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Magdalena und Harry genießen das Leben in vollen Zügen, ihre Welt ist die der Yuppies: Parties, schnelle Wagen, viel Geld, Erfolg um jeden Preis. Freizügiges, unbeschwertes Leben eben. Dann plötzlich der Bruch, Harry verunglückt mit seinem Auto tödlich. Ein Schicksalsschlag, der Magdalenas Leben vollkommen verändert. Und dann die bohrenden Fragen der Kommissarin Klara, die nicht locker lässt: Woher die blonden Haare in Harrys Wagen kommen? Warum er seine Hände beim Aufprall nicht am Lenkrad hatte? Woher er kam und wohin er wollte? Als schließlich die Obduktion Barbiturate in Harrys Körper nachweist, bekommen die Zweifel erst Recht Oberhand. Wo wollte Harry an jenem verhängnisvollen Abend hin und was hatte sein Unfall mit dem Computervirus in Magdalenas Firma zu tun, mit dessen Hilfe so viel Geld verschwand? Bald findet sich Magdalena in einer Spirale aus Angst, Gewalt und Zweifel wieder. Hat sie Harry überhaupt richtig gekannt? Abwechselnd und temporeich erzählen die Buchhalterin Magdalena und die Kommissarin Klara, wie sie einem skrupellosen Mörder entkommen. "Dann stirb doch selber!" ist ein trotziger Krimi aus dem Herzen Passaus – modern, erotisch und spannend bis zuletzt und doch eine sanfte Liebeserklärung an das Leben.
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Seitenzahl: 543
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Dann stirb doch selber
Imprint
Dann stirb doch selber Dagmar Isabell Schmidbauer
published by: epubli GmbH, Berlinwww.epubli.de
Copyright: © 2003 Dagmar Isabell Schmidbauer Konvertierung: Sabine Abels | www.e-book-erstellung.de
Angst und Verzweiflung drangen von heute auf morgen in mein ruhiges Leben ein und wenn ich mich richtig besann, dann nahm alles mit dieser verfluchten Wette seinen Anfang.
Neun Monate gaben wir uns Zeit, so lange, wie eine Frau braucht, um ein Kind auszutragen. Im Grunde ging es ja auch um nichts anderes. Harry wollte ein Kind von mir und er musste beweisen, dass er es wert war.
„Hallo, Magdalena!“ Luigi führte alle fünf Fingerspitzen seiner rechten Hand an die Lippen, küsste sie stellvertretend für mich und sandte sie mir dann durch die Luft entgegen. Ich musste lächeln, es war immer das Gleiche. Neben ihm auf der Theke stand ein Stapel Pappschachteln. Ich hatte meine Bestellung telefonisch vom Büro aus aufgegeben.
„Wer ist der Glückliche, der heute mit dir speisen darf?“ Sein Deutsch war perfekt, der Akzent fast schon wieder antrainiert.
Wie immer ließ ich ihn zappeln. „Harry!“
„Magnifico, weiß der Mann überhaupt, was für ein Glück er hat?“
„Er weiß es und er trägt mich auf Händen, Luigi!“, bestätigte ich, wie immer.
Luigi machte ein schrecklich gefährliches Gesicht. „Wenn nicht, komme ich vorbei und bringe ihn um, sag ihm das!“ Im Geiste hatte ich seine Worte mitgesprochen, es war ein Ritual. Mit unterdrücktem Lächeln nickte ich, zahlte und griff nach meinen Schachteln.
Es war kurz vor sechs, als ich die Haustür aufschloss. Harry war noch nicht da, aber noch dachte ich an nichts Schlimmes, balancierte vorsichtig mein Abendessen durch die Eingangstür, klemmte mir die Post unters Kinn und stieg die Treppe zu unserer Wohnung hinauf.
Der Tag war heiß und die Sonne hatte unsere Wohnung in einen Backofen verwandelt. Hastig riss ich die Fenster auf, zog Rock und Jacke aus, rollte die Strumpfhose herunter und stellte mich unter meine wohlverdiente Dusche. Endlich Freitag, dachte ich, ließ das Wasser lang und angenehm über meinen Körper laufen und schloss die Augen. Eine schreckliche Woche lag hinter mir. Die Hitze klebte in allen Poren und machte die Menschen aggressiv. Harry war nur noch selten zu Hause, und wenn, war er nicht ansprechbar. Jeder von uns hatte seine Arbeit, aber es war einfach zuviel für eine gute Beziehung.
Nur mit einem flauschigen Handtuch um den Körper begann ich den Tisch zu decken. Von Harry keine Spur. Er hatte versprochen, heute früher nach Hause zu kommen, um mit mir etwas zu feiern. Mit einem satten Plopp zog ich den Korken aus der Weinflasche und ließ sie atmen. Er hatte mir nicht gesagt, worum es geht, aber er schien sehr zuversichtlich. Ich polierte die Weingläser noch einmal, richtete das Besteck und legte Streichhölzer für die Kerzen bereit. Dann ging ich ins Schlafzimmer und streifte mir mein leichtes Sommerkleid über. Harry liebte luftige Kleider, er fand sie so herrlich erotisch, am liebsten ohne Slip!
Am Morgen war Harry früh zu einem Kunden gefahren. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Fast acht, verdammt, wenn er nicht bald kam, war die Lasagne verdorben. „Magdalena, ich kann dir nichts versprechen, aber ich tu mein Bestes und ich tue es für uns!“, hatte er gesagt, was immer ich mir darunter vorstellen sollte. Vorsichtig mischte ich den Salat. Kochen war nicht meine Stärke, das überließ ich gerne Luigi, denn der verwendete nur frische Zutaten, und das zahlte sich jetzt aus.
Wieder lief ich ans offene Fenster und sah hinaus. Die Vorhänge bauschten sich, ein erfrischendes Lüftchen war aufgezogen. Im Hof standen nur mein Golf und ein paar Kübel mit Tomatenpflanzen, deren Blätter zu viel Sonne abbekommen hatten. Unruhig lief ich im Zimmer auf und ab. Aus eigener Kraft wollte ich etwas erreichen, Karriere machen um jeden Preis. Ich hatte es geschafft, mein Chef brauchte mich, aber ich wusste auch, was mir wichtig war, was ich auf keinen Fall aufgeben wollte. Harry! Er war der Mann, mit dem ich mein ganzes Leben teilen wollte.
Als es dämmerte, zündete ich die Kerzen an und setzte mich in einen Sessel vor den Kamin. Die Stimmung im Raum vertiefte meine Melancholie, erschöpfte meinen Körper, bis ich endlich sein Auto hörte. Langsam stand ich auf, zog meine Lippen nach, bürstete meine Haare und zerstäubte ein unwiderstehliches Parfüm auf meiner Haut. Ein letztes Mal überprüfte ich den Tisch, dann lief ich barfuß die Treppe hinunter, um ihm entgegen zu gehen.
Harry hatte sein Auto in der Verlängerung der Werkstatteinfahrt geparkt, ich hörte ihn rumoren, konnte ihn aber nicht sehen. Die spitzen Steinchen im Hof reizten mich nicht, zu ihm hinüber zu laufen, also blieb ich stehen, wartete und erschrak, als der Motor plötzlich aufheulte und gleich darauf Harrys Wagen an mir vorbeifuhr. Auf dem Beifahrersitz konnte ich einige blonde Haarsträhnen erkennen, die rechts und links neben der Kopfstütze flatterten. „Harry, was soll das!“, schrie ich hinter ihm her. Der Wind wurde stärker, verschluckte meinen hilflosen Schrei. Ein Gewitter lag in der Luft.
Mit gerafftem Kleid rannte ich die Treppe hinauf, schnappte mir Autoschlüssel und ein paar Schuhe und schon war ich wieder unten. Harry war ein forscher Fahrer, doch zu meinem Glück gab es auf der Vornholzstraße zahlreiche Hindernisse. Ich fuhr schneller als sonst, ignorierte alle Bedenken, riskierte fast zu viel. Vor Rasern sollten die bepflanzten Kübel die Kinder schützen, jetzt hoffte ich, keines würde dahinter Verstecken spielen.
Die Vornholzstraße war lang, reichte von den Feldern im Norden bis zur Spitalhofstraße an ihrem südlichen Ende. Dort, an der Einmündung, erkannte ich Harrys Wagen an seiner großen roten Aufschrift. Er bog nach links ab, wollte zur Franz-Josef-Strauß-Brücke, und ich gab Gas, weil ich sehen wollte, was es mit dieser Fahrt auf sich hatte.
Der Wind frischte auf, drückte zur offenen Scheibe herein und wirbelte meine Haare durcheinander. Für einen Moment sah ich nichts mehr und wäre an der ersten Ampel nach der Brücke beinahe auf einen Transporter geknallt, der sich vor meinen Golf drängelte.
Bisher hatten mich Harrys Fahrten kaum interessiert, und nachgefahren war ich ihm auch noch nie, Ehrenwort! Aber bisher hatte ich auch noch nie das Gefühl, er wolle etwas vor mir verbergen. Außerdem interessierte es mich brennend, was das Blondhaar auf seinem Beifahrersitz zu suchen hatte.
Endlich wechselte der Transporter die Spur und ich konnte gerade noch erkennen, wie Harry weit vor mir auf die Straße nach Regen einbog. Die Ampel sprang auf Rot. Ich wartete und sah, wie immer mehr Autos hinter Harry herfuhren. Mutlos trat ich aufs Gas, aber mein Golf fuhr einfach nicht schnell genug, und jedes Auto, das mich überholte, vergrößerte die Distanz zwischen uns.
Unterdessen hatte der Wind weiter zugenommen und wirbelte immer mehr Staub auf. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich auch heute Überstunden gemacht hätte, dachte ich kurz, aber da schob sich eine andere Frage in mein Bewusstsein: Wohin wollte Harry eigentlich?
Die Autos vor mir wurden langsamer, es schien, als wollten sie mir eine Chance geben, doch dann leuchteten die ersten Warnblinklichter auf. Gleich darauf standen wir.
Aus und vorbei, dachte ich und schloss kurz die Augen. Das Beste, was ich jetzt machen konnte, war nach Hause zu fahren und dort auf ihn zu warten, vor allem wäre es für meine Selbstachtung gut. Stattdessen stand ich in der Schlange und sah von der Donau erlösende Gewitterwolken heranziehen, die in wenigen Minuten den Himmel schwarz färbten. Gespenstisch sah das aus. Ich schaltete das Radio ein. Es knackte laut, als der erste Blitz vom Himmel schoss und der Donner prompt antwortete. Dann war es wieder ruhig und ich legte den Kopf nach hinten. Harry hatte gewusst, dass ich zu Hause war, selbst wenn er mich nicht gesehen haben sollte, mein Golf stand auf dem Parkplatz. Warum war er trotzdem davongefahren?
Aus weiter Ferne hörte ich ein Martinshorn, gleich darauf noch eines. Es hatte also wieder einmal jemanden erwischt. Und dann fragte ich mich, warum sie sich nicht wenigstens geduckt oder ihre Haare zusammengebunden hatte. Mussten sie mir so wehtun?
Als es nach einer kleinen Ewigkeit weiterging, stand auf unserer Spur ein Streifenwagen, der Verkehr wurde über die Gegenfahrbahn geleitet. Das Blinklicht auf dem Dach des Krankenwagens prallte wie eine stumme Mahnung von der Brückenunterseite zurück.
An den Pfeiler der Brücke schmiegte sich ein Auto mit zusammengefalteter Kühlerhaube. Nur die rote Aufschrift schien unversehrt. Der Fahrer war viel zu weit auf den Standstreifen gefahren. Er musste abgelenkt worden sein, kein Mensch fährt so weit nach rechts. Ich folgte dem Winken des Polizisten und kurbelte mein Fenster herunter. „Was ist denn passiert?“, fragte ich, setzte zu einem Rechtfertigungsversuch an, wollte ihm klar machen, dass ich auf keinen Fall hier weg konnte. Dann begann ich zu zittern. Ein greller Blitz erhellte sein Gesicht, als er mich genervt zurückwies. „Fahren Sie bitte weiter, hier gibt es nichts zu sehen!“ Das Donnergrollen zog über mein Auto. Ich hatte nicht mehr die Kraft, etwas entgegenzusetzen. Auf Gaffer sind die Ordnungshüter nicht gut zu sprechen. Obwohl ich doch wirklich einen Grund hatte.
Er saß noch im Auto. Sein Oberkörper war über das Lenkrad gebeugt. Neben dem Wagen stand ein Sanitäter, er hatte das Fenster eingeschlagen, unternahm aber nichts. Aus dem vorgebeugten Kopf floss ein dünnes, rotes Rinnsal, fast nicht zu erkennen. Noch einmal warf ich einen Blick hinüber. Der Fahrer bewegte sich nicht mehr. Ich schluckte, versuchte meine Tränen wegzublinzeln. Er hatte es so eilig gehabt. Kraftlos folgte ich den anderen Autos. Hinter mir wurde bereits gehupt. Keinen interessierte das Schicksal des anderen. Regen setzte ein. Unbarmherzig, als wolle er ganz schnell alle Spuren beseitigen!
Niemals hätte ich geglaubt, was mir die Polizisten später erzählten, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte.
Als ich unsere Wohnung endlich erreicht hatte, versuchte ich noch immer mir einzureden, dass ich mich getäuscht haben musste, dass es nicht Harry war, der in diesem Auto am Brückenpfeiler saß, mit geöffneten reglosen Augen und einer Blutspur an den Schläfen. Aber es wollte mir nicht gelingen. Ich sah aus dem Fenster in die Nacht und versuchte mir ein anderes, ein schöneres, ein lebendigeres Bild von Harry vorzustellen. Eines, auf dem er lacht. Fast wäre es mir gelungen, doch dann klingelte es an der Tür, und als ich aufmachte, räusperten sich zwei verlegene Polizisten. Der eine war kräftig und groß und trug seine Uniform voller Stolz. Der andere wirkte beinahe lächerlich neben ihm, und das lag nicht nur an seinen blassroten Haaren und dem spärlichen Bartflaum. Beiden sah ich an, dass sie diesen Job nicht gerne machten. Sie suchten nach Worten, die sie nicht finden konnten, weil sie Harry nicht gekannt hatten, und ich wusste auch nicht, was ich an ihrer Stelle gesagt hätte, außer: „Es tut mir leid!“
Ich versuchte mich zu sammeln, spielte weiterhin die Kühle, die das alles nichts anging, wollte es nicht glauben, nicht wahrhaben und sah meinen einzigen Ausweg in der Flucht, genau wie Harry machte ich mich vor der Wahrheit aus dem Staub. Ich begann zu schreien und nahm die folgende Dunkelheit als dankbare Erlösung an!
Mit dem Gefühl, es gäbe mich nicht mehr, wachte ich am nächsten Tag auf, öffnete vorsichtig die Augen und sah aus dem Fenster. Die Sonne schien mit letzter Kraft zu mir herein. Ich hatte lange geschlafen, weil mein Kopf sich weigerte, das Geschehene zu verstehen. Die apfelgrünen Vorhänge rechts und links der großen Sprossenfenster waren zurückgebunden. Über meinem Körper lag eine leichte Sommerdecke, schwarzweiß kariert. Wie mein Denken. Harry! Tapfer versuchte ich, nicht zu weinen. Wie oft hatten wir in diesem Bett gelegen und gelacht oder uns geliebt. Harry war so feinfühlig, so phantasievoll, einfach wunderbar! Kaum sah ich ihn vor mir, schon huschte ein winziges Lächeln über mein Gesicht. Doch mein Körper war nur noch eine leere Hülle, liegen gelassen und vergessen an einem Platz, an den er einmal gehört hatte. Mein Kopf lag in den Kissen und mein Blick war starr an die Decke gerichtet. Dort tanzten meine Gefühle herum. Der bohrende Schmerz in meinem Körper war allgegenwärtig, schien von nirgendwoher zu kommen und wollte nirgendwohin. Er blieb, wie ein Anhängsel, das sich einfach nicht mehr verscheuchen ließ.
Der Blick auf meinen Wecker wurde von einem halbvollen Wasserglas und einem braunen Pillenglas verstellt. Ich überlegte, wie die Sachen dorthin gekommen sein konnten. Es hatte mit den Polizisten zu tun. Sie hatten Sylvia geholt und die hatte nichts Besseres gewusst, als gleich ihren Chef zu alarmieren. Seine Haare waren viel zu kurz und zu blond, sein Gesicht schrecklich braun und die Falten viel zu tief für seine jugendliche Aufmachung. Sein Poloshirt war ein wenig verschwitzt, vielleicht kam er vom Sport, aber das teure Rasierwasser überdeckte jeden Geruch. Ich hatte jedes Detail an ihm registriert, nur um nicht an Harry denken zu müssen. Und dann hatte er gelächelt, mit seinen wunderbaren Zähnen. Dritte Generation. Sylvia lief die ganze Zeit um ihn herum, und er sagte, er wolle mir eine Spritze geben, damit ich zur Ruhe käme. Dankbar sah ich ihn an, doch, er sollte mir ruhig eine Spritze geben und dann gehen, und Sylvia sollte er am besten gleich mitnehmen, sonst käme sie nur noch auf die Idee, uns etwas Schönes zu kochen.
Ich stand auf und sah aus dem Fenster. Die Wolken, die das Gewitter gestern mitgebracht hatte, waren fast alle verschwunden. Wahrscheinlich war es den ganzen Tag schön. Einfach so, als ob nichts geschehen wäre. Von unten hörte ich keinen Laut, die Jungs hatten Ferien.
Unsere Wohnung war ein neu gestaltetes Loft im oberen Stock einer alten Fabrik. Die Werkräume wurden zur Wiedereingliederung junger Leute ins Berufsleben genutzt. Das hörte sich toll an und manchmal klappte es auch.
Auf der Straße fuhren sporadisch Autos vorbei und im Hof radelte Anna mit ihrem neuen Fahrrad. Als es laut krachte, wusste ich, worum es sich handelte. Sie hatte mal wieder die Müllcontainer hinten in der provisorischen Überdachung angefahren.
Auf einmal hielt ich es nicht mehr aus.
„Harry!“, rief ich in die leere Wohnung. Meine Stimme klang rau und brüchig und wenig charmant, aber es war einfach gut, seinen Namen zu rufen. „Harry!“, versuchte ich es gleich noch einmal, ohne auf eine Antwort zu hoffen. Und dann weinte ich und in Gedanken hörte ich meine Mutter sagen: „Weine nur, viel mehr können wir jetzt sowieso nicht machen. Die Leute werden uns aus dem Weg gehen und wie Aussätzige behandeln!“ Daraufhin hatte ich sie ungläubig angesehen. Ich hatte doch nichts verbrochen, warum sollten die Leute das tun?
Langsam ging ich in die Küche, zum Kühlschrank, um mir etwas anderes als dieses fade Wasser, das noch immer neben meinem Bett stand, zu holen. Ich nahm ein Weinglas, warf ein paar Eiswürfel hinein und schenkte Cola drauf, natürlich light. Seit ich Harry kannte, machte ich Diät und quälte mich mit der Vorgabe, endlich abzunehmen und mich nicht von seinen Fressorgien anstecken zu lassen. Harry hatte einen so wunderbaren Körper.
... Eins, zwei, drei, Cha-cha, vier, fünf, sechs, Cha-cha. Frau Heidinger war irgendwo am Rande des Saales und zählte laut vor. Wir standen uns gegenüber, nur eine Armlänge von einander entfernt, nahmen Haltung an und begannen leise mitzuzählen. Ich musste lächeln, wieso hatte er ausgerechnet mich ausgewählt? Auf seiner Brust klebte ein Schildchen mit seinem Namen. Harry! Eins, zwei, drei, Cha-cha, vier, fünf, sechs, Cha-cha. Es waren viele nette junge Leute da, aber keiner schien mir so begehrenswert wie dieser Harry! „Wie wäre es mit uns, Magdalena?“, hatte er gefragt und meine Stimme hatte sich fast überschlagen, als ich „Ja gerne!“ antwortete. Eins, zwei, drei, Cha-cha, drehen, drehen, drehen, Cha-cha. An seiner Hand tänzelte ich herum und landete wieder in seinem Arm. Es war so wunderbar, wie er mich führte und ich mich hingab, und ich hoffte nur, dass keiner auf die Idee kam jetzt nach einer Pause zu schreien.
Zwei Stunden später liefen wir über einen holprigen Feldweg und lachten und zählten noch immer: Eins, zwei, drei, Cha-cha, vier, fünf, sechs, Cha-cha. Auf einmal blieb er stehen, zog mich an sich und küsste mich. Einfach so, ohne zu fragen und ganz wider die feine Etikette. Pfui Teufel, was würde Frau Heidinger jetzt wohl sagen, wenn sie uns sehen könnte, dachte ich und schloss dabei die Augen. Ich reckte mich ihm entgegen, weil er so gut roch und so gut schmeckte und weil er viel größer war als ich. Es war eine wunderbar mondlose Nacht, wie geschaffen, um ein glückliches Paar vor den Augen der Welt zu verstecken.
Harry nahm mich auf seine Arme und trug mich über eine kleine Brücke, bis zu einer Hütte mitten im Wald. Er ließ mich den Schlüssel aus der Dachrinne fischen und stellte mich erst im Inneren der Hütte wieder auf die Beine. Neugierig sah ich mich im Schein einiger Kerzen um. Es gab einen Schrank mit Geschirr, einen großen, massiven Tisch mit Stühlen und einen Nebenraum. Dort stand ein Bett, groß und einladend. Abwartend blieb ich stehen. „Hast du mich deshalb hergebracht?“, fragte ich und zeigte mit dem Kopf zum Bett.
„Nein, natürlich nicht!“ Er sah sehr ernst aus. „Ich wollte dir nur meine Hütte zeigen!“
Nach dieser schamlosen Lüge trat er einen Schritt auf mich zu, schob seine Hände in meinen Rücken und zog mich gierig an sich. Ich schloss die Augen, spürte wie der Reißverschluss meines Kleides geöffnet wurde und seine Hände meine nackte Haut streichelten. Dagegen blieb seine Zunge beinahe schüchtern in meinem Mund. Mit meinen Händen versuchte ich mich am Tisch abzustützen, aber es war zwecklos. Harry war viel stärker als ich. Er drückte mich nieder und streifte mir dabei mein Kleid vom Körper. Es war ein herrliches Beben, das meinen Körper durchdrang und ihn leicht und frei zurückließ.
Auch Harry hatte sich ausgezogen, nicht ganz, aber es genügte. Und endlich sah ich, was meine Hände bereits während der Tanzstunden erkundet hatten. Ein Männerkörper ohne Wenn und Aber. Er war wunderschön und ich wollte ihn nie wieder hergeben! ...
Mit dem Cola-Glas in der Hand ging ich zu einem der Sessel vor dem Kamin, die mit Tigerfellimitat bezogen waren, und setzte mich. Das hier war mein Lieblingsplatz, und wenn ich irgendwo die Erinnerung an unser erstes Treffen ertragen konnte, dann hier. Der Kamin stammte aus einem französischen Herrenhaus, und im Winter brannte oft ein Feuer darin. Gedankenverloren drehte ich den Stiel des Glases hin und her und sah die dunkle Flüssigkeit herumschwappen. Ich legte die Füße auf den zweiten Sessel und schloss die Augen. Bevor ich Harry kennen lernte, hatte ich mit Männern immer nur versucht, Liebe zu machen! Ich hatte zärtliche Umarmungen und geraubte Küsse genossen, ohne zu ahnen, wie herrlich hemmungsloser Sex sein konnte. Von diesem Tag an war ich für alle Softies für immer verloren. Erst Harry gab mir, was ich brauchte. Quälend zarte Berührungen und gleich darauf fordernde, wilde Küsse, geflüsterte Drohungen und geschriene Versprechen.
... Er drückte mich nieder, um mich endlich zu nehmen und zog mich dann doch noch einmal kraftvoll nach oben: „Komm, wir tanzen Tango!“ Harry lächelte dieses Lächeln, das ich fortan nicht mehr aus meinem Kopf bekommen konnte, ging in Tanzposition und zog mich an seinen Körper. Nackt und heiß summte er die Melodie. Immer enger bewegten sich unsere Körper, Haut an Haut. Ich fühlte ihn bei jeder Bewegung kommen und gehen. Er führte mich mit leichter Hand, weil ich einfach nicht von ihm lassen konnte. Frau Heidinger hätte ihre wahre Freude an uns gehabt, außer vielleicht, wenn sie gewusst hätte, wie ruchlos wir ihn interpretierten. Aber der Tango ist nun einmal ein ruchloser Tanz, und daher landete ich bei der letzten Drehung auf der Tischplatte. Bäuchlings. Harry packte mich von hinten, drückte meine Beine auseinander und drang tief in mich ein. Ich stöhnte laut auf. Nie zuvor hatte ich eine derart heiße Nacht erlebt.
Ich fühlte, wie er sich zwang innezuhalten, wollte protestieren, konnte es aber nicht, weil er mir die Hand auf den Mund legte, bis ich ganz still hielt und mich nicht mehr rührte. Erst dann löste er den Griff und fuhr mit einer schier unerträglichen Sanftheit die Konturen meines Gesichtes nach. Über das Kinn bis zum Hals, wo er kurz anhielt und sich mit seinen Lippen zu meinem Ohr herunterbeugte.
„Schön brav sein, sonst...“, er fasste meinen Hals fester und drückte kurz, aber heftig zu. Bevor ich in Panik geraten konnte, hatte er schon wieder losgelassen. Ein heißer Schauer durchzog meinen Körper und die folgende Sanftheit machte alles noch viel schlimmer. Noch nie hatte ein Mann derartige Spielchen mit mir gespielt ...
Bei dem Gedanken daran zuckte ich unwillkürlich zusammen. Ich war tatsächlich erregt. Beinahe konnte ich ihn spüren, und das machte mich verlegen, weil ich vielleicht nicht an so etwas denken sollte, jetzt, wo Harry tot war. Aber andererseits würde es nie wieder einen Mann wie Harry für mich geben, da war es doch nur recht, wenn ich mich noch sehr lange an ihn und seine Leidenschaft erinnern konnte!
Auf einmal liefen mir die Tränen über die Wangen. Die Cola in meiner Hand war ganz warm geworden und schmeckte scheußlich. Cola Light kann man nur eisgekühlt trinken. So wie man nur in ganz heißen Nächten stilvoll Tango tanzen kann. Krampfhaft hielt ich mich an meinem Glas fest. Es war so schön gewesen damals, dass es ein ganzes Leben gereicht hätte, dachte ich und drückte fester, weil es jetzt ein ganzes Leben reichen musste.
Harry war tot, lag auf einer kalten Bahre, in einem sterilen Raum. Ich wollte es mir nicht vorstellen, ebenso wenig wie ich es sehen wollte. Auf einmal zersprang das Glas in meiner Hand und Blut tropfte in meinen Schoß. Hastig sprang ich auf, lief ins Bad, drehte das kalte Wasser auf und ließ es mir über die Wunde laufen, bis die Blutung nachließ.
Der Innenarchitekt hatte einen Traum entworfen und dabei weder an Material noch an Ideen gespart. Wände und Badewanne waren mit portugiesischem Estremonzmarmor verkleidet und rund um das Fenster waren Schränke eingebaut. Aus dem großen goldbelegten Spiegel schaute mir mein trauriges Gesicht entgegen. Ich ging näher heran. Irgendwie wirkte alles so unpersönlich, so fremd. Meine Augen waren rotgeweint, die Wangen hohl, der Mund hing schlaff nach unten. Ich zwang mich zu einem Lächeln. Harry würde es nicht gefallen, wenn er mich so sehen könnte. Mit Hilfe einer Pinzette entfernte ich zwei kleine Glassplitter. Dann wickelte ich ein frisches weißes Handtuch um die Wunde und setzte mich auf die Stufen, die die Badewanne umgaben. Auf der breiten Ablage dahinter stand eine Vase mit roten Rosen und einige Duftkerzen.
Die Badewanne war so groß, dass zwei Erwachsene ohne Probleme darin Platz fanden, vorausgesetzt, sie wollten nicht auf Distanz gehen. Ich schaute zu Boden. Die Fransen der hellen Badematte waren zerzaust, ich bückte mich und zupfte sie zurecht. Danach durchwühlte ich die Wohnung. Ich musste etwas finden, das sich festhalten ließ und mir irgendwann die Frage beantwortete: Was war schief gelaufen in unserer Beziehung?
Die Zielstrebigkeit, mit der sie versucht haben, ihre Karriere zu zerstören, grenzte beinahe schon ans Selbstmörderische! Mit diesen Worten wurde ich unehrenhaft von München nach Passau versetzt. Natürlich stand es so nicht in meinen Akten, aber ein Brandmal hatte ich trotzdem. Entsorgt ins Grenzgebiet! Menschlich noch immer schwer enttäuscht, schob ich die Papiere auf meinem Schreibtisch zusammen.
Leicht war es mir nicht gefallen, München zu verlassen, doch dann kam mir eine andere Katastrophe zu Hilfe. Passau wurde vom Frühjahrshochwasser heimgesucht. Leise konnte ich mein Zimmer beziehen, dankbar dafür, dass mich kaum einer zur Kenntnis nahm und ich in Ruhe meine Wunden lecken durfte.
Inzwischen hatte ich das alte Polizeipräsidium in der Ludwigstraße lieben gelernt. Alte Häuser hatten für mich schon immer etwas ganz Besonderes. Ich mochte das Knarzen der Dielenbretter und die leicht zugigen Fenster. Die hohen Räume gaben mir ein Gefühl von Freiheit; Erker und Rundbögen sprachen für Phantasie. Der übervolle Schreibtisch war eine Herausforderung, der ich mich gewachsen fühlte und schnell nachkam. Das einzige, was mich manchmal traurig stimmte, war die heruntergekommene Pension, in der ich schlief. Die Hoffnung, irgendwann einmal wieder in meiner schönen Wohnung in München zu leben, hatte ich noch nicht völlig abgeschrieben, obwohl doch eigentlich alles dagegen sprach.
Obermüller schlurfte über den Gang, riss mich aus meinem Selbstmitleid und zauberte ein Lächeln auf mein Gesicht. Er war ein hinreißender Kollege, wenn er auch manchmal nicht gleich verstand, worum es eigentlich ging. Bei einer ausgiebigen Streckübung beschloss ich, mir noch einen letzten Kaffee und damit etwas Abwechslung zu gönnen.
Ich steckte eine Münze in den Automaten im Erdgeschoss und sah zu, wie der Kaffee in meinen Becher tröpfelte. Obermüller stand mit dem Kollegen Wegerbauer an einem der kleinen Bistro-Tischchen und hatte mir seinen Rücken zugewandt. Zwischen ihnen qualmte eine Zigarette im Aschenbecher. Seit ich München verlassen hatte, versuchte ich, sozusagen als selbst auferlegte Strafe, mir das Rauchen abzugewöhnen. Mal hatte ich mehr, mal weniger Erfolg.
„Ich kann’s immer noch nicht fassen, der hat den einfach an den Pfeiler klatschen lassen!“ Obermüllers Körper wurde von einem Schauer geschüttelt. Vorsichtig nippte ich an meinem Kaffee. Der Automat hatte es mal wieder zu gut mit mir gemeint.
Wegerbauer war ganz auf seinen Kollegen fixiert. „Eigentlich müssten wir noch einmal zu der Freundin, ich hab richtig Angst, die war ja so was von fertig. Wenn ich an ihren Schrei denke, kriege ich eine Gänsehaut!“
Obermüller nickte. Er war schon ewig hier, wie er mir kürzlich bei einem Bier im Hemingway´s erzählt hatte. Als geographische Einführung hatte er mich an alle wichtigen Punkte der Stadt geführt und versucht, mich unter den Tisch zu trinken. Aber so leicht, wie sich das manche Männer vorstellen, ist es bei mir nicht.
„Ich weiß nicht, was ich täte, wenn einer meine Frau so an einen Betonpfeiler drücken würde.“
Mit einem schmalen Plastiklöffel rührte ich den Zucker um, trank erneut und musste husten.
„Ah, Kollegin Eibel!“, begrüßte mich Obermüller und schenkte mir ein gefälliges Grinsen. Dabei könnte ich schwören, dass nichts zwischen uns passiert war.
„Frau Fertigmann!“, ergänzte Wegerbauer und nickte mir zu. Für Doppelnamen hatten die beiden ebenso wenig übrig wie für Gesetzesbrecher. Obermüller war bekannt dafür, dass er nach einer Schlägerei auch schon mal zwei auf einen Streich zur Vernehmung brachte. Fein ging er dabei nicht vor, aber das verdienten sie seiner Meinung nach auch nicht. Ich konnte mir also gut vorstellen, was er wohl mit dem Autofahrer machen würde.
„Guten Abend Kollegen, gibt’s Probleme?“
Obermüller reckte sich. „Nun ja, eigentlich nicht, aber wir überlegen gerade, ob unser Fall nicht viel besser in den Händen einer Frau aufgehoben wäre!“
Er warf Wegerbauer einen beschwichtigenden Blick zu. In die Hände einer Frau gehörten eigentlich nur schmutzige Kaffeetassen, Schreibarbeiten und ein unbefriedigter Willi, aber das meinte er sicher nicht. Abwartend schaute ich ihn an. Der Kaffeeduft reizte mich. Langsam trank ich noch einen Schluck und hakte mich dann mit meinem freien Arm bei Obermüller unter. Er hatte einen Körper wie ein Kleiderschrank, bestimmt würde sich, wenn er dabei war, keiner trauen, seiner Frau auch nur ins Gesicht zu husten.
„Na, dann schildert mir mal die Fakten!“, forderte ich, während wir in sein Zimmer zurückschlenderten.
Wegerbauer schlüpfte vor uns hinein und suchte auf seinem Schreibtisch herum. „Der Unfall passierte gestern Abend gegen 21 Uhr auf der Straße von Passau nach Regen. In Höhe Patriching fuhr ein blauer Van gegen einen Betonpfeiler. Die Kühlerhaube wurde völlig eingedrückt, der Fahrer muss sofort tot gewesen sein. Wir haben einen Zeugen, der aussagte, dass ein grüner Sportwagen direkt hinter dem Verunglückten herfuhr und ihn kurz vor dem Pfeiler von der Straße abgedrängt hat.“
Wegerbauer sah Obermüller erwartungsvoll an. Der nahm ihm das Blatt aus der Hand und fasste weiter für mich zusammen.
„Es gibt keine Hinweise, dass etwas gestohlen wurde, und der Zeuge schien mir auch nicht wirklich glaubwürdig. Er sagte, er hätte es ja nur von hinten gesehen, aber da sei der Sportwagen wirklich geil hergerichtet gewesen.“ Obermüller sah auf das Blatt mit der Zeugenaussage: „...ausladende Kotflügelverbreiterungen, einen großen Heckflügel, Heckenschürze mit weiß laudierten Alugittern und einem Doppelrohrauspuff. Das Nummernschild hat er sich leider nicht gemerkt!“
Ich hatte schon davon gehört, konnte es aber nicht verstehen. Ausgerechnet im ländlichen Bereich, wo so viele Bodenunebenheiten sind, motzen sich die Kerle ihre Autos auf. Sie investierten ihre ganze Kohle in die Schlitten und würden nie auf die Idee kommen, sie freiwillig zu demolieren.
Ich nahm das Blatt und las alles noch einmal selbst durch. Der Zeuge gab an, dass der Wagen richtig brutal von der Straße abgedrängt worden sei, er hielt es für Vorsatz. Warum sollte das jemand tun, noch dazu auf einer so befahrenen Straße, er musste doch davon ausgehen, gesehen zu werden? Ich legte das Blatt zurück.
„Was habt ihr bis jetzt unternommen?“
„Die Leiche ist bei der Obduktion, das Auto bei der Spurensicherung, und die vage Beschreibung ging als Fahndung raus!“
„Auf jeden Fall sollten wir mit der Freundin reden. Wenn es aus Rache geschah, dann hat sie das Auto ja vielleicht schon mal irgendwo gesehen!“
Obermüller sah mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle. „Aus Rache, wie kommst du denn darauf?“
„Ein anderes Motiv für eine solche Tat fällt mir momentan leider nicht ein.“
„Aus Rache!“, wiederholte Wegerbauer ungläubig und sah Obermüller an. „Natürlich, sie hat recht!“
Benommen schreckte ich hoch, es hatte an der Wohnungstür geklingelt, und obwohl die Vorhänge zugezogen waren, sah ich, dass es bereits hell war. Sylvia war gestern noch einmal da gewesen, um mich mit Tabletten zu füttern, die mir die Nacht erträglich machen sollten. Sie wirkten wirklich wunderbar, aber sie machten mich auch träge und nahmen mir die Wahl meiner Gedanken. Ich beschloss, sie nicht mehr zu nehmen. Noch einmal klingelte es an der Tür. Verschlafen sah ich auf den Wecker. Wer mochte mich so früh an einem Sonntagmorgen sprechen? Ich schwang die Beine aus dem Bett und fiel beinahe über einen großen braunen Pulli. Harrys Pulli, und er roch einfach wunderbar nach ihm. Schwerfällig hob ich ihn auf und drückte ihn kurz an mich. Er war selbstgestrickt und Harry hatte ihn die Kratzbürste getauft, nachdem er endlich fertig war. Trotzdem trug er ihn oft und gern. Ich legte ihn aufs Bett und schlurfte zur Tür. Harry hatte im Traum gesagt, ich solle gut auf mich aufpassen. Warum träumte ich so etwas?
Im Gang warf ich einen kurzen Blick in den Spiegel. Mein Anblick war fürchterlich und in meinem ganzen Bekanntenkreis gab es nur eine Frau, die wohl niemals in einem solchen Zustand an die Tür gegangen wäre. Julia. Ihre Wohnung lag zwischen Sylvias und unserer. Sie war sozusagen die Pufferzone. Sonst wären zwei völlig konträre Welten aufeinander gestoßen. Julia imponierte mir, weil sie die vorurteilsfreieste Frau war, die ich kannte, und vollkommen tolerant gegenüber allen Andersartigkeiten ihrer Mitmenschen. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander, und außerdem war Julia gestern schon einmal hier gewesen. Und gestern sah ich bestimmt keinen Deut besser aus als heute. Es läutete abermals.
„Ich komme!“, rief ich und kämmte mir die Haare eilig aus dem Gesicht. Während ich die Bürste hinlegte, öffnete ich mit der freien Hand die Tür. Ich erblickte eine Frau, die ganz sicher nicht Julia war, obwohl Julia wirklich sehr wandlungsfähig sein konnte. Die Frau trug eine weite Palazzohose und ein weißes Shirt, vermutlich aus Seide. Ihre Haare waren kinnlang und gewellt. Über der Schulter hing eine Handtasche. Verlegen strich ich meine Haare hinter die Ohren. Sie sah so taufrisch aus.
„Hauptkommissarin Klara Eibel-Fertigmann!“ stellte sie sich vor und hielt mir einen Ausweis entgegen. „Frau Morgenroth, ich würde gerne noch einmal mit Ihnen über den Unfall sprechen!“ Abwartend blieb sie im Türrahmen stehen.
Ich nickte. „Gehen Sie nur durch!“ bat ich und versuchte, während ich ihr folgte, vergebens, mein ausgebleichtes Nachthemd ein wenig in die Länge zu ziehen.
Sie mochte Mitte Vierzig sein und ging sehr aufrecht. Ob sie sich vorstellen konnte, dass ich vor lauter Sehnsucht nach Harry mit seinem dicken kratzigen Pulli ins Bett gegangen war?
Auf dem Esstisch lagen einige Fotoalben herum, die ich hastig schloss. Es ging sie nichts an.
„Entschuldigen Sie bitte das Durcheinander!“, sagte ich schlicht und räumte die Sachen ins Regal zurück, dann bot ich ihr einen der Tigersessel vor dem Kamin an.
„Geht es Ihnen heute wieder etwas besser?“, fragte sie und sah mich abschätzend an. Um sie zufrieden zu stellen, nickte ich.
„Okay!“, befand die Kommissarin, griff in ihre Handtasche und zog einen Notizblock heraus. Dabei fiel ein Bild auf den Boden. Es war ein schlechter Schnappschuss, so ein Bild hätte ich von Harry niemals mit mir herumgetragen. Sie klappte den Block auf und sah mich an.
„Es war kein Zufall, dass Harry Kaufmann an diesem Brückenpfeiler starb!“ Entsetzt sah ich sie an. Wie konnte sie mir das so ruhig an den Kopf werfen. „Wir haben einen Zeugen, der aussagte, dass das Auto hinter Ihrem Freund sehr dicht aufgefahren ist und ihn von der Straße abgedrängt hat. Das Auto war ziemlich markant, und ich dachte mir, Sie würden es vielleicht kennen.“
Die Kommissarin lehnte sich zurück und ließ ihre Hände bewundernd über die hölzernen Pranken gleiten. Dann erzählte sie mir etwas von Alufelgen und Heckschürzen.
„Was soll das sein?“, fragte ich irritiert.
„Das Auto war hergerichtet, und da jeder, der etwas fürs Herrichten übrig hat, sein Auto ganz individuell verschönert, ist es fast so gut wie ein Nummernschild!“
„Tut mir Leid, ich kenne niemanden, der sein Auto herrichtet!“
„Schade!“
Ja, schade, dachte ich. Harry war von einer blonden Frau abgelenkt worden, deshalb ist er an einen Brückenpfeiler gefahren, aber das werde ich ihr um nichts in der Welt sagen.
Wieder strich sie über die Holzpranken.
„Sie sind wunderschön!“ Ich nickte, ihre Nägel waren mit einem leichten Rosaton gestrichen und fein gefeilt.
„Gibt es vielleicht jemand, der sich an ihm rächen wollte? Wie war das Umfeld, in dem er sich bewegte, ist er womöglich in schlechte Gesellschaft geraten?“
Jetzt reichte es mir aber. Was wollte diese Frau eigentlich von mir? Ohne zu antworten ging ich ins Schlafzimmer, wollte mich anziehen, wollte meine Ruhe dabei haben.
Auf dem Fliesenboden folgten mir ihre Schritte; kalt und hart.
Ich ergriff das erstbeste Sweatshirt und zog es mir über den Kopf. Als ich durch den Ausschnitt war, stand sie ganz dicht vor mir. Ich roch ihr Parfum und ich roch den kalten Rauch, den sie aus allen Poren verströmte. Sie war aufgeregt, sie schwitzte!
„Hatte Harry Kaufmann Geheimnisse vor Ihnen? Versuchte er etwas zu verbergen, benahm er sich ungewöhnlich, war er vielleicht über etwas besorgt?“ Heftig bombardierte sie mich mit ihren Fragen.
„Besorgt?“
„Oder erfreut? Ja, hatte er in letzter Zeit besonderen Grund zur Freude? Gab es irgendetwas, das Ihnen merkwürdig vorkam?“
Natürlich hatte er Grund zur Freude, natürlich war er manchmal besorgt; nur ging sie das nichts an! Ich sagte es ihr, vielleicht um eine Spur freundlicher. Dann ging ich ins Bad, um mich zu kämmen. In dem Moment spürte ich zum ersten Mal ein heftiges Jucken in der Kniekehle. Verstohlen begann ich zu kratzen, aber es wurde dadurch nur noch schlimmer.
„Sie haben einen verdammt tollen Ausblick von hier oben!“ Sie stand schon wieder hinter mir und sah aus dem Fenster. Von unserer Wohnung aus konnte man die ganze Stadt überblicken. „Das ist sicher nicht ganz billig.“ Sie ließ ihren Blick über die in Marmor gefasste Badewanne wandern.
„Nein!“, sagte ich und überlegte, wie viel so eine Kommissarin wohl verdiente. Sollte ich sie danach fragen? Vielleicht steckte sie ja in Zahlungsschwierigkeiten und wollte Harry jetzt etwas andichten, um eine Gehaltserhöhung durchzusetzen!
„Wir fahnden bereits nach dem grünen Sportwagen, aber wenn Sie etwas wissen, wäre es wirklich besser, Sie sagen es uns!“
Für eine zierliche Frau hatte sie ganz schön große Ohren. Damit ich dich besser hören kann! Ich nickte ihr zu; die Grundvoraussetzung für gute kriminalistische Arbeit war ein gutes Gehör. Man musste in der Lage sein, Feinheiten herauszuhören.
„Frau Morgenroth!“, begann sie erneut, aber ich blieb störrisch, was sollten diese ganzen Fragen, Harry war beliebt, es gab niemanden, der ihm etwas zuleide tun wollte.
„Wenn Ihnen noch etwas einfällt, dann rufen Sie mich doch bitte an!“ Auf ihrer Karte stand: Klara Eibel-Fertigmann, ihre Adresse und die Durchwahlnummer ihres Büros. Dann ging sie allein Richtung Wohnungstür. Wir hatten nur eine, sie würde sich also nicht verlaufen, und ich hatte sowieso nicht die Kraft, ihr zu folgen. Reglos blieb ich am Waschbecken und wartete auf das Zuschlagen der Tür, das Zeichen, dass sie endlich weg war. Doch stattdessen stand sie plötzlich wieder vor mir und fragte: „Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wo Harry Kaufmann an diesem Abend hin wollte?“
Hatte ich nicht! Obwohl ich mir diese Frage in den letzten Stunden immer wieder gestellt hatte. Nun saß ich am Esstisch, den Kopf in die Hände gestützt, starrte auf die Obstschale und dachte über Harrys letzte Fahrt nach. Hatte er mit ihr im Hof Halt gemacht oder war sie erst dort eingestiegen? Blond war eine Haarfarbe, die Millionen von Frauen trugen.
Am Morgen war Harry wie immer in sein helles Sakko geschlüpft und hatte sich noch einmal im Spiegel gemustert. Wie sehe ich aus, hatte er gefragt, und ich hatte ihm lachend bestätigt, dass ich keinen besser aussehenden Mann kennen würde.
„Auch nicht deinen Chef?“
„Auch den nicht.“ Es war rührend, wenn er den Eifersüchtigen spielte.
Mit dem silbernen Koffer war er davongefahren; wie immer, alles wie immer, und doch ... Ich nahm einen Apfel und warf ihn von einer Hand in die andere. Wie beim Tennis, von rechts nach links, von links nach rechts, von rechts nach links. Harry hatte am Wochenende an dem großen Tennisturnier in seinem Club teilnehmen wollen.
Das Klopfen an der Tür erschreckte mich. Der Apfel fiel aus meiner Hand, knallte mit einem satten Plopp auf den Boden und rollte weiter bis zum Kamin. Zweimal lang, zweimal kurz, Sylvias Zeichen. Mühsam erhob ich mich, seit Freitag fühlte ich mich nur noch müde und ausgelaugt. Hatte keine Kraft mehr, um irgendetwas sinnvoll anzupacken.
„Hast du deine Tabletten genommen?“ Es war tatsächlich Sylvia, und sie hatte noch nicht mal die Tür hinter sich zugemacht. Ich schüttelte den Kopf, sie verdrehte die Augen und zupfte nachdenklich an ihrem Hals. „Warum nicht?“, fragte sie schließlich.
„Sie machen mich matschig.“ Ich sah zu dem Apfel, der immer noch vor dem Kamin lag, „und sie nehmen mir die Möglichkeit, sinnvoll zu denken!“
„Es geht nicht immer alles logisch zu im Leben!“ Sylvia rieb sich die Arme, sie schien zu frieren. Ich hob den Apfel auf und legte ihn in die Obstschale zurück. Harry hatte sie gern gegessen, mir waren sie zu sauer.
„Warum hast du ihn hergebracht, er ist Urologe und hat überhaupt keine Ahnung!“
Sylvia setzte ihr Krankenschwesterlächeln auf.
„Was glaubst du wohl, was wir auf der Urologie so den ganzen Tag erleben? Da kommen nicht nur alte Herren, die Probleme beim Pinkeln haben, da geht es wirklich lebensnah zu, viel interessanter als auf der Gyn!“ Die alte Leier!
„Schon!“, antwortete ich vorsichtig, um mir nicht auch noch die neueste Geschichte irgendeines Sexbesessenen anhören zu müssen, der es mit dem Staubsauger versucht hat und sein bestes Stück anschließend wie Wackelpudding zum Verbinden bringen musste.
„Aber ich wollte auch keinen Gynäkologen! Ich wollte einen Menschen, der alles wieder ungeschehen macht!“
Sylvia ging zielstrebig ins Schlafzimmer. Verwundert schaute ich ihr nach. Die hellrote Radlerhose, die sie sich an diesem Tag auf die Hüften gezwängt hatte, saß ein wenig straffer als sonst, was natürlich auch an unserer Gemeinschafts-Waschmaschine liegen konnte, denn auch das T-Shirt hatte enorm an Farbe verloren und ließ nur noch schwer die einst bunten Blockstreifen erahnen. Ich sollte mit meiner Wäsche in nächster Zeit vorsichtiger umgehen, vielleicht war ja der Thermostat kaputt. Als sie zurück kam, hielt sie das kleine braune Glas mit den bunten Pillen in der Hand, die schon die letzte Nacht neben meinem Bett zugebracht hatten.
„Weißt du“, erklärte sie mir behutsam, „so auf die Schnelle ließ sich niemand finden, der über diese Fähigkeiten verfügt hätte, deshalb hielt ich es für das Beste, meinen Chef anzurufen! Der hatte sowieso Dienst und maulte nicht lange herum, weil er an einem Freitagabend noch mal seine Freizeit unterbrechen musste!“ Ich nickte. Das war ein Grund, das konnte ich einsehen!
„Na siehst du, so gefällst du mir schon besser! Und jetzt nimm bitte deine Tabletten, sie haben dir gestern geholfen und sie werden es auch jetzt tun!“ Wieder hielt sie mir eine Hand voll hin, und wieder schob ich sie weg.
„Nein, wirklich nicht, ich muss noch über einiges nachdenken!“
„Ach!“ Sylvia ließ ihre Hand sinken und sah mich erwartungsvoll an.
„Heute Morgen war eine Polizistin bei mir. Sie meinte, Harry sei von einem hergerichteten Auto von der Straße gedrängt worden. Ich kann das einfach nicht glauben, ich meine, es sah vielleicht so aus, aber das macht doch niemand!“
„Das hat sie mir auch erzählt. Und sie scheint auch noch ganz andere Sachen zu wissen!“
„Sie war bei dir?“
„Ja, und sie wollte wissen, ob Harry noch andere Frauen hatte.“ Sie strich sich die Haare hinter die Ohren und grinste ziemlich blöd.
Meine Kniekehle juckte. „Nein! Du hast Nein gesagt, stimmt’s? Was sollte Harry auch mit einer anderen Frau!“ rief ich aufgeregt und wartete auf ihre Zustimmung.
„Ja, weißt du ...“, druckste Sylvia verlegen herum.
„Sylvia!“ Meine Stimme wurde vor lauter Aufregung einige Oktaven höher, und das hörte sich sogar für meine eigenen Ohren nicht sehr angenehm an.
„Was soll das, du weißt so gut wie ich, dass Harry mir treu war, er hätte nie...“ Mir liefen die Tränen übers Gesicht, und ich fügte kleinlaut hinzu, „er hätte wirklich nie!“
Sylvia ließ mich gewähren, legte lediglich die Stirn in Falten und dachte wohl, dass ich von allein dahinter kommen musste.
„Nun mach schon!“ Sie hielt mir erneut das Glas vors Gesicht, das durch meinen Tränenschleier wie eine bunte Mischung aus Geleefrüchten aussah, und forderte mich mit einer Kopfbewegung zum Zugreifen auf.
„Nein!“, schrie ich. „Ich will jetzt sofort wissen, was du ihr gesagt hast!“
Sylvia ließ mich mit meinem Wutausbruch stehen; es hatte geklingelt.
„Gut, dass du kommst, wir brauchen dich dringend, ich glaube, es bahnt sich eine Katastrophe an!“
Sie hatten leise gesprochen, aber ich hatte es trotzdem verstanden. Mein Gehör war kriminalistisch absolut tauglich. Leider!
Sylvia ließ Julia den Vortritt, was durchaus verständlich war. Wie ein frischer Wind tänzelte sie in den Raum und nahm alles durch ihre Persönlichkeit ein. Sie trug einen tief ausgeschnittenen schwarzen Body und einen mit roten Rosen bedruckten Wickelrock, der sich bei jedem Schritt weit öffnete. Dunkle Locken legten sich um ihr süßes Gesicht. Ich stand immer noch da, unfähig mich zu rühren. Was sollte Harry mit einer anderen Frau, er hatte doch mich?
Als sich unsere Blicke trafen, schüttelte sie ungläubig den Kopf. „Hey, Kleines, was machst du für ein Gesicht, davon geht die Welt nicht unter. Einen Mann wie Harry hat man nun mal nicht für sich allein, der will bewundert werden!“
„Julia!“
„Ich weiß ja gar nicht, ob da was war, ich sah sie mal im Gang, komischerweise dachte ich, du wüsstest es. Ich hielt dich für tolerant.“
Ich hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen und hoffte, es läge vielleicht daran, auf keinen Fall wollte ich als zickig gelten. Vorsichtig griff ich nach der Sessellehne. Dann wurde es dunkel, und bevor ich endgültig das Bewusstsein verlor, hörte ich noch Julia sagen: „Du hast ihn doch am besten gekannt!“
Julia hielt meine Beine in die Höhe und lächelte mich an. Sie hatte ein herrliches Lächeln, und von Berufs wegen konnte sie es auf Knopfdruck herbei zaubern. Ach bitte, Julia, zaubere doch die letzten Tage weg und gib mir meinen Harry zurück. Gesund und munter und ohne eine Schramme, dann kann er euch selber sagen, dass alles nicht stimmt, dass er mich nie betrogen hat und ihr euch das nur einbildet. Dann gäbe es keine Kommissarin mehr und keine dummen Fragen. Dann wäre alles wieder beim Alten. Und den hergerichteten Wagen könnte sie sich sonst wohin schieben.
Sylvia stand auf der anderen Seite des Sessels, ein Glas Wasser in der Rechten und zwei kleine Pillchen auf der ausgestreckten Linken. Energisch schüttelte ich den Kopf: „Ich brauche keine Pillen, erzählt mir lieber, was ihr wisst!“
Julia richtete sich auf. „Okay, du nimmst die Medizin, und ich erzähle dir, was du scheinbar als einzige von uns nicht weißt, obwohl ich das ehrlich gesagt nicht so recht glauben kann!“
Sylvia trat einen Schritt vor, steckte mir die Pillen in den Mund und hielt mir das Glas Wasser hin. Es fehlte nur noch, dass sie sagte: so ist es brav!
„Also“, begann Julia, während sie sich in den zweiten Sessel mir gegenüber setzte, die Hände in den Schoß legte und sich dann vorbeugte, „und ich schwöre dir, nichts anderes habe ich der Dame von der Polizei erzählt. Harry brachte ein paar Mal eine Frau mit, genauer gesagt, immer dieselbe. Sie war mittelgroß, blond, und ich fand sie nicht besonders toll. Aber gut, ich dachte mir, sie muss ja ihm gefallen!“ Julia legte die Stirn in Falten, während ich an ihren Lippen hing, um noch mehr zu erfahren. Mehr, um es endlich glauben zu können. Um mich noch besser zu quälen.
„Komisch fand ich eigentlich nur, dass sie immer so einen flachen, schwarzen Aktenkoffer bei sich hatte. Der passte überhaupt nicht zu ihrer sonstigen Aufmachung!“
„Wie lange ging das?“, fragte ich kraftlos und spürte das Pochen in meinem Kopf wieder stärker werden.
„Na ja, drei, vier Wochen vielleicht!“
Ich nickte. „Und warum habt ihr mir nie davon erzählt? Ich dachte, wir wären Freundinnen!“
Verlegen schauten sie sich an.
„Na ja“, ließ sich nun auch Sylvia zu einer Auskunft hinreißen, „zuerst war ich ja auch richtig sauer auf Harry, dachte, du alter Hurenbock, warum suchst du dir eine andere, wo du doch Magdalena hast, aber als ich ihn darauf ansprach, schien es mir auf einmal ganz plausibel, obwohl ich dir das, ehrlich gesagt, nicht zugetraut hätte. Du machst immer so einen nüchternen, so einen korrekten Eindruck, und da passt so was überhaupt nicht dazu!“
Ich schnappte nach Luft, wie konnte Sylvia sich so ereifern.
Bevor ich mich rechtfertigen konnte, mischte sich Julia wieder ein. „Aber Harry hat uns dann doch davon überzeugt, dass es eine Überraschung wäre und du dich über diesen Besuch sehr freuen würdest und, na ja, ich hab in meinem Job schon soviel erlebt, warum dann nicht auch du? Möglich ist ja schließlich alles!“ Die beiden sahen sich an und nickten.
„Ihr meint, er tat so, als ob sie zu mir gekommen sei? Zum Kaffeeklatsch oder so?“, fragte ich ungläubig.
„Zum Kaffeeklatsch wohl eher nicht!“
Die Handtasche flog knapp am Bett vorbei und landete auf dem fleckigen Linoleumboden. O ja, Magdalena Morgenroth hatte mich aus der Fassung gebracht. Als gute Freundin wollte ich zu ihr gehen, sie trösten und ein wenig mit ihr über ihren Freund plaudern. Ich hatte sogar auf meinen Morgenlauf verzichtet, weil ich wirklich neugierig auf sie war. Doch was tat sie? Statt dankbar zu sein, klappte sie ihr Fotoalbum zu und ließ mich auch sonst nicht an sich heran. Einen grünen aufgemotzten Sportwagen kenne sie nicht. Ihr Harry Kaufmann war ein Heiliger und hatte natürlich keine Probleme, behauptete sie treuherzig.
Ich riss das Fenster auf und zündete mir eine Zigarette an. In der Pension war Rauchen verboten! Genussvoll sog ich das Nikotin in meine gefräßig Lunge. Tja. und dann kam mir die Idee mit der Frage, wo er denn eigentlich hin wollte an jenem Abend. Bingo! Sie wusste es nicht. Konnte es sein, dass ihr Harry untreu war? Kleine Rauchringe entströmten meinem Mund und brachten meine Häme zum Ausdruck. Es war schon toll, wenn man die Leute so schnell durchschaute. Wieder sog ich tief am Filter; es beruhigte mich, machte mich frei. Über mir wurde eines der alten Fenster aufgerissen. Mist! Die alte Schachtel kontrollierte mal wieder ihre Gäste. Hastig drückte ich die Zigarette im Fensterrahmen aus und wedelte die Luft weg.
„Frau Eibel, rauchen Sie etwa im Zimmer?“
„Äh, nein nein, ich lüfte nur meine Sachen von gestern Abend. Die Kneipe war so verräuchert!“
„So! Na ja, Sie waren ja auch ganz schön spät dran, heute früh!“
„Es war 2 Uhr!“ Oh, wie hatte ich die alte Schachtel satt.
„Das nächste Mal sind Sie aber etwas leiser auf der Treppe, der Herr Berthold aus dem Parterre hat sich nämlich beschwert!“
„Ja, ja!“ Ich schlug das Fenster zu und schaute auf meine Rumpelkammer. Neben dem wuchtigen Eichenbett standen zwei wuchtige Eichennachtschränkchen, obwohl ich doch sowieso keinen Herrenbesuch mitbringen durfte. Gegenüber nahm eine Kommode mit Spitzendeckchen und Glasplatte die halbe Wand ein, und außer dem Kleiderschrank neben der Tür gab es noch einen Fernseher, drei Wandhaken und ein kleines Tischchen mit zwei Stühlen. In meinem Büro war es wohnlicher. Aber immerhin hatte ich eine eigene Dusche und musste nicht wie Herr Berthold aus dem Parterre das Gemeinschaftsbad benutzen. Ich öffnete die Tür und wusch mir die Hände.
Um Näheres herauszubekommen, hatte ich Frau Morgenroths Nachbarinnen einen Besuch abgestattet. Die eine war superschön, ja geradezu perfekt. Mein erster Eindruck: sie verbringt auf jeden Fall mehr Zeit vor dem Spiegel, als mit reeller Arbeit. Die andere, na ja. Sie würde gut auf einen Ökohof passen. Aber immerhin waren sie nett und sehr loyal. Das mit der blonden Frau gaben sie gleich zu; taten so, als ob das gar nichts Besonderes wäre. Name und Adresse kannten sie natürlich nicht und wiedererkennen würden sie sie auch nicht, es sei ja immer so dunkel im Hausgang. Es war immer die alte Leier!
Ich zog meine Hose aus und hängte sie sorgfältig auf einen Bügel, dann fischte ich im Schrank nach einer Jogginghose. Ich wollte testen, ob meine Lungen noch mitmachten, und außerdem musste ich aus dem Mief der alten Schachtel raus. Mit Inlineskates an den Füßen stieg ich die Treppe hinunter. Sie würden auf den Stufen Gummistriemen hinterlassen, aber das war mir so-was-von-egal! Und am nächsten Samstag wollte ich auf jeden Fall wieder auf Wohnungssuche gehen.
Durch meinen wirren Traum tanzte ein blondes Haarbüschel, verhöhnte mich und riss mich schließlich aus dem Schlaf. Ich öffnete die Augen und begann wieder nach einer Erklärung zu suchen. Das tat ich schon, seit Julia und Sylvia gegangen waren, und war dabei eingeschlafen. Allein der Gedanke an eine andere Frau schien mir völlig absurd, selbst wenn Harry den beiden davon erzählt hatte.
Mein Nacken schmerzte von der unbequemen Haltung im Sessel. Ich zog die Schultern hoch und ließ sie kreisen, bis die Gelenke knackten. Ein fürchterliches Geräusch, das auch nicht dazu geeignet war, mich auf bessere Gedanken zu bringen. Wie fühlte es sich an, wenn sämtliche Knochen im Körper brachen, wenn man mit voller Wucht gegen einen Betonpfeiler knallte? Nach dem ersten Schock wollte ich Harry noch einmal sehen, mich verabschieden, aber Sylvias Urologe hatte mir davon abgeraten, er meinte, ich solle ihn so in Erinnerung behalten, wie er war. Doch genau deswegen musste ich wissen, was passiert war. Wenn er sie in unserem Bett verführt hatte, würde ich ihm das nie verzeihen.
Julia hatte von einem flachen, schwarzen Aktenköfferchen erzählt, so eines hatte ich hier aber noch nie gesehen. Harry benutzte für seine Unterlagen immer einen silbernen Koffer, mit Zahlenschloss und gepolstertem Tragegriff. War mal ein Superangebot gewesen, bei Abnahme von fünf Stück gab es einen gratis, und Harry hatte sich damit eingedeckt. Einen davon bekam Anna geschenkt, mit dem Versprechen, irgendwann einmal mit ihr zu verreisen, und einen weiteren sein Freund „Jarock“, der Werkstattleiter, der eigentlich Jakob Rockmann hieß und der trotzdem weiterhin seine Sachen in einer alternativen Stofftasche mit sich herumschleppte.
Wenn Harry auf Tour ging, nahm er seinen Koffer immer mit, und wenn die Dame auch einen Koffer bei sich hatte, dann war sie vielleicht eine Kollegin.
Erleichtert tippte ich mir an die Stirn. Das war die Lösung, die blonde Kofferträgerin war nur zu geheimen Vorgesprächen im Haus, es weiß ja jedes Kind, wie schwierig es heutzutage ist, einen neuen Programmierer anzuwerben.
Ich lief durchs Schlafzimmer ins Bad und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, danach kämmte ich meine Haare, bis jede Strähne in einem anderen rotbraunen Ton schimmerte. Harry hatte meine Haare immer geliebt, er fand sie so schön griffig; und blond kam in seiner Wunschvorstellung ohnehin nicht vor. Und weil mich in diesem Moment wieder die Traurigkeit umklammerte, ging ich ins Schlafzimmer zurück, holte den braunen Pulli unter der Decke heraus und drückte mein Gesicht in die kratzige Wolle. Was auch immer sie dir anhängen wollen, ich werde es nicht zulassen.
In diesem Moment glaubte ich fest an meinen Schwur. Und je eher ich damit begann, die anderen davon zu überzeugen, desto besser war es für alle!
Entlang der Donau verläuft ein wunderschöner Radweg, und meine Pension lag nicht weit davon weg. Mit weit ausholenden Bewegungen nahm ich Tempo auf und ließ mich auf meinen Inlinern dahingleiten. Es war gut, alles hinter sich zu lassen. Am Gürtel hing mein Handy für Notfälle und eine Flasche mit Powerdrink. Während ich so dahinfuhr und mir lauter glückliche Menschen begegneten, dachte ich über den Verkehrsunfall nach. Es wollte mir einfach nicht in den Kopf, warum Harry Kaufmann nicht ausgewichen war.
Auf einer Bank machte ich Halt, atmete tief durch und rief Christina an. Sie war nach meiner Scheidung das Einzige, was mir geblieben war. Einundzwanzig Jahre alt und genauso aufreibend wie mein Beruf. Ich versuchte erst gar nicht, nach dem Studium, den Topfpflanzen oder dem Zustand meines Wohnzimmerteppichs zu fragen. Aber ich wünschte mir, sie hätte ein bisschen mehr Ordnungssinn. Christina sagte, es ginge ihr gut, und warum ich mir nur immer soviel Sorgen um sie machen würde, schließlich hätte sie doch so viele Freunde, die sich um sie kümmerten!
Im Grunde waren genau diese Freunde mein größtes Problem.
Eine Viertelstunde später stand ich in Sylvias Küche und schaute vom Tisch aus zu, wie sie einen Klumpen Teig mit beiden Händen auf die Arbeitsfläche knallen ließ.
„Sie macht Apfelstrudel!“, erklärte ihre Tochter Anna, die mir die Tür geöffnet hatte. Vom Backen hatte ich eben soviel Ahnung wie vom Kochen. Sylvia griff in die aufgerissene Mehltüte, bestäubte ihre Hände und nebenbei auch ihr T-Shirt, dann hob sie den Teig hoch, um ihn erneut auf die Platte zu schmettern. Anna setzte sich an den Tisch und begann mit einem Küchenmesser Äpfel klein zu schneiden. Sie war erst vor drei Wochen sechs geworden und für ihr Alter ausgesprochen geschickt.
„Ist es schlimm?“ Anna schaute mich abwartend an.
„Was?“, fragte ich zurück und sah zu, wie sie mit ihren kleinen Fingerchen den Apfel auf einem Brettchen gewissenhaft klein schnitt.
„Mit Mama!“ Ich warf einen Blick ins Zimmer, konnte aber keine besonderen Anzeichen für eine Verstimmung feststellen. Der große Wohnraum war im Grundriss dem unseren sehr ähnlich, allerdings wies er weniger Luxus auf. Statt eines Kamins hatte Sylvia einfache Kiefernholzregale als optische Trennwände aufgestellt. Dahinter stand ihr Bett. Das einzige abgeschlossene Zimmer gehörte Anna. Überall herrschte Chaos, doch das war hier immer so, ich hatte es nie anders erlebt.
Ich schüttelte den Kopf. „Wie kommst du darauf?“
„Mama sagt, Harrys Seele ist jetzt ein Schmetterling. Glaubst du das auch?“
Unentschlossen hob ich die Schultern. „Ja, es könnte sein!“ Harry hätte diese Erklärung sicher gut gefallen. Er glaubte nicht an die Inszenierung, die die heilige katholische Kirche für uns Sünder nach unserem Tod bereit hielt; er war ein Romantiker.
Sylvia begann den Teig geschickt mit ihren Händen auf der Arbeitsfläche auszuziehen. Ich stand auf und sah ihr über die Schulter hinweg zu. Der Strudelteig wurde dünner und dünner, ließ sich in alle Richtungen ziehen, so wie ich, nur dass er sich nicht beklagte, nicht weinte und niemandem eine Szene machte. Und plötzlich fiel mir wieder ein, warum ich herübergekommen war.
„Eigentlich wollte ich dir sagen, dass Harry euch auf den Arm genommen hat!“, erklärte ich hinter ihrem Rücken. „Ich verstehe ja euer Misstrauen, aber er hatte wirklich immer nur mich!“
Sylvia zog weiter und weiter, schien mich gar nicht zu hören, und plötzlich klaffte in der Mitte ein großer Riss.
„Was bist du doch naiv!“, nuschelte sie vor sich hin und versuchte das Loch zu stopfen.
„Wie meinst du das?“
„Ach vergiss es!“ Sie ließ von ihrem Teig ab und fischte aus dem Küchenschrank ein kleines Gläschen mit eben jenen Pillchen, die sie mir erst kürzlich so dringend ans Herz gelegt hatte. Mechanisch steckte sie zwei davon in den Mund und schluckte sie runter. Warum sie das tat, war mir völlig unklar, aber an Sylvia war manches unklar. Obwohl sie ihren burschikosen Typ noch kräftig mit einem kinnlangen Haarschnitt und einfacher Kleidung unterstrich, gab es immer wieder Anzeichen von rauschenden Nächten mit geheimnisvollen Liebhabern. Erst kürzlich hatte ein Blumenbote bei mir geklingelt und einen riesigen Strauß roter Rosen für Sylvia deponiert. Als ich ihn ihr später vorbeibrachte, konnte sie ihre Verlegenheit nur schwer verbergen, was eigentlich gar nicht zu ihr passte.
„Kommt Harry jetzt nie mehr wieder?“, fragte Anna vom Tisch aus. Sie hatte uns die ganze Zeit beobachtet. Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich neben sie. Anna hatte Harry sehr gern gehabt, und seit er ihr das Fahrrad geschenkt hatte, liebte sie ihn geradezu abgöttisch.
Er wollte so gern ein eigenes Kind haben und bei ihm alles besser machen. Nun, das wollte ich auch, aber erst, wenn wir es uns auch wirklich leisten konnten und nicht mehr auf meinen Verdienst angewiesen waren. Anna schaute mich in echter Verzweiflung an.
„Nein“, sagte ich, weil ich es nicht gut fand, wenn man kleine Kinder anlog, und außerdem hätte sie es früher oder später ja auch selbst herausgefunden. „Aber ich glaube, da, wo er jetzt ist, geht es ihm sehr gut.“
„In echt, oder sagst du das nur?“
Mir standen die Tränen in den Augen, nur mit viel Mühe konnte ich sie zurückhalten. Schließlich nickte ich heftig: „In echt, Anna!“
„Jetzt sagen Sie nur, Sie haben bei dem schönen Wetter nichts anderes zu tun, Frau Eibel!“ Der alte Swoboda schob seine Brille auf der Nase zurecht und sah mich kritisch an. Man konnte ihm schlecht etwas vormachen. Swoboda war früher selber im Außendienst, bis ihn eine Kugel im Oberschenkel erwischte und er sich freiwillig in den Innendienst und schließlich in die Portiersloge zurückgezogen hatte. Geblieben war sein kriminalistisches Interesse.
„Mir lässt der Verkehrsunfall keine Ruhe! Wie kann ein Sportwagen ein so großes Auto einfach so von der Straße drängen?“
„Er war noch jung, was?“
„Ja, das auch“, fügte ich hinzu und stieg die Treppe hinauf. Ich legte die Tasche auf den Schreibtisch und ließ den Computer anlaufen. Magdalena Morgenroth lebt in einem Märchenschloss, zu gut für diese Welt, dachte ich. Sie nahm doch tatsächlich einen Wollpulli mit ins Bett. Ich war überzeugt, das Mädchen musste noch viel lernen. Das Leben ist hart, und je schneller sie es kapierte, desto weniger tat es ihr weh. Obwohl wir Mütter Töchter bräuchten wie sie, das gäbe uns Grund zum Investieren.
Bei Sylvia Nigl gab es keine besonderen Eintragungen. Sie arbeitete als Krankenschwester und hatte eine Tochter. Ich sah sie vor mir. Besonders interessant schien mir ihr Leben nicht zu sein. Oder irrte ich mich? Den Namen von Julia Fabriosa hatte ich noch nicht ganz eingegeben, da stürzte das Programm ab. Verdammt, seit wir das neue Datenprogramm benutzen, ging so viel schief. Ich versuchte es noch zwei Mal, dann gab ich auf. Immerhin war Sonntag.
Im Hemingway´s war wenig los. Ich hatte gehofft, Obermüller zu treffen. Obwohl ich verheiratete Männer in der Regel mied. Sie jammerten gern und waren dann doch satt von ihren Familien. Aber allein der Gedanke an ihn zeigte mir, dass es an der Zeit war, mir mal wieder einen richtigen Kerl ins Bett zu holen. Egal, was die alte Schachtel dazu meinte. Also setzte ich mich an den Tresen und bestellte ein Bier, und weil dann noch immer kein richtiger Mann in Sicht war, noch eines.