Dann sind wir auf der Erde erwartet worden - Ulrike Gies - E-Book

Dann sind wir auf der Erde erwartet worden E-Book

Ulrike Gies

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Beschreibung

Das Leben und Wirken Walter Benjamins liest sich wie ein Roman, der in einem tragischen Tod endet. Autorin Ulrike Gies hat in diesem Laboratorium die Philosophie, den Lebensweg und das Werk des Kulturkritikers und Philosophen mit seinen vielen Mühen zusammengefasst. Dabei legt sie ihren Fokus darauf, wie sich Krieg und Flucht auf Benjamin und seine Werke auswirkten und wie im Gegenzug Benjamins Werk und Leben die Autorin selbst beeinflusst haben.

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Seitenzahl: 209

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Prolog
Eine europäische Tragödie
Liebe
Sprache und Sprachphilosophie
Marxismus und linke Melancholie
Geschlechterverhältnisse
Tod, Dichtung
Schreiben auf der Flucht
Gedanken an den Tod; Ibiza
Passage Kattenturm
Zwischen Zeiten schreiben
Geschichte, Zeit, Erlösung
Gott und der „skurrile Bursche“, noch einmal
Schreiben bis fünf vor zwölf
Liebe, Ehe, Angst
Schreibarbeit
Sürrealismus
Dichtung, Politik
Leben als Passage – Kattenturm II
Engel der Zeit
Erzählungen; Ibiza
Kurze Schatten l, ein Denkbild
Rätselhafte Ökonomie
Laboratoire du Rouge
In Kattenturm III, Passage

Ulrike Gies

„Dann sind wir 

auf der Erde erwartet worden“ 

Das Laboratorium Walter Benjamin

Gies, Ulrike

„Dann sind wir auf der Erde erwartet worden“ 

Das Laboratorium Walter Benjamin

ISBN: 978-3-96202-604-2

© 2017 Sujet Verlag, Bremen

Lektorat: Rica Heinke

Korrektorat und Layout: Meret Hansen, Mareike Grau

Printed in Europe

1. Auflage 2017

www.sujet-verlag.de

Vorwort 

Die wohl beste Art einen Text zu lesen ist, ihn zu lesen. Die scheinbar banale Tautologie dieses einleitenden Satzes verweist durchaus auf grundsätzliche Fragen zur Rezeption von Literatur. Um frei empfänglich für die sinnlichen Wirkungen eines Textes zu sein, empfiehlt es sich, ihn möglichst unvoreingenommen zu lesen. Ähnlich dem Pakt, den Autor und Leser schließen, sich gemeinsam in einer fiktiven Welt zu bewegen, willigt der Leser auch ein, mitunter nicht die Bedeutung(en) eines jeden Satzes sofort erfassen zu wollen. Der Sinn, oder weniger fundamental ausgedrückt, zumindest der innere Zusammenhang eines Texts erschließt sich oft erst bei fortschreitender Lektüre. Mithin muss der Leser auch zeitweilige Unverständnis in Kauf nehmen, eine semantische Trockenwüste durchwandern, um alsbald das große Ganze überblicken und verstehen zu können. 

Wer sich also dem assoziativ-surrealistischen Fluss von Ulrike Gies literarischem Essay uneingeschränkt hingeben möchte, möge dieses Vorwort getrost überspringen. 

Wer nicht vollkommen unwissend in den Text hineinstolpern möchte, dem seien hier ein paar einleitende Worte zur Lektüre an die Hand gegeben, die den Zugang zu der im Text entfalteten Welt erleichtern mögen. 

Ulrike Gies literarisches Essay setzt sich mit Walter Benjamins Leben und Theorie auseinander. 1892 in Berlin geboren, 1942 durch Suizid bei seinem Fluchtversuch in die USA an der französisch-spanischen Grenze gestorben, zählt Benjamin zu den bedeutendsten europäischen Philosophen des 20. Jahrhunderts. 

Doch haben wir es bei „Dann sind wir auf der Erde erwartet worden“ nicht mit einer klassischen Biografie zu tun, die sich chronologisch an Benjamins Lebensstationen oder Publikationen abarbeitet. Vielmehr lässt sich der Text als multiperspektivische Erzählung beschreiben, die assoziativ nach Benjamin sucht. So deutet der Untertitel des literarischen Essays bereits an, worum es geht: Das Laboratorium Walter Benjamin wählt und wagt einen experimentellen Zugang zu Benjamins Werk und Leben, nicht ohne informativ zu sein und bisweilen durchaus analytisch vorzugehen. Dabei lässt uns die Erzählerstimme an ihrer persönlichen Benjamin-Lektüre teilhaben und bewegt sich dabei entlang begrifflicher Kategorien, die zentrale Aspekte in Benjamins Leben und Denken widerspiegeln, wie Liebe, Sprache, Tod, Geschichte. Der Text entspannt dabei eine Art unilineare Landkarte, die Benjamin durch verschiedene Stationen seines Schaffens, Liebens und Lebens in Europa folgt und dabei auch das kulturelle, intellektuelle und persönliche Umfeld des Philosophen in den Blick nimmt.

An wen richtet sich der Text?

Im Zentrum steht bei diesem Nachdenken über und mit Walter Benjamin die Frage, wie man Benjamin heute lesen kann und was uns seine Philosophie in einer kapitalistisch geprägten, globalisierten Welt, in der Flucht eine zunehmend große Rolle spielt, heute sagen kann. Dies macht den literarischen Essay zum einen für Leser interessant, die bereits mit Benjamins Denken vertraut sind. Durch den im Buch gewählten persönlich-assoziativen Zugang zum Leben und Werk lassen sich neue Perspektiven erschließen. Lesern, die Walter Benjamin nicht kennen, kann der literarische Essay einen Einblick in die verschiedenen Themengebiete und Fragestellungen, mit denen sich Benjamin auseinandergesetzt hat, bieten: Wie hat Benjamin gearbeitet, gedacht, gelebt?

Wie geht der Text vor? 

Wer hier zu uns spricht, ist nicht immer eindeutig zu bestimmen. Mal ist es die neutrale Erzählerstimme, die uns an Gedanken über Benjamins Leben und Schaffen teilhaben lässt und Fragen und Gedanken aufwirft, die weit über das Leben des Philosophen hinausweisen. Dann begegnet uns „die Alte“, eine Figur, die sich im Hier und Jetzt Gedanken über ihr Leben, ihren Alltag und das große Ganze macht, stets mit Blick auf Benjamin. Und dann sind da die Briefe an Anna, in der „die Alte“ sich mitteilt, zurückblickt auf gemeinsame Zeiten und Anna an ihrer - nicht immer einfachen -Auseinandersetzung mit Benjamin teilhaben lässt. 

Es bleibt nicht viel zu sagen, als dass man sich ein eigenes Bild machen solle. Dabei rät es sich, sich einzulassen auf die teils mäandernden Gedankenströme, auf den assoziativen Charakter des Texts, statt stets eindeutig verstehen zu wollen. Der Text funktioniert dabei fast wie ein farbenprächtiges Wimmelbild, an das man herantritt, um die kleinen Details in den Blick zu nehmen, und vor dem man zurücktreten kann, um das große Ganze, das zwischen dem profanem Leben und den großen Fragen changiert, auf sich wirken zu lassen.

Rica Heinke, September 2017

Wir junges Leben

du alter Tod

fliegen aufeinander 

zu werbend

Prolog

Ende September 1940 kaufte die Fluchthelferin Henny Gurland in der Nähe des spanischen Ortes Portbou ein Grab für Walter Benjamin. Von dem Grab war bald nichts mehr zu sehen, und es gab keinen Ort für die Erinnerung, bis Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts der israelische Künstler Dani Karavan ebendort den Gedenkort ‚Passagen‘ errichtete. Zur Einweihung 1994 reiste auch die greise Lisa Fittko, Widerstandskämpferin und Fluchthelferin, aus den USA an. Sie ließ sich die schmale Treppe hinuntertragen bis vor die Glaswand, wo hindurch sie das Meer sah und den in das Glas gravierten Satz Walter Benjamins las:

Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.

Der Betrachter wendet sich der Vergangenheit zu, der Erinnerung, dem Eingedenken. Vierundfünfzig Jahre nach Benjamins Tod wurde die Gedenkstätte eröffnet, achtundvierzig Jahre Schreib-Leben und vierundfünfzig Jahre Stillstand.

Bereits von 1974 bis 1991 verlegte der Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main die Gesammelten Schriften und Briefe Benjamins. So war Benjamins Lebenswerk der Zug, und Dani Karavan gestaltete die Endstation zum Kunstwerk.

Walter Benjamin, Philosoph und Schriftsteller, Jude zwischen Marx und Messias, staatenlos, erfolglos, arm, ohne Papiere und festen Wohnsitz, ohne Halt in Ehe und Familie, lebte und starb eine europäische Tragödie: Geburt in Deutschland (Berlin), Flucht durch Frankreich, Suizid in Spanien.

Er liebte seinen Platz in der Bibliothèque Nationale in Paris, Drogen, das unendliche Licht der Theorie und die (falschen) Frauen.

(Der Blick des Fremden, der außerhalb des Lebens steht und doch von ihm ergriffen werden möchte. Der Passive, der das Feste wünscht und seinen Arbeitsplatz auch in größter Gefahr nicht verlassen will. Das kostet das Leben.)

Walter Benjamin hinterließ ein Konvolut an Schriften, das erst posthum in eine Ordnung gebracht und veröffentlicht wurde. „Im Werk“, sagt er, sei „das Lebenswerk, in der Epoche der gesamte Geschichtsverlauf aufgehoben.“

Im Folgenden werden einige von Benjamins Schriften (sein Opus Magnum, das Passagen-Werk, hat (und hätte) er zu Lebzeiten nicht abschließen können) hineingestellt in eine Jetztzeit.

Wo findet sich die Wirklichkeit vor / neben der virtuellen Welt? Hätte das Internet, das (vermeintlich) alles weiß und jede Frage beantwortet, Walter Benjamins ohnehin fragiles Lebensgefühl weiter geschwächt und ihn veranlaßt, die Schotten seines selbsterbauten Elfenbeinturms noch fester zu schließen? Anders gefragt, hätte er sich vor dem Wahnsinn retten können, indem er unverdrossen seine Gelehrtenmentalität kultiviert hätte mit den inzwischen obsolet scheinenden Tätigkeiten des Denkens, Lesens und Schreibens?

Das Verschwinden der Wirklichkeit, das, unter anderen, von Jean Baudrillard mit ironisierender Schärfe beklagt wird, dürfte jedoch auch dazu veranlassen, die Trümmerhaufen der Geschichte zu durchsuchen nach Resten der humanistischen Ursprünge, dem Alten und Authentischen, dem noch immer eine Gegenwart erhalten ist.

Benjamin zählt die Epochen der Geschichte nicht chronologisch wie die Perlen einer Gebetsschnur, sondern für ihn gilt die Jetztzeit, so daß die Gegenwart die Vergangenheit als die ihr Zugehörige erkennen und annehmen kann. Revolution sei eine schöpferische Umkehr, und oft liefere die Vergangenheit das Modell für die Gegenwart.

Umkehr und Fortschritt erfolgen niemals automatisch (wie es sich zeigt an der Geschichte sogenannter ‚sozialistischer‘ Staaten). Basis und Überbau entwickeln sich in unterschiedlichen Rhythmen. Heute sollte ein Gespräch über die Veränderung der Gesellschaft die Globalisierung berücksichtigen, die Entwicklung des Überwachungsstaats, das Sterben der Individualität und ihrer Geheimnisse einerseits und die Maßlosigkeit und den Überdruß andererseits. Der Wunsch nach einer spirituellen Ausrichtung des Lebens wächst, und hier könnte der (von Adorno scharf kritisierte) messianische ‚Kommunismus‘ Benjamins neu überdacht werden. Es geht um die Beziehung von Gegenwart und Vergangenheit, um Lebens-Reste im Trümmerfeld, und nicht um eine automatisch Glück bringende Zukunft in einer klassenlosen Gesellschaft. Die Gegenwart, sagt Benjamin, gewinne Kraft aus der Vergangenheit, eine ‚konservative‘ Kraft. Die Erinnerung berge das messianische Moment der Erlösung. Die Vergangenheit führe einen heimlichen Index mit sich, durch den sie auf Erlösung verwiesen werde. Der Engel der Geschichte stehe dem Trümmerfeld der Vergangenheit zugewandt, als ein plötzlich aufkommender Sturm, den man Fortschritt nenne, ihm unter die Flügel fahre und ihn in Richtung Zukunft treibe.

Für Benjamin ist der Kapitalismus eine Kultreligion ganz ohne Theologie. Der Marxismus interessiert ihn vorrangig theoretisch-philosophisch. Die Geschichte ist eine revolutionäre Chance im Kampf für die unterdrückte Vergangenheit und für die Befreiung der Enkel. (Gemeinhin wird das Wort ‚Kampf‘ mit der Präposition ‚gegen‘ verbunden.)

Ein Echo der nun Verstummten verkünde, daß wir auf der Erde erwartet worden sind.

Der Aufhebung (Synthese) bei Hegel entspricht ein dialektisches Bild bei Benjamin. Marx erklärt, wie die Vergangenheit versucht, die Herrschaft über die Gegenwart zu behalten. Benjamin sieht, wie Alt und Neu sich durchdringen und die ‚Urvergangenheit‘ umgestalten, zur Wiederherstellung eines ursprünglichen Humanismus.

Eine ‚zeitlose Wahrheit‘ gebe es nicht, vielmehr verändere sich die Wahrheit permanent. (Und heute hat das Wort ‚Wahrheit‘ beinahe seine Gültigkeit verloren.)

Die Zitaten-Collage im Passagen-Werk nimmt die Zitate aus dem Zusammenhang, sie sprechen für sich. Niemals fällt Benjamin Pauschalurteile, niemals sagt er, was wir schon wissen. Sein Themen-Spektrum be- oder ent-deckt Kunst und Gesellschaft, vom „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ über „Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, von der „Berliner Kindheit im neunzehnten Jahrhundert“ über die „Einbahnstraße“ bis zum „Sürrealismus“ und der „Kleinen Geschichte der Photographie“.

Benjamins Herangehensweise an den Gegenstand — vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Einzelnen bis zum Totalen, würdigt die Sujets und erweist sich als gleichsam 

ursprüngliche und ‚demokratische‘ Methode, die, gepaart mit sprachlicher und stilistischer Brillanz, Walter Benjamins Denk-Welt auszeichnet. Benjamin Lesen heißt Staunen, Erkennen, Fragen, Schwelgen. Niederknien.

Benjamins mäandernden Gedankenwegen zu folgen heißt auch, sich in Assoziationen, auf Umwegen zu verlieren. Und Briefe zu schreiben, um endlich auch einmal ‚Ich‘ sagen zu dürfen. Denn der Verzicht auf das Wort ‚Ich‘, außer in Briefen, mache die Qualität seines Stils aus, sagt Benjamin selbstgewiß.

Das Laboratorium Walter Benjamin also, versetzt mit Farbpunkten aus den Blickwinkeln der Passage, die es auch hierjetztheute gibt, im unendlichen Scheinwerferlicht der Theorie (in der roten Laptoptasche), die Laboranten nehmen das Werk zum Testbild für die Jetztzeit, Armut, Krise, Kriege, Illusionen, Alter. Tod. Liebe (zur Theorie).

Es ist Feierabend, die Laboranten klopfen sich den Staub von den Knien, verlassen das Labor und zerstreuen sich. Sie gehen ins Kino, der Film zeigt ihr Leben in der Passage, die, im Gegensatz zu den Pariser Passagen Ende des neunzehnten Jahrhunderts, nicht zum Bestaunen von Trouvaillen und Kostbarkeiten einlädt, sondern zum Kauf von Sonderangeboten.

„Was teilt die Sprache mit? Sie teilt das ihr entsprechende geistige Wesen mit. Es ist fundamental zu wissen, daß dieses geistige Wesen sich in der Sprache mitteilt und nicht durch die Sprache. Es gibt also keinen Sprecher der Sprachen, wenn man damit den meint, der durch diese Sprachen sich mitteilt. Das geistige Wesen teilt sich in einer Sprache und nicht durch eine Sprache mit — das heißt: es ist nicht von außen gleich dem sprachlichen Wesen. Das geistige Wesen ist mit dem sprachlichen identisch, nur sofern es mitteilbar ist. Was an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, das ist sein sprachliches Wesen.“

Eine europäische Tragödie

Walter Benjamin, geboren am 15.07.1892 in Berlin, reiste und floh (wurde gejagt) durch Europa. Er starb durch Suizid am 26.09.1940 in Portbou (Spanien).

1928 erscheint (bei Rowohlt Berlin) der „Ursprung des deutschen Trauerspiels“.

Benjamin unterscheidet zwischen Trauerspiel und Tragödie: Das Trauerspiel, fernab der antiken Tragödie, hat das menschliche Leben in der Geschichte zum Inhalt. Die Tragödie dagegen handelt vom Mythos.

„Der Tod, als Gestalt des tragischen Lebens, ist ein Einzelgeschick, ins Trauerspiel tritt er nicht selten als ein gemeinschaftliches Schicksal, als lüde er die Beteiligten alle vor den höchsten Gerichtshof“ 

Der Tod kommt zu Jedermann und Biedermann, manchmal wird er von Trauer begleitet. Aber der Tod Walter Benjamins ist eine Tragödie, denn er ist der Preis für das Leben dreier Flüchtlinge. Ein (unbewußter) Märtyrertod: „Tyrann und Märtyrer sind im Barock die Janushäupter der Gekrönten.“

Die Weltgeschichte wird als großes Trauerspiel angesehen, das deutsche Spiel vergräbt sich ganz „in die Trostlosigkeit der irdischen Verfassung.“ Zugleich ergeht es sich in Landschaftsschwärmerei und Schäferspielen, die Annahme paradiesischer Zeitlosigkeit.

Die Sprache hat „aufgehört, bloßer Mitteilung zu dienen und stellt als neugeborner Gegenstand seine Würde neben die der Götter, Flüsse, Tugenden und ähnlicher, ins Allegorische hinüberschillernder Naturgestalten.“

Der barocke Benjamin. Er verfällt der barocken Sprache, indem er sie beschreibt, schwingend auf verhaltener Ironie: „Das deutsche Trauerspiel hat sich nie zu beseelen, den Silberblick der Selbstbesinnung in seinem Inneren nie zu erwecken vermocht.“

Das Leben Walter Benjamins, als Jude hineingeboren ins Exil, das späterhin zum Exil im Exil werden sollte, ist kein Trauerspiel, weder ein deutsches noch ein französisches oder spanisches, sondern es ist eine Tragödie, denn der (unbewußte) Held spielt seine Märtyrerrolle zur Rettung der Leben seiner Begleiter. Unmöglich, daß der Chronist zu seinen Lebzeiten über seinen Tod geschrieben hätte.

Am Himmel die Schafe rotten sich ein und verschmuddeln dann, es ist sieben Uhr, und wie jeden Sonntag geht der Schwarze vorbei, der schwarze See (lac noir), der weiße See (lac blanc), die Hügel Vogesen, die Liebe des Wassers, schwarz wegen der Tannen ringsum, weiß in freiem Tal, beschienen von der gelben Sonne, heute ist Ostern, heiß wie im Hochsommer / Hochofen, die Hochöfen von Hoesch haben die Chinesen gekauft, zerlegt und in China wieder zusammengebaut, gelbes Wasser fehlt in der Sammlung, sie wird nicht vervollständigt werden, heute nicht, niemals, sag niemals nie, graues Wasser aus dem Seegemisch / Sägemehl, Sägewerke der Vogesen, Kuchenteig aus Vollkornmehl, süß und grob, die vegetarische Sprache kennt keine Fleischeslust, Currywurst ohne Wurst ist Berlin ohne Berlin, in Berlin war alles anders, jetzt sind die Erinnerungen Szenen aus einem zerschnittenen Drehbuch, Zelluloid ist vom Zeitgeist besiegt, die Reproduktionstechniken (für Kunstwerke) verändern sich dauernd / bedauerlich, ach, verehrteste Mamsell, mit dem Leben geht es schnell, Frühling, Sommer, und dahinter kommt der Herbst und dann der Winter, im Winter trägt der Schwarze, der den See umrundet, farbiges Steppzeug, der Michelinmann.

Jetzt sind die Abbilder in Farbe zu sehen, die Michelinjacke des Schwarzen ist rot und grün. Zum ersten Mal taucht der Pykniker in Berlin auf. Und bleibt, die Hände hinter dem Rücken verborgen, manchmal eine Uhrkette am Hosenbund, selten ein Lächeln, eine Anwesenheit, jederzeit abrufbar, im Traum und seinem Gegenteil, auf der Passage / Pirsch, keine Belästigung, eine Mahnung eher, Mahnung woran. 

Liebe

„In Deinem Arm würde das Schicksal für immer aufhören, mir zu begegnen“, schreibt Walter Benjamin an Annemarie Blaupot ten Cate, eine niederländische Malerin, die er auf Ibiza kennenlernt.

Sie treffen sich wieder in Paris. 1934 geht Blaupot nach Südfrankreich, heiratet, läßt sich zwei Jahre später scheiden und kehrt zurück in die Niederlande.

Die Liebe zu Annemarie Blaupot ten Cate ist, abgesehen von der zu seinem Jugendfreund Heinle, die einzige, die Benjamin be-schreibt. Und die letzte seines Lebens.

Benjamin widmet Blaupot zwei Gedichte, Lyrik gedeiht im Liebeslicht, der Überschaum des Herzens will verwortet werden.

Außer den beiden Gedichten widmet Benjamin Blaupot den Text „Agesilaus Santander“. Valero vermutet, daß das Wort sich bezieht auf den spartanischen König Agesilaos, denn 1933 lebten Benjamin und Blaupot spartanisch auf Ibiza:

„Ich pflücke Blumen am Rande des Existenzminimums.“

Santander ist eine spanische Provinz und Hafenstadt, die Benjamin einmal besucht hatte. Benjamins Freund Gershom Scholem dagegen sieht kabbalistische Einflüsse und eine Beziehung zu dem Bild „Angelus Novus“ von Paul Klee, das in Benjamins Besitz war. (Im Hebräischen bedeuten Engel und Bote dasselbe.)

Der Engel führt die füreinander bestimmten Liebenden zusammen, und sie erhalten neue Lebenskraft.

Der Engel schickte „seine weibliche Gestalt der männlichen im Bilde auf dem längsten verhängnisvollsten Umweg nach, obschon doch beide einmal — nur kannten sie einander nicht, aufs innigste benachbart gewesen waren.“

Jetzt muß das Schicksal nicht mehr walten und verwirren, denn es hat sich erfüllt, indem der Engel zusammenführte, was zusammen gehört. (Die romantische Liebe ist in Europa endemisch.)

„Ich habe drei verschiedene Frauen im Leben kennen gelernt und drei verschiedene Männer in mir. Meine Lebensgeschichte schreiben, hieße Aufbau und Verfall dieser drei Männer darstellen und den Kompromiß zwischen ihnen — man könnte auch sagen: das Triumvirat, das mein Leben jetzt darstellt.“

Walter Benjamin reist zweimal nach Ibiza. Wenn 1932 der Beweggrund noch die Reiselust ist, so wird der Aufenthalt 1933 geprägt von den politischen Verhältnissen: Es werden ihm Publikationsbeschränkungen aufgezwungen.

Benjamin lernt Spanisch. ,El miserable‘ wird er auf Ibiza genannt wegen seiner Armut und seiner Traurigkeit. In seinem Essay „Erfahrung und Armut“ (1933) schreibt er:

„In der Tür steht die Wirtschaftskrise, hinter ihr ein Schatten, der kommende Krieg.“

Die Tradition reißt ab, das Erbe der Menschheit verschwindet. Vielleicht kümmert sich Benjamin gerade deshalb um seine Biographie und arbeitet an der „Berliner Kindheit“ um 1900, die erst 1950 posthum bei Suhrkamp veröffentlicht wird.

(Erst der Tod bringt Erfolg, so scheint es. „Habent llbelli mei sua fata“ soll Benjamin (laut Brodersen) gesagt haben. Das Schicksal der Werke und das des Produzenten können auseinanderlaufen, aber nach dem Tod des Produzenten sind die Werke frei und bestimmen (hoffentlich) ihr Schicksal selbst.)

Sprache und Sprachphilosophie

„Das Licht der Theorie ist unendlich, als Schein überhaupt, wie begrenzt Gegenstände auch sein mögen.“

Die Menschen auf Hawaii nennen den Regen ,flüssige Sonne‘.

(Wen liebst du mehr, mich oder die Theorie. Euch.)

(Das Raumspray reaktiviert sich.

Es kann nur reaktiviert werden, wenn ich es denke.

Das Raumspray sagt: ‚Ich wirke.‘

Es sagt das, weil ich ihm eine Stimme gebe,

   Mein Leben als Raumspray.)

Schon während des Krieges (1916) verfaßt Walter Benjamin erste sprachtheoretische Abhandlungen, vor allem „Über die Spache überhaupt und die Sprache des Menschen“

„Jede Mitteilung geistiger Inhalte ist Sprache.“

Das Wort gehört zur Sprache des Menschen. Aber alle Geschehnisse oder Dinge haben Teil an der Sprache. „Die Sprachen der Dinge sind unvollkommen, und sie sind stumm.“

Wir sehen und sprechen nur über das, was wir kennen. (Mein Schrank sagt: Miste mich aus. Ich kenne den Schrank und den Mist.)

Die Theorie ist (in Deutschland und Frankreich) weiblich: die Theorie, la théorie. Die Sonne aber ist in Frankreich männlich.

Die deutsche Sprache (zum Beispiel) ist nicht der Ausdruck für das, was wir durch sie mitteilen können, sondern sie ist der unmittelbare Ausdruck dessen, was sich in ihr mitteilt. Das geistige Wesen und das sprachliche Wesen sind nicht identisch. Die Sprache teilt das ihr entsprechende geistige Wesen mit. „Sie teilt sich in sich selbst mit.“

Der Mensch spricht in Worten, er benennt die Dinge.

Im Namen teilt das geistige Wesen sich Gott mit.

„Im Namen ist das geistige Wesen, das sich mitteilt, die Sprache.“

„Der Inbegriff dieser intensiven Totalität der Sprache als des geistigen Wesens des Menschen ist der Name.“

(Der Name der Rose schreit zum Erbarmen.)

„Gottes Schöpfung vollendet sich, indem die Dinge ihren Namen vom Menschen erhalten, aus dem im Namen die Sprache allein spricht.“

(Vor dem Fenster des Arbeitszimmers steht das Toilettenhäuschen der Bauarbeiter, es heißt DIXI und ist mit einem Herz versehen. Wer geht hinein. Und allein. Literaturstiftende Ungastlichkeiten.)

Die Offenbarung ist nicht das Unaussprechliche sondern die Unantastbarkeit des Wortes. Die Kunst dagegen kann keine Offenbarung sein, denn sie beruht auf „Dinglichem, Sprachgeist.“

Die Sprache des Menschen ist eine geistige Gemeinschaft mit den Dingen, die sie benennt.

„Gott schuf ihn (den Menschen) sich zum Bilde, er schuf den Erkennenden zum Bild des Schaffenden.“

„Gott machte die Dinge in ihrem Namen erkennbar. Der Mensch aber benennt sie maßen der Erkenntnis.“

Die Übersetzung ist die Überführung der einen Sprache in die andere. Der Mensch empfängt die stumme namenlose Sprache der Dinge und übersetzt sie in Laute.

Die Menge der Sprachen entspricht der Menge der Übersetzungen. Sünde ist, daß der Mensch die Sprache zum Mittel macht, so entstehen viele Sprachen und Sprachverwirrung.

„Die Sprache der Natur ist einer geheimen Losung zu vergleichen, die jeder Posten dem nächsten in seiner eigenen Sprache weitergibt, der Inhalt der Losung aber ist die Sprache des Postens selbst. Alle höhere Sprache ist Übersetzung der niederen, bis in der letzten Klarheit sich das Wort Gottes entfaltet, das die Einheit dieser Sprachbewegung ist.“

(Die Bewegung der Sprachen geht in den ‚Kern‘ des ‚Verstummens‘, eine letztgültige Wahrheit gibt es also nicht, sondern man kann sich der Wahrheit nur annähern. Die Utopie der Literatur rückt unaufhörlich vor in Richtung auf die Wahrheit, welche selbst sich ständig wandelt aufgrund der Entwicklung der Erkenntnis, wenngleich die Themen der Literatur die Immergleichen bleiben, nämlich Liebe und Tod in allen derzeit möglichen Variationen.)

„Die konstitutive Spaltung im Ursprung entspricht dem Versagen und dem Verstummen im Wort.“

Marxismus und linke Melancholie 

‚Ursprung‘ meint, wie auch die Synthese der ,Re-volution‘ im ‚Begriff der Geschichte‘, die unerreichte Wahrheit, den Zustand der Ur-Humanität, deren Wieder-Werden und Vergehen unabgeschlossen bleibt. Nur wenn der ‚magische‘ Funke einmal zündet, können Wort und Handlung für einen flüchtigen Moment zusammenfinden, im gleichsam erlösenden Augenblick.

Brodersen nennt seine Benjamin-Biographie „Spinne im eigenen Netz. Walter Benjamin. Leben und Werk.“ Und tatsächlich, das Netz (der Theorie) ist kunstvoll und intelligent gewebt, aber der dritte Schritt in der Dialektik, die Synthese, bleibt, wie ja auch bei Marx und Engels, ein Gedanke, der Kommunismus ist bis dahin unbestimmbar, (und diese Unbestimmbarkeit war für die dogmatischen Aktionisten der linken Bewegung schwer zu ertragen, so daß sie eine ewig in der Zukunft liegende Utopie zur Gegenwart erklärten (und der Arbeiter- und Bauernstaat wurde ausgerufen)).

Wann ist ‚Jetzt‘. Am 26. September 1940 war ‚Jetzt‘ vorbei. Der 25. September dagegen war der letzte Tag, an dem Flüchtlinge aus Frankreich noch ein Transit-Visum durch Spanien hätten erhalten können. Die ,Zu-Spät-Tragödie‘, die Flucht in den Tod.

Zu sehr hatte die Spinne ihr eigenes Netz / Nest geliebt, die Bibliothèque Nationale in Paris.

(Liebe Anna, im Traum kroch ich auf dem Boden herum zwischen Papieren und Aktenordnern, die sortiert werden mußten, aber auf meinem Rücken kroch ein Roboter mit eben meinen Bewegungen, der Roboter war, wegen der Verletzungsgefahr, eingenäht in einen Leinensack, man hätte unsere Bewegungen für Sex halten können, doch dann wurde mir der schwere Körper auf mir lästig, und ich stand auf, schüttelte den Roboter ab und leerte den Leinenbeutel aus: Heraus fielen gelbe Bücher, alle zusammen haben das Gewicht des Roboters, sie sind er.

Mit Arbeit zum Erfolg, was bedeutet das, oder unterwerfe ich mich hier der calvinistischen Zwangsdisziplin.)

Im November 1925 besucht Benjamin seine Freundin Asja Lacis in Riga, wo sie ein politisches Theater leitet. Zu der Lebenswelt der Kommunistin findet Benjamin keinen Zugang. Asja Lacis erinnert sich an seinen Besuch ihres Theaterstücks: „Ihm hat nichts gefallen, mit Ausnahme einer Szene: Ein Herr im Zylinder unterhält sich unter einer Laterne mit einem Arbeiter.“

Benjamin, der aus dem jüdischen Bürgertum kommt, muß diese Szene grotesk erscheinen. (Sein Freund Brecht hätte vielleicht Vergnügen daran gehabt.)

Benjamin fremdelt vor der Arbeiterklasse, die er nur als Begriff kennt, als sozialwissenschaftliche Kategorie. Seine Versuche, das Leben zu verändern, sich (wohl vor allem wegen der Liebe zu Asja Lacis) der kommunistischen Bewegung anzuschließen oder (aus Freundschaft zu Gershom Scholem) nach Palästina auszuwandern, blieben im Vorsatz stecken. Es war für Benjamin, anders als für Brecht, Benjamins Bruder Georg und Gershom Scholem, schwer, die Haut zu wechseln. Seine Theorien indes veränderten sich fortwährend, von den ersten historisch-materialistischen Ansätzen in den sprachwissenschaftlichen Essays bis zur radikalen Gesellschaftskritik in den letzten Lebensjahren. Benjamins Werk ist eine Zitation vor das Gericht der wissenschaftlichen Redlichkeit, jede These wird belegt mit Zitaten, es entstehen Textcollagen, der Autor weist über sich selbst hinaus, die ‚Gehirnwiese‘ (Valery) erweitert sich zur Theorie-Prärie.

Benjamin Lesen heißt Benjamins Gelesenes lesen, Theorie ohne Ende. Wer das liebt, wird befriedigt. Ungeduld ist fehl am Platze.

In seinem Artikel „Linke Melancholie“ (1931) spottet Benjamin über die ‚linken‘ Schriftsteller (Kästner, Tucholsky): Hier werde Profit geschlagen aus der desolaten Lage der Mittelschichten, Gesellschaftskritik werde zum Amüsement.

„Ihr Takt (i.e. der Gedichte) folgt ganz genau den Noten, nach denen die armen reichen Leute Trübsal blasen; sie sprechen von der Traurigkeit des Saturierten, der sein Geld nicht restlos seinem Magen zuwenden kann. Gequälte Stupidität: das ist von den zweitausendjährigen Metamorphosen der Melancholie die letzte.“

1931 ist Benjamin ein exilierter Jude, mittellos und auf der Flucht, und er wird naturgemäß radikaler. Er ist kein ‚armer Reicher‘, und er amüsiert sich nicht. Er sieht, wie Geist und Wissenschaft weggestempelt werden und ersetzt durch gleichmacherischen Patriotismus. Allein schon aus diesem Grund ist der Nationalsozialismus eine Beleidigung.