Lügenherz - Beatrix Gurian - E-Book

Lügenherz E-Book

Beatrix Gurian

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Beschreibung

Mila ist die Freundin, nach der Ally sich immer gesehnt hat. Als Mila sie bittet, ihr bei der Umsetzung eines Racheplans zu helfen, zögert Ally nicht lange. Schließlich handelt es sich dabei um Landgraf - einen ihrer Lehrer, den sie noch nie leiden konnte. Als Mila aber jedes Maß aus den Augen verliert, will Ally ihre Freundin stoppen. Ein tödlicher Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

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Seitenzahl: 327

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Widmung

Für Larissa und Janosch

Die Autorin

Beatrix Gurianwurde 1961 geboren. Bevor sie ihren Traum vom Bücher schreiben verwirklichen konnte, studierte sie Theater- und Literaturwissenschaften. Danach arbeitete sie knapp zehn Jahre als Redakteurin und wirkte bei verschiedenen Fernsehproduktionen mit.Seit 2000 schreibt sie Romane für Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in München.Mehr Infos unter: www.beatrix-mannel.de

Titel

Beatrix Gurian

Lügenherz

Impressum

Erste Veröffentlichung als E-Book 2012© 2011 Arena Verlag GmbH, WürzburgAlle Rechte vorbehaltenCovergestaltung: Frauke SchneiderUmschlagtypografie: KCS GmbH · Verlagsservice & Medienproduktion, Stelle/Hamburg ISBN 978-3-401-80223-7www.arena-verlag.deMitreden unter forum.arena-verlag.de

Inhalt

Intro

1. Ally

2. Mila

3. Ally

4. Mila

5. Ally

6. Mila

7. Ally

8. Mila

9. Ally

10. Mila

11. Ally

12. Ally

13. Mila

14. Ally

15. Ally

16. Mila

17. Ally

18. Mila

19. Ally

20. Mila

21. Ally

22. Mila

23. Ally

24. Mila

25. Ally

26. Mila

27. Ally

28. Mila

29. Ally

30. Ally

31. Mila

32. Ally

33. Mila

34. Ally

35. Mila

36. Ally

37. Mila

38. Ally

39. Mila

40. Ally

31. Ally Vier Wochen später

42. Mila

43. Ally

44. Ally

Intro

Wo Liebe wächst, gedeiht Liebe,wo Hass aufkommt, droht Untergang.Mahatma Ghandi

1. Ally

Ferdi kommt tatsächlich immer näher zu mir her. Ich halte kurz die Luft an und drücke mir die Daumen. Wann immer ich ihn sehe, möchte ich zu ihm hinrennen und mich in seine Arme werfen. Natürlich unterdrücke ich diesen Impuls, denn ich fürchte, in seinen Augen wäre das ungefähr so passend, als ob Berta von »Two and a Half Men« Brad Pitt anbagggern würde. Allerdings sehe ich doch etwas besser aus als Berta und jünger bin ich natürlich auch. Aber selbst wenn ich traumschön und sozial kompatibel wäre und jederzeit über jeden Mist süß lächeln könnte, bliebe ich in meiner Berufsschulklasse trotzdem ein Alien. Ich habe anfangs alles versucht, um das zu ändern – allerdings ohne Erfolg, und deshalb muss ich damit leben, dass mich alle wie eine Außerirdische behandeln.

Wenn die wüssten, dass ein Blick von Ferdi genügt, um mein Herz ins Stolpern zu bringen, fänden sie mich sicher noch merkwürdiger. Denn Ferdi ist alles, was ich nicht bin: beliebt und sportlich und schlecht in der Schule. Aber ich kann’s nicht ändern, er gefällt mir trotzdem und deshalb habe ich mir etwas ausgedacht, in der Hoffnung, ihn so endlich kennenlernen zu können.

Ich suche seine Augen und sein besonderes Lächeln, das jedes Mal irgendwelche Schalter in meinem Hirn umlegt und dafür sorgt, dass mein Puls, meine Atmung schneller werden und mich in meinem Bauch merkwürdige Engelswesen mit den Flügeln kitzeln. Und ich wundere mich ständig, dass dieses Lächeln nicht alle umhaut. Es ist ein bisschen spöttisch, ein bisschen geheimnisvoll und ein bisschen, als hätte er gerade etwas unfassbar Süßes gegessen – kurzum einfach der Hammer.

Ich habe versucht, einen Anhänger aus Silber zu schmieden, der den Zauber seines Lächelns widerspiegelt, aber unser Lehrer, der eingebildete Landgraf, meinte dazu hämisch, das sei keineswegs die Essenz eines Lächelns, sondern bloß ein lächerlicher Haufen Silber. Zum Glück wissen weder der Landgraf noch Ferdi von meinen unmöglichen Fantasien, ich würde mich sonst zum Gespött der ganzen Schule machen.

Er kommt noch näher zu mir. Ich bin so gespannt, was er sagen wird. Die anderen starren schon zu uns her. Ich kann sie geradezu tuscheln hören – Ferdi spricht mit dem Alien. Dabei habe ich es letzte Woche nur knapp überlebt, ihn zu fragen, ob er nicht das Model für meinen neuen Silberschmuck sein möchte. Ich muss Fotos für einen Wettbewerb machen und ich hoffe, er kommt jetzt zu mir, um Ja zu sagen, auch wenn die Chancen dafür mehr als schlecht stehen.

»Hallo, Ferdi«, sage ich und finde, dass es für meine Verhältnisse echt locker klingt.

»Hi, Ally. Du, machen wir’s kurz, das wird nichts. Ehrlich gesagt finde ich deinen Schmuck ziemlich, ähh, entschuldige, scheußlich. Sorry, du.«

Mir wird ganz komisch. Ich merke, wie mir das Blut in die Wangen schießt. Das Wort scheußlich hallt in meinen Ohren, während er dasteht und so wundervoll lächelt wie immer.

»Oh, ja, tut mir leid«, antworte ich. Spinnst du, Ally, tut mir leid, was ist das denn für ein Mist? Sag ihm, wie gemein das gerade war!

Jetzt hebt er den Blick und starrt mich geringschätzig an. »Ich weiß nicht, was dich auf die Idee gebracht hat, dass ich mich mit diesem abscheulichen Zeug fotografieren lassen würde.«

Das laute Hämmern in meinen Ohren muss schuld daran sein, dass ich ihn merkwürdige Sachen sagen höre.

»Was?«

»Mehr hab ich dazu nicht zu sagen. Und noch was, Ally: Bitte lass mich in Zukunft einfach in Ruhe. Meine Freundin mag es nicht, wenn du mich immer so anstarrst. Du bist echt peinlich.«

Ich gerate ins Taumeln, das war entschieden eine Keule zu viel.

»Aber, aber …« Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht zu heulen, aber meine Augen füllen sich trotzdem mit Tränen. Reiß dich zusammen, Ally!

»Tut mir wirklich leid«, stammle ich und renne vom Schulhof in unser Klassenzimmer. Dort lasse ich mich auf meinen Platz fallen und versuche, mich zu beruhigen, doch in meinen Ohren rauscht es und ich höre immer wieder Ferdis Stimme: abscheulich, abscheulich, abscheulich.

Landgraf kommt zusammen mit den anderen rein und hält wie immer Vorträge, aber ich bin nicht in der Lage, dem Unterricht zu folgen. Obwohl ich die ganze Zeit wusste, wie lächerlich meine Hoffnungen waren, hatte ich mir doch so sehr gewünscht, dass ihm meine Sachen gefallen. Und dass er mich dann in meiner Werkstatt besucht und entdeckt, dass ich die Frau seines Lebens bin …

Okay, Ally, das waren echt dumme Fantasien, ungefähr so realistisch wie die Mädels, die auf einen Sieg bei DSDS hoffen, aber aussehen wie eine Fünf-Sterne-Vogelscheuche und so schön singen wie ein Waldkauz. Die Enttäuschung sitzt trotzdem tief und Ferdis Worte fühlen sich auch jetzt noch wie Nadelstiche an. Wie kann jemand nur so gemein sein?

Die Gedanken in meinem Kopf fahren Achterbahn und mir fällt plötzlich ein, dass er mir meinen Schmuck noch nicht zurückgegeben hat. Vielleicht will er mich ja doch noch mal sehen, vielleicht hat ihn seine Freundin gezwungen, so etwas zu sagen? Ja genau, Ally, und die Sterne fallen vom Himmel …

Trotzdem zerre ich mein Handy aus der Tasche und lege es vor mich auf den Tisch. Ist mir egal, was Landgraf dazu sagen wird. Vielleicht simst Ferdi mir noch, um einen Termin für die Übergabe zu machen. Ich starre auf das Display meines Handys und flehe es an, eine neue SMS anzukündigen. Ich mache Deals mit einer Schicksalsmacht, mit Gott, mit der Gerechtigkeit oder was auch immer: Wenn ich es schaffe, eine Minute lang nicht zu atmen, dann meldet er sich, sagt, es tue ihm leid und dass seine dämliche Freundin ihn dazu gezwungen hat, so abfällig über meine Entwürfe zu reden. Nein, ich muss es schon zwei Minuten schaffen.

Ich halte die Luft an. Dreißig Sekunden, vierzig, fünfzig, eine Minute. Ich muss husten, verdammt. Es klingt mehr wie ein ersticktes Röcheln. Landgraf schaut mich stirnrunzelnd an, ich wende den Blick ab und starre wieder auf mein Handy. Und obwohl ich so kläglich versagt habe, scheint das Schicksal Erbarmen mit mir zu haben – eine SMS. Mit zitternden Fingern öffne ich die Nachricht.

Sie ist nicht von Ferdi, sondern von Mila. Wenn ich nicht so traurig wäre, müsste ich über meine schwachsinnige Erwartung lachen und dann froh sein, von Mila zu hören, denn sie mag mich seltsamerweise. Und sie würde ganz bestimmt niemals so etwas Gemeines zu mir sagen.

Sie will wissen, ob ich heute Abend zu einer Flashmob-Aktion in der U-Bahn-Station Giselastraße mitkommen will. Das fragt sie nur, weil sie mich noch nicht gut genug kennt, sonst wüsste sie, dass ich eher sterben würde, als da hinzugehen. Sie ist viel cooler als ich. Bis vor Kurzem wusste ich nicht mal, was Flashmob überhaupt ist. Eine Spontanparty, bei der jemand im Internet postet, wo am Abend die Party steigt, und alle, die Lust haben, gehen hin. Mila weiß so was, obwohl sie in einem öden Vorort von Augsburg wohnt und ich in München.

Hey, wär doch chillig, bei dir zu übernachten, schreibt sie weiter. Hab keinen Bock mehr, danach zurück nach Augsburg zu fahren. Wie sieht’s bei dir aus?Oder hast du schon was anderes vor?

Wenn es nicht so extrem demütigend wäre, würde ich gerade am liebsten den Kopf auf den Tisch legen und heulen, denn die traurige Wahrheit ist nämlich die: Ich habe nichts vor. Seit ich Ferdi den Schmuck gegeben habe, warte ich auf seine Antwort und habe mir jeden Abend freigehalten für den Fall, dass er für die Fotoaufnahmen zu mir kommen würde. Und auch wenn ich mir hunderttausendmal gesagt habe, dass die Wahrscheinlichkeit so hoch ist wie die, dass Obama über Nacht ein Weißer wird, konnte ich trotzdem nicht damit aufhören zu hoffen.

Lena, meine allerbeste Freundin, die mir das alles sicher ausgeredet hätte, ist für ein Jahr in Neuseeland und sonst ist da außer Mila nur noch mein genialer Superbruder, und mit dem rede ich nie über Jungs. Ich hab’s wirklich versucht mit den Mädels in meiner Klasse, aber in Cliquen rumzuhängen, gibt mir das Gefühl zu ersticken und shoppen ist schon gar nicht mein Ding. Und während sich die anderen dreimal hintereinander »Sex and the City« reinziehen, gehe ich am liebsten in alte Schwarz-Weiß-Schnulzen.

Ich versuch’s noch mal mit Luftanhalten und starre auf mein Handy. Diesmal schaffe ich neunzig Sekunden. Aber es passiert nichts. Mein Bauch fühlt sich so leer an, als hätte ich seit Wochen nichts gegessen, und trotzdem sticht es bei jedem Atemzug darin, als hätten böse Feen ihn mit Nadeln gespickt. Abscheulich!

Noch eine SMS. Wieder Mila. Sie will wissen, ob es okay ist, wenn sie zu mir kommt, weil sie sonst anders planen muss.

Ich zwinge mich, kurz darüber nachzudenken. Ich mag nicht, dass jemand in meinem Bett schläft, der vorher bei ’ner Flashmob war. All diese Bazillen in meinem Bett … Nein, danke.

Aber ich möchte Mila nicht kränken, denn wenn ich ablehne, denkt sie bestimmt, ich würde sie nicht wirklich mögen. Schließlich macht sie diesen Vorschlag zum ersten Mal. Gehe nicht mit zur Party, aber komm du doch später zu mir und bring deinen Schlafsack mit. Bis heute Abend!, schreibe ich ihr zurück.

»Scarlett, legen Sie das Handy weg. Sie sollten sich lieber auf den Deutschunterricht konzentrieren oder glauben Sie, dass Sie das nicht nötig haben?«

Landgraf hat sich angeschlichen und steht jetzt so nah vor mir, dass ich in seine glockenblumenblauen Augen schauen und sein limonenartiges Männerparfüm riechen muss. Er lächelt, als hätte ich ihn amüsiert, und so hat er was von Kurt Russell, als der noch ganz jung war. Ich kenne viele alte Filme, weil meine Oma früher ein Kino in der Türkenstraße hatte. Mein Bruder Jury und ich sind dort quasi aufgewachsen; wahrscheinlich mag ich deshalb auch diese alten Schnulzen. Kurt alias Landgraf scheint auf eine Antwort zu warten, denn er steht immer noch vor mir. Für einen Berufsschullehrer sieht er relativ gut aus, die Mädels in meiner Klasse himmeln ihn alle an. Alle außer mir.

Er schüttelt seine hellbraune Mähne, die meiner Meinung nach geradezu lächerlich lang ist, und fährt sich dann so affig durch die Haare, dass jeder die Gelegenheit hat, seine Bizepse zu bewundern. Wie blöd manche Männer sind, als ob einen Bizepse allein anmachen würden. Angeblich ist der Landgraf auf Höhlenklettern spezialisiert, was ich ungefähr so gern tun würde, wie mich freiwillig in einem Erdloch begraben zu lassen.

Ich gebe vor, mein Handy wegzuräumen, und starre durch Landgraf hindurch. So lange, bis er schulterzuckend wieder nach vorne geht und mich in Ruhe lässt.

Es ist sicher gut, wenn Mila heute Abend kommt und mich auf andere Gedanken bringt. Oder wär’s doch besser, aus dem Chaos, das durch meinen Körper brodelt, irgendwas zu machen? Vielleicht einen Ring aus alten Ketten, die ich vorher irgendwie sprenge.

Auf alle Fälle muss ich etwas tun, um zu verhindern, dass Ferdis gemeiner Kommentar mein Herz in Stücke zerteilt. Das werde ich ihm nicht erlauben.

2. Mila

Gerade als ich total verschwitzt und mit einem Summen in den Ohren die Treppen zur Giselastraße hinaufsteige, höre ich von Weitem die Polizeisirenen. Gut, eben noch rechtzeitig. Ich laufe rüber Richtung Hohenzollernplatz, wo ich eine U-Bahn nach Untersendling nehme, um zu Ally zu kommen.

Schade, dass sie nicht mitgegangen ist. Es war irre, alle haben getanzt und geraucht und gelacht. Es waberte so viel Gras durch die Luft, dass man allein davon schon völlig high wurde, und für ein paar Stunden habe ich fast vergessen, wie beschissen mein Leben ist.

Mir ist schon klar, dass Ally lieber ihre frischen Wunden lecken wollte, aber ich finde es trotzdem schade; zu zweit hätte der Abend bestimmt noch mehr Spaß gemacht. Sie gefällt mir, und auch wie sie lebt, passt perfekt zu meinem Plan: Sie wohnt mit siebzehn schon alleine in einer zur Wohnung umgebauten Hinterhofgarage und denkt sich absolut irren Schmuck aus. Darüber habe ich sie schließlich auch gefunden. Nachdem ihr Name ständig fiel, habe ich Scarlett Müllerhans im Internet gegoogelt und ihre Homepage gefunden, auf der sie ihre abgefahrenen Piercings anbietet.

Aber auch nachdem ich zwei Bauchnabelpiercings gekauft hatte, blieb sie so verschlossen wie ’ne Auster. Erst als ich einen silbernen Erinnyen-Anhänger in Auftrag gegeben habe, wurde sie etwas redseliger, denn das hat ihr wesentlich mehr Spaß gemacht als die Piercings. Sie wusste sogar, dass die griechischen Rachegöttinnen aus den Blutstropfen entstanden sein sollen, die bei der Entmannung des großen Uranos auf die Erde getropft sind. Das wiederum hat mir so gut gefallen, dass ich den Anhänger seitdem immer an einem schwarzen Lederband um meinen Hals trage. Es war diese Furcht einflößende Kreation – ein Tropfen, aus dem sich eine Fratze hervorwindet –, die mich darin bestärkt hat, dass mein Plan funktionieren kann.

Manchmal war ich nahe dran, Ally in alles einzuweihen, aber das Risiko war mir dann doch zu groß. Obwohl sie komplett anders ist als die anderen, die in der engeren Wahl waren, kann ich mir nicht noch mal so ein Fiasko wie mit Tom erlauben.

Zum Glück mag ich Ally wirklich, das macht alles einfacher.

Als ich am Kolumbusplatz aussteige, kommt es mir vor, als wäre ich auf einem fremden Planeten gelandet. Nur die Laternen werfen ihr fades Licht auf die verödeten Bürgersteige. Irgendwie ist die Gegend hier ein bisschen unheimlich. Schnell strecke ich den Finger nach Allys Klingelschild aus.

»Na, so spät noch unterwegs?«, ertönt da ihre Stimme aus der Dunkelheit hinter dem Tor. Ich zucke zusammen. Ihr bleiches Gesicht scheint in der Dunkelheit zu mir herzuschweben, weil ihre sonst ganz in Schwarz gekleidete Gestalt mit der Nacht verschmilzt. Sie öffnet das Tor und versucht, mich anzulachen, aber es misslingt kläglich. »Hi«, sagt sie und ich weiß nicht, ob ich sie umarmen soll. Auch so was Komisches mit Ally – bei anderen Menschen bin ich immer sicher, ob sie das mögen.

Sie dreht sich um und geht über den Hof zu ihrer Wohnung, von der ich wünschte, ich hätte auch so eine. Das Ganze war früher mal ’ne große Garage, die dann umgebaut wurde. Man merkt deutlich, dass dieser Raum nicht als Wohnung gedacht war, weil die Decken so niedrig sind und es nur ein winziges Fenster gibt. Ich finde, es riecht auch immer noch ganz schwach nach altem Öl. Aber trotzdem: Es sind ihre eigenen vier Wände und darum beneide ich Ally.

Es gibt nur einen einzigen großen Raum, in dem auch so was wie ein Bad untergebracht ist. Das Klo ist zwar im Hof, doch das gehört ganz allein Ally und nur sie hat einen Schlüssel dafür.

Wenn man in die Wohnung reinkommt, steht auf der einen Seite der Holztisch mit den Werkzeugen, an dem Ally ihren Schmuck entwirft. Unter dem Tisch ist eine Gasflasche, die sie für die Flamme zum Löten braucht. Dann kommt ein halbhohes schwarzes Billyregal mit dem Zweiplattenherd vom Flohmarkt, oben drauf ein Stapel pieksauberes Geschirr. Auf der anderen Seite des Raums befinden sich das Waschbecken und die Duschkabine, die sie dort nachträglich eingebaut hat. Und daneben steht die bayerisch bemalte Truhe, die Ally von ihrer Oma geerbt hat. In die hat ihr Bruder Jury sie früher mal beim Versteckspielen eingesperrt und dann den ganzen Tag lang drin vergessen. Seitdem hasst Ally enge dunkle Räume. Den Rest der ehemaligen Garage verdeckt ein glitzernder meerblauer Perlenvorhang, hinter dem sich zwischen Vorhang und Wand ein riesiges Eisenbett quetscht. Dadurch wirkt es wie eine Insel.

Heute ist es relativ schummrig, sonst hat Ally immer die starke Neonbeleuchtung an. Die braucht sie zum Arbeiten oder um ihre Wohnung zu schrubben, was sie andauernd macht. Ich finde das vollkommen irre. Mein Zimmer sieht komplett anders aus. Mama nennt es nur »die Walachei«, das »Schlachtfeld«, oder wenn sie, was nur selten vorkommt, sehr wütend ist: »der Saustall«.

Ally putzt aber nicht nur wie eine Verrückte, sie arbeitet auch wie eine Besessene. Die Piercings macht sie zum Geldverdienen, doch ihr Herz hängt an anderen Sachen. Künstlerischem Zeug. Letztes Mal hat sie mir gezeigt, was sie für einen polnischen Silberwettbewerb geschmiedet hat. Es waren hauchfeine Silberplättchen, Abdrücke von Barbiepuppengesichtern. Sie hat mir erklärt, was sie sich dabei gedacht hat, und das war eine Menge, und trotzdem habe ich nur die Barbiepuppenköpfe gesehen, die nach der Abdruckprozedur aussahen, als hätte man sie grün und blau geschlagen.

Aber heute ist alles anders bei Ally. Es ist für ihre Verhältnisse total unordentlich, denn es stehen zwei leere Bierflaschen rum. Ally trinkt normalerweise keinen Alkohol, aber jetzt reicht sie mir wortlos ein Bier mit Schnappverschluss aus ihrem derart sauberen kleinen Kühlschrank, dass man darin glatt eine OP durchführen könnte, und macht sich selbst eines mit einem lauten Plopp auf.

»Was ist denn los?«, frage ich deshalb, dabei weiß ich das ja längst.

Sie zuckt mit den Schultern und sieht dabei so aus, als ob sie das Gewicht von tausend Kilo Silber mit hochziehen müsste. »Ferdi, du weißt schon, der mit dem wunderbaren Lachen, hat gesagt, dass mein Schmuck abscheulich ist.« Zu mehr reicht es nicht, ihre Stimme bricht ab.

Okay, denke ich erleichtert, das hätte ich nicht besser planen können. Eine Liebesbeziehung hätte doch sehr gestört, gratuliere ich mir und versuche, angesichts Allys nass schimmernder Augen traurig auszusehen.

»Na, er ist ja auch ein Experte, oder?« Ich proste ihr durch die Luft zu. »Ich hoffe, du hakst diesen Idioten endlich ab. Solche Typen passen zu Mädchen, die wie Cheerleader rumlaufen und laut kreischend über ihre BH-Größe reden.«

Ally reißt ihre Augen weit auf, trotzdem tropft eine Träne herunter und sie versucht zu lachen. »Glaubst du echt?«

Ich denke, jetzt sollte ich sie in den Arm nehmen. Ich stelle das Bier ab und lege meinen Arm um sie.

»Du bist eine Romantikerin. Du hast Ferdi idealisiert. Dabei sind die Männer alle Schweine. Das Einzige, was im Leben wirklich zählt, sind Freundinnen.«

Sie rutscht von mir weg, als hätte ich etwas Unanständiges gesagt. »Das verstehst du nicht«, flüstert sie. »Ich glaube, wir sind da sehr verschieden.«

»Nein, das sind wir nicht. Ich habe nur schon ein bisschen mehr Erfahrung als du.«

Sie richtet sich auf und rutscht noch weiter weg. Es ist ganz klar, sie will nicht weiter mit mir darüber sprechen. Das habe ich verbockt. Das mit den Männern und Schweinen war zu hart. Verdammt!

»Lass uns über was anderes reden. Wie war’s denn auf deiner Flashmob-Party?«, fragt sie, nachdem sie einen großen Schluck runtergekippt hat, aber ich habe nicht den Eindruck, dass es sie wirklich interessiert. Sie wirkt jetzt nicht mehr nur unglücklich, sondern auch nervös und mustert mich dauernd.

Ich proste ihr zu. »Es war heiß und laut und voll.«

»Auch ein Albtraum also«, sagt sie und lächelt mich zum ersten Mal heute Abend an. Dabei wird ihr Gesicht ganz weich. Also, wenn ich Ferdi wäre, würde ich mich sofort in sie verlieben. »Und wo ist dein Schlafsack?«, fragt sie.

»Ups, den hab ich vergessen.«

Ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen, sie stellt das Bier ab und beißt sich auf ihre vollen Lippen. Was ist denn jetzt los?

»Ich will dich nicht anmachen, falls es das ist, was du denkst!«, erkläre ich ihr. »Jungs sind zwar manchmal ziemlich blöd, aber ich stehe nicht auf Mädchen.«

Hey, meldet sich eine kleine Stimme in meinem Kopf, jetzt wäre geradezu die perfekte Gelegenheit, es ihr zu sagen.

»Darum geht’s mir nicht. Ich hab bloß nicht genug Bettzeug.«

»Soll ich wieder gehen?«, biete ich an, dabei fahren um diese Zeit nur noch Bummelzüge zwischen München und Augsburg, die hundert Jahre brauchen.

Sie zögert, ich fasse es nicht. Was ist bloß los mit ihr?

»Du kannst dich da drüben duschen.« Sie deutet auf die Duschkabine.

Sie spinnt. Warum sollte ich jetzt noch duschen? Verwirrt schaue ich Ally an, doch während ich darüber nachdenke, komme ich zu dem Schluss, dass das sogar eine ganz hervorragende Gelegenheit wäre, unauffällig die Saat zu legen. Sie würde die Narben sehen, aber ganz sicher nichts sagen. Es würde ihr zu denken geben und den Boden bereiten …

Sie wischt die Hände an ihrer schwarzen Jeans ab und schaut mich dann unsicher grinsend an. »Ich meine, da unten in der U-Bahn war sicher eine Milliarde Bazillen in dem Gedrängel, oder nicht? Und die will ich nicht in meinem Bett haben.« Sie schluckt, als müsste sie gleich heulen, und zuckt dann mit den Schultern. Ich weiß nicht, wer von uns beiden eher ein Rad abhat, sie oder ich.

»Ist schon okay«, beruhige ich sie, weil ich nun Gefallen an dem Plan gefunden habe.

»Handtücher habe ich und ein frisches T-Shirt kann ich dir auch leihen.«

»Hast du auch noch Desinfektionsmittel zum Duschen und Gurgeln für mich?«, frage ich grinsend und hoffe, mein Kommentar entspannt diese merkwürdige Situation ein bisschen.

Sie lächelt. »Danke, dass du’s so cool nimmst. Mein Bruder Jury macht darüber auch immer Witze und findet, ich sollte in Therapie, aber das denke ich ja auch von ihm.«

Sie klappt die Truhe auf und reicht mir ein duftendes weißes Handtuch und ein T-Shirt. »Ich geh solange spazieren«, schlägt sie vor.

»Nein, bleib doch!« Mist, was kann ich nur sagen, um sie zu überzeugen, dass sie nicht weggeht? »Ich hab Angst, hier so ganz allein.« Etwas Besseres fällt mir nicht ein. Sie muss hierbleiben, sonst funktioniert mein Plan nicht.

»Angst?« Sie zuckt mit den Schultern. »Ich habe mich noch nie so sicher gefühlt wie hier. Man hat alles im Blick und hört, wenn jemand kommt. Ich habe vor ganz anderen Sachen Angst: vor Bazillen und engen Räumen …«, sie flüstert nur noch, »und jetzt neu im Angebot: Angst, nie den Mann zu kriegen, in den ich verliebt bin. Vielleicht sollte ich mal eine Anhängerserie zum Thema Angst machen.« Ein Schatten huscht über ihr Gesicht. »Sieht so aus, als hätten wir alle vor etwas anderem Angst.«

»Also, ich glaube nicht, dass Angst soo verschieden ist«, widerspreche ich. »Es gibt doch Sachen, die allen Angst machen: Schlangen, Spinnen, Serienkiller. Krieg. Dieter Bohlen.« Ich grinse sie an.

Sie lächelt zurück, schwach zwar, doch sie lächelt. »Da hast du recht, aber ich glaube, dass jeder auch noch so was wie eine persönliche Top Ten der Angst hat. Meine Mutter hat eine Mundgeruchpanik und ich wette, mein Bruder leidet unter starker HSP.« Jetzt grinst sie zum ersten Mal heute Abend richtig breit.

»HSP?«

»Hairstyleparanoia! Angst, dass seine widerspenstigen Haare nicht perfekt gestylt sind.« Sie kritzelt etwas auf einen Block, dann steckt sie sich den Stift in ihre Haare, wie um klarzumachen, dass sie nicht darunter leidet. Dabei frisiert sie ihre Haare so, dass sie überhaupt nicht zu ihrem Outfit passen: Sie flechtet ihre blonde Mähne zu einem dicken Zopf rund um ihren Kopf, was sie aussehen lässt wie diese Präsidentin irgendwo im Osten, deren Name mir nie einfällt. Und dazu diese schwarzen Klamotten aus Leder und Spitze und Seide.

Ich habe es einmal riskiert und sie in der Schule beobachtet, als ich noch nicht ganz sicher war, ob sie die Richtige ist. Und dabei ist mir aufgefallen, wie sehr sie sich von den anderen Goldschmiedinnen unterscheidet. Die tragen sogar im Hochsommer Schwarz, aber das sind dann öde Twinsets aus gewebter Seide oder ärmellose Rollkragenpullover und dazu brave Pagenköpfe oder strenge Ballerinenknoten im Nacken.

»Was ist?«, fragt Ally und mir wird klar, dass ich sie angestarrt habe.

»Ich beneide dich«, antworte ich.

»Weil Ferdi meine Sachen abscheulich findet?«

»Natürlich nicht.« Ich bin wirklich ein Trottel, was für ein Fettnapf! »Hör mal, das war doch alles sowieso eher in deiner Fantasie. Ist doch nicht schlecht, dass du sein wahres Gesicht kennengelernt hast, oder? Ich bin sicher, du kommst darüber hinweg. Mit dem Beneiden habe ich natürlich etwas anderes gemeint. Während ich für dieses sinnlose Abi lernen muss, wohnst du hier allein und kannst sogar schon deinen eigenen Schmuck entwerfen.«

Nun wird sie endlich mal richtig lebendig. »Mila, kann ja sein, dass ich in Bezug auf Ferdi ein bisschen gesponnen habe, aber eins weiß ich sicher: Man muss nicht alles machen«, sie fuchtelt mit den Händen durch die Luft, um das zu unterstreichen, »was Eltern von einem wollen. Wenn du etwas ändern willst, dann ändere etwas. Überleg dir Argumente und rede mit ihnen. Hey, wenn du kein Abi willst, dann mach’s nicht.«

»Du hast keine Ahnung! Das geht vielleicht in deiner Familie, aber meine Mutter würde …«

Ally stöhnt auf. »Ja, Mütter, die nerven immer.«

»Du verstehst das nicht. Meine Mutter ist sehr speziell.«

Ally verdreht die Augen. »Wenn du etwas ändern willst, dann musst du auch mit einer speziellen Mutter darüber reden.«

Okay, klar, sie versteht nicht das Geringste – wie auch, bei ihrem Familienhintergrund. Also muss ich mit etwas richtig Hartem kommen, um sie auf meine Seite zu ziehen und mir ihr Verständnis zu sichern.

»Als ich mal von zu Hause abgehauen bin, nachdem ich wieder einmal umsonst versucht hatte, mit meinen Eltern zu reden, da …«, jetzt die richtigen Worte wählen, feure ich mich an, »da hat meine Mutter versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden.«

Ally sackt etwas in sich zusammen. »Oh, das … das ist ja schrecklich«, murmelt sie und schaut mich unsicher an.

Ich sollte gleich noch eins draufsetzen, um sicherzugehen, dass mein Plan aufgeht. »Mein Vater war nicht da und so hab ich sie gefunden, blutüberströmt, aber gerade noch rechtzeitig …« Plötzlich wird mir ganz heiß, durchströmt mich wieder die Angst, die ich damals hatte, und die Wut auf meine Mutter.

Ally kommt näher. Nun weiß sie nicht, ob sie mich umarmen soll, diesmal nehme ich ihr die Entscheidung einfach ab und klammere mich an sie, als wäre sie meine Rettung. Ist sie ja auch!

Ihre Schultern werden hart unter der Berührung, sie versteift sich. Ich gebe eine Art Schluchzen von mir. Sie entspannt sich, drückt mich, löst sich dann und geht einen Schritt zurück. Ich tue schnell so, als würde ich eine Träne abwischen, und starre auf den Boden.

»Und dann, was geschah dann?«, fragt sie.

»Nichts, wir reden nicht darüber, sondern tun alle so, als wäre nichts passiert.« Das zumindest stimmt. Meine ganze Familie tut so, als wäre alles in Ordnung, dabei ist nichts in Ordnung. Gar nichts. Aber meine Mutter steckt lieber den Kopf in den Sand, als den Dingen auf den Grund zu gehen. Sie will gar nichts wissen und ich schätze mal, sie würde den Kopf lieber im Sand lassen und daran ersticken, als irgendwas infrage zu stellen oder zu ändern.

Ally streicht sich über ihre breite Nase. »Tut mir echt leid. Soo leid. Und ich heule rum, bloß weil Ferdi mein Schmuck nicht gefällt. Aber das mit deiner Mutter ist wirklich etwas anderes, das ist irgendwie …« Sie rudert mit den Händen in der Luft und sucht nach Worten.

»Ja, du hast recht, ganz genau das ist es!«, stimme ich ihr voller Inbrunst zu.

Sie schaut einen Moment lang verblüfft zu mir her und dann grinsen wir uns beide an, vollkommen anders als bisher, so auf die Art: Ich verstehe dich aus tiefstem Herzen und ohne Worte. Ein warmes Gefühl breitet sich in meinem Bauch aus. Ich glaube, wir sind gerade Freundinnen geworden.

Und obwohl ich besser daran arbeiten sollte, das gleich noch weiter zu vertiefen, höre ich schon die klare Frauenstimme von Papas TomTom, wie sie sich triumphierend in meinem Kopf breitmacht und ständig wiederholt: »Sie haben Ihr Ziel erreicht. Sie haben Ihr Ziel erreicht.«

Dabei ist »erreicht« voll übertrieben, denn das hier ist nur der erste Schritt. Aber es heißt doch, jeder Weg zum Ziel beginnt mit dem ersten Schritt. Und es folgt auch gleich der zweite. Ich knöpfe meine Caprijeans auf.

3. Ally

Während sich Mila auszieht, um unter die Dusche zu steigen, tue ich so, als würde ich ein Silberblech durch die Walze ziehen. Dabei kann ich in aller Ruhe darüber nachdenken, wie unsensibel ich bin. Klar, Ferdi war fies, aber das, was Mila da zu Hause erlebt hat, ist einfach grauenhaft. Während mein einziges Problem darin besteht, wie ich die Kohle meiner Eltern aus meinem Leben raushalten kann und wie es mir gelingen könnte, ein Mal, nur ein einziges Mal, meinen genialen Bruder auszustechen, hat Mila ein Psychowrack als Mutter. Das muss viel schlimmer sein als eine Staranwältin. Die kann man wenigstens anschreien, wenn man sauer ist. Aber einen Psycho?

»Hast du hier irgendwo Duschgel?«, ruft Mila aus der Dusche und zwingt mich so, zu ihr hinzusehen.

»Steht oben auf dem Kabinenrand.« Und während ich das sage, wird mir klar, dass Mila da nicht hinkommt – ich bin zwei Köpfe größer als sie.

»Warte, ich hol’s dir.« Von hier unten schaffe selbst ich das kaum, ich erwische es gerade so mit den Fingerspitzen.

Mila zieht eine Tür der Duschkabine auf und streckt mir ihre Hand entgegen. Und obwohl sie sie sofort zurückzieht, sehe ich es doch und muss nach Luft schnappen.

Narben. Narben von Schnitten, und zwar vom Handgelenk bis zur Schulter. Ich muss mich verguckt haben. Doch nicht Mila. Mila und Ritzen, das passt doch gar nicht!? Mila ist stark, kennt sich aus, weiß alles und hatte einen Freund. Also warum?

Ich starre durch das Plastik der Duschkabine und wünsche einerseits, ich könnte es noch mal nachprüfen, andererseits wünsche ich mir, ich hätte das nie gesehen. Fast stolpere ich, als ich zu meinem Bett gehe, dann lasse ich mich einfach drauffallen – ich mit meinem elenden Sauberkeitsfimmel.

Langsam drehe ich meinen Kopf zur Duschkabine, die durch den Perlenvorhang hindurchschimmert. Mila wollte ganz bestimmt nicht, dass ich das sehe. Aber warum hat sie mir den Arm dann hingehalten – oder hat sie diese Narben etwa an beiden Armen …?

An meiner alten Schule gab es zwei Mädchen, die sich geritzt haben. Meine Eltern hatten mich gezwungen, auf diese katholische Mädchenschule zu gehen, weil sie mich vor Drogen und Übergriffen schützen wollten. Sie dachten, es wäre eine gute Wahl. Doch ich schätze mal, es gab dort mehr Essgestörte als in einer gemischten Schule. Als das mit dem Ritzen rauskam, haben die beiden Mädchen die Schule verlassen. Und weil ich nicht wusste, ob sie deshalb hatten gehen müssen oder ob sie freiwillig weg sind, hatte ich damals kurz überlegt, ob das für mich auch ’ne Methode sein könnte, um von der Schule wegzukommen. Aber ich hatte viel zu viel Schiss, dass die Wunden sich entzünden könnten. Außerdem hasse ich Schmerz – ich würde mir ja nicht mal ein Piercing stechen lassen.

»Wo ist denn das Handtuch?«, ruft Mila, die das Wasser abgedreht hat.

Ich suche nach dem allergrößten Handtuch, das ich habe, vielleicht will sie sich richtig verhüllen, um sich vor meinen Blicken zu schützen. Ich tausche die Handtücher aus und reiche ihr das neue.

Sie rubbelt sich trocken, ich versuche, nicht hinzusehen, aber dann schiele ich doch zu ihr hinüber – und bin erleichtert. Denn der rechte Arm ist unversehrt. Die Narben sind nur links. Sie sind verheilt, aber rot und ziemlich wulstig.

Mila legt sich das Handtuch lässig um wie eine Toga und macht gar keine Anstalten, die Schnitte zu verdecken.

»Du hast sie sowieso gesehen, ich habe nicht daran gedacht und jetzt ist es zu spät.« Sie schüttelt ihre nassen schwarzen Haare wie ein Hund. »Tut mir leid, dass du’s gerade heute entdeckt hast, wo es dir selbst so beschissen geht.«

Ich habe keine Ahnung, was ich sagen könnte, was angebracht wäre. Versuche, mir vorzustellen, was Lena nun getan hätte. ›Ist mir egal, was du mit deinem Arm machst‹, klingt uninteressiert, irgendwie asozial. Aber zu fragen ›Warum machst du das?‹, ist wahrscheinlich auch nicht angebracht.

Mila lässt sich neben mich auf das Bett sinken. »Du fragst dich bestimmt, warum ich das getan habe.«

Ich nicke und versuche, nicht auf ihre Arme zu starren.

»Die Wahrheit ist, ich hab schon damit angefangen, lange bevor Mama so durchgeknallt ist. Du siehst ja, es sind alte Narben. Ich dachte auch, ich wäre drüber weg …« Sie beisst sich auf die Unterlippe und stöhnt, bevor sie sich einen Ruck gibt und weiterredet. »Aber dann ist etwas passiert – und dann ist es noch einmal passiert und deshalb habe ich wieder damit angefangen, aber das … das erzähle ich dir wann anders. Okay?«

»Klar.« Ich würde gern den Arm um sie legen oder ihren Rücken tätscheln, aber ich traue mich nicht. Ich habe keine Ahnung, ob das okay wäre. Ich hatte nie viele Freundinnen und von Lena weiß ich, dass sie so was auf den Tod nicht ausstehen kann.

»Ich find’s super«, murmelt Mila, »dass du keinen Aufstand deswegen machst. Die meisten regen sich total auf, deshalb trage ich immer lange Ärmel oder im Sommer auch Stulpen, obwohl mich an der Schule deshalb alle für ein Emu halten.« Mila rutscht näher zu mir und kuschelt sich an mich.

Ich werde aus Verlegenheit total steif, was sie sofort wieder von mir abrücken lässt.

»Tut mir leid«, sagt sie und in ihrer Stimme liegt so viel Schmerz, dass ich mich in Grund und Boden schäme und wieder zu ihr hinrutsche.

»Hey …«, sage ich und ringe um Worte. »Hey …«

»Ich steh auf Jungs, falls du deshalb Angst hast, und es ist auch nicht ansteckend, das Ritzen.«

»Ich habe keine Angst vor dir«, stammle ich und finde keine Worte für das komische Gefühl in meiner Brust. »Ich weiß bloß nicht, also, ich kenn mich nicht so gut aus mit so was.«

»Was meinst du mit so was?« Mila legt ihre Hand auf meine und versucht, mir ins Gesicht zu sehen, doch ich weiche ihr aus. Ich bin mit dieser Situation total überfordert.

»Mit …« Ich muss sehr tief durchschnaufen, bis ich es schaffe, es zu sagen, bis ich mich traue, es zuzugeben – vor mir selbst zuzugeben. »Mit so was wie Freundschaft.« Ich hebe den Kopf und starre sie herausfordernd an.

»Davon hab ich auch keine Ahnung.« Mila verdreht die Augen und kichert. »Dann sind wir also bloß zwei Aliens, die sich gefunden haben.« Sie beugt sich zu mir, küsst mich rechts und links auf die Wange und zum Schluss auf den Mund. Einfach so.

Ich schnappe nach Luft. Meine Lippen prickeln, als hätten sie Brennnesseln gestreift, aber dann wird dieses Stechen warm und süß. Unwillkürlich berühre ich meine Lippen mit den Fingerspitzen und bin erstaunt, dass sie sich wie immer anfühlen.

»Freunde?«, fragt Mila und hält mir ihre Handfläche hin.

»Freundinnen!«, antworte ich, schlage ein und zu meinem großen Erstaunen spüre ich nicht den Wunsch, mir sofort die Hände zu waschen. Stattdessen bleiben wir so sitzen und schweigen. Und obwohl das mit Ferdi passiert ist, fühlt sich zum ersten Mal heute alles gut an.

4. Mila

Heute übernachte ich zum fünften Mal bei Ally und heute muss ich einen Schritt weiterkommen. Vier Tage lang ging es immer wieder um Ferdi und ihren Schmuck. Aber beim letzten Mal haben wir endlich mal etwas anderes gemacht und einen uralten Schwarz-Weiß-Film angeschaut, wo die Frauen dauernd ihre extrem geschminkten Augen weit aufreißen und dann hysterisch lachen. Könnte sein, dass es einer mit Bette Davis gewesen ist, denn auf die steht Ally total. Sie hat mir erzählt, dass sie sich beim Kreieren ihres Schmucks immer fragt, ob und wann Bette Davis ihn tragen würde. Typisch Ally! Andere würden sich – wenn überhaupt – fragen, was Victoria Beckham oder Heidi Klum dazu sagen würde.

Jedenfalls ging’s in dem Film um unglückliche Liebe, wie fast immer in diesen alten Schmachtfetzen, und Ally hat einen Heulkrampf bekommen und wollte von mir wissen, ob ich glaube, dass sie jemals einen finden wird, der sie so liebt, wie sie ist.

Und gerade als ich sie so weit hatte und endlich mit meinem Schicksal loslegen wollte, klingelte es an Allys Tür und ihr eingebildeter, aber leider verdammt gut aussehender Bruder stand draußen am Tor. Obwohl Ally immer so tut, als fände sie ihn lästig und grauenhaft, konnte ich deutlich fühlen, wie sehr sie sich über seinen Besuch gefreut hat. Noch bevor er über den Hof bis zur Wohnung gekommen war, hat sie sich hektisch das verheulte Gesicht gewaschen und sich plötzlich aufgeplustert und mich dann so stolz präsentiert, als wäre ich ihr Hund. Ich war kurz davor, sie zu fragen, ob ich Männchen machen soll.

Jury hat so getan, als würden ihn Allys neueste Schmuckkreationen interessieren, aber in Wirklichkeit hat er mich ziemlich misstrauisch abgecheckt. Es hat ihn gewundert, dass ich da war, und das wiederum hat mich nervös gemacht. Kennt er mich von irgendwoher? Immerhin hat er angeblich ein fotografisches Gedächtnis – und das könnte sich als äußerst fatal erweisen. Er studiert Jura und Medizin, weil ihn ein Studium allein nicht ausfüllt, und dann geht er auch noch zum Kitesurfen und Klettern (oder Bouldern, wie er das nennt) und ist deshalb durchtrainiert und braun gebrannt.

Wenn ich Ally wäre, würde ich diesen Perfektling abgrundtief hassen. Auch weil er der Sohn ist. Ich weiß, Väter lieben ihre Söhne mehr, weil sie der definitive Beweis ihrer Potenz sind. »Ein Haus bauen, einen Sohn zeugen«, hieß es doch früher und ich bin sicher, insgeheim denken sie alle immer noch so. Vielleicht wäre zu Hause auch alles anders, wenn ich ein Junge wäre.

Jedenfalls fand ich Jury dermaßen unerträglich, dass ich dann bald gegangen bin, ohne zum Ziel gekommen zu sein. Später hat Ally mir noch gemailt, aber da war sie schon wieder mies drauf, weil ihr Bruder nichts zu ihren Entwürfen für den Silberwettbewerb gesagt hat. Jury hätte mich aber ziemlich sexy gefunden. Ich würde in sein Beuteschema passen, meinte Ally. Mila, du bist klein und zierlich, dunkelhaarig und du warst frech zu ihm. Das gefällt ihm, weil es ihn langweilt, dass die meisten Mädchen ihn anhimmeln.

So ein Unsinn! Ich war nur so ätzend, weil ich ihn loswerden wollte. Das Komische ist, dass ich seitdem das Gefühl habe, jemand würde mir folgen. Allys Bruder könnte mir tatsächlich gefährlich werden. Was, wenn er rauskriegt, wer ich wirklich bin?

Auf der Zugfahrt von Augsburg nach München hatte ich heute ständig den Eindruck, dass mich jemand anstarrt, doch immer, wenn ich mich umgedreht habe, war niemand zu sehen. Und eben auf dem Weg zu Ally hatte ich auch dauernd so ein Kribbeln im Nacken. Aber warum sollte ihr Bruder mir folgen? Er würde mich eher zur Rede stellen, als mir nachzuspionieren. Außerdem sieht er so dermaßen unverwechselbar aus mit den breiten Schultern, dem schwarzen kurzen Haar und seinem braunen Teint, den würde ich schon von Weitem sofort erkennen. Ein letztes Mal drehe ich mich um, wieder ist kein Mensch zu sehen.