Darauf waren wir nicht vorbereitet - Tanja Sahib - E-Book

Darauf waren wir nicht vorbereitet E-Book

Tanja Sahib

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Beschreibung

10 bis 20 Prozent aller Mütter erleben unvorbereitet statt Freude Unsicherheit, Traurigkeit und Sehnsucht nach ihrem alten Leben nach der Geburt eines Kindes. Völlig unerwartet trifft es sie, dass sich bedrückende Empfindungen wie ein eisernes Band um das Herz legen. Mit der Ankunft des Babys kommen unzählige neue Herausforderungen auf die Eltern zu. Durch Schlafmangel und hormonelle Umstellungen sind Frauen verletzlicher als in anderen Lebensphasen, doch auch für Männer kann all das Neue destabilisierend sein. In diesem Buch finden die Eltern systemisch-lösungsorientierte Fragen und Übungen, die helfen, erste Schritte aus der Verzweiflung zu gehen und wieder mehr Lebensmut zu bekommen. Ideen der Bewältigung dieser Lebenskrise, als auch Zitate von Müttern und Vätern sollen Unterstützung, Anregung und Trost für Betroffene und ihre Angehörigen sein.

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Die Autorin

Tanja Sahib, Diplom-Psychologin und Systemische Traumatherapeutin, ist verheiratet und Mutter von drei Kindern. Sie arbeitet seit über zehn Jahren als Beraterin in der Beratungsstelle Familienzelt des Vereins „Selbstbestimmte Geburt und Familie“. Tanja Sahib berät und begleitet Frauen und ihre Familien vor und nach der Geburt eines Kindes.

Anregungen, Ideen und Fragen bitte an:[email protected]

Hinweise

Geschlechtsneutrale Schreibweise: Zur besseren Lesbarkeit werden in diesem Buch die Bezeichnungen „Arzt“, „Psychiater“ und „Experten“ im Sinne der weiblichen und männlichen Formen verwendet.

Haftungsausschluss: Teile des vorliegenden Buches basieren auf unterschiedlichen persönlichen Erfahrungen. Daraus bestimmte Schlussfolgerungen für das eigene Handeln zu ziehen, liegt in der individuellen Verantwortung der Leser. Die Autorin übernimmt keine Haftung für eventuelle Nachteile und Schädigungen, die aus diesen Schlussfolgerungen entstehen.

Inhalt

Dank

Geleitworte von Dr. W. Baller

Erschöpft, freudlos und niedergeschlagen

Teil I

Schwangerschaft und die Zeit nach der Geburt

In guter Hoffnung?

1.1. Schwangerschaft – Zeit der Veränderung

1.2. Die langersehnte Schwangerschaft

1.3. Die verdrängte Schwangerschaft

1.4. Schwangerschaft statt Burnout

1.5. In der Falle der Erwartungen

1.6. Schwangerschaft als Überforderung

Ängste in der Schwangerschaft

2.1. Angst vor Fehlgeburt

2.2. Angst vor Infektion

2.3. Sorge um Komplikationen zum Ende der Schwangerschaft

2.4. Furcht vor der Geburt

2.5. Schwangerschaft und psychische Krise

Das Kind ist da! Beginn der schönsten Zeit?

3.1. Babyblues: Stimmungssensibilität im Wochenbett

3.2. Der Strudel nach unten

3.3. Lebenskrise oder Beginn einer psychischen Erkrankung?

EPDS - So fühlte ich mich in den letzten fünf Tagen:

Wochenbettdepression/ postpartale Depression

4.1. Ähnlichkeit aller Depressionen

4.2. Depressive Episoden nach der Geburt eines Kindes

4.3. Abschließende Bemerkungen

Teil II

Anteilnehmendes Umfeld

Ein Mantel des Schweigens

Dynamik zwischen Betroffenen und Umfeld

Mitgefühl und Trost

Entlastung durch Anteilnahme

4.1. Vermittlung von Zuversicht und Hoffnung

4.2. Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags und der Versorgung des Babys

4.3. Aktivierung des sozialen Netzwerkes

4.4. Organisieren professioneller Unterstützung

4.5. Inanspruchnahme externer Hilfe

Integration des Partners

5.1. Gute Liebes-Beziehungen

5.2. Ambivalenz der Gefühle

5.3. Rückzug als Reaktion auf Enttäuschung

5.4. Die Krise als Chance für die Beziehung

Eltern in Krisen – Kinder in Krisen?

6.1. Babys – Experten für Gefühle

6.2. Kleinkinder – Experten für sich selbst

6.3. Vorschulkinder - Experten für Kontaktaufnahme

6.4. Ältere Kinder - Experten für ihr Leben

6.5. Abschließende Bemerkungen

Teil III

Das Erste-Hilfe-Set

Nachgeholtes Wochenbett

Die 4 S

2.1. Schlaf

2.2. Sport

2.3. Sonne

2.4. Soziale Kontakte

2.5. Abschließende Bemerkungen

Teil IV

Eltern werden

Besteigen des „persönlichen Mount-Everest“

Nebel im Tal

Schwere erste Schritte

Kurvenreicher Aufstieg

Gratwanderung

Blick zurück ins Tal

Gipfelstürmen

Teil V

Anhänge

Anhang 1: Forscher diskutieren über organische Ursachen bei Depressionen

Aktueller Forschungsstand der neuro-biologischen Vorgänge bei Depressionen

Derzeitiger Forschungsstand zum Einfluss von Stresshormonen auf den Hippocampus:

Aktueller Forschungsstand zur Verbindung von Stimmungstiefs und Unterfunktion der Schilddrüse

Momentaner Forschungsstand über den Einfluss zwischen Herz und Atmung auf die Psyche

Derzeitiger Forschungsstand zur Verbindung von Hirn und Darm auf psychische Stimmungen

Anhang 2: Psychotherapie und Psychopharmako-Therapie

Psychotherapie

Psychopharmako-Therapie

Anhang 3: Gesprächsleitfaden bei Hinweisen auf Wochenbettdepression

Schlaf

Essverhalten

Gedanken

Gefühle

Körperliches Empfinden

Anhang 4: Hilfreiche Adressen/ Literatur/ Medien im deutschsprachigen Raum

Glossar

Literaturverzeichnis

Nachwort

Dank

Dieses Buch ist den Müttern und Vätern gewidmet, die mich einen Abschnitt ihres Lebens begleiten ließen. Sie kamen mit schweren Gedanken in unsere Beratungsstelle. Während der Wochen, in denen ich sie sah, zeichnete sich eine Entwicklung ab. Die Eltern erlebten einen Prozess, der sie das Schwere überwinden ließ. In dieser Zeit durfte ich an ihren Erfahrungen teilhaben. Das wiederum hat mir geholfen, zu erkennen, was hilfreich für Männer und Frauen ist, die gerade Eltern geworden sind. Mit diesem Buch gebe ich ihnen etwas zurück. Gleichzeitig soll es Andere ermutigen, sich Hilfe zu suchen, wenn es nicht gelingt, allein aus einer Krise vor oder nach der Geburt eines Kindes herauszukommen.

Ich danke allen, die mich in den letzten vier Jahren des Schreibens ermutigt haben und mir mit guten Hinweisen zur Seite standen. Großen Dank an meine Lektorin Petra Markstein, die pragmatisch und nachdrücklich für eine bessere Lesbarkeit sorgte und mit engagierten Ideen das Buch bereicherte. Anerkennung an meine Schlusslektorinnen Dagmar Frohning, Annett Neuner und Carlotta Keifenheim, die dem Buch den letzten Schliff gaben.

Über die Geleitworte von Frau Dr. Baller freue ich mich besonders. Sie sind die Krönung unserer jahrelangen guten Zusammenarbeit.

Geleitworte von Dr. W. Baller

„... von Tanja Sahib wurde ich gebeten, mich bei Ihnen vorzustellen. Sie sieht bei

mir Anzeichen einer postpartalen Depression. ... ich habe Angstzustände, fühle

mich eingesperrt in mir selber und meinen Gedanken,

fühle mich verloren in dieser Welt.

Es würde mich sehr freuen, zusätzlich einen Termin

bei Ihnen als Psychiaterin zu erhalten...“

(Mail von T.N., die durch uns interdisziplinär aus einer schweren Krise

nach der Geburt ihrer Tochter begleitet wurde.)

Psychische Störungen im Wochenbett werden in ihrer Bedeutung bis heute unterschätzt. Eine Krise im Wochenbett wird bagatellisiert, die postpartale Depression als psychische Erkrankung tabuisiert.

Doch gerade im Wochenbett entstehen, multifaktoriell bedingt, bei vielen Frauen Krisen und Ängste vor der zukünftigen Verantwortung. Die Frauen im Wochenbett spüren vor dem Hintergrund dieser großen körperlichen Herausforderung und dem Blick in die Zukunft, dass ihr bisheriges Leben so nicht mehr existiert, ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht mehr zählen und sie eine neue Rolle für sich finden müssen. Viele Mütter entwickeln in dieser Zeit einen Zustand der Seelischen Erschöpfung bis hin zur Postpartalen Depression. Nur zu einem geringen Anteil suchen diese Frauen aufgrund von Schamgefühlen, Selbstentwertung und Angst vor gesellschaftlicher Stigmatisierung professionelle Hilfe auf.

In der Berliner Beratungsstelle Familienzelt arbeiten Tanja Sahib und ihre Kolleginnen seit vielen Jahren mit diesen Frauen, mit Frauen, die „sich selber ein Stück verloren“ haben. Die Beraterinnen dort bieten Einzelgespräche und Gruppen an, vermitteln weiter und vernetzen.

Mit viel Klarheit, Struktur und innerer Wärme begleitet Tanja Sahib die Frauen ressourcenorientiert durch die Krise. Dabei arbeitet sie mit ihren Klientinnen an individuellen, oft auch pragmatischen Lösungsstrategien auf der Basis einer positiv-verständnisvollen Grundhaltung und einer großen Offenheit für interdisziplinäre Zusammenarbeit.

Mit diesem Buch hat Tanja Sahib allen Menschen die Möglichkeit gegeben, einen Einblick in ihre Arbeit und damit in das Thema der Postpartalen Depression aus der Praxis zu erhalten. Mit ihren therapeutischen Erfahrungen und dem Blick auf den aktuellen Stand der Forschung nimmt sie die Leser auf die Reise Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett mit. Es gelingt ihr, anhand vieler Beispiele aus der Praxis und ihren selbstgezeichneten Bildern, die komplexe Welt der Postpartalen Depression anschaulich und klar darzustellen. So wird diese für alle ein Stück erfahrbar und Betroffene, wie Angehörige, erhalten ein differenziertes Bild.

Tanja Sahib zeigt in diesem Buch Wege, die Krise als solche zu erkennen, sie anzunehmen und sie realistisch überwinden zu können. Sie gibt den Betroffenen Mut, sich Hilfe zu holen. Sie ermutigt Angehörige von Berufen, die mit diesen Krisen konfrontiert sind, sich gut zu vernetzen und interdisziplinär ihre Patientinnen zu begleiten. Dabei gibt Tanja Sahib den Lesern viele konkrete Ideen, Bilder und Anregungen mit auf den Weg.

„Die Nacht,

In der

Das Fürchten

Wohnt,

Hat auch

Die Sterne

Und den Mond.”

Mascha Kaléko, In meinen Träumen läutet es Sturm

(Während einer schweren Erkrankung in den 20er Jahren)

Tanja Sahib gibt uns eine Idee, wie wir diese Sterne trotz der nächtlichen Furcht erkennen und der Sonne am Morgen entgegen gehen können.

Es ist noch ein weiter Weg, bis Mütter und Väter offen über ihre Ambivalenz, ihre Angst oder ihre Trauer im Wochenbett sprechen dürfen, ohne eine Stigmatisierung zu fürchten. Dieses Buch ist ein großer Schritt in diese Richtung. Es wird ein fester Bestandteil meiner Praxis werden.

Vielen Dank für unsere Zusammenarbeit und dieses Buch.

Wiebke Baller

Erschöpft, freudlos und niedergeschlagen

Ich hätte glücklich sein müssen: Ich war es nicht.

Marcel Proust, 1922

Nichts bleibt, wie es ist. Nichts kann festgehalten werden. Wir alle lernen im Laufe unseres Lebens mit Veränderungen und neuen Herausforderungen umzugehen. Wir legen uns ein buntes Repertoire an Verhaltensmustern zurecht, die uns helfen, in schwierigen Situationen angemessen zu reagieren. Dabei sammeln wir das, was man gemeinhin Lebenserfahrung nennt.

Da sich das Leben immer wieder zu schnell, zu einschneidend oder zu umfassend wandelt, sind wir mehr oder weniger unfreiwillig ständig damit konfrontiert, dass bisherige Reaktionsmuster nicht auf alle neuen Situationen anwendbar sind. Schwangerschaft und die frühe Phase des Elternseins sind solche Momente.

Dass diese Zeit aufwühlend sein kann und das Leben tiefgreifend verändert, ist den meisten Müttern und Vätern bewusst. Dennoch sind sie nicht auf alles vorbereitet, was diese Umbruchphase mit sich bringt.

Gesellschaftliche und familiäre Umstände hatten und haben große Einflüsse auf das Leben von Frauen und Männern. Werden sie Mütter und Väter, wird ihre Abhängigkeit von den sozialen Verhältnissen zwangsläufig größer. Sie spüren große Verantwortung für das Kind. Sie haben Erwartungen an sich als Eltern und wollen diesen, wie auch denen ihres Umfeldes gerecht werden. Sie haben sich erträumt, wie schön es sein wird, ein Kind zu haben. Jetzt fühlt sich der neue Lebensabschnitt anders an und fordert, bisherige Vorstellungen mit der Realität abzugleichen. Starke Gefühle müssen eventuell bewältigt werden. Vielleicht steigen Ängste oder längst vergessene Erinnerungen auf. Die Schatten der Vergangenheit legen sich, gerade in Umbruchsituationen, unerwartet über die Gegenwart. Möglicherweise gab es in der eigenen Geschichte Lebensereignisse, die als traumatisch erlebt wurden. Eventuell wurden frühere Lebensthemen noch nicht ganz verarbeitet.

Wie beim Schütteln einer Schneekugel wirbeln die Veränderungen dieser Lebensphase alles wieder hoch. Die Erinnerungen setzen sich, gleichsam wie die Partikel in der Schneekugel auf dem Untergrund, völlig neu wieder ab.

Dieses Erleben ist eine große Herausforderung und es kostet Kraft, die eigenen Erinnerungen nun anders zu bewerten und mit neuen Zusammenhängen zu verknüpfen.

Den meisten Menschen gelingt es, diese Aufgaben zu meistern. Dennoch gab und gibt es überall auf der Welt Frauen und Männer, die verwirrt, mutlos oder traurig werden. Sie befürchten immer mehr, aus Überforderung die Kontrolle zu verlieren.

Es wurde bisher erst in Ansätzen erforscht, warum manche Mütter oder auch Väter nach der Geburt diese Umbrüche des Lebens als bedrohliche Krisen erfahren. Was genau Depressionen oder Psychosen auslöst, darüber gibt es einige wissenschaftliche Erkenntnisse, aber noch mehr Vermutungen. Das Geschehen ist komplex und es spielen viele Faktoren hinein, deren Einfluss von der Wissenschaft noch nicht ausreichend erforscht und verstanden wurde. Der allein krank machende Auslöser konnte bisher nicht ausgemacht oder gar bewiesen werden. Deswegen verfolgen moderne wissenschaftliche Ansätze heute eher die Idee, dass eine Erkrankung der Psyche immer von mehreren gleichzeitig auftretenden Auslösern ausgeht. Dieses sogenannte multifaktorielle Modell1 benennt als einen der wichtigsten Auslöser anhaltenden Stress. Dieser kann zu einer länger andauernden Überlastung und zu einer immer größeren Erschöpfung führen. Zusätzlich wirken Schlafmangel und hormonelle Veränderungen auf die Psyche ein. Jeder Mensch ist einzigartig sensibel. Außergewöhnliche Lebensereignisse, wie beispielsweise Schwangerschaft, Wochenbett, Umzüge, Krisen in der Partnerschaft oder Konflikte mit der Familie, belasten die seelische Stabilität und erhöhen den emotionalen Stress. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen außerdem, dass bei der Bewältigung einer Stresssituation die individuelle Einbindung in ein soziales Netz, aber auch genetische Voraussetzungen eine wichtige Rolle spielen.

Den genetischen Anlagen wurde früher sehr viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Lange dachte man, dass hier die hauptsächliche Ursache für die Entstehung von psychischen Krankheiten läge. Doch diese Hypothese ließ sich trotz umfangreicher Forschung nicht hinlänglich beweisen. Die genetischen Zusammenhänge sind sehr komplex. Dass manche Menschen sensibler sind und deswegen auf Veränderungen in ihrer Umwelt schneller und intensiver reagieren, ist natürlich und hat einen wichtigen Hintergrund. Sensibel zu sein und schneller auf Veränderungen zu reagieren, hat unserer Art innerhalb der eigenen evolutionären Entwicklung oft das Überleben gesichert. Die menschliche Evolution wäre ohne das soziale Zusammenspiel aus mutigen Draufgängern und sensiblen Vorsichtigen nicht zu dem geworden, was sie heute ist. Sensibel zu sein, heißt jedoch nicht zwangsläufig zu psychischen Erkrankungen zu neigen, sondern zeigt eher die Fähigkeit, emotional zu reagieren. Sich ernsthaft um ein Ziel zu bemühen und Negatives zu vermeiden, brachte vermutlich in bisherigen Lebensphasen, zum Beispiel im Studium, mehr Erfolg als bei unbeschwerten Kommilitonen.

Diese Ausprägung der eigenen Bewältigungsstrategien und die Sozialen Umstände spielen mindestens genauso wichtige Rollen. Traumatische Erlebnisse können außerdem für jeden Menschen zum Auslöser schwerer psychischer Krisen werden. Inzwischen weiß man, dass erschütternde oder lang anhaltende traumatische Erlebnisse die Veranlagung unseres genetischen Erbgutes verändern. Stellen Sie sich einen Schalter vor, der an- oder ausgestellt wird. Eine genetische Gabe kann nun ihre Wirkung entfalten oder eben nicht. Diese Veränderung der genetischen Disposition am Erbgut kann sogar an die nächste Generation weitergegeben werden, indem genau diese Schalterstellung vererbt wird. Im Gegensatz zur rein genetischen Erbinformationen, wie beispielsweise blaue Augen, sind diese epigenetischen2 Veränderungen reversibel, also zurück entwickelbar. Die Forschung zur Epigenetik steht noch ganz am Anfang. Aber es lässt sich sagen, dass sowohl Länge und Intensität des traumatischen Erlebens, als auch der Umfang der psychosozialen Begleitung durch ein soziales Netz und Therapeuten einen großen Einfluss auf den Heilungsprozess der Betroffenen oder sogar ihrer Nachfahren hat.

Ein weiterer wissenschaftlicher Zweig beschäftigt sich mit körperlichen Vorgängen, wie den Auswirkungen von Hormonveränderungen oder bestimmten Wechselwirkungen zwischen dem Gehirn, Darm und anderen Organen. Interessierte Leser finden im Anhang die neuesten wissenschaftlichen Forschungsstände über biochemische Vorgänge und Wechselwirkungen bei Depressionen.

Interessant, aber nicht ausreichend wissenschaftlich belegt, sind Überlegungen, dass die Fähigkeit zur Depression für unsere evolutionäre Entwicklung bedeutend sein könnte. Die Antriebslosigkeit könnte auch als sinnvolles Sparen der eigenen Ressourcen verstanden werden. Schwermütige Menschen ziehen sich zurück und verlieren das Interesse am öffentlichen Leben. In Zeiten von Niedergeschlagenheit gelingt es ihnen trotzdem, das Leben im Moment zu bewältigen und ihre Energie nur dafür zu verwenden. Es gibt sogar die These, dass diese Zeiten für Immunabwehr und Heilung wichtig sind, denn Stress beeinflusst direkt das Immunsystem. Die Verknüpfung zwischen körperlichen Vorgängen und Depressionen scheinen so dem Infektionsschutz zu dienen.3

Viele Mütter sind nach der Geburt geschwächt oder verletzt, so dass ihr Rückzug auch auf diese Weise dem Überleben dient. Das Bedürfnis nach Ruhe und Rückzug nach der Geburt eines Kindes ist enorm. Durch die umwälzenden körperlichen Veränderungen der Frauen fehlt die Kraft für Mobilität. Glauben sie, all ihre Reserven mobilisieren zu müssen, könnte das aufgrund der damit verbundenen Überforderung zur Gefährdung ihres eigenen oder des Überlebens des Kindes führen. Ihr evolutionärer Auftrag, die Art zu erhalten, wäre bedroht, so dass nur ein „erzwungener Stillstand“ den nötigen Zustand der Ruhe herbei führt. Die Mütter brauchen Schutz und Hilfe, um sich von der Geburt zu erholen und dem empfindlichen Säugling in den ersten Wochen das Überleben zu sichern. Zusätzlich könnte, evolutionär betrachtet, eine depressive Verstimmung in Zusammenhang mit der Geburt eines Kindes den Sinn haben, die grundlegende Veränderung des Lebens in Ruhe auch innerlich zu vollziehen und sich auf den zukünftigen Weg vorzubereiten. Vielleicht fehlte bisher Zeit oder Kraft dafür.

Manche Evolutionsforscher sprechen davon, dass der Nutzen depressiver Symptome darin besteht, zu realistischen Zielsetzungen in der Lebensplanung zu finden.4 Menschen haben Zeiten voller Euphorie und Freude und sind so in der Lage, ihre Energie zum Erreichen neuer Ziele einzusetzen. Und sie haben Zeiten, in denen sie erschöpft spüren, dass sie andere Ziele formulieren müssen, da die bisherigen überfordernd oder unerreichbar waren, um das eigene Leben nicht zu gefährden. Diese Zeiten wechseln sich ab. Gerade Frauen, die ihr erstes Kind bekommen, stellen sich vor, was sie für eine perfekte Mutter sein werden und stellen hohe Erwartungen an sich selbst. Zielsetzung, Scheitern und das Finden von neuen, realistischen Zielen wären demnach wichtige Prozesse bei der Entwicklung der eigenen Identität. Es reicht, wenn sie als Mütter so gut sind, wie sie es gerade können. Und auch sie werden wieder Zeiten voller Kraft und Euphorie erleben.

In der Berliner Beratungsstelle Familienzelt begleite ich als systemische Traumatherapeutin betroffene Mütter und ihre Familien. Sie erleben einen geschützten Raum und können aus der Sprachlosigkeit herausfinden. Im Laufe der Beratungen drücken sie immer klarer aus, was diese neue Lebensphase für sie an Veränderung bedeutet. Sie verstehen ihren Zustand, ihre Trauer oder ihre Angst. Viele Frauen werden glücklicherweise gleichzeitig von Hebammen dabei unterstützt, in ihrer Mutterrolle souveräner zu werden. Manche Frauen spüren, dass sie durch Gespräche allein nicht genug entlastet sind und benötigen zusätzlich medizinische oder medikamentöse Unterstützung.

In den folgenden Kapiteln werden Frauen vor und nach der Geburt eines Kindes im Mittelpunkt stehen. Doch auch Männer können mit Melancholie, Angst oder Flucht auf diese neue Lebensphase voller ungewohnter Aufgaben reagieren. Und so kann auch für sie einiges zutreffen, was auf den nächsten Seiten beschrieben ist.

Gesagt sei an dieser Stelle ausdrücklich, dass mein Buch nicht den Besuch beim Arzt oder eine nötige Medikation ersetzt.

Dieses Buch hat seinen Sinn erfüllt, wenn es hilft, bedrohlich wirkende Gedanken und Gefühle zu verstehen. Es soll ermutigen, diese Lebensphase anzunehmen.

1 Faust, S. 11, multifaktorielle Ätiopathogenese

2 siehe Glossar

3 Miller, A., University of California

4 Nesse, R., University of Michigan

Teil I

Schwangerschaft und die Zeit nach der Geburt

1. In guter Hoffnung?

Es gibt keine Grenzen. Nicht für die Gedanken, nicht für die Gefühle.

Die Angst setzt die Grenzen.

Ingmar Bergman, 1918–2007

Alle Eltern stehen vor ähnlichen Herausforderungen. Sie bekommen Nachwuchs und sorgen dafür, dass dieser Schwangerschaft, Geburt und die ersten empfindsamen Monate gesund überlebt. Schwangerschaften werden von widerstrebenden Emotionen begleitet. Neben Glück und Freude gibt es auch Verunsicherung oder sogar Ablehnung des eigenen Körpers oder dem ungeborenen Kind gegenüber. Kommen dann noch Konflikte in der Partnerschaft, finanzielle Sorgen oder Wohnungsprobleme dazu, kann es zur Überforderung führen. Treffen all diese Sorgen dann zusätzlich auf Erwartungen, die wir an uns selbst haben oder die Umgebung an uns stellt oder zu stellen scheint, gibt es immer mehr Auslöser für Konflikte, die zu Krisen führen können.

Widerstrebende Gefühle in Bezug auf Schwangerschaft und Elternschaft sind jahrtausendalte Phänomene. Sie entspringen den Gedanken der werdenden Eltern, die sich ihrer Verantwortung, aber auch ihrer sozialen Situation bewusst werden. Allein die vorgestellte Last dieser neuen familiären Verpflichtungen kann Furcht einflößen. Tatsächliche schwierige ökonomische Verhältnisse, die Gefährdung der eigenen Sicherheit oder erdrückende gesellschaftliche Erwartungen an die Frauen stellen zusätzliche Stressoren dar.

Schwangerschaft, Geburt und Muttersein können als überfordernd erlebt werden und dauerhaften Stress auslösen. Die gesellschaftlichen Normen oder bestimmte Gefahren mögen sich über die Jahrtausende und von Kultur zu Kultur verändert haben, aber die Ängste vor der Lebensveränderung oder um das Kind ähneln sich. Auch hier und heute begleiten Eltern viele Gebote, Verbote und Regeln im Umgang mit ihren Kindern. Die meisten Frauen und Männer fühlen sich unzureichend auf die Elternschaft vorbereitet. Sie entwickeln Erwartungen an sich selbst und spüren gleichzeitig, dass diese Erwartungen einen wachsenden Druck ausüben.

„Ich bin so unglücklich über diese Schwangerschaft. Und alle erwarten, dass ich glücklich bin. Ihre Erwartungen machen alles nur noch schrecklicher, weil ich nicht sagen kann, wie es mir wirklich geht.“

Katharine, 27 Jahre, schwanger in der 9. Woche

Sie stoßen an die Grenzen ihrer Kraft und Macht, da sich spürbar alles verändert. Das macht Angst. Gleichzeitig sind die künftigen Herausforderungen nicht zu planen. Diese Ungewissheit, eventuell verbunden mit einer unsicheren ökonomischen Grundlage, ist für viele zukünftige Mütter und Väter schwer zu ertragen. Anstrengende Lebensumstände, wie Umzug, Verlust des Arbeitsplatzes oder sogar eine konfliktreiche Partnerschaft, können zusätzlich an den Kräften zehren.

1.1. Schwangerschaft – Zeit der Veränderung

Um die Schwangerschaft zu erhalten, wird fast sofort nach der Befruchtung der Eizelle eine Kaskade von Hormonen5 ausgeschüttet, wie hCG, Östrogen und Progesteron. Die Frau wird geradezu überrollt von diesen Hormonen, um den Körper auf die Schwangerschaft einzustellen. Das führt zu schwerwiegenden körperlichen Veränderungen, wie Übelkeit, Brechreiz und besonderem Essverhalten.

Es wird vermutet, dass das hCG für den Erhalt der Schwangerschaft verantwortlich ist, gleichzeitig aber auch den starken Brechreiz auslöst. Alle Körperfunktionen der Schwangeren zielen auf die optimale Versorgung des Kindes ab. Plötzlicher Heißhunger und schwankende Blutzuckerwerte haben mit dem Energiebedarf der wachsenden Plazenta6 zu tun. Dieser rasante Veränderungsprozess wird von den meisten Frauen als enorme Herausforderung erlebt. Auch wenn die hormonellen Hochs und Tiefs jede schwangere Frau betreffen, empfinden einige Frauen diese Schwankungen wesentlich intensiver und reagieren mit erhöhter Sensibilität.

„Es war mir ja klar, dass die Schwangerschaft meinen Körper verändern wird. Aber jetzt, wo es passiert, finde ich mich hässlich. Mein Mann ist ganz begeistert, aber mir ist das eher unheimlich.“

Jule, 29 Jahre, schwanger in der 20. Woche

Schon relativ früh in der Schwangerschaft können Veränderungen an Herz und Kreislauf auftreten. Es kommt zu einer Zunahme der Durchblutung und die Blutgefäße erweitern sich. Der Puls wird stärker. Bis in die Hände und Füße spürt die Frau durch die vermehrte Durchblutung das Gefühl von Wärme. Die Brüste spannen und wachsen. Die Frau nimmt bis zu fünfzehn Kilogramm an Gewicht zu. Mehr als die Hälfte der Gewichtszunahme beruht auf der Ansammlung von Körperflüssigkeit, meist in der unteren Körperhälfte. Die Folge können unangenehme Schwellungen in Händen und Füßen sein, die normalerweise keinen Grund zur Sorge bieten.

Diese Wandlung auszuhalten, fällt unter Umständen schwer. Viele junge Frauen sind es gewohnt, durch Sport und Essverhalten über ihren Körper selbst zu bestimmen und erleben diese Veränderungen in der Schwangerschaft als Kontrollverlust. Während des Wachsens des Ungeborenen und der Veränderung des weiblichen Körpers ändern sich auch Gedanken, Gefühle und Zukunftsvisionen. Bei den meisten Frauen regeneriert sich das körperliche und psychische Gleichgewicht innerhalb des letzten Drittels der Schwangerschaft oder spätestens einige Wochen nach der Geburt des Kindes.

1.2. Die langersehnte Schwangerschaft