Dann rennen wir - Paula McGarth - E-Book

Dann rennen wir E-Book

Paula McGarth

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Beschreibung

Drei Frauen, drei Zeiten, drei Orte, eine Gemeinsamkeit: Sie alle rennen vor etwas davon - vor ihren Familien, gesellschaftlichen Hürden, Einschränkungen und Gewalt. Dabei finden sie ihre Stimmen und ihre Identität.2012. Eine Gynäkologin zögert, eine neue Stelle in London anzunehmen, obwohl die es ihr ermöglichen würde, der zunehmend angespannten Atmosphäre in dem Dubliner Krankenhaus zu entkommen, in dem sie praktiziert. Aber wer würde sich um ihre an Alzheimer erkrankte, pflegebedürftige Mutter kümmern? 1982. Die sechzehnjährige Jasmine läuft von zu Hause weg, um Boxerin zu werden. Ein Sport, der im Irland der 1980er Jahre für Mädchen verboten ist. 2012. In Maryland hat die junge Ali gerade ihre Mutter verloren. Ihre Großeltern, die sie nie zuvor gesehen hat, wollen sie adoptieren. Um ihnen zu entfliehen, schließt sie sich einer Biker-Gang an.In Paula McGraths vielstimmigem Roman verbindet die generations- und ortsübergreifende Geschichte des Weglaufens drei Frauen, die sich danach sehnen, ihr eigenes Leben zu leben. Emanzipatorisch, befreiend, empowernd und hoch aktuell erzählt dieser Roman von Selbstbestimmung der Suche nach Identität.Aus dem Englischen übersetzt von Karen Gerwig, die ein Gespür für die direkte, poetische und packende Sprache von Paula McGrath unter Beweis stellt. "Dann rennen wir" von Paula McGrath ist eines der besten Bücher des Jahres laut der Irish Times. Das gleichnamige Hörbuch erscheint bei GOYALiT.

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Paula McGrath

Dann rennen wir

Roman

DIE AUTORIN

Paula McGrath ist eine irische Schriftstellerin. Sie studierte Englische Literaturwissenschaft und promovierte im Fach Kreatives Schreiben an der University of Limerick. Inzwischen unterrichtet sie Creative Writing am University College Dublin. Dann rennen wir ist ihr zweiter Roman. 2016 erhielt sie ein Literaturstipendium des Arts Council und war Writer-in-Residence des Irish Writers Centre in Florenz. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren Kindern in Dublin.

 

DIE ÜBERSETZERIN

Karen Gerwig studierte Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaften in Germersheim und Rennes, Frankreich. Seit über 15 Jahren arbeitet sie als Literaturübersetzerin aus dem Englischen und Französischen. Für ihre Übersetzungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet.

Für Pauline McGrath

Dublin 2012

Allmählich bekommt sie den Eindruck, dass dieses Meeting ewig dauern wird. Runde um Runde steigen sie in den Ring, obwohl sie doch wissen müssten, dass sie zu keinem Ergebnis kommen werden. Wie könnten sie auch? Gesetz ist Gesetz, und solange es sich nicht ändert, bleibt ihnen nur, so weiterzumachen wie immer: Sie werden ihr Bestes geben. Meine Güte, wird Sean jemals die Klappe halten? Er kennt keine Einzelheiten; niemand kennt sie. Es ist alles Spekulation. Hätte, könnte, sollte. So viel zu seiner wissenschaftlichen Ausbildung.

Sie blendet ihn aus. Die Streifen Himmel zwischen den vertikalen Lamellen der Jalousie haben sich verdunkelt, denn Regenwolken ballen sich an diesem Spätnachmittag zusammen. Laut Wettervorhersage sieht es nicht so aus, als ob sich das Wetter bis zum Abend halten wird. Wenn sie hier nur endlich fertig würden, könnte sie vielleicht noch laufen gehen, bevor es losgeht. Aber ihrer bisherigen Berufserfahrung nach geht es in Meetings nicht um Ergebnisse. Sie dienen als Sicherheitsventile, in denen alle ihren Frust ablassen können, damit es nicht unter unpassenderen Umständen passiert. Leider wird dabei viel heiße Luft freigesetzt. Es sind immer dieselben ein oder zwei, die sich gern reden hören. Sie hat das nie verstanden. Wenn sie um ihre Meinung gebeten wird oder wenn sie ihre beisteuern möchte, äußert sie sie prägnant und so knapp, dass ihre Beiträge in den Sitzungsprotokollen zu einem Dauerwitz geworden sind: Auf eine Seite von Sean folgt eine Zeile von ihr.

»Morgen könnte es uns treffen. Und was dann? Wir wissen immer noch nicht genau, wo wir stehen. Wir wollen nicht in ein Szenario verwickelt werden, bei dem wir einmal durch den gesamten Rechtsapparat geschleift werden. Wenn noch nicht einmal das Rechtssystem weiß, was es will, wie sollen wir es dann wissen?«

Und so ging es in einem fort. Der neueste Medizinskandal ist tatsächlich sehr besorgniserregend, und aus diesem Grund ist sie genauso nervös wie der Rest ihrer Kollegen. Die Moral ist im Keller, und immer mehr Mitarbeiter bitten um Auszeiten wegen stressbedingter Krankheiten. Doch mehr noch als Sorge verspürt sie Schuld. NmP, hat eine ihrer Patientinnen gestern zu ihr gesagt, nachdem ihr das Frühstückstablett abgerutscht war und sie die Bettwäsche mit Tee und Cornflakes getränkt hatte. Sie musste fragen, was das bedeutet: Nicht mein Problem, erklärte ihr die frischgebackene Mutter – was es, während sie in ihrem Bett saß und ihren Säugling stillte, auch tatsächlich nicht war. Und es sieht zunehmend so aus, als wäre die aktuelle Debatte auch nicht mehr sehr lange ihr Problem: Heute Morgen ist Kens E-Mail angekommen.

Kleine Vorwarnung, der Job gehört dir. Angebot ist in der Post. Hoffe, du wirst das Team sehr bald leiten, K.

 

Ken, Jeffreys Protegé. Sie goutiert seine kleine Insider-Vorwarnung nicht. Allein das Wort nervt.

»Wir brauchen wirklich Klarheit«, stimmt sie zu, als sie merkt, dass Sean sie ansieht. Doch ihr Versuch, Unterstützung zu zeigen, geht nach hinten los, und er stürzt sich in eine langatmige Bestätigung seines eigenen Arguments. Resigniert lehnt sie sich zurück und setzt den neutralen Gesichtsausdruck auf, den sie in den letzten Jahrzehnten perfektioniert hat, in denen sie mit diesem leidigen Thema zu tun hatte, und hinter dem sie ihre Ungeduld angesichts der müßigen Tirade verbirgt, genauso wie den starken Drang, diese ganze sinnlose Debatte hinter sich zu lassen. Aber sie hat sich noch nicht entschieden, ob sie so weit gehen kann, das Land zu verlassen.

Ein plötzliches Prasseln am Fenster kündigt den Regen an, und bis sie endlich draußen ist, schüttet es bereits. Es ist nicht nur das Meeting, das sie nervös macht, es ist auch Jeffrey. Es war immer klar, dass eine Fernbeziehung Unsicherheit bedeutet. Ehrlicherweise muss sie aber zugeben, dass ihre momentane Ruhelosigkeit auch schon vor Jeffrey eingesetzt hatte. Irgendwann im vergangenen Jahr ist das Gefühl in ihr gewachsen, dass ihr das Leben, mit dem sie lange zufrieden war, vielleicht nicht mehr genügt. Oder zu viel ist. Und sie kommt sich wie eine Idiotin vor, weil sie es nicht weiß. Ähnlich wie manchmal beim Laufen, wenn sie einen panischen Moment lang nicht weiß, ob sie einatmet oder ausatmet. Vielleicht ist sie deshalb bereitwilliger auf Jeffreys Aufmerksamkeiten eingegangen, als es sonst ihre Art war. Na bitte, da war er ja, ein neuer, angsteinflößender Gedanke.

Sie winkt ein Taxi herbei, und gerade als sie einsteigt und versucht, gleichzeitig ihren Regenschirm und die Tür zu schließen, klingelt ihr Handy. Sie kramt ewig in ihrer Handtasche, bis sie es findet. Es ist Jeffrey, der Mann, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen will, dennoch erschöpft sie der Gedanke an ein Gespräch mit ihm irgendwie. Das kann nicht richtig sein. Bis sie sich überwindet, hat es aufgehört. Was soll’s, sagt sie sich, sie wird ihn zurückrufen, sobald sie zu Hause ist.

Abgesehen davon kann sie sich denken, was er wollte, und bis sie zu Hause ist, wird es dafür zu spät sein. Nimm ein Taxi zum Flughafen, ich schicke einen Fahrer, der holt dich hier ab. Für Jeffrey ist alles immer so einfach. Aber es ist unfair von ihm, ihre Schuldgefühle noch zu verstärken; er weiß, wie sie ihre Abende verbringt. Einmal hat sie sich überreden lassen. Sie hatte im Heim angerufen und eine unerwartete berufliche Verpflichtung vorgeschoben – sie wusste nicht, warum sie nicht einfach die Wahrheit sagte – und es Ana, der philippinischen Pflegerin überlassen, ihr Gewissen zu besänftigen. Keine Sorge. Wir erklären es ihr. Sie wird es nicht einmal bemerken. Sie war nach London geflogen, wo Jeffrey sie mit Austern und Champagner verwöhnte und sie mit normalerweise unmöglich zu bekommenden Karten für die Premiere des Theaterstücks überraschte, das in aller Munde war, wie er sagte. Aber sie konnte sich nicht entspannen, und am Ende war sie am Samstagabend nach Dublin zurückgeflogen, und die Karten verfielen. Sie fühlte sich schlecht, aber es führte kein Weg daran vorbei: Ihre Mutter hat nur noch sie.

Inzwischen gießt es in Strömen. Der Fahrer hat die Scheibenwischer auf die höchste Stufe gestellt.

»Sie können mich am Tor rauslassen«, sagt sie, als sie sich dem Pflegeheim nähern.

Sie hat wochenlang recherchiert, ist jeder vielversprechenden Spur und Empfehlung von Kollegen gefolgt und hat jeweils mindestens zwei Besuche gemacht, bis sie sich entschieden hat. Es ist die beste Einrichtung für Alzheimerpatienten, und sie tun alles, damit sich ihre Mutter wohlfühlt. Trotzdem ist sie nach ihren Besuchen dort immer enttäuscht, als wäre irgendwie alles ihre Schuld, weil sie das Heim ausgewählt hat. Jeden Abend, wenn sie kommt, sitzt ihre Mutter in einem Ohrensessel, den Blick vage auf einen an der Wand hängenden Fernseher gerichtet, der ständig mit gedämpftem Ton im Hintergrund läuft. Die starken Beruhigungsmittel dienen seit dem Zwischenfall mit der Glühbirne ihrer eigenen Sicherheit: Ihre Mutter hatte anscheinend eine Glühbirne herausgedreht und in der Hand zerquetscht, sich die Glasscherben dann übers Gesicht verschmiert und versucht, sie in ihre Haut zu massieren, wie eine Feuchtigkeitscreme. Die diensthabende Pflegerin war durch die Schreie einer anderen Patientin aufmerksam geworden. Zum Glück waren die Schnitte nur oberflächlich und gut verheilt.

»Sind Sie sicher?«, fragt der Fahrer.

»Ja.«

Sie braucht frische Luft.

Sie läuft los, spannt ihren Regenschirm unterwegs auf, wird aber trotzdem klatschnass, sodass es einen Moment lang eine Erleichterung ist, nach drinnen zu kommen. Dann katapultiert sie die plötzliche Hitze ruckartig wieder zurück in die Gegenwart, ins Heim. Sie schaut kurz nach Sheila, wie immer, dann sucht sie die diensthabende Pflegerin, um sich ausführlich auf den aktuellen Stand bringen zu lassen. Sie prüft das Protokoll ihrer Mutter sorgfältig, auch wenn es kaum einmal Abweichungen gibt. Als sie es nicht mehr länger hinauszögern kann, geht sie hinein.

Ihre Mutter erkennt sie nicht; sie registriert nicht einmal, dass sie Besuch hat, also gibt es wenig zu tun, nachdem sie den Überwurf glattgestrichen hat. Sie sagt hallo zu Mays Besuch und geht zum Fenster, um hinauszuschauen. Mays Familie freut sich immer, wenn sie Smalltalk machen kann, aber in der Pause nach den einleitenden Bemerkungen über das Wetter oder das Kürzerwerden der Abende oder den starken Verkehr fällt allen wieder ein, warum sie hier sind. An diesem Abend sind sie sich einig, dass es ein fieser Abend ist und der Regen von der kräftigen, nassen Sorte. Dann wendet sie sich ihrer Mutter zu und hantiert mit ihren Pantoffeln herum, während Mays Tochter schnell eine Zeitung herauszieht und anfängt, einzelne Abschnitte daraus laut vorzulesen. Sie hält sich gern mit den Nachrichten auf dem Laufenden, haben sie ihr oft erzählt. May ist genauso ruhiggestellt wie ihre Mutter, also ist es höchst unwahrscheinlich. Aber sie darf nicht mutmaßen. Niemand weiß wirklich, was May oder ihre Mutter mitbekommen. Nach einem Artikel oder zwei, die eindeutig wegen ihres seichten Inhalts ausgesucht wurden, gehen Mays Besucher, aber sie kann sie draußen im Flur hören, wo sie noch ewig stehen und plaudern.

Schließlich steht sie ebenfalls auf, um zu gehen. Aber gerade als sie die Tür erreicht, erhebt ihre Mutter die Stimme, was fast nie vorkommt. Es ist ein Murmeln, als spräche sie mit sich selbst, aber trotzdem deutlich hörbar. Ja, lauf du nur wieder weg, wenn jemand dich braucht. Ausgerechnet diese Worte aus dem Mund ihrer Mutter, die seit Jahrzehnten nicht mehr klar war – erst war es der Alkohol, dann die Demenz –, ihrer Mutter, die nichts vom Laufen versteht und die sicher nichts von dem Job in London weiß. Niemand weiß etwas, bis auf den Vorstand und Jeffrey. Um Himmels willen, sie hat noch nicht einmal das offizielle Angebot bekommen. Und sie hat sich noch nicht entschieden, was sie tun wird, wenn es so weit ist.

»Was hast du gesagt, Mam?«, fragt sie. Es war ungerecht. Sie weiß, was sie gesagt hat, und sie weiß auch, dass es nichts nützt, sie zu bitten, es zu wiederholen. Und natürlich starrt ihre Mutter nun wieder ins Leere, zurück in der wie auch immer gearteten unerreichbaren Welt, die sie bewohnt, und natürlich gibt es keine Wiederholung der Wörter oder irgendwelcher Wörter, obwohl sie noch einige Minuten wartet. Als sie schließlich geht und an der eng zusammenstehenden Gruppe von Mays Familie vorbeischlüpft, ist sie plötzlich neidisch auf die schlichte, tröstliche Tatsache, dass sie sich gegenseitig haben.

In der Besuchertoilette holt sie ihre Laufklamotten und den zusammengerollten Rucksack aus ihrer Longchamp-Handtasche. Sie zieht Leggings, T-Shirt, Signalweste und Laufschuhe an, dann steckt sie ihren ordentlich zusammengefalteten Hosenanzug, ihre Bluse, die Schuhe und ihre jetzt gefaltete Tasche in den Rucksack. Ein ganz schönes Programm, war Jeffreys Kommentar, als sie ihm davon erzählte. Sie konnte seinen Tonfall nicht einschätzen.

Sie hat ein Buch: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede, eines der wenigen aus ihrer Sammlung, das kein Fachbuch ist und in dem sie immer wieder liest wie in einer Bibel. Laufen kommt für sie einer Religion nah, es ist der eine rote Faden, der sich durch ihr ganzes Erwachsenenleben zieht. Manchmal denkt sie, es ist das Einzige, was sie weitermachen lässt. Wenn sie sich die Riemen ihres Rucksacks über die Schultern zieht, fühlt es sich an, als würde sie sich Flügel anlegen. Sie durchquert die Eingangstür des Heims, kann sich kaum noch zurückhalten, bis sie um die Kurve in der Einfahrt gebogen ist, dann beginnt sie zu laufen.

Aber ihr geht zu viel durch den Kopf, sodass sich das übliche Gefühl des Friedens nicht einstellen will. Mays Besucher hatten die Zeitung auf einem Stuhl liegen gelassen, mit dem Titelfoto einer schönen Frau, die gestorben ist, möglicherweise, weil Ärzte ihr nicht helfen durften; darum ging es beim Meeting an diesem Nachmittag, und darüber reden alle bei der Arbeit: die Mütter, die Hebammen, Sicherheitsleute und Besucher genauso wie ihre Kollegen. Sie reden auch in Großbritannien davon, hat ihr Jeffrey erzählt. So ein sinnloser Tod, so eine Heuchelei, sagen sie, und sie wissen da drüben alles über dieses Thema, schließlich sind sie diejenigen, die damit klarkommen müssen. Es ist ihr beruflich peinlich und noch darüber hinaus. Ist es nicht entsetzlich, hatte Mays Tochter gesagt, als sie die Zeitung weglegte, und sie hatten alle hilflos genickt. Sie kann sich nicht erinnern, ob ihre Mutter einen Blick darauf geworfen hat, bevor sie sprach. Hat sie das gemeint? Sie versucht, sich einzureden, dass sie sich nicht deshalb auf den neuen Job beworben hat, weil es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis so etwas auch in ihrem eigenen Krankenhaus passiert. Sie versucht, ihren Instinkt zu ignorieren, der ihr rät, dass sie eigentlich genau aus diesem Grund bleiben sollte. Bin weg zum Laufen. Ist das dasselbe wie weglaufen? Natürlich sind Vernunft und Logik ihrer Mutter schon seit langer Zeit fremd, und es ist sehr wahrscheinlich, dass ihre seltsame kleine Ansprache überhaupt nichts zu bedeuten hatte. Oder etwas ganz anderes bedeutete; ihre gemeinsame Geschichte ist schließlich eine des Weglaufens.

Maryland 2012

Der Liegestuhl ist knapp vor dem Kipppunkt, aber ich strecke meine Beine noch ein kleines bisschen, bis ich direkt über dem Spalt zwischen dem Pier und dem Boot lehne. Ich habe diese Kunst des Schwebens zwischen Land und Wasser perfektioniert, als ich ein Kind war. Allerdings bin ich auch sehr oft hineingefallen. Maxie reicht den fetten Joint herüber, den er gedreht hat, und ich greife vorsichtig danach; bei diesem Winkel genügt die kleinste unvorsichtige Bewegung, und das Wasser unter mir ist schwarz und ölig. Ich nehme einen Zug. Was ist der Plan?, will Maxie wissen, und ich sehe, wie er einen Blick auf die Urne auf dem Boden neben mir wirft, als er fragt. Ich betrachte den Joint, hoffe, er könnte irgendeine Antwort bereithalten, aber die Spitze glimmt einfach vor sich hin, und die Asche hängt nur so da. Gerade als die Füße des Liegestuhls wieder den Boden berühren, fällt die Asche ab. Ich reiche den Joint zurück.

»Um ehrlich zu sein, Maxie, ich habe nicht direkt einen Plan.«

»Brauchst du Hilfe bei …?«

»Du hast schon so viel gemacht, du weißt schon, weil du mitgekommen bist zur … und alles …«

Mir fehlt irgendwie das Vokabular für dieses Gespräch, aber Maxie nickt, als würde er es trotzdem kapieren.

»Glaubst du, es würde ihr gefallen, wenn ich mit dem Boot in die Bucht rausfahre und, du weißt schon, verstreue …?«

Mom ging gern raus aufs Wasser, sooft sie konnte. Es half ihr auch bei Problemen, wenn sie sich über etwas klar werden musste. Oder wenn wir uns wegen etwas stritten. Bringen wir’s raus auf’s Wasser, sagte sie dann und meinte beides: die Meinungsverschiedenheit wie das Boot. Bis wir dann wieder zurück waren, hatten wir vergessen, worum es überhaupt ging, denn da draußen muss man zusammenarbeiten und ist viel zu beschäftigt, um zu streiten. Aber es geht noch um mehr. Es geht darum, wie wehrlos du in deinem kleinen Boot gegen die unendliche Weite des Meeres bist, dagegen erscheint das ganze andere Zeug irgendwie trivial.

Aber Maxie zuckt bei meinem Vorschlag nur mit den Achseln. Ich verstehe schon, warum er nicht viel davon hält. Weil Mom nicht so drauf stand, einen großen Aufstand wegen Sachen zu machen. Sie hat jedenfalls keine Anweisungen für diesen Fall hinterlassen. In Filmen haben tote Leute dann schon Musik und Gedichte ausgesucht. Mir kam das immer kontrollfreakig vor, aber hey, was weiß ich schon? Vielleicht mache ich diesen ganzen Scheiß auch, wenn ich alt bin. Aber es war nicht Moms Ding.

»Keine Verwandten?«

»Nicht dass ich wüsste.«

Maxie lässt das sacken. Bei den meisten Alteingesessenen hier unten gibt es etwas, was sie entweder nicht wissen, nicht wissen wollen oder was sie dir nicht sagen wollen. Was aufs Selbe rauskommt. Man bohrt nicht nach.

»Tja, das macht es einfacher«, sagt er schließlich.

»Ich glaube auch.«

Eine Weile sagt keiner von uns etwas. Was cool ist.

»Also gut, Ali Baba.« Er stemmt sich hoch. »Sag mir einfach, wenn du was brauchst.«

»Ich brauch nichts«, erkläre ich seinem Rücken, als er den schräg abfallenden Steg hinaufschlurft.

Das stimmt. Ich war schon sehr oft allein hier. Und abgesehen von dieser ersten Nacht, als Maxie und Jess sich weigerten, mich allein zu lassen, habe ich allein auf dem Boot übernachtet. Der Trick ist, nicht zu viel zu denken, denn egal, wie viel man denkt, es kann nichts daran ändern, was passiert ist. Und nichts hätte es verhindern können, denn Mom hätte nie irgendwo anders als auf dem Boot leben wollen. Das macht es leichter.

Nur heute Morgen war echt hart. Ich hab es nicht kommen sehen; ich dachte mir, es könnte nichts schlimmer sein als der Moment, als sie aufgebahrt in der Leichenhalle lag, ganz gelb und aufgedunsen, völlig anders, als sie in Wirklichkeit aussah, nur dass sie es definitiv war. Ich rannte raus und heulte Rotz und Wasser den ganzen Weg zurück zum Jachthafen in Maxies Auto. Aber dieser Morgen war noch schlimmer. Nur eine Handvoll von uns in irgendeinem Raum, zwar nicht in der Kirche, aber so ähnlich, mitsamt der leisen Musik und diesen großen, stinkenden Lilien, die sie gehasst hat. Sie hätte lieber alle Fenster aufgerissen und frische Luft hereingelassen. Dann fiel mir der Sarg wieder ein und dass sie genau in diesem Moment in einen Ofen geschoben und verbrannt wurde. Da hatte ich eine Art Zusammenbruch. Maxie brachte mich nach draußen auf den Parkplatz, wo wir uns neben sein Auto setzten und Gras rauchten, bis ich mich wieder beruhigt hatte.

Jetzt geht’s mir gut. Ich komm damit klar. Ich muss mir nur überlegen, was ich mit ihrer Asche mache. Ich glaube, ich stelle die Urne unter Deck, zumindest für den Anfang. Als ich mich gerade aus meinem Liegestuhl wuchte, sehe ich das Auto heranfahren. Es ist bei Weitem kein schicker Jachthafen, und wir haben hier nicht allzu oft Autos wie dieses hier. Es ist lang und glänzend und schwarz, und der Fahrer hat das Fenster heruntergelassen, um mit Maxie zu reden. Max kann ihm nicht viel gesagt haben, denn er hält nur ungefähr zwei Sekunden an, aber als er weitergeht, wirft er mir einen Blick zu, wie eine Art Warnung. Ich denke mir, er hat da was falsch verstanden, denn was sollte jemand in so einem Auto von mir wollen?

Sie brauchen ewig, um auszusteigen, und dann verstehe ich, warum. Eine von ihnen ist eine alte Frau mit einem Rollator, und der andere hat einen Stock. Der Fahrer, der älter aussieht als Maxie – und Maxie ist alt genug, um mein Opa zu sein –, führt sie den Gehweg entlang auf die Mole. Er hat einen Aktenordner unter den Arm geklemmt und wirkt, als könnte er sich nicht entscheiden, wer von ihnen mehr Aufmerksamkeit braucht, also wieselt er zwischen beiden hin und her. Es ist irgendwie lustig, also bleibe ich, wo ich bin, und schaue zu; der Alte führt die Uralten an, sie alle tragen teuer aussehende schwarze Kleidung, die für einen Tag wie heute viel zu warm aussieht.

Klar, die Kleider waren ein Hinweis, aber mir ist er entgangen. Ich lächle sogar, als sie auf mich zukommen; Maxie hat recht, sie kommen wirklich zu mir. Als der jüngere alte Typ mich entdeckt, eilt er den ganzen Weg zum Boot hinunter mit bereits ausgestrecktem Arm.

»Philip Goldman, von Goldman, Zimmerman und Boyce«, verkündet er, als er näherkommt.

Ich sage Hi und ignoriere seine Hand, bis ich höre, was er zu sagen hat.

»Wir sind …«

Er schaut sich um, wie weit die Uralten schon gekommen sind; sie haben ungefähr den halben Steg gemeistert.

»Wir suchen Ms Alison Dougherty. Sind Sie das?«

Ich schüttle den Kopf. Er schaut ungläubig drein.

»Das ist doch Nummer vierundzwanzig, oder nicht?«

Ich zucke mit den Achseln, mein Instinkt meldet sich zu spät, um mich zu warnen. Aber der Typ lässt sich nicht so leicht abwimmeln. Er wippt auf seinen Absätzen nach hinten und blinzelt auf die Liegeplatznummer, die gerade so auf dem Schild neben meinem Stuhl zu sehen ist.

»Vierundzwanzig. Hier steht es. Dein Freund hat zugegeben, dass du Alison bist.«

Er sagt es, als wäre Maxie etwas Unappetitliches, das er sich von der Nase weghalten muss. Ich bekomme langsam ein schlechtes Gefühl bei alledem. Inzwischen ist auch seine Begleitung angekommen. Der Blick der beiden wandert erwartungsvoll von ihm zu mir.

»Bist du Alison Dougherty oder nicht?«, will er wissen; er wird ungeduldig.

»Ich bin Alison, aber ich bin nicht Alison Dougherty«, sage ich ihm widerstrebend.

Die alte Dame kann sich nicht mehr zurückhalten. Sie rückt ihre Gehhilfe nach vorn und mustert mein Gesicht.

»Ja, ja. Sie ist es. Sie benutzt wahrscheinlich Delahunt, den Namen der Mutter. Du bist Alison Delahunt, nicht wahr?«

Ich nicke. Sie scheint sowieso alles zu wissen.

»Wusste ich es doch.« Sie klingt zufrieden. »Ich bin deine Großmutter, Moira Dougherty. Und das ist mein Mann Richard, dein Großvater.«

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Bisher wusste ich nicht, dass ich noch andere Großeltern habe. Ich nehme an, Mom hat mich glauben lassen, dass sie irgendwann gestorben sind, wie ihre eigenen Eltern. Stimmt das überhaupt? Langsam beginne ich, an allem Möglichen zu zweifeln, als der Typ mit dem Aktenordner sich räuspert.

»Ich wurde angewiesen …«

Er zieht ein Papier aus der Akte und winkt damit, als ob ich es so lesen könnte. Dann redet er eine Menge Zeug, das ich nicht verstehe. Das alte Paar ist nun ganz aufgeregt, oder zumindest wirkt sie so. Der alte Richard sieht aus, als wäre er lieber so ungefähr überall, nur nicht hier. Ich weiß, wie er sich fühlt.

»Verstehst du?«, fragt der Typ am Ende. Er ist ihr Anwalt. Den Teil habe ich mitbekommen.

»Nein. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen.«

Ich muss hier weg, weg von ihnen. Etwas hat sich gewendet, und ich mag nicht, wonach das hier klingt. Ich nehme die Urne hoch und werde das Gefühl nicht los, der Inhalt könnte der Grund all meiner neuen Probleme sein. Deine Mutter, hat er ständig gesagt, während er mit seinem Papier herumwedelte. Ich konnte kurz eine Unterschrift darauf erkennen, die mir bekannt vorkam. Meine Mom, die gern davon redete, mit der Natur zu leben, von der Natur, außerhalb des Systems, aber die, wie es scheint, trotzdem eine gesetzliche Vertretung hatte.

»Du kommst zu uns«, schaltet sich die alte Dame wieder ein. Ich schüttle den Kopf und betrete das Bootsdeck.

»Ich wohne hier.«

Der Anwalt mischt sich wieder ein.

»Du bist minderjährig, und deine Mutter hat Vorkehrungen getroffen. Deine Großeltern väterlicherseits sind jetzt deine Erziehungsberechtigten.«

»Sie sind ja verrückt«, erkläre ich ihm. Ich kann nicht klar denken, aber ich kann klar genug denken, um das Boot loszumachen.

Ein glänzender schwarzer Schuh pflanzt sich auf das Tau.

»Hey!«

»Du musst leider mit uns kommen. Sofort. Die Gerichte haben schon die Verfügung ausgestellt.«

Rathlowney 1982

Sie konnte ihr Konto nicht leeren, falls Audrey, die Kassiererin, es ihrer Mam erzählte, so unwahrscheinlich es auch war, dass sie ihr über den Weg laufen würde, also hob sie so viel ab, wie sie wagte, und in letzter Minute wühlte sie Mams Handtasche durch und nahm noch mal zwanzig Pfund heraus. Sie ließ einen Zettel auf dem Tischchen im Flur liegen: Wenn du das liest, bin ich weg. Es klang wie aus dem Fernsehen, als sie es noch mal las, aber wie sonst hätte sie es sagen sollen? Sie schrieb unten noch etwas dazu: Ich übernachte bei der Cousine eines Mädchens von der Schule in England. Ich rufe an, wenn ich dort bin. Jasmine.

Es gab keine Cousine und kein Mädchen aus der Schule, es sei denn, man zählte Lisa Whelan mit, die genau in diesem Moment ein Stück die Straße hinunter ihre Uniform anzog. Sie dachte an Lisa, weil ihr Onkel ihr Tickets für Top of the Pops besorgt hatte. Jasmine und alle anderen aus der Klasse würden es diesen Donnerstagabend einschalten, und für ein paar Sekunden konnte man sie sehen, wie sie sich verlegen zu Blondie wiegte, in ihrem gelben Pulli und ihrem Gypsy-Rock. Aber das war nicht der Grund, warum sie beschlossen hatte, nach England zu gehen. Der Grund war das, was danach kam. »Night Fever«. Es war eigentlich nicht ihr Ding, aber die Bee Gees konnten nicht kommen, hatte David Jensen gesagt, also tanzten stattdessen Legs & Co. Damit fing es an. Nicht, dass sie tanzen wollte wie sie – manche Bewegungen waren so abgeschmackt, dass man ausgelacht würde, wenn man sie in der Rugby-Club-Disco ausprobierte –, es war ihr Mut. Da waren sie, mit ihren beknackten Bewegungen und ihren lächerlichen, durchsichtigen Nachthemdchen, durch die man ihre silbernen Höschen sah, und es war ihnen völlig egal. Sie warfen ihre Haare zurück und die Arme in die Höhe, schwangen ihre Schultern und Hüften, als sie auf der Bühne nach vorn kamen, die direkt ins Publikum ragte, und sie sahen unbesiegbar aus. Jasmine wollte wissen, wie sich das anfühlte, und sie würde es nicht herausfinden, wenn sie in Rathlowney blieb. Auch wenn ihr Plan, abgesehen von London, bestenfalls vage war.

Mam war wie üblich weggetreten; sie würde in den nächsten Stunden nicht aufwachen. Abgesehen davon konnte sie kaum so tun, als hätte sie es nicht kommen sehen. Jasmine wusste nicht genau, wieso alles so schiefgelaufen war oder wann es passiert war. Früher war es okay, damals, als sie gern zur Schule ging und ihre Mam sich beschäftigte. Sie strich immer irgendein Zimmer oder baute einen neuen Steingarten. Oder backte. Sie backte viel mehr Kuchen und Butterfly Buns, als sie je essen konnten; Dr. Jessop hatte ihr gesagt, Beschäftigung sei das Beste unter diesen Umständen.

Es war ungefähr zu der Zeit, als Jasmine in der Mittelschule anfing, dass sie nach Hause kam und Mam immer noch im Bademantel war und nicht genau wusste, wie spät es war. Damals übernahm sie das Kochen, einfach, weil sie musste. Anfänglich mit Bohnen, Tütensuppe und Sandwiches, aber als sie davon die Nase voll hatte, lernte sie, wie man Eintöpfe machte und verschiedene Gerichte mit Eiern. Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, dass Kühlschränke, Toiletten und Badezimmer geputzt werden mussten, also übernahm sie das auch. Ihre Mam blieb an den meisten Tagen mit zugezogenen Vorhängen im Bett und musste zum Essen überredet werden, und wenn es im Zimmer zu stinken anfing, musste Jasmine mit ihr streiten, damit sie badete. Ihre Beziehung hatte sich irgendwie umgekehrt.

Ab und zu fragte der Metzger oder jemand im Supermarkt nach ihr. Sie hätten sie eine Weile nicht gesehen, sagten sie dann, und Jasmine antwortete, dass es ihr gut ginge, sie sei nur sehr beschäftigt. Eines Tages fragte Schwester Enda, ob zu Hause alles in Ordnung sei, und Jasmine überlegte, ob sie endlich etwas sagen sollte, aber bevor sie es entscheiden konnte, hatte die Nonne schon mit einer Predigt über den Zustand ihrer Uniform angefangen, die eine Schande war und um die sie sich auf der Stelle kümmern musste, sonst würde ihre Mutter einbestellt. Da fing sie an, Stunden zu schwänzen, und als sie in der neunten Klasse war, nahm sie sich ganze Tage frei. Sie ging dann zum Fluss runter oder schlich, wenn es regnete, einfach unten im Haus herum, las Jackie und Blue Jeans und hörte auf der niedrigsten Stufe ihr Transistorradio. Mam war ahnungslos oben mit ihrer Flasche was immer es war.

Wann das angefangen hatte, wusste Jasmine auch nicht.

Der Tag, an dem der Schulinspektor kam, erspähte sie ihn durch die Gardinen, und sie zitterte, als sie die Tür öffnete. Aber sie stand es durch. Sie erzählte ihm, sie sei sehr krank gewesen, dass es ihr jetzt aber besser ginge und dass sie morgen wieder da sein werde. Er sprach eine ernste Warnung aus, dann drehte er sich um und ging mit großen Schritten den Weg hinunter. Sie schloss erleichtert die Tür, konnte kaum glauben, dass sie damit durchgekommen war. Nur hatte ihre Mutter zu ihrer Bestürzung diesen Tag gewählt, um zum ersten Mal seit Wochen aus dem Bett zu kommen, und stand schwankend in ihrem Morgenmantel oben an der Treppe. Sie wollte wissen, wer an der Tür war, aber als Jasmine etwas von einer Freundin aus der Schule stammelte, verlor ihre Mutter die Beherrschung, wie Jasmine es noch nie erlebt hatte. Sie hatte ALLESGEHÖRT. Sie wollte NICHTBELOGENWERDEN. Jasmine war eine KLEINENERVENSÄGE. Der Schock, dass ihre Mutter schrie und wie ungerecht das Ganze war, brachte sie dazu zurückzuschreien, was sie noch mehr schockierte. Sie hatte vorher noch nie Widerworte gegeben. Zu ihrer Überraschung ging es ihr danach besser.

Am nächsten Tag passierte es wieder. Sie ging wirklich zur Schule, aber als sie heimkam, wartete ihre Mutter, das Glas in der Hand, und wollte wissen, warum sie um so eine Uhrzeit aus der Schule kam. Jasmine war verwirrt. Es war erst halb vier. Sie sei beim Metzger vorbeigegangen, begann sie.

»Erzähl mir nicht wieder eine von deinen LÜGEN!«, schrie ihre Mutter.

Die Unvernunft machte ihr Angst, also tat sie, was sie konnte, um sie zu besänftigen, und überredete sie schließlich, wieder ins Bett zu gehen. Das war der Beginn der schlimmen Phase. Die Stimmung ihrer Mutter schwankte unberechenbar von einer Stunde zur nächsten, es hing davon ab, ob sie trank und welche Tabletten sie genommen hatte. Sie wusste, sie sollte geduldiger sein, aber sie war schon wegen der Schule unter Druck und weil sie im Haus und für ihre Mam alles selbst machen musste, also endete es damit, dass sie sich wehrte. Am Ende wusste sie nicht mehr, ob sie oder ihre Mam Schuld an den Streitereien hatte, und eigentlich war es auch egal; seit Monaten schrien sie sich nur noch an.

Sie hatte oft damit gedroht wegzulaufen, nur jetzt machte sie es wahr. Sie schwang sich ihren alten Rucksack auf den Rücken, schloss leise die Tür und ging rauf in die Stadt zu Murphys Bar, wo jeden Morgen der Bus nach Dublin hielt.

Imelda Lawlors Vater, der den Bus fuhr, fragte sie, wohin sie wolle, aber sie hatte eine Story vorbereitet. Sie fahre zum Maßnehmen für Schuluniformen in Arnotts, erzählte sie ihm.

»Ist es schon wieder so weit?«, fragte er, aber er hatte keine Ahnung. Die meisten Väter hatten keine Ahnung, das wusste sie aus den Gesprächen ihrer Mitschülerinnen. Sie fragte sich, wie es wohl wäre, wenn ihrer nicht gestorben wäre, aber sie erstickte diesen Gedankengang im Keim, denn was sollte das bringen?

Als sie an den Ufermauern entlangfuhren, platzte sie fast vor Aufregung. Es fühlte sich plötzlich real an. Sie begann ein neues Leben. Sie rief Imeldas Vater ein fröhliches Bis dann zu und machte sich auf den Weg zur O’Connell Bridge.

Sie musste einen Mann nach dem Weg zur Fähre fragen, und der Fußweg vorbei an düster aussehenden Lagerhäusern voller Graffiti war länger, als sie erwartet hatte. Ihr Rucksack wurde mit jedem Schritt schwerer, und als sie beim Fahrkartenschalter von P&O ankam, war sie total kaputt. Vor der Tür machte sie eine Pause, aus Sorge, dass jemand versuchen könnte, sie daran zu hindern, an Bord zu gehen. Schließlich war sie ein Mädchen und ganz allein unterwegs, das sollte eigentlich jemandem auffallen. Aber die Frau nahm ihr Geld, gab die Fahrkarte aus und sagte ihr, sie könne ihre irischen Pfund auf dem Schiff in Pfund Sterling umtauschen. Jasmine nahm die Fahrkarte und ihr Wechselgeld und bedankte sich. Ihr war nicht einmal in den Sinn gekommen, dass sie anderes Geld brauchen würde.

»Wohin …?«

»Da rüber, Schätzchen.«

Sie deutete in die Richtung, wo sich kleine Menschengruppen versammelt hatten. Es war ein graugesichtiger, jämmerlich aussehender Haufen. Ein Junge, der ungefähr so alt aussah wie sie, stand von seiner Familie umringt, und sie weinten alle. Als Jasmine näherkam, sah sie, dass sie etwas zurücktraten, um ihm Zeit mit einem rothaarigen Mädchen zu lassen; seine Freundin wahrscheinlich. Als sie sich aneinander festklammerten, seine sommersprossige Hand an ihrer Taille, um sie an sich zu ziehen, hörte Jasmine ihn versprechen, er werde schreiben. Sie fragte sich, wie es sich wohl anfühlte, die Hand eines Jungen an der Taille zu haben, und ob er sein Versprechen halten würde. Sie konnte sich bei keinem der Rüpel, die sie kannte, vorstellen, dass er sich mit Papier und einem Stift hinsetzte und einem Mädchen schrieb. Nein, es war eher wahrscheinlich, dass er das Mädchen zu Hause ganz vergessen würde, das jeden Morgen auf den Postboten wartete. Trotzdem hoffte sie, dass sie sich irrte.

Maryland 2012

»Komm, Ali. Wir gehen.«

»Ich will fahren.«

»Das kannst du nicht, also rutsch nach hinten, und hör auf zu nerven.«

»Du nervst.«

Aber er hat recht, ich kann es nicht. Das muss ich ändern. Wie schwierig kann es schon sein, wenn Callum es kann? Dann könnte ich allein losziehen und müsste nicht diese Arschlöcher ertragen. Einfach raus auf die Straße, anhalten, wann und wo ich will. Aber ich habe keine Ahnung, wie ich irgendwas davon hinbekommen soll. Mein Geld reicht nicht ewig. Abgesehen davon wage ich nicht, meine Bankkarte zu benutzen, weil sie verrät, wo ich bin. Ich werde diesen Haufen von Schwachköpfen loswerden, sobald es geht. Bis dahin sind sie nützlich, zumindest Callum. Ich rutsche nach hinten, und er steigt auf. Es würde ihm gefallen, wenn ich mich an ihn drücken, die Arme um ihn legen würde, wenn ich seine Rückenwärmerin wäre, wie er es nannte, als ich das erste Mal aufstieg. Ich erklärte ihm, ich sei niemandes Rückenwärmerin. Also halte ich mich am Sitz hinter mir fest, und er gibt Gas und fährt los.

Ich nehme an, er will vor den anderen weg, damit er sich nicht entmannt fühlt und so, wenn die Typen mit den dicken Schwänzen, ich meine Motorrädern, vorbeibrausen und seine kleine Honda in ihrer Staubwolke ersticken. So oder so werden sie schon Bier trinken und ihre Smores grillen, bis sein lahmer Schrotthaufen auftaucht. Nicht, dass ich mich beschweren würde. Mit ihm komme ich, wohin ich will. Das heißt: weit weg von Federal Hill Park, Baltimore.

Ich hab’s versucht. Allerdings war es nicht so, als hätte ich groß die Wahl gehabt. Aber mehr als zwei Monate habe ich in dieser Bude nicht ausgehalten. Das alte Paar funktioniert wie ein Uhrwerk, immer zur selben Zeit auf, dasselbe Essen, hauptsächlich Zeug, von dem ihr Stuhlgang regelmäßig bleiben soll. Ekelhaft. Und ich soll da mitmachen? Rita ist nett, hat mir immer was gemacht, was ich vielleicht mögen könnte, wenn sie nicht hingeschaut haben. Ich vermisse ihre Enchiladas jetzt schon. Aber die Scheißschule, auf die sie mich geschickt haben, vermisse ich nicht. Die Mädchen dort waren unerträglich, also bin ich gegangen. Und schon redeten sie von Internaten. Ich meine, Scheiße, warum zerren sie mich aus meinem Leben, in dem ich vollkommen glücklich war, und schicken mich dann auf eine beknackte Privatschule?

Wahrscheinlich gefiel ihnen die Idee, das Richtige für ihr Enkelkind zu tun und alles, aber als es so weit war, stand ich ihnen in ihrem steifen, langweiligen Leben nur im Weg, machte Krach und Chaos und Ärger. Jedenfalls dachte ich das. Ich rief Maxie an, weil ich eine freundliche Stimme hören wollte. Ich hatte nicht vor, es vor meinen sogenannten Großeltern oder auch Maxie gegenüber zuzugeben, aber der Gedanke, in einer schicken Schule eingesperrt zu sein, machte mir fürchterliche Angst. Mir ging’s gut mit euch Jungs, sagte ich ihm und versuchte, nicht zu klingen, als würde ich jammern. Aber statt mich zu beruhigen, erzählte er mir, das Boot sei leck und dass ich mich glücklich schätzen solle, dass im richtigen Moment meine Märchengroßeltern aufgetaucht seien. Fick dich, Maxie, sagte ich und legte auf.

Das mit dem Boot überraschte mich nicht. Das Ding war uralt und liegt vermutlich inzwischen auf dem Grund der Chesapeake Bay. Aber in dem Moment beschloss ich zu gehen. Vielleicht konnte ich nicht zurück in den Jachthafen, aber ich würde ganz bestimmt nicht in Federal Hill bleiben und mich ins Internat schicken lassen. Wegen Maxie habe ich irgendwie ein schlechtes Gewissen. Er kann wirklich nichts dafür. Aber ich kann ihn nicht noch mal anrufen, weil ich mein Handy weggeworfen habe, sobald wir aus der Stadt heraus waren, damit man mich nicht orten kann.

Mit dröhnendem Motor fahren wir vom Gelände der Tankstelle, und alle Köpfe drehen sich nach uns um. Callum hat mir seine andere Jacke gegeben. Sie ist viel zu groß, aber sie hält den Wind ab. Es war ziemlich kalt, um nur im Pulli über die Hanover Street Bridge zu fahren. Ich zog auch meine Jeans über meine Shorts. Anfangs war es beängstigend, sich so zwischen den Autos durchzuschlängeln, und ich vertraue Callum nicht – ich kenne ihn nicht mal besonders gut –, aber ich habe keine Wahl. Wenn er mir also sagt, ich soll mich festhalten, dann halte ich mich fest.

Sobald wir aus der Vorstadt aufs Land hinauskommen, wird es besser. Es ist irgendwie cool, wenn die Bäume vorbeiflitzen. Ich war noch nie in diese Richtung draußen – womit ich westlich von Maryland meine –, was verrückt klingt, ich weiß. Aber ich und meine Mom sind immer nach Osten gefahren, auf direktem Weg aus der Bucht heraus zum Atlantik. Mom war nie gern weit weg vom Meer. Sie sagte, sie könne da drin, also im Landesinneren, nicht richtig atmen. Wenn wir einen Ausflug zum Supercentre machen mussten, drei-, viermal im Jahr, bereitete sie sich vor wie für einen Trip in die Wildnis. Karten, das Handy voll aufgeladen, die Brenner ganz ausgeschaltet auf dem Boot. Dann packte sie ihre Inhalatoren ins Handschuhfach. Und direkt bevor wir den Jachthafen verließen, drehte sie das Fenster herunter und rauchte ein bisschen was. Das machte sie auch so schon oft, aber wenn sie ins Landesinnere fahren musste, brauchte sie es besonders. Ihrer Meinung nach war jeder, der nicht auf einem Boot lebte, verrückt. Aber ich versteh das schon. Wenn man damit aufwächst, jedes Mal Salz zu schmecken, wenn man Luft holt, kann man sich schwer irgendwas anderes vorstellen. Das ganze Zeug, das mir das alte Paar gekauft hat, der schicke Laptop und das Handy, der Flachbildfernseher, kommt nicht annähernd an das Meer als Spielplatz heran. Der große Plan war, eines Tages bis nach Bermuda zu segeln, nur sie und ich, eine Zwei-Frau-Crew. Das wird wohl nicht mehr passieren.

Mit jeder Meile frage ich mich, was ich draußen im Westen machen soll. Callum mit all seinen großen Plänen hält sich für den verfickten Sal Paradise. Als ich es ihm gesagt habe, fragte er: Wer? Versteht ihr, womit ich mich herumschlagen muss? Der würde seinen Hintern nicht mal mit beiden Händen und einem Kompass finden. Schlechtester Partner aller Zeiten, komplett ahnungslos. Er wollte nichts weiter als raus aus der Schule, ich begriff, dass er meine Fahrkarte aus Federal Hill Park war. Nur hatte ich ihn nicht mehr gesehen, seit ich die Schule gewechselt hatte, und als ich versuchte, ihn aufzuspüren, hörte ich, er sei schon abgegangen und hänge mit seinen Biker-Cousins ab, diesen Verlierern. Als ich bei ihm zu Hause vorbeiging, sagte seine Mom, er sei in der Gegend. Sie wich zurück, während sie das sagte, echt argwöhnisch, als wäre ich die Cops oder so. Sie stand immer noch hinter der Fliegengittertür, als ich ging, ich schätze, sie wollte sichergehen, dass ich vom Grundstück verschwand. Wollte zurück zu ihrem Wodka Grapefruit, sagte Callum, als ich ihm erzählte, wie verdächtig sie sich benommen hatte. Ich fand ihn vor dem Haus seines Cousins. Sie ließen einen Joint herumgehen und köpften flaschenweise Bud Lite, und das um zehn Uhr morgens. Sie seien nicht im Bett gewesen, erzählte er mir. Ich schätze, so verschieden sind sie doch nicht, Callum und der gute alte Sal.

Ich bin anders, ich renne nicht ohne Plan los. Ich denke gern voraus. Das gehört dazu, wenn man auf einem Boot aufwächst, und weil meine Mom nun mal so ist, wie sie ist. War. Ich glaube nicht, dass ich mich je daran gewöhne, das zu sagen. Meine sogenannten Großeltern deuten gerne an, dass sie mich vernachlässigt hätte. Der Sozialarbeiterin erzählten sie, es sei meine alternative Erziehung gewesen, als sie vorbeikam, um zu sehen, wie ich mich einlebte. Als wäre es die Schuld meiner Mom, dass ich ihr Haus und ihre Wohngegend hasste und ihr langweiliges Leben und die Scheißschule, in die sie mich schickten. Es war nicht so, als hätten sie es bei meinem Dad so toll hinbekommen, soweit ich das beurteilen kann, schließlich ist er einfach abgehauen, als ich ein Baby war, und meine Mom musste sich allein um mich kümmern, also scheiß auf sie. Mom war ein Freigeist, also könne ich auch einer sein, hat sie mir gesagt. Was alternativ bedeutete. Wie auch immer. Wenigstens war sie da, was mehr ist, als sie über ihren Sohn sagen können. Oder über sich. Das große Rätsel ist, warum sie so lange gebraucht haben, um sich einzumischen, wenn ihnen mein Wohlergehen so wichtig war. Vielleicht liegt es daran, dass sie alt sind und alles wiedergutmachen wollen. Sie wollen mich nicht auf dem Gewissen haben. Oder vielleicht haben sie es versucht, aber Mom wollte nicht mitmachen. Na ja, sie können beruhigt sein. Diesmal haben sie es versucht, aber es hat einfach nicht funktioniert. Vielleicht gehe ich an die Westküste, zum Pazifik. Bin wohl nicht so viel anders als meine Mom, die auch immer in Richtung Wasser wollte.

Es ist später Nachmittag, als wir wieder von der Autobahn abfahren, und ich habe langsam ziemlichen Hunger. Jetzt wäre eine von Ritas Empanadas gut. Außerdem glaube ich, dass ich meine Periode bekomme, also brauche ich einen Drugstore oder so was. Diesmal habe ich wohl nicht vorausgedacht, aber hey, ich bin eilig aufgebrochen. Callum sagte, sie wollten einen Roadtrip machen, also bin ich direkt zurück ins Haus gegangen und habe mir ein paar Klamotten und einen Waschbeutel geschnappt.

Auf dem Weg am Arbeitszimmer vorbei fiel mir dieser Ordner ins Auge, der, den sie bei sich hatten, als sie mit ihrem Anwalt zum Jachthafen kamen, also nahm ich den auch mit. Aber an Essen hatte ich nicht gedacht. Jetzt würde ich für einen Energieriegel töten. Mit Schoko drin – nein, mit Erdnussbutter. Mom hat immer dafür gesorgt, dass uns der Vorrat an solchen Sachen nicht ausging. Sie dachte sich, wenn wir hier und da mal Mahlzeiten verpassten, bekamen wir wenigstens unser Eiweiß, unsere Ballaststoffe und so was. Bio waren sie auch noch. Wer sagt, dass wir von Junkfood gelebt haben? Das ist das andere, was sie der Sozialarbeiterin erzählt haben. Arschlöcher.

Wir fahren auf einen verlassenen Parkplatz mit einem niedrigen, grauen, rechteckigen Gebäude; sonst war da nichts. Es sieht nicht gerade vertrauenerweckend aus. Th Fu l Moo, steht auf dem Neonschild über der Tür. Eine Bar, schätze ich. Ich hoffe bloß, die haben Automaten. Falls sie mich reinlassen und falls sie überhaupt eine Damentoilette haben.

»Ich muss mal«, sage ich zu Callum. Er hantiert mit Schlössern und ist mit seinem Motorrad beschäftigt.

»Nur zu.«

»Was ist, wenn die meinen Ausweis sehen wollen?«

Er zuckt mit den Achseln.

Loser. Ich bin wohl auf mich allein gestellt.

»Okay. Hast du Münzen?«

»Wofür brauchst du Münzen? Du kannst mein Handy benutzen, Mann.«

Ich sage Tampons, das bringt ihn zum Schweigen.

Er wühlt in seinen Taschen und zieht eine Handvoll heraus.

Ich warte, bis die meisten von ihnen reingegangen sind, Callum auch – ich schätze, er hat einen falschen Ausweis –, dann folge ich ihnen, schaue mich wie irre nach der Damentoilette um und entdecke sie. Super. Sie ist am Ende des Gangs, dann muss ich nicht in die Bar und mich rauswerfen lassen. Nicht, dass es mir was ausgemacht hätte. Ich will nicht mal was trinken. Aber diese Kerle sollen nicht denken, ich sei noch ein Kind, denn dann nehmen sie mich vielleicht nicht mit, und ich brauche eine Mitfahrgelegenheit.

Es ist nicht eklig. Ich nehme an, hierher kommen nicht allzu viele Damen, die Dreck machen könnten. Und verdammt, ich hab Glück, es gibt wirklich Automaten. Ich stecke meine Münzen in den Schlitz, dann bin ich erst einmal versorgt, aber ich werde ziemlich bald einen Drugstore brauchen. Ich schnappe mir einen Armvoll Papier aus der Kabine und stopfe es für Notfälle in die Taschen von Callums Jacke, dann beschließe ich, draußen auf dem Parkplatz zu warten. Als ich an der Tür zur Bar vorbeikomme, schaut einer von Callums Cousins, der mit dem Silberblick und dem fettigen Pferdeschwanz, auf, entdeckt mich und winkt mich herüber. Von wegen.