Nixenrache - Beatrix Gurian - E-Book

Nixenrache E-Book

Beatrix Gurian

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Beschreibung

Abifahrt auf einem Segelboot vor der kroatischen Küste inklusive Tauchkurs — Holly ist begeistert! Wie ein Schatten liegt jedoch der Tod ihres Klassenkameraden Nick über der Reise, der vor einigen Monaten bei einem Unfall ums Leben kam. Vor allem Hollys beste Freundin Nina leidet sehr darunter, da sie Nick geliebt hat. Als die Freunde bei einem Tauchgang ein versunkenes Schiff erkunden, fällt plötzlich die Luke hinter Holly zu. Und von da an häufen sich die gefährlichen Ereignisse. Versucht jemand Holly umzubringen?

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Beatrix Gurian

Nixenrache

Weitere Bücher von Beatrix Gurian im Arena Verlag:Stigmata Der süße Kuss der Lüge Dann fressen sie die Raben Lügenherz Liebesfluch Höllenflirt Prinzentod

 

 

 

 

 

 

 

Beatrix Gurianstudierte Theater- und Literaturwissenschaften und arbeitete dann als Redakteurin beim Fernsehen. Heute ist Beatrix Gurian freie Autorin und schreibt Romane für Jugendliche und Erwachsene. Außerdem unterrichtet sie an der Münchner Schreibakademie kreatives Schreiben für alle Altersstufen.

Mehr Infos unterwww.beatrix-mannel.de

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage 2015 © 2015 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: Frauke Schneider ISBN 978-3-401-80235-0

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

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15

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17

18

19

20

21

22

Zwei Wochen später

»Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen …«

Die Zauberflöte, zweite Arie der Königin der Nacht

Prolog

Falls ihr gedacht habt, es gäbe im Leben immer eine zweite Chance, muss ich euch enttäuschen. Man hat nur eine einzige. Also nutzt sie. Ich würde viel darum geben, all denen, die meinem Sarg hier gerade die letzte Ehre vor der Einäscherung erweisen, noch etwas sagen zu können. Aber dafür ist es zu spät und deshalb muss ich damit jetzt wohl leben.

Kleiner Scherz.

Sehr unpassend.

Andererseits, was bleibt mir sonst noch, schließlich kann ich zwar alle sehen, doch mit niemandem mehr sprechen. Das war das einzige Zugeständnis, das meine Seele noch aushandeln konnte.

Meinen Eltern, die angesichts meines plötzlichen Todes zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder Hand in Hand gehen, würde ich sagen, dass sie alles richtig gemacht haben. Dass ich sie liebe und dass ich es bereue, Pa so oft wegen nichts angebrüllt zu haben. Mam würde ich sagen, dass es nicht wegen der Scheidung passiert ist, dass sie keine Schuld trifft und ich weiß, dass sie mich immer geliebt hat, auch wenn sie uns verlassen hat.

Überhaupt muss ich beschämt feststellen, dass ich sehr geliebt worden bin, nicht nur von meinen Eltern, sondern auch von all den Mädchen, die nun nach meiner Familie ihre Blumen vor den Sarg legen. Sogar von einigen meiner Kumpels werde ich offensichtlich mehr als nur vermisst und ich schätze mal nicht nur weil ihnen mit mir der abenteuerlustigste Tauchbuddie abhandengekommen ist. Allerdings hat von denen keiner Blumen dabei, so wie die Mädels.

Die Erste, die gleich nach meiner Mum ihre rote Rose vor den Sarg legen wird, war die Einzige, die ein Jahr lang meine Freundin war. Mit keiner anderen habe ich es so lange ausgehalten, bei vielen reichte mir schon eine Nacht. Meine Rose war nicht nur meine feste Beziehung, sondern auch das Bollwerk gegen die anderen, die Rose war meine Ausrede für den Rückzug. Schließlich wollte ich nie ihre Gefühle verletzen. Ich war einfach jedes Mal so neugierig darauf, wie sie sich anfühlen, wie sie riechen und was sie sagen würden. Ich war eben in jeder Hinsicht ein Entdecker – Frauen, Wracks, Schätze –, und nachdem es mich so dermaßen früh erwischt hat, tut es mir erst recht kein bisschen leid. Meiner roten Rose würde ich gern sagen, sie soll nicht alles so ernst nehmen, soll auf keinen Fall Jahre damit verbringen, um mich zu trauern. So ein großartiger Kerl war ich dann doch nicht, auch wenn sie zum Glück nicht alles weiß. Ihre Augen sind geschwollen vom vielen Weinen und ihr Gesicht ist wie versteinert, ihre Beine jedoch zittern. Nicht aus Schwäche, sondern vor Zorn und Aufregung. Sie hadert mit dem, was sie für Schicksal hält. Empörung summt in ihrem Blut wie wütende Bienenvölker, die sich zum Kampf gegen feindliche Hornissen rüsten. Und ich spüre noch etwas, ich habe keine Ahnung, was, doch angesichts dieser Energiewellen fürchte ich, sie plant etwas Ungesetzliches, etwas Außergewöhnliches.

»Calm down« möchte ich ihr zuflüstern, sie in den Arm nehmen und ihre Haare streicheln und entgegen meinen Anweisungen tue ich das auch. Leider kann sie es nicht fühlen. Trotzdem bilde ich mir ein, dass sie für einen Moment beinahe wie getröstet aussieht. Eigentlich müsste ich ein von Herzen kommendes, ihr zu Herzen gehendes »Entschuldige bitte« zu ihr sagen, doch nicht einmal jetzt, da ich tot bin, bringe ich das heraus, denn ich bereue nichts von dem, was ich getan habe, dafür habe ich zu gern gelebt.

Ach, was soll’s, dann flüstere ich ihr eben ein halb aufrichtiges »Verzeih mir« ins Ohr, sie kann mich ja doch nicht hören und ich fühle mich besser.

Sie schaut sich verwundert um. Etwas scheint durch ihre Mauer aus Zorn zu dringen, für einen kaum wahrnehmbaren Moment werden ihre Augen so weich wie früher nach meinen Küssen. Doch gleich danach presst sie ihre Lippen nur noch fester aufeinander und ich fürchte, sie versinkt in ihrer hilflosen Wut wie in schwarzem Moor. Sie will da raus, aber je mehr sie strampelt, desto unerbittlicher wird sie verschluckt. Ich glaube, sie braucht Hilfe, noch sehr viel mehr als meine Eltern, denn die sind wenigstens nicht allein mit ihrer Trauer und sie hatten mehr Zeit zusammen mit mir.

Hinter ihr taucht Miss Sexy auf. Endlich wirken ihre schwarz umrandeten Augen mal ganz passend und ich hoffe sehr, dass sie die von mir verursachten Probleme bald in den Griff bekommt. Wenn man sie so ansieht, kommt man gar nicht auf die Idee, dass sie Probleme haben könnte, denn sogar hier und jetzt ist ihr Rock so kurz, dass alle Männer, selbst mein alter, trauernder Vater, einen Blick auf ihre Beine geworfen haben. Na ja, sie sind eben noch nicht tot. Aber das macht es mir irgendwie schwer, mich auch bei ihr zu entschuldigen, obwohl ich das unbedingt tun sollte. Sie tritt vor, eine dekorative Träne rollt ihre Wange herab – wie ich aus unserer schicksalhaften Begegnung weiß, trägt sie immer wasserfestes Make-up –, und legt mit dramatischer Geste eine weiße Calla vor meinen Sarg, dabei schubst sie unbeabsichtigt die rote Rose zur Seite. Obwohl ich tot bin, muss ich lachen, denn sie ist vielleicht die Einzige, die weiß, dass ich Callas gehasst habe. Wie elegant Frauen darin sein können, ihre Verachtung zu zeigen! Ich musste dank meiner Mutter ein Praktikum in einem schrecklich noblen Blumenladen machen, wo Miss Sexy mich öfter mal besucht hat. In Wahrheit hat mich aber immer nur eines interessiert: das Meer. Ich wollte Taucher werden, Wracktaucher oder Diamanttaucher vor der Skelettküste von Namibia. Aber davon wollten meine Eltern nichts wissen, weil es so verdammt gefährlich wäre. Sie hätten Landschaftsarchitektur gut gefunden. Eigentlich zum Lachen, oder?

Miss Sexy gibt den Weg frei für die Schöne mit den Sonnenblumen.

Oh, sie leidet und sie ist wütend! Ihre Schultern sind nach vorne gesenkt, aber ihre Füße treten auf, als wollten sie etwas unter sich zermahlen. Nicht, möchte ich sagen, nicht! Sie hat mir noch immer nicht verziehen, und das ist schlecht. Das alles sollte sie endlich vergessen! Ich flüstere auch ihr »Es tut mir so leid« ins Ohr. Sie stutzt, zuckt zusammen, als hätte sie einen Stromschlag erlitten, und dreht sich um, aber hinter ihr stehen nur noch meine Buddies und der alte Mann mit dem kleinen, dicken Mädchen, das an allem schuld ist. Aber kann man das überhaupt so sagen?

Schließlich war es eine ganze Reihe von Ereignissen, die mich um diese Uhrzeit an diesem Tag auf diese Straße geführt hat. Vielleicht war es ja doch nicht ihre Schuld, sondern ganz allein meine, dass ich jetzt tot bin. Kein Zufall, sondern Schicksal.

Trotzdem wünschte ich, das Kind wäre hübscher und würde nicht so verdrießlich dreinschauen. Ich fürchte, aus ihr wird eine Frau, die nie ohne Regenschirm das Haus verlässt, die sich das Beste auf dem Teller immer für den Schluss aufhebt und davon ausgeht, dass man niemandem vertrauen kann. Wie viel Freude wird so jemand in das Leben von anderen Menschen bringen? Aber es ist, wie es ist. Mein Leben für ihres.

Die Schöne hat sich längst wieder umgedreht, sie legt die Sonnenblumen vor den Sarg und ich glaube, sie murmelt etwas Hässliches, es hört sich an wie »Fahr zur Hölle!«. Das finde ich allerdings etwas übertrieben. Die Wütende kommt zurück und legt den Arm um ihre Taille und Miss Sexy gesellt sich zu ihnen, nicht ohne sich noch zwei dekorative Tränen abzuringen. Das gefällt mir, ja, Mädels, tröstet euch gegenseitig!

Nachdem die drei weitergegangen sind, treten meine Buddies an den Sarg und sehen angemessen ernst aus. Aber ich spüre, dass sie nicht ganz ehrlich sind, einer ist wütend, einer ist tieftraurig und einer schämt sich, und ich wüsste nur zu gern, warum. Schade, dass ich ihnen jetzt nie mehr das Wrack zeigen kann, dass ich letzten Sommer entdeckt habe. Überhaupt schade, dass ich nicht da draußen gestorben bin, sondern bei diesem lächerlichen Unfall. Die drei gehen weiter und machen Platz für das kleine Mädchen mit dem weißen Margeritenstrauß. Es schaut den alten Mann fragend an, und als er ihr zunickt, drapiert sie die Blumen vor meinen Sarg.

Und nun wird es auch für mich Zeit zu gehen.

Wohin auch immer.

1

Ich wünschte, wir wären nie

zusammen ins Kino gegangen.

Ja, das war ’ne blöde Idee,

aber ihre!

Du drehst dir schon alles

immer so, wie’s dir passt, oder?

Breaking Bad

ist mein zweiter Vorname ;-)

Das türkisblaue Gurgeln in Hollys Ohren wurde zu einem schaumigen Gluggern und mit jedem Meter, den sie tiefer hinabsank, hörte sie, wie ihr Atem lauter und ihr Puls schneller wurde und die vertraute Panik aufstieg: Was, wenn sie die Orientierung verlöre, die Flasche leer wäre oder der Tauchcomputer kaputt? Doch nach ein paar Minuten gewöhnte sie sich an die Mundatmung und das laute Blubbern und fing an, ihre schwerelosen Bewegungen zielstrebig durch das Wasser zu steuern.

Während sie sich auf der Suche nach Ju weiter nach unten sinken ließ, fragte Holly sich zum wiederholten Male, warum zum Teufel sie immer noch so viel Angst hatte. Das fing schon beim Zusammenbauen der Tauchausrüstung an, wurde stärker beim Anlegen des schwarzen Neoprenanzugs und erreichte seinen Höhepunkt, wenn sie das Mundstück des Schlauchs zwischen die Lippen nahm. Erst wenn sie im Wasser war, sich austariert und ihr Gleichgewicht gefunden hatte und stetig weiter nach unten sank, beruhigte sich ihr Körper wieder.

Von alleine wäre sie nie auf die Idee gekommen, einen Tauchschein zu machen, aber Sam hatte sie dazu überredet. Was nicht sonderlich schwierig gewesen war, denn für Sam wäre Holly sogar einbeinig auf einem Seil über die Niagarafälle balanciert, wäre nackt auf fahrende S-Bahnen geklettert und hätte sich als Kanonenkugel zum Mond schießen lassen. So war Holly, wenn sie jemanden liebte.

Dicke Luftblasen vor ihr erinnerten sie daran, dass sie nicht alleine hier unten war, sie hatten eine Mission zu erfüllen! Suchend sah sie sich nach Ju und Sam um, entdeckte aber nur einen silbrigen Fischschwarm, der gerade durch einen Wald von Braunalgen schwamm, die vom Meer sanft hin und her geströmt wurden. Während sie sich noch tiefer Richtung Meeresboden absinken ließ, schwebte ein einsames Seepferdchen an ihr vorbei. Einsam wie sie selbst. Seit Sam sie verlassen hatte. Einfach so, ohne Vorwarnung.

Sie verkniff sich ein Seufzen wegen des Atemgeräts, verlagerte ihr kaum noch spürbares Gewicht langsam in die Horizontale und fragte sich, wo Ju und Sam nur steckten. Jetzt vermisste sie Nick, der sie beim Tauchen niemals allein gelassen hätte. Obwohl er so ein Abenteurer gewesen war.

Soweit sie sehen konnte, waren da nur mit Muscheln, Algen, Nacktschnecken und mit Seeanemonen bewachsene Felsen und vereinzelte Fische.

Sie paddelte zu dem steilen Felshang der Insel, neben der die Segeljacht ankerte. Nina hatte ihnen beim Abendessen verkündet, hier irgendwo müsse das Wrack sein, das Nick letzten Sommer als Erster entdeckt hatte und von dem er so fasziniert gewesen war. Ju war vor lauter Aufregung rot geworden und hatte sofort eine Tauchgruppe zusammengestellt, um gleich nach dem Essen runterzugehen.

Bis zu diesem Moment hatte Holly den ganzen Plan für total absurd gehalten. Vor der kroatischen Küste lagen zwar mehr als zweitausend Wracks, weil hier vor hunderttausend Jahren eine wichtige Handelsstraße der Griechen und Römer verlaufen war, aber Holly hatte nicht daran geglaubt, dass sie Nicks Wrack wirklich finden würden.

Holly legte an Tempo zu und entdeckte hinter einem dicken Felsbrocken einen Abgrund, in dem gerade etwas Grellbuntes verschwand. Das mussten die Flossen von Ju sein, er hatte sie als Einziger kunstvoll mit Hip-Hop-Motiven in Neonfarben bemalt. Sein Markenzeichen.

Als sie den Abgrund erreicht hatte, erkannte sie weit unten im dunkelblauen Nichts wieder nur das Schimmern von Jus Flossen. Wieso warteten die beiden nicht auf sie? Holly durfte zwar bis maximal vierzig Meter tief tauchen, aber sie hatte höllischen Respekt davor.

Bisher hatten die beiden sie beim Tauchen auch nie aus den Augen gelassen und sie mit Handzeichen und dem ständigen Fragen nach ihrem Befinden geradezu genervt.

Holly hatte große Lust, zum Boot zurückzuschwimmen, aber sie war auch neugierig. Was, wenn da unten tatsächlich Nicks Wrack lag? Würden sie dann wirklich tun, was Nina geplant hatte? Vielleicht waren deshalb alle so aufgeregt, hofften wie kleine Jungs auf einen großen Schatz und hatten Holly schlicht und einfach vergessen.

Sie gab sich einen Ruck, tauchte tiefer und tiefer durch das zuerst noch sonnendurchflutete und erstaunlich klare Wasser. Schon nach kurzer Zeit erkannte sie weit unten einen dunklen Umriss. Doch ein Wrack? Während sie sich etwas schneller dorthin bewegte, fragte sie sich, ob Ju beim Programmieren ihres Tauchcomputers auch alles bedacht hatte. Er war zwar ein Technikfreak, aber in letzter Zeit auch ungewöhnlich chaotisch. Als ob er mit dem Kopf ganz woanders wäre. Nur im Wasser lief bei ihm alles glatt. »Jede Wette, in meinem früheren Leben war ich ein Fisch«, verkündete Ju jedes Mal, wenn er mit dem allerletzten Rest Sauerstoff wieder an Bord kam. Sam grinste dann und sagte, zumindest würde er stinken wie ein toter Fisch. So war Sam auch. Witzig.

Holly beschleunigte ihren Flossenschlag und konzentrierte sich darauf, trotzdem weiter regelmäßig zu atmen. Ein Blick auf den Tauchcomputer zeigte ihr, dass sie schon zwanzig Meter tief war. Nun wurde es mit jedem Meter, den sie sich weiter von der Meeresoberfläche entfernte, dunkler und sie schaltete ihre Taucherlampe ein. Kurze Zeit später entpuppte sich der dunkle Fleck wirklich als der Umriss eines alten Schiffes.

Ihr erstes Wrack!

Staunend richtete sie den Strahl ihrer Lampe auf den Rumpf, der kaum noch als Schiffsteil zu erkennen war, weil er über und über mit Muscheln und Meeresschnecken bedeckt war und wie ein natürliches Riff wirkte. Bei der Größe war es kaum zu glauben, dass noch niemand vor ihnen das Wrack gefunden haben sollte. Sie umkreiste den Rumpf auf der Suche nach ihren Buddies, konnte sie aber nicht entdecken und paddelte hoch zum Deck, wo seltsam schwebende Umrisse ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen.

In der Strömung bewegte sich eine diffuse, weiche, teilweise lichtdurchlässige hellbraune Materie hin und her, die ihr Angst machte. Was zum Teufel war das? Ein exotischer Fischschwarm, und wenn ja, ein gefährlicher? Hatten die vielleicht ihre Buddies schon mit Haut und Haaren aufgefressen? Unwillkürlich atmete sie schneller, versuchte es aber, sofort zu unterdrücken. Unsinn, alles Unsinn, kein Fisch der Welt fraß Sauerstoffflaschen! Ruhe bewahren, oberstes Gebot beim Tauchen. Ruhe bewahren, ermahnte sie sich, während sie auf das unheimliche Gebilde zuschwamm.

Es entpuppte sich als die ehemalige Kommandobrücke, an deren hoch aufragenden Stahlstreben unzählige Fischernetze hängen geblieben waren. Die Netze hatten sich ineinander verheddert und wirkten wie ein kunstvoller Bühnenvorhang, konnten aber zu einer tödlichen Bedrohung für jeden Taucher werden, der sich darin verfing.

Das hatte Nick nicht erwähnt. Ob das wirklich »sein« Wrack war? Obwohl sie nun wusste, was sich da vor ihr bewegte, wurde es Holly ständig mulmiger. Vorsichtig paddelte sie um die Netze herum, glitt weiter nach unten, sah in ein Bullauge und hielt Ausschau nach ihren Buddies. Nichts.

Plötzlich schoss etwas auf sie zu, ihr Herzschlag setzte aus, sie wich entsetzt zur Seite und dieses pfeilschnelle Ding glitt nur um Haaresbreite an ihr vorbei. Jetzt erst erkannte sie, was es war: ein Conger, ein Monster von einem Aal.

Ein Riesenaal und kein weißer Hai, kein Grund zur Panik, versuchte sie, sich zu beruhigen. Sie schwamm über das Deck, das an vielen Stellen eingebrochen war und den Blick auf die unteren zerstörten Decks freigab. Nirgends eine Spur von den beiden. Ihre seltsame Beklemmung wuchs.

Holly war am Heck des Wracks angelangt, wo ihr Blick auf eine Luke im Boden fiel, deren Klappe geöffnet war. Und es sah nicht so aus, als ob diese Luke schon jahrelang offen stünde, denn an den Kanten der Klappe waren keine Rostpartikel, Sandkörner oder Muscheln, die sich mit der Zeit abgelagert und dann einen festen Belag gebildet hätten.

Holly zögerte. Ein Blick auf ihren Tauchcomputer verriet ihr, dass es allerhöchste Zeit war, den Rückweg anzutreten, aber wenn das für sie galt, dann erst recht für die Jungs.

Es musste etwas passiert sein. Was, wenn sie irgendwo feststeckten und ihre Hilfe brauchten?

Ich tu’s nur für Nick und für Nina, sagte sie sich, Sam konnte von ihr aus hier unten verrotten.

Sie gab sich einen Ruck und schlüpfte in die Luke, wo sie sofort von schwarzem Wasser begraben wurde. Hastig leuchtete sie den Gang aus, der zum Glück nicht lang war, und dann erkannte sie, wohin er sie geführt hatte. Sie befand sich in der erstaunlich winzigen Kombüse. Gespenstisch wirkende zerbrochene Teller und Tassen lagen auf dem Boden, die Verkrustungen durch Muscheln und Schnecken wirkten, als ob man gerade Essen darauf angerichtet hätte.

Ein dumpfer Laut erschreckte sie und die nachfolgende Erschütterung, die den Sand auf dem Boden der Kombüse aufwirbelte und das Wasser in einen undurchdringlichen Nebel verwandelte, versetzte sie in Panik. Sie war gefangen! Die Lampe fiel ihr aus der Hand und das Atemgerät aus dem Mund. Sie zitterte am ganzen Körper und bemühte sich, ruhiger zu werden, tastete nach dem Mundstück, schob es mit bebenden Händen zwischen ihre Lippen, saugte die Luft ein wie eine Ertrinkende, sie suchte nach ihrer Lampe und schwamm, am ganzen Körper zitternd, zurück. Tatsächlich, jemand hatte den Deckel der Luke geschlossen.

Ganz sicher war das kein Fisch gewesen, das konnte nur ein Mensch getan haben.

Aber warum sollte man sie einsperren? Schnell leuchtete sie mit der Lampe alles ab, dann stemmte sie sich mit ganzer Kraft gegen den Lukendeckel. Nichts, er bewegte sich keinen Millimeter. Es war unmöglich, sie war hier drinnen eingeschlossen. Verdammt, Holly, du musst hier raus! Hektisch kontrollierte sie die Sauerstoffanzeige auf ihrem Tauchcomputer, die Luft reichte noch für eine Viertelstunde. Inklusive der Dekompressionsstopps, die sie beim Auftauchen einlegen musste, wenn sie so tief unten gewesen war.

Nicht verzweifeln. Atmen. Du bist nicht dumm, du kommst hier raus, Holly! Es muss noch einen anderen Ausgang geben, eine Kombüse ist schließlich kein Klo, man musste das Essen an die Mannschaft bringen. Hektisch sah sie sich um und suchte den Raum nach einer Tür ab, nichts.

Oder doch, dort drüben war etwas, blitzte etwas. An der einen Außenwand schimmerte Licht durch. Licht war gut. Licht! Sie schwamm dorthin. Nimm dich zusammen, nicht auch noch irgendwo verheddern, ermahnte sie sich.

Dann wurde ihr klar, dass dieses Licht hier unten unmöglich Sonnenlicht sein konnte, nein, jemand leuchtete mit einer Lampe durch den Spalt. Das war ihre Chance!

Sie klopfte mit ihrer Lampe an die Wand, hämmerte dagegen. Das brachte eine gewaltige Unruhe in die Kombüse, Rostteilchen lösten sich von der Decke, Sandkörner stiegen empor, alles vermischte sich und vernebelte ihr die Sicht. Morsezeichen, sie sollte Morsezeichen klopfen! Aber wie war das noch, dreimal lang, dreimal kurz, dreimal lang war SOS oder war es andersrum?

Gerade als sie mit der Lampe erneut an die Wand schlagen wollte, bohrte sich direkt vor ihr eine Klinge durch die Ritze. Entsetzt wich sie zurück, ihr Blut schoss jetzt heiß und donnernd durch ihren Körper und gleichzeitig fühlte sie sich wie gelähmt.

Nie wieder tauchen! Scheiß auf Wracks, scheiß auf Fische und Korallen, scheiß auf den ganzen Plan!

Nachdem sie sich beruhigt hatte, erkannte sie, dass niemand sie erstechen wollte. Vielmehr hatte jemand mit dem Messer einen handbreiten Spalt in die Wand gebohrt, man wollte ihr helfen!

Sie spähte durch das Loch und sah direkt in Sams Augen, die hinter seiner Taucherbrille noch größer und dunkelblauer wirkten als sonst, und wie immer versetzte ihr dieser Anblick einen Schlag in den Magen und brachte sie vollends durcheinander.

Er machte ihr wie wild Zeichen, aber sie verstand ihn nicht, erinnerte sich an nichts mehr.

Was war das Zeichen für: Du hast mir das Herz gebrochen?

Was war das Zeichen für: Du hast unsere Liebe verraten?

Was war das Zeichen für: Holt mich sofort hier raus?

Ihr Herz hämmerte und sie saugte ihre Luft viel zu flach und zu schnell ein. Warum war die Luke zu? Hatte Sam das getan oder Ju und warum? Sie waren doch alle nur wegen des Plans hier, was sollte das? Die Gedanken wirbelten durch ihren Kopf ähnlich wie die winzigen Luftblasen, die sich um sie herum zu weißlichem Schaum aufstauten.

Plötzlich hörte Sam auf, ihr Zeichen zu geben, und verschwand.

»Nein!«, schrie sie, aber es wurde nur ein Gurgeln und das Atemgerät fiel ihr aus dem Mund. Nicht hysterisch werden, langsam nach dem Mundstück angeln, es wieder einsetzen und kontrolliert atmen.

Das war das Geheimnis.

Kontrolle.

Sie vergewisserte sich, dass alles wieder an seinem Platz war, und vermied es, auf ihren Tauchcomputer zu schauen. Atmen und diesen Spalt weiter aufbrechen, mit einem der zerbrochenen Teller.

Kontrolliert atmen.

Muscheln waren höllisch scharf und man konnte sie sicher so gut wie ein Messer dafür benutzen, ein Loch in diese morsche Holzwand zu schnitzen. Holly beugte sich hinunter, um eine der Porzellanscherben aufzuheben. Mit der rechten Hand griff sie nach dem Tellerstück und war froh um ihre Neoprenhandschuhe. Doch die wie auf den Boden hingeworfene Scherbe war fest mit dem Untergrund verwachsen. Holly zerrte stärker. Atmung im Blick haben, ermahnte sie sich unablässig, während sie eine Ecke der Scherbe umklammerte und mit aller Kraft wieder und wieder daran zog.

Nichts – stattdessen durchtrennte die scharfe Muschelkante ihren Handschuh und drang tief in ihre Haut ein. Blut vermischte sich mit dem Wasser, sie starrte ihre Hand an und wunderte sich, dass sie keinen Schmerz fühlte. Ihr Atem ging stoßweise.

In diesem Moment hört sie wieder ein Geräusch und Sekunden später war Sam bei ihr und zog sie aus der Kombüse durch die Luke nach draußen, wo Ju den Deckel aufhielt.

Das Letzte, was Holly dachte, war: Sam, ausgerechnet.

 

Lions Whistle, 13. Juni 2015

Was ist Schicksal? Fragt euch der Whistleblower vom Lion-Feuchtwanger-Gym und: Jaaa, ich kann euer fett schmatzendes Grinsen bis hierher hören. Ihr denkt, was für ein armes Würstchen, was für ein Honk!

Hey, ihr müsst das nicht lesen!

Ihr seid ja immer noch da, ihr hofft also, dass ich interessante Infos für euch habe …

Dann nutze ich eure Aufmerksamkeit.

Was ist Schicksal? Diese Frage stellt man sich meistens erst dann, wenn man gerade einen schweren Schlag abbekommen hat, aber das ist dumm, denn wenn ihr mich fragt, ist alles Schicksal. Alles, was wir tun, jeder Furz, den wir ins All pesten, hat eine Konsequenz und ich meine damit nicht nur die, dass es stinkt.

Das Tragische daran ist, dass wir niemals wissen werden, was eine Entscheidung von uns in letzter Konsequenz anrichten wird. Nehmen wir mal etwas, das besser riecht und reichlich harmlos klingt. Also wenn wir uns zum Beispiel morgens aus dem Bett wälzen und Lust auf einen Tee haben, anstatt wie sonst auf Kaffee. Mal angenommen, der Schmacht ist dermaßen groß, dass wir den hundert Jahre alten Kamillentee nicht trinken wollen und wir beschließen, einen Tee einkaufen zu gehen. Okay, ich hätte doch lieber Bier nehmen sollen,

Bier, Bier …

Hab ich eure Aufmerksamkeit wieder? Also ihr geht in den Supermarkt.

Klar, wenn ihr dort an der Kasse die Braut oder den Bräutigam eures Lebens trefft, dann würdet ihr sicher von Schicksal reden, aber falls ihr nach Hause zurücklatscht und es passiert nichts dergleichen, dann glaubt ihr, eure Aktion wäre belanglos.

Aber das ist nicht so. Es könnte auch so sein: Weil ihr den Tee gekauft habt, standet ihr in der Schlange vor einem Mann, der es eilig hatte, und weil ihr mal wieder kein Bargeld hattet, musstet ihr mit Karte zahlen, der Automat hat rumgezickt und alles hat ewig gedauert. Hinter euch entstand eine lange Schlange und der Mann, der es so eilig hatte, rannte, um Zeit zu sparen, aus dem Supermarkt auf die andere Straßenseite, dabei wurde er von einem Auto angefahren, in dem auch jemand saß, der es eilig hatte, weil wiederum der noch schnell einen Kaffee kaufen musste, weil ihn sein Chef lynchen würde, wenn er den zum dritten Mal vergessen würde.

Versteht ihr, in aller Regel geht man einen Tee kaufen oder meinetwegen Bier oder Hundefutter und hat keine Ahnung, was man damit in der Welt anrichten kann.

Und weil niemand von uns weiß, wie sein Leben mit dem der anderen verknüpft ist, wäre es also nur gut und richtig, sich immer anständig zu benehmen, denn wenn es schon falsch sein kann, morgens statt Kaffee einen Tee zu trinken, dann denkt doch mal drüber nach, wie mies es ist, wissentlich Scheiße zu bauen und sich dann noch nicht mal den Konsequenzen zu stellen. Und genau darum geht es hier.

Bei uns im Lions fordern für meinen Geschmack zu viele ständig ihr Schicksal heraus. Nehmen wir mal jemanden, der einen Blog hat und dort lustige Challenges veranstaltet. Nehmen wir doch was Harmloses wie einen Beautyblog, nehmen wir einfach den von Amy. Ich bin sicher, sie glaubt, solange niemand merkt, dass sie viele Ideen von der Jessica-Joystick-Seite klaut oder von Pimp-my-face, wäre die Welt in Ordnung. Schließlich geht es ja nicht um weltbewegende Geheimnisse. Aber ich frage euch: Ist das fair, anderen die Ideen zu stehlen und sich dann damit zu brüsten? Und vor allem, wo führt das hin? Denkt doch mal drüber nach …

Es grüßt der Whistleblower vom Lion-Feuchtwanger-Gymnasium.

Kommentare:

Mordserkenntnis, das Schicksal ist also ein mieser Verräter, lol, lol, lol.

[email protected]

Ein Whistleblower im Lion, wow!!! Beautyblogs … echt brisant! Du solltest dir jetzt schon überlegen, ob sie dir in Russland Asyl gewähren werden.

[email protected]

Super, dann hoffe ich, nächstes Mal servierst du uns Beweise dafür, dass der Direx im Keller ein Guantanamolager für Legastheniker betreibt.

[email protected]

Du bist wie das Loch im Schweizer Käse, ohne das Drumrum, also unsere Schule, wärst du nur ’ne dämliche Null.

[email protected]

Endlich checkt mal einer, was hier alles abläuft. Danke.

[email protected]

Whistleblower sind nichts anderes als blöde Wichser, die sich viel zu wichtig nehmen.

[email protected]

2

Hi, wie geht’s deinen Murmeln?

Blödmann, ich glaube,

wir sollten das lieber lassen!

Ich hab gehört, man

bereut später nur das,

was man nicht gemacht hat

… willst du das?

Das Erste, was zu Holly durchdrang, als sie langsam wieder zu sich kam, war lautes Schimpfen, aber dann überlagerte der Schmerz in ihrer rechten Hand die übrigen Wahrnehmungen und alles andere verschwamm.

»Holly!« Sie erkannte Astrids Stimme fast nicht wieder, weil sie so aufgebracht klang. »Holly, was ist los, sprich mit uns! Was hast du getan?«

Holly schlug die Augen auf. Ihre Lehrer waren wütend. Astrid kniete kopfschüttelnd und mit streng zusammengepressten Lippen neben ihr. Selbst jetzt sah sie viel zu hübsch aus für eine Lehrerin. Was man vom dicken Martin, der vor Sam und Ju stand, nicht behaupten konnte. Sein Bierbauch schwabbelte über seiner viel zu langen Hawaiiblumenbadehose im Takt seiner Worte. Dieses Spektakel lockte nach und nach auch alle anderen Mitschüler an das Deck und es bildete sich ein Ring um die vier.

»Unverantwortlich!«, tönte Martin und Astrid nickte zustimmend.

»Wenn ihr einen Tauchgang plant, müsst ihr euch den von Martin oder mir genehmigen lassen! Ich hole den Notfallkoffer!« Astrid erhob sich und verschwand aus Hollys Blickfeld. Dafür hockte sich ihr Halbbruder Jason neben sie und blaffte sie auch noch an. »Was zur Hölle ist denn in dich gefahren? Warum hast du das getan?«

Holly hätte ihm gern den Vogel gezeigt, aber sie war zu schlapp. Er wusste doch ganz genau, warum sie unten gewesen waren.

»Astrid«, rief Martin seiner Kollegin hinterher, »wir brechen diese Reise ab. So geht das nicht, das können wir nicht verantworten! Was, wenn Holly dabei draufgegangen wäre?« Martin wandte sich nun auch an die Umstehenden. »Jeder, der jetzt ein Handyfoto von Holly macht, wird für den Rest der Fahrt zum Latrinenschrubben verdonnert!« Empörtes Gemurmel machte sich breit.

»Sie ist doch nicht draufgegangen, sie lebt«, sagte Sam und Ju nickte dazu wie eine ferngesteuerte Marionette.

»Ihr habt euch unseren Anweisungen widersetzt. Als ich euch nach dem Abendessen bis zum Sonnenuntergang freigegeben habe, war damit ganz sicher nicht ein Tauchgang auf eigene Faust gemeint!«

»Nicht nach Hause«, bat Sam, mit dieser sanften Stimme, bei der es Holly schlagartig heiß im Magen wurde. Immer noch. Und wie jedes Mal durchzog ihr Hirn sogar jetzt ein Schwall von Warum, warum, warum-Fragen. Warum in aller Welt hatte er sie nur verlassen?

»Es wäre doch unfair«, redete Sam weiter, »wenn alle anderen wegen unseres Fehlers leiden müssten!«

»Fehler?«, schnaufte Martin und zog energisch den Bund seiner geblümten Badehose hoch. »Eklatanter Ungehorsam, Meuterei!«

»Nein, das war doch keine Meuterei, das war einfach nur kindliche Neugier.« Jason, der als zweiter Skipper dabei war, versuchte, die Wogen zu glätten. »Außerdem haben wir dieses herrliche Schiff für fünf Tage gechartert und es wäre rausgeworfenes Geld, die Reise nach einem Tag schon zu beenden.« Jetzt wurde er laut und dröhnend. »Wie wollen Sie das den Eltern von denjenigen Schülern erklären, die sich absolut korrekt benommen haben und außerdem den Segelschein machen sollen? Nur weil meine kleine Schwester Mist gebaut hat?«

Jason hatte sie wohl nicht mehr alle! Er war nicht mit unten gewesen und hatte keine Ahnung. Sie hatte keinen Mist gebaut, sondern die anderen hatten sie allein gelassen.

»Dann gibt es für mich nur eine Möglichkeit.« Martin klang beinhart. »Ab sofort wird nur noch getaucht, wenn Astrid dabei sein kann. Und ihr drei kassiert eine harte Strafe!«

»Gute Idee.« Jason zwinkerte Holly kaum merklich zu und flüsterte: »Und ihr geht auch nicht über Los, zieht keine tausend Euro ein, sondern landet direkt im Gefängnis …«

Jason, Ju und Sam grinsten sich an.

»Wüsste nicht, was es da zu grinsen gibt, wir werden uns von nun an auf das Segeln konzentrieren«, sagte Martin. »Alle Tauchutensilien werden eingeschlossen. Jason und ich verwalten den Schlüssel, noch Fragen?«

In diesem Moment drängelte sich jemand durch den Kreis, der sich um Holly gebildet hatte.

»Oh Gott, Sweetie, was ist denn passiert?« Nina kniete sich völlig außer Atem neben Holly, strich sich die nassen braunen Haare hinter die Ohren, küsste Holly auf die Stirn und musterte ihre beste Freundin besorgt. Nina, die sowieso immer blass und wie ein verhungertes Kätzchen aussah, wirkte nun geradezu gespenstisch bleich. Holly zwinkerte ihr zu, um sie zu beruhigen.

Da entdeckte Nina Hollys blutende Hand. »Oh Gott, was habt ihr denn mit Holly gemacht?« Sie drehte sich zu Ju und Sam um, sprang hoch und baute sich vor den beiden auf. »Und ihr wollt Tauchprofis sein, ja?«

Auf Jus Hals breiteten sich hektische rote Flecken aus. »Mach mal halblang, wir können nichts dafür, dass Holly in diese Luke eingestiegen ist und sich der Deckel verklemmt hat!«

»Aber wieso seid ihr nicht zusammengeblieben, das macht man doch so, oder nicht?« Nina drehte sich Beifall heischend zu Martin und Jason um.

»Ist ja nichts passiert!«, murmelte Holly, der das Aufsehen langsam peinlich wurde. Auch wenn Nina recht hatte, wollte sie das lieber direkt mit Ju und Sam klären.

Astrid kam mit dem Koffer zurück, verscheuchte Nina, hockte sich neben Holly und klappte den Deckel auf.

Dann versuchte sie, Holly den Handschuh auszuziehen, doch der klebte wie eine zweite Haut an ihr, sodass Astrid ihn mit der Verbandsschere aufschneiden musste. Holly sah erst genauer hin, als sie hörte, wie Astrid und die Umstehenden entsetzt die Luft durch die Zähne zogen. Zwischen Daumen und Zeigefinger klaffte ein sehr tiefer Schnitt, gespickt mit abgebrochenen Muschelschalen. Astrid desinfizierte die Wunde, zupfte die Muschelstücke heraus, klammerte den Schnitt mit Spezialpflastern und verband dann Hollys Hand. Dabei murmelte sie unentwegt vor sich hin. »Leichtsinn … wir müssen besser auf sie aufpassen, die Leine kürzen, was, wenn jemand zu Tode gekommen wäre …«

Astrid wirkte ungewohnt verstört und das wunderte Holly, denn sonst war ihre Schulpsychologin viel tougher als Martin, der immer gleich laut wurde, wie ein bellender Hund, der nie zubiss. Astrid hingegen sah zwar süß und zart aus wie Anne Hathaway in Der Teufel trägt Prada, aber normalerweise war sie strenger als der Teufel selbst.

Die Menge um sie herum hatte sich längst wieder verstreut, die meisten waren müde und wollten schlafen, denn morgen würde Martin sie wieder erbarmungslos früh wecken.

Astrid fragte, ob sie aufstehen könne, und als Holly nickte, halfen Jason und Nina ihr auf dem Weg nach unten in ihre Kabine, die sie mit Nina teilte. Zu dritt schlichen sie über den Niedergang zum unteren Deck.

»Und Holly, war es das Wrack, von dem Nick erzählt hat?«, fragte ihr Bruder. »Nick war so versessen darauf, es wiederzufinden und es mir zu zeigen. Er war davon überzeugt, wir würden dort einen Schatz entdecken. Wirklich beschissen ungerecht, dass er schon tot ist.« Jason klang plötzlich auffallend heiser.

»Ja, das ist furchtbar«, stimmte Nina ihm zu, »so sinnlos und furchtbar. Immerhin können wir noch eine einzige Sache für ihn tun, und das werden wir auch.« Sie klopfte ihm tröstend auf den Arm.

»Ich bin sicher, dass es das Wrack war«, sagte Holly, »so viele Schiffe werden dort unten ja nicht herumliegen und das bedeutet, wir haben den richtigen Ort gefunden, oder?«

Nina fiel ihr ins Wort. »Schschsch, man könnte dich hören. Das alles soll doch unser Geheimnis bleiben.«

Sie waren in ihrer Kajüte angekommen. Jason blieb stehen und deutete unvermittelt auf den Boden. Eine rot schimmernde Lache. Blut, direkt vor Hollys Bett. Sie warf Jason einen entsetzten Blick zu.

»Wie zum Teufel kommt das dahin?«, fragte sie.

»Tut mir leid, Sweetie, ist doch bloß mein nasser Badeanzug.« Nina tätschelte Hollys unverletzte Hand. »Hey, was ist da unten bloß mit deinem Kopf passiert? Du bist doch sonst nicht so eine Ordnungsfanatikerin?«, wunderte sich Nina. »Ich hatte es vorhin so eilig, zu dir zu kommen, dass ich ihn noch nicht weggeräumt habe.« Sie bückte sich nach dem kirschroten Retrobadeanzug, hob ihn auf und ignorierte, wie sehr er tropfte.

Jason deutete auf den Badeanzug und die Pfütze, die sich gerade unter ihm bildete, und sah Nina auffordernd an. Als Assistent des Skippers fühlte er sich für alles verantwortlich.

»Ist ja gut, ich geh ja schon!« Sie streckte ihm die Zunge raus, während sie zur Tür lief.

»Sehr sexy, Nina! Darauf komme ich später noch zurück«, sagte Jason mit betont verführerischer Stimme, woraufhin Nina sich an die Stirn tippte und die Kajüte verließ.

Es machte Holly nichts aus, von Nina bemuttert zu werden, aber es beunruhigte sie, dass Jason neuerdings versuchte, mit ihrer Freundin zu flirten. Einerseits wäre es ganz gut, weil es Nina auf andere Gedanken bringen könnte, aber andererseits wäre damit nur eine neue Katastrophe vorprogrammiert. Sie setzte sich auf ihre Koje und betrachtete ihren Halbbruder, der sich auf Ninas Bett gegenüber fallen ließ.