine Anweisung abzuwarten, in das Erdloch und schaufeln weiter die Erde heraus. Als der Spaten endlich den Sarg berührt, halten die Männer nur kurz inne. Sie verständigen sich nicht einmal durch Blicke, sie greifen einfach nach dem Sack und hieven ihn auf den Sarg.

Während der erste Junge stumm danebensteht, werfen sie mit dem Spaten und mit ihren Händen die Erde auf das Grab, bis der Erdhaufen neben dem Loch wieder verschwunden ist. Danach trampeln sie alles fest und glätten die Erde, bevor sie die Blumengestecke und Kränze ordentlich auf das Grab zurücklegen.

Schließlich verschwinden die beiden Männer in der Dunkelheit, lautlos, wie sie gekommen sind.

Nur der Junge bleibt zurück. Er kniet sich vor das geschändete Grab und verharrt regungslos, bis ihn die ersten Strahlen der Sonne aus seiner Erstarrung lösen. Dann erhebt er sich und wendet sich in Richtung Mauer.

Ihm ist vollkommen klar, wohin ihn sein Weg nun führen muss. Es mag sein, dass Gott in der Lage ist, den Menschen zu verzeihen. Aber er ist nicht Gott, für ihn heißt es deshalb nicht nur Auge um Auge, Zahn um Zahn, sondern Leben für Leben.

Ihr Leben für seins.

1. Kapitel

»Sie hat was?« Ich kann mir das nicht vorstellen. Doch nicht Lina, meine ach so kluge Schwester.

Pa nickt, und erst jetzt wird mir klar, dass er Tränen in den Augen hat. »Deine Mutter ist völlig am Ende. Niemand versteht, warum sie das getan hat.«

Am liebsten hätte ich ihn geschüttelt. Pa, hätte ich gern zu ihm gesagt, das ist doch nur wieder ein Trick, um sich in Szene zu setzen. Lina liebt theatralische Auftritte. In Linas Welt kreist die Sonne, ach was, nicht nur die Sonne, nein, das ganze Universum dreht sich um sie. Als wir vor drei Jahren gefragt wurden, bei welchem Elternteil wir leben wollten, hat sie im Gerichtssaal eine Tränenshow abgezogen, über der die Richterin völlig vergessen hat, dass ich auch noch da war. Sie hatte schon mit den Schlussworten angefangen, als Pa sich getraut hat nachzufragen, wie denn nun über seine jüngere Tochter Ruby, also mich, entschieden wird.

Ich wollte nicht bei Mama leben, auf keinen Fall, denn sie war es doch, die unsere Familie zerstört hatte. Sie hatte sich in diesen lächerlichen Typen verliebt, den heiligen Dr. Oliver Brandt, der zu allem Übel auch noch mit einem Sohn gesegnet war. Außerdem tat mir Pa furchtbar leid, er war völlig am Boden und verzweifelt, weil Mama ihn verlassen hatte. Ich dachte irgendwie, ich könnte ihm helfen, darüber hinwegzukommen. Und es gab noch einen Grund, aber den konnte ich mir damals wie heute kaum eingestehen: Ich war froh, endlich Linas Schatten zu entrinnen. Denn ganz egal, was ich anfing oder wen ich kennenlernte, immer funkte meine große Schwester dazwischen und stach mich aus.

Lina ist nicht so schön wie unsere Mutter, doch sie hat etwas Strahlendes. Sie ist die Orchidee und ich ein Löwenzahn, sie ist der Duft von Rosen und ich der von Rinde, sie ist ein glühender Komet und ich ein grauer Isarkiesel. Kurzum, die meisten Menschen sind verrückt nach ihr.

Pa setzt sich zu mir auf mein Bett. Er legt seinen Arm um mich. »Ruby, es tut mir sehr leid für dich.« Er drückt mich an sich und ich spüre, wie er zittert. Erst nach einer Weile wird mir klar, dass er krampfhaft versucht, sein Schluchzen zu unterdrücken, und ich schäme mich in Grund und Boden, denn ich fühle nichts.

Mein Vater weint, weil meine Schwester versucht hat, sich das Leben zu nehmen, während meine Gedanken darum kreisen, dass sie höchstwahrscheinlich bloß eine Show abzieht. Ich sehe nicht nur aus wie ein Isarkiesel, sondern habe auch ein Herz aus Stein.

»Was ist denn genau passiert?« Ich rücke ein Stückchen von ihm ab, was Pa sofort so interpretiert, dass mir seine Nähe unangenehm ist. Dabei ist mir doch nur meine eigene Gefühllosigkeit peinlich.

Er strafft die Schultern, putzt seine Brille, dann sehen mich seine grünen Augen prüfend an. »Kleines, sie hat Tabletten genommen und sie mit Alkohol runtergespült. Mehr konnte die Polizei auch nicht sagen.«

»Die Polizei?«

»Die kommt immer, wenn jemand versucht, sich umzubringen.«

»Wieso das denn?«

»Um sicherzustellen, dass es sich nicht um Mord handelt.«

Ich sehe meinen Vater verständnislos an. »Aber wer sollte denn Lina ermorden wollen?«

»Es war ja auch kein Mord. Ein Fremdverschulden wurde ausgeschlossen.«

Das muss ich erst mal verdauen. Daran, dass die Polizei aufkreuzen würde, hat Lina sicher nicht gedacht.

»Und wie geht es ihr jetzt?«

»Den Umständen entsprechend gut, sagt Oliver. Sie wurde auf seine Station im Elisabethenstift nach Schwabing gebracht.«

»Und was heißt: den Umständen entsprechend?« Ich stehe auf und sehe aus der winzigen Dachluke meines Zimmers auf die zwei Wiesen hinter unserem Haus, auf denen gerade die Butterblumen angefangen haben zu blühen. Ein schmaler mit Schilf bewachsener Bach trennt sie voneinander.

»Sie lebt.« Pa atmet laut ein, wie um sich selbst Mut zu machen. »Sie lebt und sie wird keine Schäden zurückbehalten. Aber Ruby, wir müssen alles tun, um zu verhindern, dass so etwas je wieder geschehen kann. Unsere ganze Familie.« Pa nickt sich selbst zu. »Verstehst du? Auch du, mein Schatz. Wir müssen uns darum kümmern, dass es ihr wieder gut geht.«

Ich drehe mich um. »Gibt es einen Abschiedsbrief?«

Mein Vater runzelt die Stirn. »Warum fragst du das?«

»Weil das bei Selbstmördern doch üblich ist, oder nicht?«

Er zuckt bei dem Wort Selbstmörder zusammen, als hätte ich ihn geschlagen.

»Pa, ich kann einfach nicht glauben, dass Lina so etwas tun würde.« Meine Schwester hat doch gar keinen Grund, sich das Leben zu nehmen. Hatte noch nie einen. Eigentlich verhält es sich eher umgekehrt. Sie bringt die anderen an den Abgrund, sogar mit mir hat sie das einmal gemacht. Es ist knapp ein Jahr her, als auch ich nicht weiterleben wollte. Das war, als Lina mir meine erste und bis jetzt einzige große Liebe ausgespannt hatte. Merlin. Wenn meine beste Freundin Feli damals nicht gewesen wäre, ich weiß nicht, was ich getan hätte.

Später wollte Lina sich entschuldigen, aber das war mir zu billig. Wie einfach, erst großen Mist bauen und dann das Ganze mit einer lahmen Entschuldigung abzutun. Nur, weil sie daran gewöhnt war, sich alles erlauben zu können. Mit allem durchzukommen.

Mein Vater legt mir wieder die Hand auf die Schulter. »Diese … diese Sache ist für uns alle ein harter Schlag. Anscheinend hat niemand bemerkt, dass es ihr so schlecht geht. Ich hätte …« Er verstummt und schaut mich hoffnungsvoll an. »Hat sie dir vielleicht etwas gesagt?«

Natürlich nicht. Seit Merlin herrscht Funkstille zwischen uns.

Als ich stumm bleibe, presst er enttäuscht die Lippen zusammen und räuspert sich dann. »Alex behauptet, dass sich Lina in letzter Zeit merkwürdig benommen hat.«

Das lässt mich aufhorchen. Unser schnöseliger Stiefbruder, der gerade mal zwei Jahre älter als Lina ist, behauptet das also? Er wohnt ja nicht mal mehr zu Hause.

»Und warum hat Mam nichts davon mitbekommen?«, frage ich.

Pa fährt sich nervös mit der Hand durch seine lockigen grauen Haare. »Das verstehe ich auch nicht.« Er steht auf und wendet sich zur Tür. »Wir müssen jedenfalls sofort nach München fahren. Lina wird bald aufwachen und dann sollten wir alle bei ihr sein.«

Oh ja, die ganze Familie gibt Linas dramatischer Inszenierung die Ehre! Ich sehe förmlich vor mir, wie sie ihre Augen theatralisch aufschlägt, eins nach dem anderen, und dann mit zarter Stimme »Wo bin ich?« murmelt, bevor sie sich umschaut und ein paar Tränen die Wange herabrollen lässt, perfekt schimmernd wie kleine Kristalle.

»Es gibt also keinen Abschiedsbrief, oder?«

»Nein.« Mein Vater schüttelt den Kopf. »Aber beeil dich jetzt. Und nimm was zum Übernachten mit.«

Damit verschwindet er über die steile knarzende Holztreppe nach unten ins Erdgeschoss und ich wende mich widerwillig meinem Kleiderschrank zu.

Während ich die Sachen zusammenpacke, denke ich an Lina. Ich habe sie nur selten vermisst und überhaupt nicht beneidet, als sie mit Mam in München geblieben ist. Mir gefällt es, auf dem Dorf zu leben, mit all den Bergen um mich herum. Papa und ich sind in unser früheres Wochenendhaus im Allgäu gezogen. Pa arbeitet von zu Hause aus als Architekt und sein Spezialgebiet ist der Umbau alter Bauernhäuser in Energiesparhäuser, wie das, in dem wir wohnen. Hinter den Wiesen unseres Hauses erkennt man eine Zwiebelkirche, deren Läuten mich morgens zuverlässig weckt, und auf einer Koppel hinter dem Haus grast mein Pferd Sonny, das ich vor vier Jahren zu meinem dreizehnten Geburtstag geschenkt bekommen habe und das genauso aussieht wie das von Pippi Langstrumpf, weiß mit schwarzen Flecken. Es steht dort zusammen mit Rasputin, einem Islandpony, das Lina gehört und das ihr jetzt nur noch peinlich ist.

Ich habe nie verstanden, wie Lina auf all das hatte verzichten können, nur um mit Mama und Oliver, unserem Stiefvater, und Alex im ach so coolen München zu bleiben.

Plötzlich schnürt mir ein Gedanke die Kehle zu. Vielleicht hat sie ihre Entscheidung ja doch bereut? Vielleicht hatte sie nur Angst, das zuzugeben? Oder ihr hat einfach keiner zugehört?

Mit Mam kann man nämlich nicht so gut reden wie mit Pa. Sie hört immer nur das, was ihr gefällt, alles andere blendet sie aus, als existiere es nicht. Selbst wenn sie gemerkt hätte, dass Lina todunglücklich war und lieber zu Pa wollte – sie hätte das einfach nicht wahrhaben wollen.

Und ich hätte auch nichts mitbekommen. Meine Schwester und ich haben seit der Sache mit Merlin so gut wie keinen Kontakt mehr, denn ich habe mich seit einem Jahr geweigert, meine Mutter und Lina in München zu besuchen, und alles drangesetzt, damit Lina nicht zu uns kommt.

Ich sinke auf mein Bett, wo unsere beiden großen Kuschelhasen sitzen. Lina hat ihren hiergelassen, er war ihr zu kindisch. Ich nehme sie beide in den Arm, meiner ist weiß, ihrer ist dunkelbraun, und vergrabe mein Gesicht in ihrem weichen Fell. Vor gefühlten hundert Jahren, als wir noch richtig klein waren, haben wir viel mit ihnen gespielt. Ich kann es heute kaum noch glauben, aber früher waren wir wie Zwillinge. Vielleicht, weil wir nur etwas mehr als ein Jahr auseinander sind.

Ihr brauner Kuschelhase heißt Mr Singer und meinen weißen hat Lina den bösen Schenk getauft. Klar, dass meiner der Böse sein musste. Keine Ahnung, wie sie auf Schenk gekommen ist, aber wir beide waren uns einig, dass das ein cooler Name für einen Bösewicht war. Am liebsten spielte sie, dass mein Schenk ihren Mr Singer verfolgen und töten wollte und sie ihn dann austrickste. Irgendwann wollte ich auch mal der liebe Schenk sein, aber gegen Linas Herrschaft hatte ich keine Chance, obwohl ich tapfer gekämpft habe. Einmal habe ich dabei sogar ein Plüschohr von Mr Singer abgerissen und seitdem ist es leider schief, denn wir haben es nicht geschafft, es wieder richtig anzunähen. Mam hatte sich geweigert und uns zur Strafe gezwungen, es selbst zu erledigen. Wir haben ganz schön gemault, es aber geschafft.

Und jetzt hat Lina versucht, sich umzubringen. Das ist etwas, das man nicht so leicht reparieren kann.

Meine große Schwester will nicht mehr leben.

Die gut gelaunte Lina, die immer fröhlich ist. Der Mensch, mit dem ich den meisten Spaß hatte, jedenfalls bis sie mir Merlin ausgespannt hat. Meine große Schwester, die mich zu allem möglichen Unsinn angestiftet hat, wie zum Beispiel, als wir nachts auf Kreta aus dem Ferienhaus ausgebüxt sind. Wir wollten das Schlüpfen der Babyschildkröten am Strand beobachten, bevor sie dann für den Rest ihres Lebens im Meer verschwinden. Und das gehört für mich immer noch zu den schönsten Sachen, die ich je gesehen habe, aber es hat uns damals mächtigen Ärger eingebracht. Und immer, wenn ich nicht schlafen konnte, ist sie zu mir ins Bett gekommen und hat mir Gruselgeschichten erzählt, bis ich mich alleine nicht mehr aufs Klo getraut habe.

Lina, Lina, Lina.

Oh Mann, jetzt weine ich doch.

2. Kapitel

Das Elisabethenstift in Schwabing ist schon alt und wirkt ziemlich heruntergekommen. Der Linoleumboden ist in der Mitte der Gänge völlig abgelaufen und an den Rändern grau. Es riecht überall nach einer Mischung aus aufgewärmtem Blumenkohl, Sagrotan und Fußcreme.

Lina liegt nicht mehr auf der Intensivstation, nur noch auf der Intensivbeobachtung, wo man sich keine grünen Kittel anziehen muss.

Sie ist schon wach, neben ihrem Bett sitzen Mama und unser Stiefbruder Alex. Von Oliver ist nichts zu sehen, vielleicht hat er gerade Schicht.

Als Lina mich entdeckt, richtet sie sich auf. Sie sieht fürchterlich aus, überhaupt nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe. Die tiefen schwarzen Ringe unter den Augen wirken wie Blutergüsse, ihre Lippen sind aufgesprungen und die tote Haut klebt wie alte Weißbrotbrösel darauf. Am Hals hat sie blaue Flecken und ihre schönen blonden Haare pappen strähnig und fettig an ihrem Schädel, der mir plötzlich riesig vorkommt.

Ich schäme mich in Grund und Boden.

Das hier ist kein Theater, das hier ist echt. Meine Kehle schnürt sich zu, und je näher ich an ihr Bett komme, desto deutlicher sehe ich, wie verzweifelt Lina ist.

Ihre Augen starren mich so angsterfüllt an wie damals, als sie in dem kleinen Teich hinter unserer Schule im Eis eingebrochen war und dachte, dass sie sterben müsste. An dem Tag habe ich es geschafft, sie so lange in dem Eisloch festzuhalten, bis Pa da war.

»Ruby, Ruby!« Sie streckt wie damals ihre Hände nach mir aus, als würde sie ertrinken, wenn ich sie nicht rette.

Mir schießen Tränen in die Augen. Was ist nur mit mir los, dass ich so gemein über sie gedacht habe? Ich renne die letzen Meter zu ihr hin und setze mich neben sie auf ihr Bett. Sie umarmt mich und flüstert mir etwas ins Ohr, aber ich kann es nicht verstehen, weil ich selbst so laut weinen muss.

»Schschscht, alles wird wieder gut«, sagt Pa und setzt sich auf die andere Seite des Bettes.

»Ich will mit Ruby allein sein.« Linas Stimme klingt nicht wie sonst, es ist eher ein Krächzen.

In diesem Augenblick schwebt Oliver herein. Im weißen Kittel, nur einen Kugelschreiber in der Brusttasche. Den passenden Rahmen geben zwei junge Frauen ab, auch sie im weißen Kittel, die eine schwarzhäutig, groß und schlank, die andere klein, mollig und blond.

Ich habe nie verstanden, was Mama an Oliver so toll findet. Er ist groß und stakst durch die Gegend wie eine betrunkene Giraffe. Seine blonden Haare, die kaum von seinen abstehenden Ohren ablenken, sind zu einem Pferdeschwanz gebunden, und seine Nase ist irgendwie zu klein für das große Gesicht. Sein Sohn Alex sieht viel besser aus als er, ein bisschen wie Jack Sparrow ohne Bart, deshalb nenne ich ihn für mich auch nur den Fluch.

»Hallo, Lina, wie geht es dir jetzt?«, fragt Oliver, schiebt mich von der Bettkante und gruppiert sich mit den Frauen um Lina.

Lina verrenkt sich fast den Hals, um mir einen Blick zuzuwerfen. »Hol mich hier raus!«, sagt sie heiser.

Oliver wechselt einen Blick mit der Schwarzen. Die kleine Blonde zieht ein Diktiergerät aus ihrer übervollen Brusttasche und murmelt etwas hinein. Es klingt wie »Wahnvorstellungen, typisch nach …«.

»Lina, du musst dich beruhigen. Ich habe dir Frau Dr. Polliwoda mitgebracht. Sie wird sich mit dir unterhalten, du kannst ihr vertrauen. Alles, was du ihr sagst, fällt unter die ärztliche Schweigepflicht. Sie darf auch uns«, Oliver wirft Mama einen Blick zu, »nichts von dem erzählen, was du ihr anvertraust.«

»Ruby!« Diesmal klingt es wie ein Stöhnen.

Ich trete wieder näher an ihr Bett, auch wenn Oliver mich davon abhalten möchte. Lina winkt mich ganz nah zu sich heran, alle starren schweigend zu ihr hin und schließlich lässt mich Oliver doch näher kommen.

»Ruby«, Lina umklammert meinen Unterarm, »Ruby, der Schenk ist hier.« Sie muss husten.

»Das kommt davon, dass wir ihr den Magen ausgepumpt haben. Lina, du musst Schmerzen haben.« Ohne eine Antwort von ihr abzuwarten, gibt Oliver der Schwarzen, die er mit Samira anspricht, Anweisungen, eine Infusion zu holen.

»Ruby …«, beginnt Lina wieder.

»Du regst sie auf«, mischt sich Mama mit einem Seufzen ein. »Wie immer! Könnt ihr zwei denn nicht einmal friedlich miteinander umgehen? Nicht einmal jetzt?«

»Sie will mir doch nur etwas sagen«, protestiere ich.

Lina nickt zustimmend.

Der dunkelhaarige Alex, der so anders als sein Vater aussieht, dreht sich zu mir um. Seine Augenbrauen sind zusammengezogen, als er von Lina zu mir blickt. »Woher die plötzliche Schwesternliebe?«, erkundigt er sich spöttisch.

»Alex!« Die Stimme seines Vaters ist scharf.

Samira kommt mit der Infusion wieder zurück. Oliver macht den Platz am Bett frei, damit sie den Zugang zu Linas Venen freilegen und sie mit der Infusion verbinden kann.

Lina legt sich zurück auf das Kissen und schließt die Augen.

»Schenk«, murmelt sie. »Bitte, Ruby, du musst ihn stoppen. Sonst fressen sie die Raben!«

»Sie ist vom Auspumpen dehydriert«, erklärt Oliver seelenruhig. »Das führt dann zu diesen Halluzinationen.« Er gibt Samira und Dr. Polliwoda durch ein Kopfnicken zu verstehen, dass sie gehen können, und tritt zu Mama. Er umarmt sie kurz, während er den Kopf schüttelt. »Mach dir keine Gedanken, Katja, sie wird sich wieder erholen. Das hier ist eine einfache Kochsalzlösung, das wird sie wieder auf den Damm bringen. Es ist nichts wirklich Schlimmes passiert.«

Pa räuspert sich drohend. »Das sehe ich aber anders«, sagt er, während seine Stimme gefährlich zittert. »Wenn eines meiner Kinder nicht mehr leben will, dann muss es einen Grund dafür geben. Was für mich bedeutet, dass sehr wohl etwas wirklich Schlimmes passiert ist.« Seine Stimme wird bei jedem Wort lauter. »Und ich wüsste wirklich gern, was das ist!« Er starrt auf Mama, Oliver und Alex. »Was habt ihr Lina angetan?«, brüllt er schließlich.

Sein Brüllen bringt Lina dazu, ihre Augen zu öffnen. Sie sucht meinen Blick und schüttelt kaum erkennbar den Kopf, dann fallen ihre Augen wieder zu.

»Ich kann verstehen, dass du aufgeregt bist, Matthias, aber ich halte es nicht für gut, wenn du hier herumschreist.« Olivers Stimme ist immer noch ruhig und sehr autoritär. »Jetzt solltet ihr nach Hause gehen. Morgen wird sich Lina deutlich besser fühlen, und wenn die Frage nach ihrer psychischen Betreuung geregelt ist, kann sie übermorgen wieder nach Hause.« Er dreht sich zu Mama um. »Katja, du solltest dich hinlegen, die Nacht war sehr lang für dich.« Er schreitet zur Tür, dabei streicht er seinem Sohn über die Haare, was Alex peinlich zu sein scheint, denn er erstarrt und schaut auf den Boden. Dann hält Oliver die Tür auf und bedeutet allen, jetzt aus dem Krankenzimmer zu verschwinden.

Ich bin die Letzte, die geht. Aber bevor ich das tue, sehe ich noch einmal zu Lina zurück. Ihr Blick ist flehentlich auf mich gerichtet. »Ich komme wieder«, sage ich fest. »Und zwar allein.«

»Danke, Ruby«, flüstert sie, dann schließt sie die Augen.

Eine Viertelstunde später sitzen wir in der Küche der neuen Wohnung meiner Mutter. Wobei sie nur für mich neu ist, weil Mam, Oliver und Lina erst nach der Sache mit Merlin im letzten Jahr hierhergezogen sind. Das Haus ist ganz in der Nähe des Krankenhauses, damit Oliver es nicht so weit zur Arbeit hat. Die große renovierte Altbauwohnung hat einen Balkon zum Hof und liegt abgeschirmt durch die vordere Häuserreihe ruhig in einem Hinterhof an der Mainzerstraße. Alex ist schon vor über einem Jahr ausgezogen und wohnt in einer Loftwohnung an der Münchner Freiheit, aber er ist nach unserem Besuch im Krankenhaus auch mit hierhergekommen.

Ich bin immer noch schockiert von Linas Verhalten eben. Was genau hatte sie von mir gewollt? Und warum wollte sie ausgerechnet mit mir sprechen und nicht mit Mama oder Alex, die ihr doch seit der Scheidung vor drei Jahren sehr viel näherstehen?

Für mich ist ganz klar, dass Lina vor etwas Angst hat. Aber was kann das sein? Sie hat sich schon das Schlimmste angetan, was man sich antun kann: Sie hat versucht, sich umzubringen.

»Was möchtest du trinken?«, fragt Alex, während Mama einen kompliziert technisch aussehenden silbernen Kaffeeautomaten anschaltet.

Der Fluch hat dunkles Haar, ganz anders als Oliver, und ist überhaupt sehr viel hübscher als sein Vater. Ich habe mal ein Foto seiner Mutter gesehen, die vor sechs Jahren bei einem Verkehrsunfall gestorben ist. Sie sah aus wie eine französische Chansonsängerin. Die breiten Wangenknochen und die traurigen dunklen Augen muss er von ihr geerbt haben.

Der Fluch starrt mich so durchdringend an, als müsste er etwas aus mir herausquetschen, was ich unbedingt vor ihm verbergen wollte. »Trinken?«, wiederholt er ungeduldig.

»Gibt’s Cola?«, frage ich ihn, obwohl mir klar ist, dass es bei Mama und Oliver, den ernährungsbewussten Vegetariern, allerhöchstens Bionade geben wird – etwas anderes kommt ihnen nicht ins Haus.

Prompt zeigt Alex wortlos auf eine Apfelsaftflasche und macht mir dann, als ich nicke, eine Schorle.

»Dehydriert.« Mir fällt wieder ein, was Oliver gesagt hat, während ich den Inhalt des Glases gierig herunterschütte. Ausgetrocknet war Lina also und deshalb hat sie angeblich Wahnvorstellungen. »Du gehst doch auf die gleiche Schule wie Lina. Hast du eine Ahnung, warum meine Schwester das getan haben könnte?«

Der Fluch zuckt mit den Schultern. »Nicht wirklich. Aber ich glaube, dass sie Liebeskummer hatte.«

»Sie hat also einen Freund?« Leider muss ich sofort an Merlin denken, den sie mir, ohne mit der Wimper zu zucken, ausgespannt hat. Merlin, der Einzige, in den ich je verliebt war. Und das Schlimmste war, dass ich ihn sogar verstehen konnte. Meine Schwester ist einfach so viel lustiger und mutiger als ich und sie hat so viel mehr Kurven als Ruby, die Bohnenstange. Und wen interessiert schon, dass ich was in der Birne habe? Sogar Oma behauptet, dass Männer besser sehen als denken können. Erst in den letzten Monaten habe ich mich manchmal gefragt, warum ich nicht um Merlin gekämpft habe. Ich habe ja nie den Versuch gemacht, ob ich gegen Lina eine Chance gehabt hätte. Und allein deshalb wäre es normalerweise eine unglaubliche Genugtuung für mich gewesen, von Linas Liebeskummer zu erfahren.

Normalerweise. Aber jetzt ist alles anders. Nachdem ich sie im Krankenhaus gesehen habe, ist all mein Zorn auf sie verschwunden, und sie tut mir nur noch leid.

Alex hat mir immer noch keine Antwort gegeben, deshalb wiederhole ich meine Frage: »Lina hat also einen Freund?«

Der Fluch dreht sich zu meinen Eltern um, die sich an den Küchentisch gesetzt haben und in ihre eigene Diskussion verwickelt sind, und flüstert dann: »Nicht so laut, von dem letzten Typen weiß deine Mom gar nichts.«

»Wieso denn nicht? Lina ist doch schon achtzehn. Sie kann machen, was sie will.«

»Trotzdem wollte Lina nicht, dass Oliver und ihre Mutter davon erfahren. Ich hab sie mal mit dem Typen gesehen und danach hat sie mich angefleht, es für mich zu behalten.«

Ich schüttele den Kopf. Das hört sich genauso wenig nach Lina an wie die Tatsache, dass sie Liebeskummer gehabt haben soll. Weder das eine noch das andere passt zu ihr.

»Ich glaube, er hat sie abserviert. Das ist sie nicht gewohnt.« Alex lächelt ein bisschen gemein, wie Jack Sparrow.

»Und deshalb wollte sie sterben?« Obwohl – das war tatsächlich etwas, was Lina nicht gewohnt war: dass jemand sie verließ, bevor sie es tun konnte. Dass jemand Nein zu ihr sagte.

Alex gießt mir Apfelschorle nach und zwinkert mir zu. »Na ja, sie hat eine melodramatische Ader, oder nicht?«

»Das habe ich zuerst auch gedacht«, erwidere ich nachdenklich. »Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.«

»Wie meinst du das?« Er holt aus dem riesigen roten Kühlschrank, auf dessen Vordertür unzählige Zettel und Fotos prangen, einen stinkenden Käse, schneidet ihn in kleine Würfel und wirft sich einen nach dem anderen in den Mund. »Willst du auch?«, fragt er mich.

Lieber sterbe ich, will ich schon sagen, als mir gerade noch rechtzeitig klar wird, wie daneben das gewesen wäre.

»Irgendwas stinkt …«, sage ich, und erst als Alex anfängt zu lachen, wird mir klar, dass er denkt, ich rede vom Käse.

»Ich glaube, Lina hatte Angst, heute im Krankenhaus.«

Alex feuert weitere Würfel in den Rachen. »Klar hatte sie Angst. Vor den Konsequenzen. Jetzt muss sie zu einer Psychotante und sie kann sicher sein, dass eure Mutter sie von nun an gründlich überwachen wird.«

Eure Mutter. Na wenigstens etwas. Sie war wirklich nicht seine Mutter. Aber damit, dass Mam meine ältere Schwester jetzt nicht mehr aus den Augen lassen wird, hat er vermutlich recht. Was Lina auch klar sein sollte. Als wir klein waren, durften wir als Einzige nie mit zu Schulausflügen oder Klassenfahrten, weil Mam ständig Angst gehabt hatte, uns könnte etwas passieren. Zum Glück hatte sich das nach ihrer Heirat mit Oliver etwas gebessert, vielleicht weil der Arzt war. Trotzdem war sie immer noch davon besessen, dass uns etwas zustoßen könnte, und als ich mit Papa weggezogen bin, war genau das ihre größte Sorge, denn der war ihrer Meinung nach in allem viel zu lässig. Als Lina vor sechs Jahren ins Eis eingebrochen ist, hat sie eine Woche lang nicht mit Pa geredet, weil er es uns gegen ihren Willen erlaubt hatte, auf den See zu gehen.

Die Stimmen am Küchentisch werden lauter und reißen mich aus meinen Gedanken.

»Warum hat verdammt noch mal niemand in diesem Haushalt gemerkt, dass es Lina so schlecht geht?« Pa flucht so gut wie nie, außer wenn Dortmund verliert.

»Du weißt doch, wie verschlossen Teenager sind. Und überhaupt, wo warst du denn?«, brüllt Mam zurück. »Du hast doch die Kinder auseinandergetrieben! Hast du denn vorhin im Krankenhaus nicht gesehen, wie sehr sich Lina nach Ruby gesehnt hat?«

Alex und ich schauen uns an. Er zuckt mit den Achseln. »Sie gehören dir. Ich gehe jetzt. Ruf mich an, wenn’s was Neues gibt.« Er steckt sich den Rest Käse auf einmal in den Mund, dreht sich um, ruft ein »Tschüss dann!« in Richtung Küchentisch und verlässt die Wohnung, ohne auf Mams »Warte!« zu achten.

Am liebsten würde ich mit ihm gehen, aber das wäre nicht fair Pa gegenüber.

Während ich noch überlege, ob ich mich zu meinen Eltern setzen soll, ist ihr Streit schon eskaliert, und Pa springt auf, rot im Gesicht. »Komm, Ruby, wir fahren nach Hause!« Er presst seine Lippen aufeinander und es klingt eher nach einem Zischen. Er muss unglaublich wütend sein.

»Aber wir wollten doch hier übernachten …«, protestiere ich.

»Gecancelt. Lina scheint auf dem Weg der Besserung zu sein und deine Mutter ist der Meinung, dass ich nicht wirklich zur Genesung meiner Tochter beitrage. Wir gehen.«

Mama ist ihm nachgelaufen. »Ruby, du kannst gern hierbleiben, auch wenn dein Vater gehen möchte.«

Oh Mann, ich fühle mich hin- und hergerissen. Einerseits würde ich mich zu gern ein bisschen in Linas Zimmer umschauen und noch einmal mit Alex über Linas Liebeskummer reden. Außerdem habe ich Lina versprochen, sie noch einmal zu besuchen. Andererseits wäre das der pure Verrat Pa gegenüber. Und das kann ich nicht machen, wo er doch eh immer den Kürzeren zieht. Mein Pa ist so ein Typ, viel zu nett für diese Welt.

»Stimmt es wirklich, dass Lina in drei Tagen wieder nach Hause kommen darf?«, vergewissere ich mich und sehe gleichzeitig ihr völlig verängstigtes Gesicht vor mir.

»Ja, mein Schatz.« Nachdem Mam gerade so gebrüllt hat, klingt ihre Stimme nun geradezu sülzig. »Oliver ist ganz sicher, dass sie das Schlimmste überstanden hat. Mach dir keine Sorgen.«

Mein Vater gibt ein undefinierbares Schnauben von sich. »Natürlich machen wir uns Sorgen, Katja! Ruby, du kannst wirklich bleiben. Lina war so froh, als du kamst.« Er schaut mich eindringlich an und ich werde wieder unsicher, wie ich mich entscheiden soll.

In diesem Moment hört man, wie jemand den Sicherheitscode an der Tür eingibt. Oliver kommt herein. Er sieht müde aus, murmelt »Guten Abend«, wirft Pa und mir nur ein kurzes Nicken hin, stürzt zu Mam wie ein Verdurstender und küsst sie ausgiebig auf den Mund. Wie überaus taktvoll von ihm.

Okay, ich habe hier nichts verloren. Ich gehöre nicht hierher.

»Wir wollten gerade gehen, Pa, oder nicht?« Wir schauen uns an, dann zuckt er mit seiner rechten Schulter. »Okay, gut. Ruby hat außerdem Schule morgen.«

Wir verabschieden uns und ich habe den Eindruck, niemand ist allzu traurig darüber, dass wir zurück nach Nusstal fahren. Aber ich denke an Lina und überlege, morgen nach der Schule noch einmal nach München zu fahren und sie zu besuchen, notfalls auch ohne Pa.

Auf der Heimfahrt sehe ich sie wieder vor mir, mit diesem verweinten Gesicht und den vor Angst starren Augen. »Schenk ist hier«, hat sie gesagt. »Schenk.« Ich glaube nicht, dass sie Wahnvorstellungen hatte, auch wenn es sich für die anderen so angehört hat.

Schließlich weiß ich, dass es ihn gibt, Schenk, den bösen Schenk.

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Heute:Zeitrechnung der Liebe

Ich habe beschlossen, einen neuen Kalender einzuführen. Der Tag, an dem ich ihn das erste Mal gesehen habe, ist die Stunde null. Dann herrschte dunkle Nacht, bis zu dem Tag, an dem wir uns das erste Mal geküsst haben.

Ich weiß nicht, wie ich das bis heute überstanden habe – wie ich es ausgehalten habe, ihn ständig in den Armen einer anderen zu sehen. Tag für Tag für Tag. Nach dem christlichen Kalender waren es qualvolle neunhundertundzwölf Tage.

Unser Kuss ist der zweite Tag in meinem Kalender. Und der Tag, an dem wir uns das erste Mal nackt berührt haben, ist Tag drei im Jahr eins. Altmodisch gerechnet waren das noch einmal sechsundsechzig Tage.

Er war nervös, weil er ganz genau gewusst hat, wie verdorben wir sind, und seine größte Sorge war dann auch nicht, wie es mir dabei geht, sondern nur, ob wir erwischt werden.

Vor allem meine Mutter durfte nichts davon erfahren, es hätte ihr das Herz gebrochen. Und auch meine Schwester hätte nur alles wieder in den falschen Hals gekriegt und womöglich gepetzt, nein, die Kleine soll in ihrer idyllischen Puppenstube bleiben, bis sie selbst merkt, wie hohl sie sich anfühlt.

Danach hat er stark gegen sein Verlangen angekämpft und so hat es noch einmal dreiundvierzig Tage gedauert, bis wir endlich zu einem Paar wurden. Dieser Tag ist mein heiliger Festtag. Es war im September. Am dreißigsten. Ich habe nie verstanden, wie es Frauen geben kann, die nicht dafür sorgen, dass ihr erstes Mal etwas ganz berauschend Schönes wird. Frauen, die sich am Ende eines langen Klubabends dem Erstbesten an den Hals werfen. Völlig krank. Natürlich sollte er älter sein. Sonst ist es, als würde man seinen Körper bei einem Kindergeburtstag hergeben. Nein, er muss Erfahrung haben und er muss sicher sein. Und man muss ihn lieben.

Mehr lieben als sein Leben.

4 Kommentare:

Gelimausi sagt:

Total süß, diese Kalendersache!

Löwchenmeyers sagt:

Ich finde, das klingt reichlich merkwürdig. Ein bisschen wie aus dem vorvorletzten Jahrhundert. Wir Frauen sollten endlich aufhören, unser Leben nach den Typen auszurichten. Wie traurig, dass man unter wahrste Liebe son Schrott findet. Ich wünschte, du hättest den Mumm, unter wahrster Liebe nicht die Fixierung auf jemand anderen, sondern auf dich zu verstehen. Schade.

Muschifan sagt:

mer saftiges!

Mauseküsschen sagt:

Wann gibts die Fortsetzung? Das klingt spannend!

3. Kapitel

Als ich am nächsten Tag ziemlich spät von der Schule heimkomme, weil ich noch zu einer Schülerversammlung musste, ist Pa in heller Aufregung. Bleich reißt er die Haustür auf, gerade als ich mein Rad in die Garage schiebe.

»Lina ist vor einer Stunde ins Koma gefallen. Pack deine Sachen, wir müssen sofort nach München und uns um sie kümmern. Los, los, los.«

Mein Herz hämmert in meinen Ohren. Schenk ist hier, hat sie gesagt und Angst gehabt. »Ins Koma? Aber Oliver hat doch behauptet, sie wäre über den Berg? Wird sie wieder aufwachen?«

»Wir können im Auto reden! Pack alles zusammen und beeile dich.«

Ich renne nach oben, nehme diesmal Mr Singer und Schenk mit und schon kurze Zeit später sitzen wir im Auto und fahren nach München.

Pa sagt lange Zeit gar nichts, dann, als wir schon kurz vor München sind, gibt er sich einen Ruck. »Ruby, ich habe nachgedacht. Deine Mutter hat recht. Es war nicht richtig, euch auseinanderzureißen.«

Ich will protestieren, denn wir durften uns frei entscheiden, niemand hat uns auseinandergerissen, doch er lässt mich nicht zu Wort kommen. »Das können wir nun nicht mehr ändern. Was ich jedoch ab sofort ändern werde, ist Folgendes: Wir bleiben in München, bis Lina wieder aufwacht.« Seine Stimme klingt verdächtig zittrig. »Notfalls werde ich uns eine Wohnung mieten und dort arbeiten. Und du kannst in Linas Schule gehen.«

Ich bin fassungslos, was ich da höre. Irgendwie hat mein Verstand noch nicht recht verarbeitet, was überhaupt geschehen ist. So, wie Pa das sagt, klingt es, als stelle er sich auf eine lange Zeit ein. Erst jetzt merke ich, wie ich ganz unwillkürlich davon ausgegangen bin, dass Lina bald wieder aufwacht. Ein Koma kann doch auch nur Tage dauern, oder nicht? Und hatte Oliver nicht gesagt, dass sie einfach nur dehydriert war?

»Wie konnte das denn überhaupt passieren?«, frage ich mühsam, weil etwas mir die Kehle zuschnürt.

»Du kannst sicher sein, dass ich Oliver genau diese Frage stellen werde, und wehe, wenn er mir dazu keine Antwort geben kann.«

Schenk ist hier. Hat Lina damit Oliver gemeint?

Pa fährt viel schneller als sonst. Wir sind in Rekordzeit in München und biegen bald auf den Parkplatz des Krankenhauses ein.

Lina ist an diverse Apparate angeschlossen, die piepsen und biepen, aus ihrem Hals ragt eine Plastikkanüle, an der verschiedene Schläuche hängen. Diesmal müssen wir uns grüne Kittel und Schuhüberzüge anziehen und es darf immer nur einer zu ihr ins Zimmer.

Als wir kommen, sitzt Mam mit verweinten Augen neben Linas Bett. Sie verlässt den Raum und Pa nimmt ihren Platz ein. Mama umarmt mich so fest, als wäre ich gerade von den Toten wiederauferstanden. »Ruby, Ruby, Ruby, meine Kleine …«, murmelt sie immer wieder und drückt mich an sich. Meine Kleine? Ich bin siebzehn!

»Was ist passiert?«, frage ich sie und schiebe sie ein bisschen von mir weg. »Oliver hat doch gestern gesagt, dass alles in Ordnung ist.«

Mama zieht laut die Nase hoch, holt ein Taschentuch heraus und putzt sich die Nase. »Ja. Lina ging es so gut, dass sie heute Mittag sogar schon wieder Besuch aus ihrer Schule bekommen durfte. Aber gegen Abend hat Oliver noch einmal nach ihr gesehen und da war sie schon ins Koma gefallen. Niemand weiß, was geschehen ist. Manchmal kann …«, ihre Stimme bricht, sie räuspert sich, redet dann fest entschlossen weiter, » … manchmal kann eben so etwas passieren. Aber ich bin sicher, sie wird wieder aufwachen. Wir tun alles, um sie zurückzuholen. Oliver kennt viele Spezialisten und die sagen, es besteht Hoffnung.« Aber trotzdem weint sie nun, schluchzt, ihr ganzer Körper zittert und ich kann nicht anders, ich heule auch wie ein Schlosshund. Es ist eine Sache, seiner Schwester die Pest an den Hals zu wünschen, aber eine ganz andere, sie so hilflos im Krankenhaus liegen zu sehen. Und das Allerschlimmste ist: Ich muss den Tatsachen ins Auge schauen. Ein Koma kann Tage dauern, ja. Aber es kann sich auch Jahre hinziehen.

Nein, versuche ich mich zu beruhigen. Das wird nicht passieren. Olivers Spezialisten sagen das ja auch.

Dann darf ich endlich zu ihr hinein. In dem Krankenzimmer ist es sehr kühl und man ist von dem ohrenbetäubenden Lärm umgeben, den die Kontrollgeräte verursachen. Immerhin sieht man, dass Linas Herz wunderbar regelmäßig schlägt. Beklommen nehme ich ihre Hand und streichele sie. Schade, dass ich Mr Singer im Auto gelassen habe. Vielleicht würde sein schiefes Ohr meine Schwester wieder zurückholen. »Lina, wo immer du bist, ich habe dich lieb, und wenn ich jemals etwas Gemeines über dich gedacht habe, dann tut es mir leid. Ich hoffe, dort, wo du jetzt bist, ist es richtig schön. Vielleicht bist du ja dorthin geflüchtet, weil du so große Angst vor einem bösen Schenk hast? Ich verspreche dir, ich werde herausfinden, wer das ist, und ich werde dafür sorgen, dass er dir nichts mehr tun kann. Dann kommst du zurück, ja? Hast du mich verstanden? Wenn ja, dann bitte, gib mir ein Zeichen. Drück meine Hand, atme anders … oder«, ich versuche einen Witz, Lina liebt blöde Witze, »oder du pupst einfach.«

Ich bilde mir ein, sie hätte zweimal hintereinander schnell eingeatmet, und nehme das als eine Antwort. Aber dann tut sie es wieder und mir wird klar, dass ich mir etwas vormache. Wahrscheinlich hat sie gar nichts gehört. Tränen quellen aus meinen Augen und ich fange wieder an zu schluchzen. Ich will nicht glauben, dass ich nichts tun kann, um sie da wieder rauszuholen. Dieser Gedanke macht alles erst so richtig hoffnungslos.

Pa kommt herein und streicht mir über den Kopf. »Schschscht. Ruby, Schätzchen, du gehst jetzt mit Mama mit. Du wohnst fürs Erste bei ihr und Oliver, bis ich eine Lösung gefunden habe. Glaubst du, das klappt?« Er reicht mir ein Taschentuch.

»Klar.« Ich putze meine Nase und versuche, mich zu beruhigen. »Was ist mir dir?«

»Ich übernachte bei Andreas.«

»Okay.« Andreas ist ein Studienfreund meines Vaters, den ich ganz gut leiden kann. Bei ihm würde ich auch gern wohnen, aber er und seine Familie haben zu wenig Platz in ihrer Dreizimmerwohnung. Außerdem ist mir im Moment herzlich egal, wo ich wohne. Hauptsache, ich kann in der Nähe von Lina bleiben.

Während ich mit Papa meine Sachen in Mamas Wohnung bringe, schwöre ich mir, dass ich erst dann zurück nach Hause gehe, wenn Lina gesund ist. Bis dahin werde ich alles tun, um ihr zu helfen und sie aus dem Koma wieder rauszuholen. Und ich meine wirklich und ohne jede Einschränkung, alles.

4. Kapitel

Seit drei Tagen lebe ich jetzt in Linas Zimmer. Seit drei Tagen ist ihr Zustand unverändert. Pa wohnt immer noch bei Andreas und vermutlich wird das erst einmal so bleiben. Mama hat ihm angeboten, dass er in einem Nebenzimmer ihrer Zahnarztpraxis übernachten kann, aber das wollte er nicht und ich kann das gut verstehen. Wer möchte schon mit diesem fiesen Geruch nach Betäubungsspritzen, Desinfektionsmittel und Schleifstaub einschlafen und wieder aufwachen?

Mich haben sie in Linas Schule angemeldet, was ich ziemlich überflüssig finde. Ich habe keine Lust darauf, in Linas teure Privatschule zu gehen. Meine Schule im Allgäu ist ein katholisches Mädchengymnasium, weil das nächste gemischte Gymnasium noch weiter weg liegt. Felicitas, die bei mir um die Ecke wohnt, fährt jeden Tag mit mir im Bus. Es ist zwar weit, aber auf dem Hinweg bringen wir meistens unser Hausaufgaben-Sharing zu Ende. Ich erledige Mathe und Physik für uns, sie Deutsch und Englisch. Das klappt prima. Auf dem Rückweg haben wir dann jede Menge Zeit zum Quatschen. Feli ist nicht nur die Einzige, mit der ich wirklich über alles reden kann: von Pa bis Pickeln von Lina bis Liebe und von Mathe bis Merlin. Sie ist auch die Einzige, die mich darüber hinwegtröstet, dass ich in jeder Klasse die Jüngste bin, weil ich in der Grundschule eine Klasse überspringen musste. Am schlimmsten war es damals, als alle anderen Mädchen ihre Tage schon hatten und ich ständig gefragt wurde, ob ich denn auch schon Blut sehen würde. Einen Spitznamen hatte ich auch: Superhirni. Erst war das als Beleidigung gemeint, aber dann haben wir mit meinem Atargatisprojekt bei »Jugend forscht« den zweiten Preis in Biologie gewonnen und seitdem ist es nicht mehr böse gemeint.

Lina dagegen ist ziemlich mau in der Schule und mogelt sich immer irgendwie durch, genau wie Alex. Der hat schon zwei Ehrenrunden gedreht, deshalb macht er jetzt erst Abi. Er findet es nicht normal, dass mir Mathe Spaß macht und Physik und Bio und Chemie. Lina auch nicht, aber wenigstens hat sie mich nie Superhirni genannt, das muss ich ihr lassen. Sie weiß, dass ich meinen Namen liebe. Ich habe ihn den Rolling Stones zu verdanken. Pa ist Fan und angeblich hat er sich in Mama verliebt, als sie zu dem Song Ruby Tuesday getanzt haben.

Ich bin sicher, als meine Mutter Oliver kennengelernt hat, wurde nicht getanzt. Viel eher haben sie sich zusammen einen Bericht auf Deutschlandradio Kultur über Mutter Teresa angehört, denn auch Oliver ist ein Heiliger. Er arbeitet jedes Jahr einen Monat für »Ärzte ohne Grenzen«, außerdem hat er eine Praxis für Menschen aufgebaut, die in Deutschland ohne Krankenversicherung leben. Er engagiert sich dort einmal die Woche unentgeltlich und zusätzlich fährt er jeden zweiten Samstag mit einem Bus durch München und versorgt Obdachlose. Seit Mama ihn kennt, ist sie plötzlich auch sozial engagiert, vorher wollte sie bloß viel Geld als Zahnärztin verdienen. Und weil sie beide so wahnsinnig wohltätig sind und keine Zeit haben, müssen Lina und Alex auf diese bescheuerte Ganztages-Privatschule gehen, die in einer ehemaligen Nähmaschinenfabrik untergebracht ist.

Heute ist mein erster Schultag in der Schopenhauerschule. Ich habe meinen Eltern erklärt, dass es völliger Schwachsinn ist, mich dorthinzuschicken. Für die Rektorin meiner Schule war es völlig okay, dass ich ein paar Wochen fehle, aber das hat niemanden interessiert. Sie wollen, dass ich tagsüber untergebracht bin und etwas Sinnvolles mache, statt auf dumme Gedanken zu kommen. Sinnvoll? Viel sinnvoller hätte ich es stattdessen gefunden, den ganzen Tag bei Lina zu sein, aber da habe ich auf Granit gebissen.

Und weil ich es nicht ändern kann, habe ich beschlossen, meinem Schulbesuch eine gute Seite abzugewinnen. An der Schopenhauerschule kann ich wahrscheinlich am ehesten herausfinden, was genau mit Lina passiert ist. Schließlich verbringt sie ja die meiste Zeit des Tages mit ihren Klassenkameraden. Und ich erinnere mich, wie Mam mir erzählt hat, dass Lina im Krankenhaus von ihnen besucht wurde. Vielleicht hat sie denen noch etwas gesagt, irgendetwas, das mich auf eine Spur bringt, wovor sie so große Angst gehabt hat.

Nicht zu vergessen der Typ, in den Lina verliebt war und der angeblich mit ihr Schluss gemacht hat. Den muss ich als Erstes kennenlernen, wenn er denn überhaupt auf diese Schule geht.

Und wenn es ihn überhaupt gibt. Ich kann mir nach wie vor schwer vorstellen, dass Lina Liebeskummer hatte. Bisher war es immer so, dass sich die Jungs ihretwegen die Augen ausgeheult haben, nicht umgekehrt.

Die Schule ist viel schöner als der Betonkasten, in den ich gehe. Es ist ein Bau aus roten Ziegeln mit vielen Erkern und Vorbauten, von Rasenflächen und Blumenbeeten umgeben. Weil die Schopenhauerschule eine teure Privatschule ist, hatte ich erwartet, dass die Mädchen Gucci-Brillen tragen und sich wie Paris Hilton gebärden, aber komischerweise sehen alle ganz normal aus. Die meisten tragen Jeans und T-Shirts, nur ihre Ledertaschen und Täschchen sehen verdächtig nach It-Bags aus. Ich komme in die 11A im zweiten Stock links, werde von der Klassenlehrerin Frau Paul kurz vorgestellt und soll mich dann auf Linas Platz setzen. Das fühlt sich komisch an und mir ist völlig klar, was alle denken.

Diese fade Bohnenstange soll Linas Schwester sein?

Die anderen Schüler glotzen mich unauffällig an, und als ich mich setze, ist das Getuschel groß.

Nur meine Nachbarin lächelt mich freundlich an. »Das mit deiner Schwester tut mir total leid«, wispert sie mir zu, »auch wenn sie eine ziemliche Bitch ist. Ich heiße übrigens Gretchen.«

»Gretchen? Echt?« Ich bin doppelt verblüfft. Darüber, dass sie so unverblümt ihre Meinung zu Lina äußert und über ihren Namen. Ich habe noch nie von jemandem gehört, der Gretchen heißt und nicht schon mehr als drei Jahrhunderte tot ist.

Sie lächelt immer noch. »Man spricht es Grättschän aus. Meine Mutter stammt aus Kanada, mein Vater ist Italiener. Ich heiße Gretchen Rubino.«

Jetzt muss ich auch lachen. Ruby und Gretchen Rubino, ob das ein gutes Vorzeichen ist? Ich schaue sie von der Seite an. Sie sieht gar nicht aus wie ein Gretchen, sie ist nicht blond, sondern dunkelhaarig und hat sehr hohe Wangenknochen. Irgendwie indianisch, eine Pocahontas mit blauen Augen. Dann fällt mir wieder ein, was sie gerade über Lina gesagt hat. »Was meinst du damit, dass Lina eine Bitch ist?«

»Das hab ich nicht so gemeint, tut mir leid.« Sie redet ganz schnell weiter, vermutlich um die peinliche Situation zu überspielen. »Vergiss es am besten gleich wieder. Ich drücke die Daumen, dass sie schnell wieder aus diesem fiesen Krankenhaus rauskommt. Das Elisabethenstift ist ein ziemlich übler Schuppen, ich habe da mal ein Praktikum gemacht, tief unten im Keller. Betten desinfizieren.« Sie seufzt. »Was tut man nicht alles, wenn man Ärztin werden will, aber eine Null in Bio ist.«

Frau Paul wirft uns einen bitterbösen Blick zu und geht ihre Anwesenheitsliste weiter durch. Es sind drei Victors, zwei Lukasse und drei Alexe dabei, bei den Mädchen gibt es drei Maries und zwei Luises. Zum Glück haben die meisten zur besseren Unterscheidung Doppelnamen, aber ich kann mir trotzdem nicht alle merken, was vermutlich auch nichts ausmacht, denn ich habe ja nicht vor, lange hierzubleiben. Erst gestern hat ein neuer Spezialist Lina untersucht und laut Pa meinte er, dass Linas Zustand sich von einem Tag auf den anderen bessern kann.

Nachdem Frau Paul mit der Anwesenheitskontrolle fertig ist, wird Gretchen als Klassensprecherin dazu verdonnert, mir später die Abläufe zu erklären und mich auf dem Schulgelände herumzuführen. Sie nickt Frau Paul ergeben zu, verdreht dann aber leicht ihre Augen.

Als sie merkt, dass ich das gesehen habe, wendet sie sich zu mir. »Entschuldige. Nimm es nicht persönlich, ich wollte mich in der großen Pause bloß auf eine Zigarette mit einem Kerl treffen und das kann ich jetzt abhaken.« Sie seufzt und lächelt mich gleichzeitig wieder an.