Prinzentod - Beatrix Gurian - E-Book + Hörbuch

Prinzentod E-Book

Beatrix Gurian

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Beschreibung

Verbotene Liebe führt selten zu etwas Gutem. Das weiß Lissie, als sie Kai das erste Mal begegnet und doch schafft sie es nicht, ihm zu widerstehen. Bis ein entsetzlicher Unfall geschieht, der alles, was verborgen war, ans Licht bringt. Aber Lissie ahnt noch nicht, dass dies alles nur der Anfang ist ...

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Beatrix Gurian

Prinzentod

Beatrix Gurian wurde 1961 geboren. Bebor sie ihren Mädchentraum vom

Bücherschreiben verwirklichen konnte, studierte sie Theater-

und Literaturwissenschaften. Danach arbeitete sie knapp zehn Jahre als Redakteurin bei verschiedenen Fernsehproduktionen. Seit 2000 schreibt sie Romane für Erwachsene, Jugendliche

und Kinder. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in München.

Das gleichnamige Hörbuch ist bei Arena Audio erschienen.

Veröffentlicht als E-Book 2010 © 2008 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: Frauke Schneider ISBN 978-3-401-80054-7

www.arena-verlag.de Mitreden unter forum.arena-verlag.de

Alles, selbst die Lüge dient der Wahrheit,Schatten löschen die Sonne nicht aus...

Franz Kafka

Prolog

Er ist tot. Der Mensch, dessen Herz ich eine Zeit lang in meinem Herzen getragen habe. Eine schrecklich kurze, schrecklich lange Zeit. Die Polizei hat seinen Leichnam freigegeben und heute, an diesem strahlend schönen Sommertag, wird das, was von ihm übrig ist, eingeäschert und dann in einer Urne im Familiengrab versenkt. Es fällt mir schwer, der leise vor sich hin summenden Bernadette über all die ordentlich bepflanzten Gräberreihen hin zur Aussegnungshalle zu folgen. Dieses Summen stört mich, aber ich kann es nicht ertragen, schon wieder mit ihr zu streiten, nicht nach dem, was zwischen uns passiert ist. »Was singst du da«, frage ich mühsam beherrscht. Sie zuckt zusammen und schaut mich verlegen an. »Ziemlich taktlos von mir«, gibt sie zu. »Ich hab’s nicht mal gemerkt.« Von der Friedhofskapelle höre ich eine Glocke läuten. Ich muss schlucken. »Erinnerst du dich noch an die Beerdigung deines richtigen Vaters?«, frage ich. Bernadettes Blick verschleiert sich, sie senkt den Kopf. »Ja, sogar ziemlich deutlich. Es war ein kalter Tag, ich hatte mit Mama gestritten, weil ich eine sehr kratzige Strumpfhose anziehen musste. Ich hatte damals keine Ahnung, dass Papa für immer weg sein würde.« Bernadette steckt sich eine ihrer goldenen Haarsträhnen hinters Ohr und zeigt hinauf zumwolkenlos klaren Himmel. »So wie es uns erklärt wurde, war Papa mal kurz dort oben im Paradies. Was die den Kindern für einen Schwachsinn erzählen.« »Genau das Gleiche haben sie mir damals auch gesagt.« Ich kann Bernadette nicht ansehen. »Dass Mama vom Himmel aus immer auf mich aufpassen würde.« »Und hat sie?« Auf Bernadettes Stirn glitzern Schweißperlen und ihre ordentlich gebügelte, viel zu enge schwarze Bluse hat schon die ersten Knitterfalten. »Ich weiß nicht«, erwidere ich, aber das stimmt natürlich nicht. Denn wenn es tatsächlich so etwas gäbe, einen Geist oder eine Art Schutzengel, zu dem meine Mutter geworden wäre, dann hätte sie niemals zugelassen, dass ich getan habe, was ich getan habe. Ich sehe hinüber zum Krematorium, in dem seine Leiche nachher verbrannt werden soll. Daneben, vor der Aussegnungshalle warten unglaubliche Menschenmassen. Ich weiß, dass Brigitte versucht hat, den Termin geheim zu halten, aber ganz offenbar ist ihr das nicht gelungen, denn jetzt sehe ich sogar eine Fernsehkamera. Abrupt bleibe ich stehen, die Luft um mich herum kommt mir noch stickiger vor. Was hast du denn erwartet, Lissie? Er war so etwas wie ein Promi, der Mann der Keilmann-Erbin, sein plötzlicher Tod hat seit Tagen in der Klatschpresse für Aufsehen gesorgt. Violetta und Nico tauchen auf, sie sind zusammen mit Brigitte gefahren, offensichtlich haben sie den Südeingang genommen. Ihre Mutter, die blass und ernst aussieht, geht zwischen ihnen, sie drängen sich alle drei dicht aneinander und plötzlich weiß ich, dass ich das nicht kann, ich kann dort nicht hin, ich gehöre nicht zu dieser Familie.

»Geh du schon vor, ja?«, bringe ich gepresst hervor.Bernadette sieht mich zögernd von der Seite an. »Na gut«, erwidert sie schließlich. »Aber lass mich bloß nicht allein!«»Bestimmt nicht.« Ich weiß, dass ich schon wieder lüge, aberich kann es nicht ertragen, diese Trauerfeier durchzuhalten,nicht an der Seite von Bernadette und Nico, von Brigitte undVioletta. Stattdessen werde ich mir einen schattigen Platzsuchen und meinen eigenen Gedenkgottesdienst abhalten.Ich warte, bis Bernadette bei ihrer Familie angelangt ist, undlaufe dann weiter über den Friedhof, immer weiter, bis ichdas Gefühl habe, dass ich genügend Abstand zwischen sieund mich gebracht habe.Eine Bank steht vor einer hohen Kiefer, neben einem Brunnen,aus dem leise Wasser tröpfelt. Es riecht nach feuchter Erdeund ganz leicht nach Rosen. Von hier aus kann ich auf eineriesige Eibe schauen, durch die alle Sonnenstrahlen wie durcheinen Fächer gebündelt werden. Es ist so friedlich, dass ichbeinahe vergessen könnte, an welchem Ort ich hier bin.Aber vergessen, warum ich hier bin, das kann ich nicht.»Hilf mir«, höre ich eine leise Stimme.Ich drehe mich um.Niemand.Da höre ich wieder seine Stimme: »Hilf mir.«Aber das kann nicht sein. Er ist tot.Tot, tot, tot.Drüben in der Aussegnungshalle, einige Hundert Meter vonmir, findet gerade die Trauerfeier für ihn statt.»Hilf mir . . .«, höre ich es jetzt ganz deutlich, so wie das Vogelgezwitscher in den Bäumen. »Hilf mir...«Dasistseine Stimme. Das kann keine Einbildung sein!Ich springe auf und sehe mich nach allen Seiten um. Doch daist niemand, nicht mal ein Vogel.

»Hilf mir«, dröhnt es laut. Und dann ganz nah und ein letztes Mal: »Hilf mir.« Ich halte das nicht aus und renne weg, renne immer weiter und weiter über den Friedhof, bis ich völlig außer Atem stehen bleibe. Hier ist es durch die riesigen Baumkronen fast so dämmrig, als wäre die Sonne längst untergegangen. Gerade als ich wieder etwas langsamer atme, krallt sich eine feuchte Hand von hinten in meine Schulter. Ich schreie durchdringend, doch die Hand bleibt, ich drehe mich ruckartig um und erschrecke noch mehr. Ein kleiner, vom Alter gebeugter Mann grinst mich mit seinen plastikweißen Zähnen an und schüttelt den Kopf. »Ist ja gut, junges Fräulein«, nuschelt er, »aber rennen auf dem Friedhof, das geht nicht.« »Ich habe solche Angst...«Ich atme jetzt wieder stoßweise und bringe die Worte kaum heraus. »Angst?« Der Alte schüttelt den haarlosen Kopf. »Vor der Angst kann man nicht weglaufen, niemals. Man nimmt sie überallhin mit.« Er schlurft mit seiner leeren Gießkanne weiter zum Brunnen, noch immer kopfschüttelnd, während mir bewusst wird, was ich gerade gesagt habe. Ich habe Angst. Seit Tagen bin ich außer mir vor Angst. Und das Schlimmste ist, dass ich selbst daran schuld bin. Ich sehe mich um, ich habe keine Ahnung, wo ich hier bin und wie ich zur Aussegnungshalle zurückkomme. Hilf mir, raunt es in meinem Kopf. Meine Knie beginnen zu zittern. Seine Stimme hat so echt geklungen, genau wie auf meinem Handy. Oder vielleicht werde ich jetzt einfach nur verrückt? Wieder setze ich mich in Bewegung, laufe ziellos los, zwischen den ordentlichen Gräberreihen hindurch, und bleibe erst an einem besonders schönen Engel aus Marmor stehen. »Jäh dem Leben entrissen. Geliebt und nie vergessen.« Mehr steht nicht auf der dazugehörigen Steintafel. Das Grab ist völlig mit Efeu überwuchert, wirkt aber in der Hitze angenehm kühl. Ich schaue zum Himmel, der sich beinahe unnatürlich blau über den Friedhof wölbt. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich als Kind wirklich geglaubt habe, dass Mama dort oben lebt und auf mich aufpasst. »Nie vergessen«, steht auf dem Marmorstein. Ich weiß nicht mal mehr, wie Mama ausgesehen hat. Ich erinnere mich nur an Fotos von ihr. Wie sehr wünschte ich mir, dass sie hier wäre und mir sagen könnte, was ich tun soll. Ich war schon lange nicht mehr an Mamas Grab auf dem Nordfriedhof. Eine fette Amsel fliegt heran und lässt sich auf dem Kopf des Engels nieder, was so hässlich aussieht, dass ich spontan in die Hände klatsche, um sie zu verscheuchen. Die Amsel flattert kurz, bleibt aber sitzen und starrt mich mit roten Augen an. Seine Augen waren meergrün, und als ich sie zum letzten Mal gesehen habe, waren sie kalt wie Glasmurmeln. Wenn sein Leichnam jetzt verbrannt wird, bleibt nichts mehr von ihm übrig, nur die Erinnerung an ihn und... Asche. Keine anderen Spuren. Sein Tod bleibt so für immer und für alle ein Unfall.

Jäh dem Leben entrissen.

»Hilf mir!«, hat er gesagt und das werde ich jetzt tun.Ich muss Licht ins Dunkel bringen, das bin ich ihm schuldig,denn ich habe sein Herz in meinem Herzen getragen.

Erster Teil

1. Kapitel

Manchmal weiß man genau, dass es völlig falsch ist, diesen einen Schritt zu tun, und dann tut man ihn. Trotzdem. Und es scheint, als hätte man nie eine Wahl gehabt. Aber das ist eine dumme Ausrede. Man hat immer die Wahl. Nur wenn ich an den ersten Augenblick denke, als mein Herz schlagartig und ungebeten aus dem Takt geriet, diesen Moment habe ich nicht gewählt, er war einfach da und er war ohne jede Schuld. Und doch war es genau dieser Moment, der schließlich alles zerstört hat. Es passierte an einem Tag, auf den ich mich schon lange sehr gefreut hatte. Es war der Tag, an dem mein Vater seinen neuen Job als Chefkoch auf dem Klubschiff Aida antreten musste und ich deshalb zu meiner Freundin Bernadette zog.

Bernadette und ich stehen vor der über hundert Jahre alten, gelb gestrichenen Villa und starren fassungslos hinter dem kleinen Lastwagen her, mit dem Papas Kollege Luigi meine Kisten zu Bernadettes Wohnung gefahren hat. Eigentlich hatte er Papa versprochen, uns zu helfen, aber als er gesehen hat, dass die Dachwohnung im vierten Stock liegt, zu dem kein Lift führt, hat er sich dramatisch an seine Brust gegriffen und etwas von seinem alten Herz gefaselt. Jetzt stehen wir alleine da mit den zerfledderten Kartons. Sie sehen nicht sehr vertrauenerweckend aus, aber Papa hat sie umsonst vom Großmarkt bekommen, wo auch Luigi arbeitet.

Wenn Papa wüsste, dass sein Freund einfach abgehauen ist, wäre er empört. »Oh Mann, Lissie, das wird hart, dieses Zeug allein nach oben zu schleppen!«, stöhnt Bernadette und deutet leidend hoch zu ihrer Dachwohnung. »Ist ja auch wieder typisch, dass keiner deiner Freunde Zeit hat, wenn’s richtig was zu tun gibt.« »Das schaffen wir schon«, beruhige ich sie. »Außerdem hält uns das fit. Los, fangen wir an.« Ich tue so, als würde ich meine Ärmel hochkrempeln, aber nur pantomimisch, denn wir haben beide ärmellose Shirts an. Trotzdem schwitzen wir, dabei ist es erst neun Uhr morgens und bis jetzt ist noch keine einzige Wolke am Himmel zu sehen. Die Lindenbäume, die rechts und links auf der Straße und auch im Garten stehen, spenden zwar etwas Schatten und verströmen einen intensiven Duft, aber kühler ist es unter ihnen deshalb auch nicht. »Wenigstens Nico hätte seine Basketballarme hiermit trainieren können!« Bernadette flucht leise und macht sich daran, den ersten Karton hochzuhieven. »Sei froh, dass du überhaupt Geschwister hast! Ich wünschte, ich hätte welche.« Ich folge Bernadettes Beispiel und schnappe mir den nächsten, kleineren, aber sehr schweren Karton. Wozu hebt man eigentlich Bücher auf, die man schon gelesen hat? Gerade als wir das kühle Treppenhaus betreten, rennt jemand die Treppen herab an uns vorbei. Es ist Violetta, Bernadettes ältere Schwester. Ich kenne sie nicht wirklich und weiß lediglich, dass sie Schauspielerin werden will, was sie nur zu deutlich heraushängen lässt. Ständig trägt sie schwarze Sachen und zitiert mit Vorliebe aus irgendwelchen Theaterstücken. »Danke für deine Hilfe!«, ruft Bernadette hinter ihr her und setzt den Karton auf der ersten Stufe schon wieder stöhnend ab.

Violetta bleibt an der Tür kurz stehen, schaut zu uns herüber und grinst. »Ohne Schweiß kein Preis«, deklamiert sie dramatisch und fügt kichernd hinzu: »Ein bisschen Sport kann dir nur guttun, Dickerchen!« Sie winkt uns und zieht von dannen. Bernadette tritt wütend gegen den Karton. »Hey, Violetta ist ziemlich blöd, aber diese Kiste ist unschuldig.« Ich knuffe Bernadette liebevoll in die Seite. »Lass sie doch reden.« Bernadette beugt sich seufzend zum Karton, hebt ihn an und schleppt sich die Stufen hoch. »Trotzdem, allesamt Drückeberger, die ganze Mischpoke!«, mault sie. Ich verrate Bernadette lieber nicht, wie erleichtert ich bin, dass ihr Bruder Nico nicht aufgekreuzt ist. Schließlich habe ich mit Nico erst vor vier Monaten Schluss gemacht und bin nicht sicher, ob er mir das wirklich verziehen hat. Bernadette hat zwar behauptet, dass Nico längst mit einer anderen zusammen ist, aber in der Schule sehe ich ihn nur allein herumstehen. Meine Beziehung zu Nico ist merkwürdig gewesen, denn er ist ganz anders als die übrigen Jungen aus meinem Jahrgang. Dabei ist er sogar noch jünger als alle anderen, denn er hat eine Klasse übersprungen. Nico sieht super aus, er hat dunkle Locken und Augen wie schwarze Kirschen und am Anfang konnte ich es kaum glauben, dass er ausgerechnet mich, die eher mittelmäßige Lissie Bernardi, ausgewählt hat. Ich fand es unfassbar romantisch, wenn er sich mit mir an besonderen Orten traf, auf dem Abenteuerspielplatz im Westpark oder im Keller unserer Schule, in dem Sprachlabor aus den 70er-Jahren, das sie jetzt der Verrottung preisgegeben haben. Aber je länger Nico und ich zusammen waren, desto öfterhatte ich das Gefühl, dass er mich gar nicht richtig wahrnahm. Mal war er so wortkarg, dass er sich nicht die Mühe gemacht hat, mir zu antworten, mal redete er so viel, dass ich kaum zu Wort kam. Und immer waren wir allein, nie wollte er etwas mit meinen oder seinen Freunden unternehmen. Als er schließlich richtig besitzergreifend wurde, wusste ich, dass es mit uns nicht klappen würde, und ich habe Schluss gemacht, sehr zur Erleichterung von Papa. Papa war von Anfang an gegen Nico, was mich nicht weiter wunderte, denn Papa ist Italiener und meint, dass seine heilige Tochter Elisa, seine Lissie, seine Principessa, von Jungs allenfalls aus der Ferne angebetet werden sollte. Ich hatte Angst vor der Trennung, weil ich wusste, wie schwer Nico immer alles nimmt, doch ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen, denn er hat zu meinem Herumgestottere nichts gesagt. Kein einziges Wort. Er hat nur genickt und ist gegangen. Von da an war ich Luft für ihn. Trotzdem hatte unsere Freundschaft etwas richtig Gutes, denn so habe ich seine Schwester Bernadette näher kennengelernt. Bernadette ist nur zehn Monate älter als Nico, deswegen sind wir alle drei im gleichen Jahrgang. Sie ist nicht nur äußerlich ganz anders als ihr Bruder, nämlich mollig und blond, sondern auch sonst. In Sprachen und Deutsch ist sie eine Niete, aber von Technik und Mathematik versteht sie jede Menge. Sie ist stiller und dafür immer gleich gut gelaunt und sie kann, wenn sie will, unglaublich charmant sein. Meinen Vater hat sie jedenfalls so elegant um den Finger gewickelt, dass er mir erlaubt hat, für die letzten beiden Schuljahre mit ihr zusammenzuziehen, während er diesen Job auf dem Luxusdampfer macht. »Verdammt, warum musst du eigentlich bei dieser Hitze umziehen?« Bernadette schimpft unentwegt vor sich hin und ich kann es ihr nicht übel nehmen. Die Stufen in dem rosa gekachelten Treppenhaus sind zwar angenehm niedrig, aber dafür leider auch unendlich viele. Eigentlich wollte ich sie zählen, doch bei einhundertsiebenundsiebzig gebe ich auf, weil ich aufpassen muss, dass mir der Karton nicht unter den Fingern wegrutscht. Bernadettes Familie besitzt die Villa an der Theresienwiese schon seit Menschengedenken. Sie ist riesig und Bernadette und Violetta haben jeder eine eigene abgeschlossene Wohnung in dem Haus. Nur Nico wohnt noch bei seinen Eltern, die im zweiten Stock leben. »Oh Mann«, stöhnt Bernadette, als wir endlich oben ankommen. Ich vermute, dass ihre Mutter, die jeden Tag zehn Kilometer joggt, ihre unsportliche Tochter nicht ohne Hintergedanken ganz nach oben verfrachtet hat. »Wie viele Kartons sind es denn noch?« Ich flunkere ein bisschen, um sie nicht völlig fertigzumachen, und murmele etwas von zehn Stück, dabei sind es zwanzig. Papa wollte, dass ich meine T-Shirt-Sammlung mit den coolen Sprüchen zum Wertstoffhof bringe, aber das kam für mich nicht infrage, auch wenn Bernadette ihm recht gibt und die Shirts »so was von total out« findet. Doch im Unterschied zu ihr habe ich keine reichen Eltern und auch keine Lust, mir ständig bei H&M neue Fummel zu kaufen, mit denen dann sowieso jede herumläuft. Da finde ich meine Shirts tausendmal schöner. Heute zum Beispiel trage ich ein braunes mit grüner Blockschrift. »Sinnlos ist ein Leben ohne Sinn für Unsinn«. Okay, das ist vielleicht nicht mein allercoolstes, aber für den Umzug reicht es. »Noch zehn! Das muss ich erst verdauen!« Bernadette lässt sich auf den Karton plumpsen, den sie gerade in mein neuesZimmer gebracht hat. Ich stelle meinen daneben und setze mich dazu. Dieses Zimmer ist bestimmt doppelt so groß wie mein altes und viel heller, denn eine ganze Wand besteht aus Glastüren, sodass man weit über die Theresienwiese und bei Föhn sogar die Alpen sehen kann. Und das Ganze wird noch von einer riesigen Dachterrasse getoppt. Durch die offen stehenden Türen kitzelt der Duft von Rosen und Jasmin, die in riesigen Kästen an der Brüstung wachsen, angenehm in meiner Nase und ich frage mich wieder einmal, ob es wirklich wahr sein kann, dass ich für so eine winzige Miete hier wohnen darf. Würden Bernadettes Eltern es irgendwann bereuen, dieses herrliche Zimmer für so lächerlich wenig Geld vermietet zu haben? Und den schönen alten Garten mit der Baumschaukel darf ich auch benutzen und den Keller und, und, und. Ich schüttele die Gedanken ab. Hör auf mit diesem Quatsch, ermahne ich mich. Du weißt doch genau, Bernadettes Mutter gefällt es, dass Bernadette Gesellschaft hat und wir zusammen dieselbe Schule besuchen. Außerdem sind Bernadettes Eltern nicht gerade arm und ich sollte aufhören, mir deshalb Gedanken zu machen, sonst bekomme ich am Ende noch Komplexe. Und das wäre unnötig, denn Bernadette hat mir schon oft erzählt, wie peinlich es ihr ist, dass ihre Mutter so viele Millionen geerbt hat. Ich weiß, dass Bernadette sich ständig fragt, ob sich manche Mädels nur aus diesem Grund mit ihr anfreunden. »Weiter geht´s.« Ich rappele mich auf, doch Bernadette macht keine Anstalten aufzustehen. »Jetzt schon?«, fragt sie matt. »Was hältst du davon, wenn du uns etwas zu trinken machst?«, schlage ich vor. »Ich schaff das Zeug schon alleine hoch.« Bernadette reißt die Augen auf. »Wirklich?« Sie sieht michmit einer so komischen Mischung aus Erleichterung und schlechtem Gewissen an, dass ich kichern muss. Ich winke ihr zu und gehe in den Flur, vorbei an Bernadettes Zimmer, das noch größer ist als meins und komplett vollgestopft mit einer merkwürdigen Mischung aus Designermöbeln, Computern, Kabeln und Stofftieren. Mittendrin auf einem kubischen Sessel hockt eine monströse Scheußlichkeit: eine menschengroße, dicke Plüsch-Diddlmaus in einem rosa Kleid, ein Geschenk ihrer Geschwister zu Bernadettes fünfzehntem Geburtstag. Innerlich grinsend renne ich die Treppen runter. Auf dem Weg nach unten passiere ich als Erstes Violettas Wohnung, dann flitze ich im zweiten Stock an der Wohnung von Bernadettes Eltern vorbei und schließlich im ersten Stock am Architekturbüro von Bernadettes Vater. Im Erdgeschoss wohnt das Hausmeisterehepaar aus Bosnien, doch ich habe sie noch nicht kennengelernt, sie sind für einen Monat zu ihrer Familie gefahren, das machen sie jeden Sommer. Als ich aus dem kühlen Altbauflur nach draußen trete, fange ich sofort an zu schwitzen. Für Ende Mai ist es einfach zu heiß. Ich nehme eine der Kisten, packe noch eine kleinere darauf und mache mich wieder auf den Weg nach oben. Das mit den zwei Kisten war keine gute Idee, sie rutschen ständig hin und her und ich habe keine Hand frei, um sie zu fixieren, weshalb ich mit dem Kinn versuche, die obere festzuklemmen. Vielleicht sollte ich doch lieber alles absetzen und einzeln tragen? In diesem Moment stoße ich gegen etwas, stolpere eine Stufe zurück und kann mich gerade noch am altmodischen Eisengeländer festhalten, aber die Kisten fallen mir aus der Hand,eine sogar übers Geländer bis nach unten ins Erdgeschoss, wo sie mit einem Krachen aufkommt und sich der Inhalt über den Fliesenboden verteilt. Ein kurzer Blick von oben genügt und ich sehe, dass es meine Unterwäsche ist. Na, klasse! Ausgerechnet! »Entschuldigung!«, murmelt da eine Stimme neben mir und jetzt erst wird mir klar, wogegen ich geprallt bin. Es ist ein Mann und er lächelt mich aus den grünsten Augen an, die ich je gesehen habe. Er lächelt so offen, so freudig überrascht, so als wäre ich eine Rose auf einem Müllhaufen. Weil er so breite Schultern hat, sieht er ein bisschen albern in seinem hellgrauen Anzug aus, in etwa wie ein Turmspringer bei der Wahl zum Sportler des Jahres. Das alles registriere ich, während ich versuche, einen halbwegs intelligenten Satz herauszubringen. Er räuspert sich und deutet auf mein Shirt. »Das verstehe ich nicht!«, sagt er und lächelt schon wieder dieses Lächeln, dabei entdecke ich jetzt eine kleine Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen, weshalb er mir plötzlich vorkommt wie ein Knirps, der sich gerade eben einen Streich ausgedacht hat. »Ist doch ganz einfach«, erkläre ich. »Leben ohne Unsinn macht keinen Sinn.« »Für Unsinn kann ich mich immer begeistern«, murmelt er und rennt plötzlich die Treppe nach unten, wo meine Unterwäsche immer noch herumliegt. Ich renne hinter ihm her, versuche ihn zu überholen, denn ich möchte unbedingt vermeiden, dass er sich meine Wäsche genauer betrachtet. Aber er ist schneller. Fieberhaft überlege ich, wer dieser Mann ist. Ein Freund von Violetta? Auch ein Schauspieler? Oder nur jemand, der sich von Bernadettes Stiefvater ein Holzhaus bauen lässt?

Bernadettes Eltern sind nämlich Ökofreaks. Aber dieser Typsieht so gar nicht nach Holzhaus aus.Als wir unten ankommen und ich das Durcheinander vonBHs und Höschen sehe, würde ich am liebsten weglaufen.Das ist mal wieder typisch für mich. Peinlich ohne Ende!Ich merke, wie heiß meine Wangen werden, während ichversuche, so schnell wie möglich die Wäsche in den Kartonzurückzustopfen.Der Mann kniet sich neben mich und hilft mir. Oh Gott, daswird ja immer schrecklicher! Was der jetzt wohl denkt!»Mir ist mal etwas Ähnliches passiert«, erzählt er so lässig,als wären wir Erntehelfer, die Kartoffeln aufklauben.Ich schüttele ungläubig den Kopf, sagen kann ich nichts,weil nur ein Piepsen herauskäme.»Bei mir war es viel schlimmer. Mir ist ein Sack mit schmutziger Wäsche geplatzt. In der Straßenbahn auf dem Weg zumWaschsalon.«»Nein!« Mehr fällt mir nicht ein.»Doch! Du kannst mir glauben, das hat damals anders ausgesehen. Und vor allem anders gerochen«, fügt er hinzu. »Hierduftet alles ganz wunderbar.«Mir wird noch viel heißer. Okay, das ist definitiv das Peinlichste, das ich je erlebt habe.Als ich ihn mit einem verstohlenen Seitenblick mustere, seheich, dass er mich freundlich anlächelt, gar nicht ironisch.Trotzdem bringe ich immer noch kein Wort heraus.»Willst du nicht wissen, wie meine Geschichte weiterging inder Straßenbahn?«»Doch, schon!« Immerhin. Glückwunsch, Lissie: Das warenzwei ganze Worte!Er steht auf, nimmt den Karton, als wäre er nur mit Luft gefüllt, und stellt ihn auf den Treppenabsatz. Dann richtet ersich auf und schaut mir voll ins Gesicht. »Es war mir so furchtbar peinlich, dass ich weggerannt bin.« »Ohne die Wäsche?« Er nickt und grinst wieder so, dass man die Zahnlücke sehen kann. »Damals war ich eben noch ein ziemlicher Idiot.« Es liegt mir auf der Zunge, ihn zu fragen, ob er heute denn keiner mehr ist, aber ich traue mich nicht. Er dreht sich zu mir um und sagt, gerade so, als hätte er meine Gedanken gelesen: »Na ja, manche finden, dass sich nicht viel geändert hat!« Er lacht, hängt sein Jackett über das Geländer, geht nach draußen und lädt sich ganz selbstverständlich drei Kartons auf. Ohne sich weiter um mich zu kümmern, rennt er geradezu nach oben, verströmt Energie, als wollte er heute noch die Zugspitze raufklettern, dabei ist er bestimmt schon Ende zwanzig. Ich greife mir die Wäschekiste vom Treppenabsatz und laufe hinter ihm her. Als ich oben ankomme, ist er verschwunden. Auch in der Küche ist er nicht. Bernadette wartet dort auf mich, sie hält mir schon einen Eistee entgegen. »Wo warst du so lange?«, fragt sie und gleichzeitig platze ich raus: »Das glaubst du nicht, was mir gerade passiert ist!« Wir lachen beide, dann schaffe ich es gerade noch zu sagen: »Wir haben Hilfe bekommen!«, als auch schon der Mann aus meinem Zimmer auftaucht. Bernadette schaut über meine Schultern, nickt flüchtig. »Ja, ich hab’s gemerkt«, sagt sie kühl. »Ihr kennt euch?«, frage ich und komme mir ziemlich blöd vor. »Klar, das ist doch Kai, mein Stiefvater!«, erwidert Bernadette, so, als ob ich das wissen müsste. Das soll Brigittes Mann sein, der holzhausbauende Ökofreak? Unfassbar! Den habe ich mir ganz anders vorgestellt.Viel älter, dicker, mit Vollbart und Brille, auf keinen Fall sodynamisch und witzig.Weder Nico noch Bernadette haben mir viel über ihren Stiefvater erzählt und jetzt kommt mir das merkwürdig vor.Ich drehe mich zu Kai um, der mir zuzwinkert und entschuldigend mit dem Kopf wackelt. »Tut mir leid, dass ich nichtgleich geschaltet und mich vorgestellt habe. Bitte sag Kai zumir, ja? Sonst komme ich mir so alt vor.«Bernadette äfft ihn stumm nach, als hätte sie das schon oftgehört.»Dubistalt!«, sagt sie dann.Kai übergeht Bernadettes Bemerkung mit einem Schulterzucken. »Wie viele Kisten sind es denn noch?«, fragt er.»Achtzehn«, murmele ich, damit Bernadette nicht hört, wasich sage.»Na, dann wollen wir mal.« Er reibt sich die Hände. »Ich mussnur eben kurz telefonieren.«»Ich dachte, du hättest so einen wichtigen Termin heute?«Bernadettes Stimme klingt schrill. »Sag mal, wenn Lissiehässlich wäre, würdest du den Termin dann auch verschieben?«Kai schüttelt nur milde den Kopf, während er eine Nummerauf seinem Handy sucht.»Ist doch nett, dass er uns hilft, oder?«, flüstere ich ihr zu.Bernadette tippt sich an die Stirn. »Der tut nichts ohne Hintergedanken!«Ich bin etwas verblüfft. Was ist denn das für eine merkwürdige Beziehung zwischen ihr und ihm?»Ich gehe dann mal und hole die nächsten Kisten«, sage ichund renne die Treppen runter.Kai hat mich schnell wieder eingeholt. »Bernadette ist schonin Ordnung«, sagt er. »Sie ist nur leicht eifersüchtig und meint es nicht so.« »Klar ist sie in Ordnung, schließlich ist sie meine Freundin«, antworte ich. Irgendwie fühle ich mich ein bisschen auf den Arm genommen. Bernadette und Nico hätten mir wirklich mehr von ihrem Stiefvater erzählen können. Während wir die Kartons nach oben schleppen, fragt Kai mich nach meinem Vater aus und verrät mir, dass er verstehen kann, was Papa an diesem Job gereizt hat. Er erzählt, dass er früher auch davon geträumt hat, mit dem Schiff um die ganze Welt zu schippern. Als ich ihn frage, was ihn denn daran gehindert hätte, lächelt er wieder zwischen seiner Zahnlücke durch und erzählt mir, wo er überall gewesen ist: China, Japan, Madagaskar, Grönland, Mongolei. Schließlich unterbricht er sich kopfschüttelnd, entschuldigt sich für das viele Quatschen und fragt mich weiter aus. Will wissen, ob mir meine Mutter oft fehlt oder was mir in der Schule Spaß macht. Meine Antworten scheinen ihn wirklich zu interessieren. Er lässt sich nicht mit Standardantworten abspeisen, sondern hakt nach. Ich erwische mich dabei, wie ich ihm erzähle, dass ich früher Eisprinzessin werden wollte, aber den Doppelaxel einfach nie geschafft habe, dass ich seit zehn Jahren Tagebuch schreibe, obwohl es mir mittlerweile albern vorkommt. Und dann gebe ich auch noch das notorisch unzufriedene Gesicht unserer Französischlehrerin Frau Biesler zum Besten, die immer dann am komischsten ist, wenn sie mit herabhängendem Trauermund und steinerner Stimme verkündet: »La vie est très belle.« Über meine Darbietung muss er so lachen, dass er beinahe den Karton fallen lässt. Aber als wir wieder hinuntergehen, macht er einen schweren Fehler. Er fragt mich allen Ernstes, ob ich auch Popstar bei DSDS werden will, wie so viele Mädchen.

Ich zeige ihm empört einen Vogel und drehe mich weg von ihm, woraufhin er »hey, hey« in so einem »Ich krieg dich«Ton sagt, dass ich polternd die Treppen hinabstürme. Er folgt mir auf dem Fuß und singt erfundene Liedzeilen. So etwas wie »Silly Lissie kisses Willy« und anderen Blödsinn, bis ich so sehr lachen muss, dass ich nur noch stehen bleiben kann. Auf dem Treppenabsatz holt er mich ein und baut sich vor mir auf. Er hebt seine Hand, eine starke, relativ kleine Hand für so einen großen Mann, und nähert sie meinen Haaren. Dabei sieht er mich forschend an. Jetzt lacht er nicht mehr, sondern betrachtet konzentriert mein Gesicht, als stünde dort etwas Wunderbares geschrieben, das er lesen könnte, wenn er sich nur genug anstrengen würde. Ich spüre, dass mein Herz plötzlich viel schneller klopft, und das liegt nicht an der Rennerei. Seine Fingerkuppen streichen über mein Haar, stecken eine Strähne hinter mein Ohr. Ich muss schlucken, aber da ist gar kein Speichel. Er legt seine Hand unter mein Kinn und zieht es zu sich nach oben. Mir ist zittrig zumute, ich möchte mich setzen oder wegrennen oder kichern. Gleichzeitig scheinen alle zwanzig Kartons auf meine Brust zu drücken, denn ich kann kaum noch atmen, dabei atme ich doch so schnell. Seine grünen Augen verdunkeln sich, als würden Wolken über das Meer ziehen, Schattenwolken. Und die sind das Letzte, was ich sehe, bevor ich meine Augen schließe und nur noch fühle: die überraschend kühlen Lippen auf meinen, seine Hände, die nur leicht auf meinen Schultern liegen. Und unter meinen Händen, die ich gegen seine Brust gestützt habe, pulsiert sein Herz. »Hey, nicht«, presse ich hervor, und während ich das sage, weiß ich, dass ich es eigentlich nicht so meine, es ist wie einStrudel, in dem das, was mein Kopf will, nicht mehr zählt, nur noch das, was ich fühle. Etwas unfassbar Aufregendes. »Das...das ist nicht richtig.« Ich taumele zurück, aber er folgt mir ganz selbstverständlich. »Es ist sogar völlig unmöglich«, sagt er und dann küsst er mich noch einmal. Ganz und gar unmöglich, denke ich noch, dann überschwemmt mich etwas, von dem ich bisher nichts wusste, so ein absolutes Verlangen nach mehr, nach ihm. Selbst wenn mein Leben auf dem Spiel gestanden hätte, ich hätte nicht aufhören können. Nicht in diesem Moment.

2.Blog

Lange die Illusion gehabt, ein Kuss könnte mich erlösen. Was für ein lächerlicher Irrtum! Das Aufeinanderpressen von Lippen ändert nichts. Die anderen bleiben fern, so fern, als säße ich in einer Kugel aus Glas. Nein falsch, die anderen sind die in der Glaskugel. Ich dagegen stehe außen. Oder ist auch das nur ein Irrtum und hinter der Glasscheibe wartet wieder nur das Nichts? So wie bei den Babuschka-Puppen, in deren Hohlraum immer nur wieder der nächste bemalte Hohlraum steckt? Und ist der Tod auch nur das? Ein Hohlraum in einem Hohlraum in einem Hohlraum? Fragt Z

3. Kapitel

Unfassbar, dass man so ruhig dasitzen kann, während der gesamte Körper in Aufruhr ist. Mein Bauch fühlt sich hohl an, mein Herz klopft viel schneller als sonst und meine Füße vibrieren auf dem heißen Asphalt, als müssten sie gleich um ihr Leben rennen. Und die Bedienung, die mich schon seit fünf Minuten ignoriert, wird sich allerhöchstens darüber wundern, dass ich die Karte so intensiv studiere, als stünde dort mein Todesurteil. Dabei ist es nur die riesige Eiskarte vom Dolomiti in der Tulbeckstraße, mit prächtigen Fotos aller Eisbecher. Ich starre auf die bunten Bilder und sehe nichts, ich blättere um und sehe wieder nichts. Selbst wenn ich mich zwinge, tief durchzuatmen und zu konzentrieren, nutzt es nichts. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass ich hier bin. Ich hätte mich niemals, niemals, niemals auf dieses Treffen einlassen dürfen, das ist es, was die kleine Stimme in meinem Kopf unablässig flüstert. Ich kenne sie gut, diese Stimme, ich habe in den letzten Tagen unablässig mit ihr gekämpft. Er aber auch. Und zum Schluss war er es, der gesiegt hat. Dabei sah es am Anfang überhaupt nicht danach aus. Die Tage nach dem Umzug habe ich ihn nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen und ich hätte vor Erleichterung jubeln mögen, als Bernadette mir nichts ahnend erzählte, dass ihr Stiefvater auf Geschäftsreise sei. Denn ich war noch immer völlig verstört darüber, was da auf der Treppe passiert war. Ich hatte ihn tatsächlich geküsst, und auch wenn er damit angefangen hatte, so hatte ich es doch genossen, so viel stand fest.

Wie konnte ich so mir nichts, dir nichts mit dem Stiefvater meiner besten Freundin rummachen? Mit dem Mann ihrer Mutter, den ich zu allem Überfluss überhaupt nicht kannte? Was zum Teufel hatte ich mir dabei gedacht? Was hatteer