Dark Ivy – Wenn ich falle - Nikola Hotel - E-Book
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Dark Ivy – Wenn ich falle E-Book

Nikola Hotel

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Beschreibung

Wenn ich falle, hältst du mich? Der Auftakt zum Dark-Academia-Duett von Spiegel-Bestseller-Autorin Nikola Hotel. Freunde finden. Das ist alles, was Eden Collins sich wünscht, als sie mit einem Stipendium an die traditionsreiche Woodford Academy kommt. Nach einem tragischen Todesfall war das letzte Highschooljahr die Hölle. Das Getuschel, die anklagenden Blicke, das Alleinsein. Jetzt will sie einfach nur dazugehören und neu starten. Allerdings ist das gar nicht so leicht. Schon in ihrem ersten Kurs bricht Eden beinahe zusammen, als sie bei einem sozialen Experiment an ihre Geheimnisse erinnert wird. Und es ist ausgerechnet William Grantham III., der das bemerkt. Ausgerechnet der ebenso faszinierende wie abweisende Millionenerbe, mit dem sie bereits aneinandergeraten ist … Herzzerreißend emotional – für alle Fans von mitreißenden Liebesromanen und Dark Academia. Mit Blackout Poetry im Innenteil.

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Seitenzahl: 494

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Nikola Hotel

Dark Ivy – Wenn ich falle

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Wenn ich falle, hältst du mich?

Freunde finden. Das ist alles, was Eden Collins sich wünscht, als sie mit einem Stipendium an die traditionsreiche Woodford Academy kommt. Nach einem tragischen Todesfall war das letzte Highschooljahr die Hölle. Das Getuschel, die anklagenden Blicke, das Alleinsein. Jetzt will sie einfach nur dazugehören und neu starten. Allerdings ist das gar nicht so leicht. Schon in ihrem ersten Kurs bricht Eden beinahe zusammen, als sie bei einem sozialen Experiment an ihre Geheimnisse erinnert wird. Und es ist ausgerechnet William Grantham III., der das bemerkt. Ausgerechnet der ebenso faszinierende wie abweisende Millionenerbe, mit dem sie bereits aneinandergeraten ist …

 

Herzzerreißend emotional – der Auftakt des Dark-Academia-Duetts.

Mit Blackout Poetry im Innenteil.

 

Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Wenn du dich darüber informieren möchtest, findest du auf unserer Homepage unter www.endlichkyss.de/darkivy1 eine Content-Note.

Vita

Nikola Hotel hat eine große Schwäche für dunkle Charaktere und unterdrückte Gefühle, daher hängt ihr Herz vor allem am New-Adult-Genre. Und das merkt man ihren ebenso gefühlvollen wie mitreißenden Liebesgeschichten an. Seit 2020 gelang jedem ihrer Bücher unmittelbar nach Erscheinen der Einstieg auf die Spiegel-Bestsellerliste.  Zudem sind alle ihre Romane besonders ausgestattet, seien es Handletterings in «It was always you» und «It was always love», ein Daumenkino und Origami-Faltanleitungen in «Ever» und «Blue» oder die Blackout Poetry in «Dark Ivy». Nikola lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Bonn und gewährt auf Instagram allerlei Einblicke in ihren Schreiballtag. Mehr Informationen sind auf ihrer Homepage zu finden: www.nikolahotel.de

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Illustrationen © 2022 by Nikola Hotel

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01299-8

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für Anya

chronalgia

n. the painfully hopeless desire to be able to go back in time a few minutes or even seconds to prevent something horrible that will change your life forever.

From Greek chrónos (time) and àlgos (pain)

 

– Notizbuch von Eden Collins

Playlist

Devil On My Shoulder – Faith Marie

Creep – Radiohead

Looking Too Closely – Fink

Lovesong – The Cure

Golden Days – Panic! at the Disco

House of Memories – Panic! at the Disco

Lullaby – The Cure

Self Sabotage – Ruelle

Monsters – Ruelle

My Tears Are Becoming a Sea – M83

Fix You – Kacey Musgraves

All of Me – John Legend

War Of Hearts – Ruelle

Sex on Fire – Kings of Leon

The last beautiful thing I saw is the thing that blinded me – Paris Paloma

Oxytocin – Billie Eilish

Everybody Dies – Billie Eilish

Boat Song – Woodkid

What Power Art Thou? – Fink

Arcade – Duncan Laurence

Prolog

Mein Kopf platzt.

Der Schmerz ist unerträglich. Nein, das kann nicht wahr sein. Das kann nicht real sein. Es kann doch gar nichts Schlimmes mehr passieren. Alle schlimmen Dinge in meinem Leben sind schon passiert, dachte ich. Das hier ist mein Neuanfang. Mein neues Leben. Aber das war falsch, so falsch.

Mein Kopf pulsiert, als würde er jeden Moment auseinanderbrechen. Aber das ist nichts im Vergleich dazu, wie mein Herz schmerzt. Meine Hände sind voller Blut. Im Schein der Lampen am Fähranleger sieht es aus wie Teer.

Mir ist kalt. So unendlich kalt.

Kendra schreit so laut auf, dass ich zu zittern anfange. Mein Kopf wird zerbersten. Ich spüre das Blut auf meinem Gesicht, auf meinem Hals, auf meinen Händen. Ich habe Blut an den Händen.

Ich kann mich kaum bewegen oder Luft holen, nur unkontrolliert zittern, weil die Kälte meinen Körper mit Krallen gepackt hält. Steine bohren sich mir ins Fleisch. Ich will aufstehen, aber ich kann nicht. Ich schmecke Eisen auf meiner Zunge und kann nur auf meine blutigen Hände starren und zittern. Es fühlt sich an, als würde ich erfrieren. Und im Augenblick wünschte ich, es würde wirklich so sein, damit ich das alles nicht ertragen muss. Ich kann das nicht noch einmal durchmachen. Nie wieder. Lass mich erfrieren. Lass mich zu Tode frieren.

Ich bin schuld.

Schon wieder.

Das ist kein Neuanfang, das ist mein Ende, und ich kann nichts dagegen tun. Ich bin schuld. Schuld, schuld, schuld. Ich kann nichts tun, um es zu ändern. Ich würde alles dafür geben, um die letzten Stunden ungeschehen zu machen.

Lass mich zu Tode frieren.

Aber was, wenn ich nicht erfriere? Was, wenn das alles kein Albtraum ist? Wie soll ich damit weiterleben?

1. Kapitel

Du siehst gar nicht so aus wie eine von denen.»

Die alte Frau neben mir fasst nach meinem Arm. Ich bin versucht, ihn wegzuziehen, da reibt sie den Ärmelstoff schon zwischen ihren Fingern und schüttelt den Kopf. «Kein Kaschmir.»

Langsam atme ich aus. Mein Blick geht an mir runter. Über den selbst gestrickten Pulli und die ausgebleichten Jeans mit den Löchern, die so groß sind, dass meine Knie durchpassen, bis zu den ehemals weißen Turnschuhen, die gegen den Sitz in der Reihe vor mir stoßen. Meine Lieblingsklamotten, die ich eigentlich angezogen habe, um mich heute selbstbewusst und sicher zu fühlen. Weil dieser Tag so wichtig für mich ist.

Ich hätte ihr nicht erzählen sollen, dass ich auf dem Weg nach Woodford bin, das wird mir jetzt klar, aber ich musste es einfach jemandem sagen. Mein Puls befindet sich im Ausnahmezustand, seit ich am Mittag die Wohnung meines Dads verlassen habe. Wenigstens einmal musste ich es laut aussprechen, um es selbst zu glauben.

«Seit wann tragen Studenten Kaschmir?» Ich kann mich nicht zurückhalten.

Sie hebt die Hand und gestikuliert damit vor meinem Gesicht. «Nicht alle. Aber die da schon. Sieht für mich nicht so aus, als würdest du da hinpassen.» Sie hebt die schmalen, knochigen Schultern an und lenkt ihr Interesse auf die Schachtel mit Crackern auf ihrem Schoß. Cracker und hart gekochte Eier.

«Ach so.» Ich zwinge mich zu einem unbeteiligten Gesichtsausdruck, obwohl sie mich gar nicht mehr beachtet. Meine Sitznachbarin hat die Tattoos an meinem Unterarm nicht mal gesehen, und dennoch bin ich bei ihr schon als Außenseiterin abgestempelt.

Ihr Urteil sollte mich nicht einschüchtern, aber ich spüre trotzdem, wie die Unsicherheit in mir hochkriecht. Ich möchte unbedingt zu denen gehören. Nicht dazuzugehören, ist meine größte Angst.

Ich habe elf Monate lang nicht dazugehört. Zu niemandem.

Elf Monate sind genug.

Ich dachte eigentlich, das Schlimmste, was mir heute passieren kann, ist zu verschlafen. Was nicht stimmt. Das Schlimmste ist wahrscheinlich aber auch nicht diese Frau, die beim letzten Halt eingestiegen ist. Seit ich vor einer halben Stunde den ersten Blick aufs Meer werfen konnte, verrenke ich mir den Hals, um die Anzeige im Bus zu kontrollieren, aber der Junge in der Reihe vor mir trägt einen Beanie, der so dick ist, als würde er darunter Kronjuwelen verstecken. Ich sehe nichts. Überhaupt nichts. Das Schlimmste wäre also wohl eher, die richtige Haltestelle zu verpassen.

Ich beuge mich vor, um etwas zu erkennen, als der Bus einen unerwarteten Schlenker macht, der mich augenblicklich zurück in den Sitz wirft. Der Fahrer muss betrunken sein. Oder er hat Narkolepsie und ist plötzlich aufgeschreckt. So, wie der fährt, kann ich froh sein, mir nicht gleich alle Knochen zu brechen, wenn ich zur Tür gehen muss. Das wäre dann wohl das Schlimmste.

Nur dass immer noch nicht Harbour Road auf der Anzeige steht.

Die Harbour Road ist die Haltestelle meiner Zukunft. Einer Zukunft, in der ich unbedingt wieder dazugehören will.

Werde. In der ich dazugehören werde. Bitte.

Ich straffe mich. Schlinge den Gurt meines Rucksacks noch ein zweites Mal um die Finger. Und taste mit der anderen Hand in meiner Hosentasche nach dem kleinen Stein, den ich immer bei mir trage, ziehe stattdessen aber dann mein Handy heraus. An den Riss, der sich über das Display zieht, habe ich mich gewöhnt, und eigentlich schäme ich mich nicht dafür. Trotzdem halte ich das Handy nun so, dass meine Sitznachbarin ihn nicht sehen kann, bevor ich ganz automatisch den Nachrichtenverlauf durchscrolle.

Larks Name taucht erst nach einem Moment auf. Der Chat mit ihm ist schon wieder nach unten gerutscht. So weit, dass mir schwer ums Herz wird.

Mit dem Daumen berühre ich seinen Namen.

Das war Larks letzte Nachricht. Ich habe am nächsten Tag lange darauf gewartet, dass er noch mal schreibt. Elf Monate lang. Elf Monate, und es pocht noch immer wie eine klaffende Wunde.

Seine letzte Nachricht ist der Grund, warum ich seit vier Stunden in diesem Reisebus sitze und ans andere Ende des Bundesstaates fahre. Warum ich überhaupt so weit gekommen bin.

Ich lösche die Nachrichten von meinem Dad, dem alten Ruderteam, meinem Aushilfsjob in der Gärtnerei, der Tankstelle und dem Supermarkt, in dem ich bis gestern noch für Kunden Einkäufe eingepackt habe. Ich lösche alles, bis nur noch der Chat mit Lark übrig bleibt. Dann stecke ich mir Kopfhörer ins Ohr und lasse Radiohead meine Gedanken betäuben.

What the hell am I doin’ here …

Die Frau zupft schon wieder an meinem Ärmel. «Geht das auch leiser?»

Ich lese es von ihren Lippen und schalte die Musik ab. Mit einem unterdrückten Seufzen entschuldige ich mich und rufe mir gleichzeitig in Erinnerung, dass ich diese Frau in meinem Leben nie wiedersehen werde, dass es nur noch ein paar Minuten dauert, bis ich da bin. Und dass ich für diesen Tag vorbereitet bin. Besser als jemals zuvor.

Den Großteil meiner Sachen habe ich per Post zum College vorausgeschickt, damit ich mich nicht um so viel Gepäck kümmern muss. Ich habe die Unterlagen für mein Zimmer bereits vor sieben Monaten online eingereicht, weil ich unbedingt nach Saltonstall wollte und die Zimmer dort immer als Erstes vergeben sind. Zumindest habe ich das in einem Forum gelesen. Vor sechs Monaten habe ich dann die ersehnte Zusage bekommen.

Es gibt vier Wohnheime auf dem Campus, und Saltonstall ist das neueste. Und das Einzige, das nicht dicht von Bäumen umgeben ist und von dem man aufs offene Meer sieht. Denn ich träume vom Meer, seit ich mit fünf von Lark einen Stein geschenkt bekommen habe, den er in seinem Urlaub in der Normandie gefunden hat und der aussieht, als hätte eine Blume ihr Muster reingepresst. Auch wenn das dunkle Meer mir insgeheim Angst einjagt. Den Stein habe ich immer noch. Jetzt in diesem Augenblick ist er in meiner Jeanstasche, und er fühlt sich glatt und vertraut an. So vertraut wie der Schmerz darüber, dass ich keine Nachrichten mehr von ihm bekomme.

Wenn du es in Woodford nicht schaffst, Eden, dann kommst du einfach wieder nach Hause. Davon stirbt niemand.

Dad. Das hat er mir zum Abschied gesagt, bevor er mir mit seinem Bart einen kratzigen Kuss gegeben hat. Einen von der Sorte, die ich in den nächsten Wochen schmerzhaft vermissen werde. Ich liebe ihn, trotzdem war das einer von seinen weniger hilfreichen Sprüchen. Als ob man einfach so nach Hause fahren würde, wenn man in Woodford gewesen ist. In Gedanken habe ich es schon mit Großbuchstaben und in Fettschrift in meiner Vita vermerkt.

WOODFORD ACADEMY.

So was löscht man nicht einfach wieder. Wer Woodford in seinem Lebenslauf stehen hat, aktualisiert das mit Harvard oder Yale und nicht mit Supermarktkasse. Ich habe keinen Plan B. Wenn ich es in Woodford nicht schaffe, dann ist da nichts, was auf mich wartet, und das macht mir Angst.

Im letzten Jahr habe ich alles dafür gegeben, hierherzukommen. Ich habe gearbeitet, so viel ich konnte, und nur noch gelernt. Und wenn ich nicht gelernt habe, dann habe ich in der Sportmannschaft auf einem See gerudert, weil es sich positiv auf meine Bewerbung auswirken würde. Ich habe meinen geliebten Gartenbaukurs abgewählt und stattdessen einen weiteren Wissenschaftskurs belegt. Ich habe mich durch europäische Geschichte, Musiktheorie, Französisch und Spanisch gekämpft. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal an einem Tag nichts auswendig gelernt habe. 34 von 36 Punkten beim ATC war das zweitbeste Ergebnis in meinem Abschlussjahrgang, aber ich konnte mich nicht mal freuen.

Das Einzige, was ich dabei gefühlt habe, war Erleichterung. Erleichterung, weil das Geld, das ich für den Vorbereitungskurs in etlichen Überstunden zusammengespart hatte, nicht vergeudet war. Erleichterung, weil ich endlich an einen Ort gehen kann, an dem mich niemand mehr mit dieser Mischung aus Mitleid und Vorwurf ansehen wird.

Keiner aus meiner Familie war auf einem so renommierten College, und ich habe ein Stipendium bekommen, was ich immer noch nicht vollständig begreife. Ein Stipendium für die Woodford Academy of Liberal Arts. Das würde ich der Frau neben mir gerne erzählen. Dann würde sie mich vielleicht nicht mehr so abfällig ansehen. Ich könnte ihr sagen, dass vier Literaturnobelpreisträger in Woodford studiert haben und sich sicher niemand dafür interessiert hat, was sie für Klamotten anhatten. Außerdem zwei Präsidenten, mehrere andere Politiker und eine ganze Liste von Schauspielern und Künstlern. Und nun ich. Eden Collins.

Du siehst gar nicht so aus wie eine von denen.

Ich sage nichts. Dafür gleitet meine Hand automatisch zurück in die Hosentasche, um mich am Stein mit den winzigen Furchen festzuhalten. Ich muss unbedingt dazugehören.

«Entschuldigen Sie, aber ich muss hier gleich aussteigen.»

Wenn ich noch länger hier sitze, drehe ich durch. Mein Nacken ist vor Aufregung schon schweißnass. Ich will mein Haar über die Schulter nach vorn streifen, merke dann aber wieder, wie kurz es jetzt ist und dass es gar nicht mehr über meine Schultern reicht, sondern nur noch bis knapp unter mein Kinn. Ich wollte es unbedingt abschneiden lassen, weil ich dachte, dass ein neuer Haarschnitt einfach zu einem Neuanfang dazugehört, auch wenn die Friseurin meinte, bei meinen weiblichen Rundungen würden mir die langen Haare viel besser stehen. Aber ich mag meine neue Frisur.

«Sicher?» Die alte Frau schürzt so skeptisch die Lippen, als hätte ich erzählt, ich wolle nackt und ohne Sauerstoff zum Mars zu fliegen. Diesen Gesichtsausdruck würde ich mir am liebsten als Meme abspeichern. Falls ich mal überlegen sollte aufzugeben, würde mich dieser perfekt ausbalancierte Ausdruck aus Zweifel und Geringschätzung ganz bestimmt daran hindern.

Aber ich werde nicht aufgeben. Ich bin mir so sicher wie noch nie in meinem Leben, deshalb nicke ich.

«Immer mit der Ruhe. Wenn du durchhältst, wirst du noch Jahre in diesen alten Gemäuern verbringen, da kommt es nicht auf ein paar Minuten an.» Sie stopft sich noch einen Cracker in den Mund.

Es stimmt nicht, was sie sagt. In Wirklichkeit kommt es im Leben auf jede Sekunde an. Das ist eine Lektion, die ich im letzten Jahr gelernt habe.

Ich warte ungeduldig, bis die Frau ihre Beine zur Seite bewegt hat, um mir Platz zu machen. Dann klettere ich mit dem Rucksack auf dem Rücken zwischen den Sitzen durch.

Bis zur Willkommensrede bleibt mir noch eine Stunde. Die Überfahrt mit der Fähre dauert laut Internet nur zehn Minuten. Dann habe ich noch Zeit, mich zu registrieren, meinen Zimmerschlüssel zu besorgen und die Sachen zu verstauen. Das Schlimmste, was mir passieren kann, ist … nichts. Gar nichts.

Harbour Road.

Auf der Anzeige leuchtet die nächste Haltestelle auf. Als der Bus kurz darauf ruckelnd anhält, erhöht mein Herz gleich noch mal die Schlagzahl.

Ich steige mit einer Handvoll anderer Leute aus, und draußen angekommen atme ich tief ein, um den letzten Rest des flauen Gefühls der Busfahrt loszuwerden. Ich sauge den Geruch des Meeres in meine Lungen und frage mich, ob der Atlantik überall gleich riecht. Ob er genauso gerochen hat, als Lark in Nordfrankreich gewesen ist und meinen Stein gefunden hat. Auch wenn das schon mehr als dreizehn Jahre her ist.

Es fängt an zu nieseln, und in den Salzduft der Luft mischt sich noch etwas anderes. Es gibt einen Namen für den Geruch, der entsteht, wenn Regen auf trockene Erde fällt. Petrichor. Das weiß ich, weil mich solche Namen faszinieren. Begriffe für Alltägliches, das jeder kennt, aber niemand benennen kann, höchstens umschreiben. Aber soweit ich weiß, gibt es bisher keinen Namen dafür, wie es riecht, wenn Regen an einer Küste ins salzige Meerwasser tropft.

Ich nehme dankbar mein Gepäck entgegen, das der Busfahrer hinter der Luke zwischen den Reifen verstaut hatte, und rolle den Koffer in Richtung Anlegestelle. Schon nach ein paar Metern beginne ich zu frösteln, aber ich beiße die Zähne zusammen. Meine Jacke liegt natürlich ganz unten im Koffer, obwohl ich mir eigentlich hätte denken können, dass es hier an der Küste kälter ist als zu Hause.

An der Anlegestelle warten schon etliche andere Studenten. Als ich sie in Augenschein nehme, muss ich der Frau aus dem Bus leider recht geben. Ich sehe wirklich nicht so aus, als würde ich dazugehören. Ein paar von ihnen tragen College-Hoodies in den typischen Woodford-Farben, aber die meisten sehen aus, als hätten sie gerade einen Urlaub in Hawaii mit viel Sonne hinter sich und dort auch mit der Kreditkarte ihrer Eltern die neuesten Luxusklamotten geshoppt. Ich bin die unscheinbare Fremde auf der Party, die niemanden kennt. Aber ich sehe bestimmt nicht so aus wie ein Mädchen, das vorwurfsvolle Blicke fürchtet. Oder das ihren besten Freund hat sterben lassen.

Und doch habe ich das getan.

2. Kapitel

Für den Moment dränge ich lieber jeden Gedanken an Lark ganz weit nach hinten. Dorthin, wo es am dunkelsten ist. Meine ehemalige Therapeutin meinte, es würde mir leichter fallen, wenn ich den Chat mit ihm endgültig lösche, aber Dad war der Meinung, meine Therapeutin sei eine Idiotin. Nach meinem letzten Termin mit ihr hat er gesagt: «Jetzt ist der richtige Zeitpunkt für dein erstes Tattoo. Ein verdammtes Lark-Erinnerungs-Tattoo!» Und dann hat er mich in seinen Pick-up gepackt und ist mit mir fast drei Stunden durch nach Rochester gefahren. Während der gesamten Session beim Tätowierer hat er meine Hand gehalten, und als wir fertig waren, war er es, der bitterlich geweint hat, während ich wie versteinert auf meinen Arm geguckt habe. Seitdem flattern zwei blaue Morphofalter um meinen linken Unterarm, und jedes Mal, wenn ich sie ansehe, zieht sich mein Herz zusammen. Aber auf die gute Art. Eine Art, die schmerzvoll und süß zugleich ist.

Ich werde es nie übers Herz bringen, Larks Nachrichten zu löschen. Das ist auch der Grund, warum ich mein altes Handy behalte. Es sind mehrere Nachrichten in unserem Chat, und auch wenn ich sie mir seit Monaten nicht durchlesen konnte, habe ich unendliche Angst, sie zu verlieren. Ich vermisse ihn. Ich vermisse Lark so sehr. Er war es, der unbedingt wollte, dass ich hierherkomme. Ich mache das alles auch für ihn. Und ich werde Leute finden, zu denen ich gehören kann. Ich werde neue Freunde finden, auch wenn keiner so sein wird wie er. Es wird außer mir ja wohl noch andere Studenten geben, die sich keinen verdammten Kaschmir leisten können.

Mein Blick geht zum Meer. Ivy Island ist die Einzige der Inseln vor der Küste, die so dicht bewachsen ist, dass sie jetzt im Herbst wie ein orange-gelb-grüner Plüschball aus dem Wasser herausragt. Die Insel wirkt so nah, kaum eine Meile von der Küste entfernt.

«Man könnte echt rüberschwimmen.»

Ich drehe den Kopf. Überrascht, dass mich jemand angesprochen hat. Die Stimme neben mir gehört einem Mädchen in meinem Alter mit einem grimmigen Gesichtsausdruck. Ihren kurzen schwarzen Afro hat sie mit einem knallgelben Band zurückgebunden. Als ich das Sweatshirt unter dem Anorak mit einem ausgebleichten Simpsons-Aufdruck sehe, muss ich lächeln. Bestimmt hat sie ihr Haarband passend zu Bart Simpson ausgesucht.

Aber rüberschwimmen? Auf keinen Fall. Es ist viel zu kalt, außerdem kann ich leider echt nicht gut schwimmen und mich nur kurz über Wasser halten wie ein Hund, was mir in meinem Ruderteam immer jede Menge Spott eingehandelt hat. «Theoretisch ja.»

Sie schnaubt. «Praktisch auch. Wir passen niemals alle auf diese winzige Fähre.» Sie deutet auf das kleine Schiff, das bereits von der Insel abgelegt hat und in Slowmotion näher kommt.

«Meinst du wirklich?» An die Möglichkeit habe ich noch gar nicht gedacht.

«Wäre ein Wunder. Normalerweise lassen sie die Erstsemester und die älteren Studenten an unterschiedlichen Tagen ankommen, aber angeblich gab es ein Sicherheitsproblem. Keine Ahnung.» Sie zuckt mit den Schultern. Dann lächelt sie, indem sie die Lippen halbherzig verzieht. Wie man eben lächelt, wenn man zu oft gesagt bekommen hat, dass man mal lächeln soll. Ich kenne das Gefühl.

«Wir könnten eins von denen ausborgen.» Ich deute auf die kleinen Boote, die neben der Anlegestelle im Wasser dümpeln. Dann spüre ich, wie mein Gesicht warm wird, weil ich wir gesagt habe.

«Kannst du damit umgehen?», erkundigt sie sich. «Ich meine, bist du schon mal gerudert?»

«Ich war auf der Highschool im Ruderteam. Aber ehrlich gesagt, besonders gut war ich nicht.» Ich habe es gehasst. Vor allem wegen meiner Angst vor dunklen Gewässern und weil … wie gesagt, ich kann nicht gut schwimmen.

Sie öffnet den Mund zu einem echten Grinsen. «Okay, dann bin ich dabei. Ich heiße übrigens Kendra.»

«Eden.»

«Auch Erstsemester?»

Mein «Ja» ist gleichzeitig ein erleichtertes Ausatmen. Als hätte ich gerade die erste Hürde bei meinem Neuanfang genommen. Vielleicht habe ich das sogar.

«Dann sehen wir uns wahrscheinlich öfter. Den Einführungskurs müssen wir ja alle zusammen machen.»

«Hast du Lust …» Ich stocke, dann hole ich noch einmal Luft. «Sollen wir uns zusammen einen Platz auf der Fähre suchen?» Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie viel mir ihre Antwort bedeutet. Es ist albern, sie ist ja nur der erste Mensch, der mir hier begegnet.

«Normal gerne, aber ich muss meinen verdammten Bruder hier irgendwo finden. Der Idiot geht nicht an sein Handy.» Sie lässt den Blick über die Leute schweifen. «Du hast nicht zufällig einen blassen rothaarigen Typen gesehen, der als Ed-Sheeran-Double durchgehen könnte?»

Weil ich nicht sofort antworte, wiegt sie den Kopf von links nach rechts. «Mein Stiefbruder. Patchworkfamilie. Lange Geschichte.»

«Bisher leider nicht.»

«Dann suche ich mal weiter.» Sie presst wieder die Lippen zusammen. «Wir sehen uns.» Damit lässt sie mich stehen und schleift einen Hartschalenkoffer hinter sich her.

Ich will die Enttäuschung gar nicht erst aufkommen lassen, aber sie taucht doch an die Oberfläche. Mit einem leisen Seufzen stelle ich Dads alten Nylonkoffer vor mir ab, um ihn als Ablage für meinen Rucksack zu nutzen. Der Koffer ist abgewetzt und die schwarze Farbe an zwei von vier Seiten zu einem Grau verblasst, weil Dad ihn den ganzen Sommer auf dem Balkon stehen hatte, damit er in unserer kleinen Wohnung keinen Platz wegnimmt. Aber er war damit im letzten Jahr im Nahen Osten, also wird das gute Stück auch noch Woodford überleben. Und ich bin froh, auf diese Weise immer etwas von Dad dabeizuhaben, auch wenn es nur sein alter Koffer ist. Weil die Fähre in ein paar Minuten anlegen wird, ziehe ich schon mal den Reißverschluss meines Rucksacks auf und fische eine Klarsichthülle raus.

Lark hat Klarsichthüllen gehasst. Klarsichthüllen kamen für ihn direkt nach Sofaschutzbezügen. Er würde lachen, wenn er sehen könnte, dass ich darin mein Ticket für die Fähre aufbewahre. Aber mein Handyakku ist das unzuverlässigste Arschloch der Welt. In einem Moment hat mein Handy noch vierzig Prozent, und in der nächsten Sekunde geht es einfach aus. Deshalb habe ich mein Ticket im Copyshop ausgedruckt. Und auch alle anderen Unterlagen, die ich brauche. Meine Studentenbescheinigung, die Zusage für das Zimmer in Saltonstall, meinen Kursplan …

Ich blicke auf, weil ein kurzes, aber durchdringendes Hupen zu hören ist. Eine Limousine bahnt sich den Weg durch die Leute und treibt sie auseinander. Schließlich hält der Wagen unmittelbar am Anleger. Die Reifen stehen kaum, da geht die Hintertür auf. Der Typ, der aussteigt, lässt mich selbst auf die Entfernung direkt auf Abwehrhaltung gehen. Das ist die Kategorie von Studenten, von denen ich mich fernhalten sollte, weil ich sowieso nie zu ihrem standesgemäßen Freundeskreis gehören werde. Aber was soll’s. Ich meine, wer bitte trägt bei Nieselregen im Oktober eine Sonnenbrille? Über einem dunkelblauen Rollkragenpullover erkenne ich außerdem gewollt unordentliches dunkelblondes Haar. Der Fahrer springt heraus, um das Gepäck aus dem Kofferraum zu holen.

Ich wende den Blick ab, halte aber inne, als der Neuankömmling sofort von einem Typen begrüßt wird, dessen Haare einen so krass orangeroten Farbton aufweisen, dass sich der Vergleich zu Ed Sheeran geradezu aufdrängt. Kendras Bruder? Ich schaue mich um, ob sie noch irgendwo in der Nähe ist.

Die beiden kommen näher, und aus irgendeinem Grund macht mich das nervös. Als sie direkt neben mir stehen bleiben, rolle ich meinen Kofferturm zur Seite. Soll ich dem Rothaarigen sagen, dass seine Schwester nach ihm sucht? Aber was, wenn er es gar nicht ist? Lieber nicht. Nur nicht unangenehm auffallen, das ist für den Moment alles, was ich will. Nicht auffallen und nicht im Weg stehen. Mich unter die anderen mischen. Irgendwie dazugehören. Oder wenigstens so tun.

Ich habe mal gelesen, dass man, wenn man ein Lachen vortäuscht, tatsächlich irgendwann anfängt, aus vollem Herzen zu lachen. Bisher habe ich es nicht ausprobiert, aber wenn es stimmt, dann werde ich um mein Leben lachen. Ich werde so lange so tun, als ob ich nach Woodford gehöre, bis es wahr wird.

Ich ziehe die Papiere aus der Klarsichthülle, suche mein Ticket raus und hoffe, dass ich nicht völlig plan- und hilflos dabei wirke. Es gelingt mir aber nicht lange, die beiden Typen neben mir zu ignorieren. Sie unterhalten sich erst nur über Leute, die ich nicht kenne, und über das Wohnheim. Aber dann …

«Die gibt es hundertpro wegen dir, Mann. Diese beschissenen neuen Sicherheitsvorkehrungen.»

Ich hebe den Kopf. Der Rothaarige trägt zwar auch Jeans, darüber aber ein sicher maßgeschneidertes kariertes Jackett und ein selbstbewusstes Grinsen, das attestiert, wie viel Geld seine Eltern für den Kieferorthopäden ausgegeben haben müssen.

Die Antwort kann ich nicht verstehen. Der Kerl aus der Limousine steht mit dem Rücken zu mir, aber seine Körpersprache ist deutlich. Er hat die Hände in den Hosentaschen vergraben und zuckt abweisend mit den Schultern, auf denen die ersten Tropfen in der feinen Wolle glitzern.

Ich wische mir unauffällig die Feuchtigkeit aus dem Gesicht, während ich ihn mustere. Er ist einen halben Kopf größer als sein Freund mit dem Karo-Jackett und hat nur eine Reisetasche bei sich. In exakt derselben Farbe seiner Schuhe. Wie dunkler Cognac. Ich weiß nicht, warum mir ausgerechnet das auffällt. Ich habe Cognac höchstens mal in einer Werbung gesehen, weil Mom … Bei uns zu Hause gab es nie harten Alkohol. Aber die Farbe sieht definitiv aus wie Cognac. Es ist die Ledertasche, die der Chauffeur eben für ihn aus dem Kofferraum geholt hat und die er jetzt vor seinen Füßen abstellt. Auf den feuchten Boden. Weil es ihm anscheinend egal ist, dass das teure Leder davon Flecken bekommen könnte.

«Wenn die unsere Taschen durchsuchen, bin ich im Arsch, Mann», sagt der Rothaarige.

Ich will gar nicht wissen, was genau er damit meint. Mir war auch nicht klar, dass die Sicherheitsvorkehrungen in Woodford so ein Thema sind. Das Blatt mit den Sicherheitsbestimmungen habe ich überflogen und nur im Kopf behalten, dass ich mich schon vor der Überfahrt ausweisen muss. Sie lassen nicht jeden auf die Insel. Kann ich verstehen, würde ich auch nicht.

«In deine Tasche werden sie garantiert nicht gucken. Ich wette drauf, dass deine Eltern was gedreht haben. Noch eine kleine Spende für das Soccerteam oder so.» Jetzt sieht er mich direkt an.

Er hat gemerkt, dass ich ihnen zugehört habe. Schnell drehe ich den Kopf weg. Ich wollte sie ja gar nicht belauschen, aber weggehen kann ich auch nicht, denn um mich herum drängen die Leute schon nach vorne zum Steg. Ich versuche, meine Papiere zurück in die Folie zu stecken, bevor sie noch nass werden, als eine Stimme alles andere übertönt. «Devin! Warum gehst du nicht an dein verfluchtes Handy? Ich dachte schon, ich finde euch nie.»

Es ist Kendra. Also ist dieser Devin tatsächlich ihr Bruder. Immer noch kämpfe ich mit meiner Klarsichthülle, aber die Plastikseiten kleben zusammen. Neben mir nehme ich eine Bewegung wahr. Kendra lässt ihren Koffer stehen, boxt ihren Bruder gegen den Arm und fällt dann dessen Freund mit der Ledertasche um den Hals. Ich bekomme nicht mit, was als Nächstes passiert. Nur, dass er plötzlich zurücktaumelt.

Genau in meine Richtung.

Damit habe ich nicht gerechnet. Ich bin so überrumpelt, dass mir der nächste Atemzug im Brustkorb stecken bleibt. Ich bekomme einen Stoß gegen meine Schulter. Nicht stark, aber genug, dass ich gegen meinen Koffer pralle und der Rucksack herunterstürzt. Beim Versuch, ihn festzuhalten, rutschen mir die meisten Zettel aus der Hand, und die Blätter flattern durch die Luft. Ich mache einen Satz nach vorn, um sie noch aufzufangen, da klackert mir etwas vor die Füße. Und ich muss plötzlich lachen, weil ich mich fühle wie in einem überdimensionalen Dominospiel. Oh Gott. Ich hoffe, das hat niemand gesehen. Obwohl es als Video sicher das Potenzial hätte, viral zu gehen. Ich kann förmlich spüren, wie mein Gesicht rot anläuft.

Als ich mich bücke, bin ich offenbar nicht die Einzige, die auf diese Idee kommt. Ich stoße noch einmal gegen einen anderen Körper und kann mich nur in der Hocke halten, weil ich von einer Hand am Oberarm gepackt werde. So fest, dass ich das wahrscheinlich noch heute Abend spüren werde.

Meine Papiere liegen überall im Nassen verteilt. Zwischen alten Zigarettenkippen und Möwenscheiße.

Und einem Brillenbügel.

Von einer ziemlich teuer aussehenden Sonnenbrille, deren anderer Bügel unter meinem Fuß klemmt. Es ist seine Brille. Von dem Kerl aus der Limousine. Scheiße.

3. Kapitel

Sorry, Leute.» Das ist Kendras Stimme. Aber sie tritt in den Hintergrund, als ich eine andere höre. Eine, die rau ist, dunkel.

«Ich habe dich gar nicht gesehen.»

Er hockt mit mir am Boden. Mein Blick hangelt sich an seinem Rollkragenpullover entlang bis zu der Stelle, an der er mich gepackt hält, dann lässt er plötzlich meinen Arm los. «Ist alles in Ordnung mit dir?», erkundigt er sich etwas verspätet.

Ja. Nein. Da bin ich mir nicht sicher. Wenn ich ihm diese Brille ersetzen muss, habe ich ein Problem, dann ist nichts in Ordnung. «Ich denke schon.» Mein Kopf pocht. Mein Herz auch. Schnell hebe ich die Brille auf. Bis auf den kaputten Bügel sieht sie gar nicht so schlimm aus – bis sich prompt eins der Gläser aus der Fassung löst und am Boden zerspringt.

Doppelscheiße.

«Das ist Eden», stellt Kendra mich den beiden vor, und ich wünschte, sie würde das nicht tun. «Mein Bruder Devin …» Sie formt mit den Lippen lautlos ein «Ed» in meine Richtung und verdreht die Augen. «… und William.»

Unsere Knie stoßen aneinander – mein nacktes Knie in den löchrigen Jeans gegen seins –, und seine feine Stoffhose fühlt sich angenehm warm an. Ich blicke hoch, weil William, der Freund ihres Bruders, sich aufrichtet und mir einen meiner Zettel hinhält. Er hat ihn aufgehoben, und jetzt verzieht sich sein Mund zu etwas, das nicht mal mit viel Fantasie als Lächeln durchgehen könnte. «Das kannst du dir sparen, Kendra. Sie weiß genau, wer ich bin.»

Mein Blick schießt von ihm zu Kendra, während ich mich ebenfalls erhebe, aber die schüttelt fast unmerklich den Kopf. Ich habe keine Ahnung, wie er darauf kommt. Wir sind uns garantiert noch nie begegnet.

«Ich trage eine Scheißvisitenkarte in meinem Gesicht», erklärt er. «Du musst mich nicht vorstellen.» Seine Stimme hat einen heiser-kratzigen Unterton. Ich frage mich, ob er immer so redet oder eine lange Nacht hinter sich hat. Und vor allem frage ich mich, ob er immer so arschig ist oder nur heute zur Feier des Tages.

Als ich zu ihm aufblicke, hat er mir das Gesicht nur halb zugewandt. Ein kleiner Teil meines Hirns versucht zu verstehen, was er meint, aber der größte ist noch mit seiner Sonnenbrille beschäftigt und damit, dass ich wahrscheinlich einen Monat nichts zu essen bekomme, wenn ich ihm dieses Luxusteil ersetzen muss.

«Das ist hoffentlich nichts Wichtiges», sagt er nun mit einem entschuldigenden Nicken zu meinem Zettel.

«Nur mein neues Leben», flüstere ich.

Mir wird bewusst, dass ich ihn schon viel zu lang mustere, aber ich kann nicht anders. Sein dunkelblauer Rollkragenpullover sieht irre teuer und weich aus. Genau so, wie es der Frau aus dem Bus sicher gefallen würde.

Er passt zu ihm. Im Gegensatz zu mir passt bei ihm alles perfekt. Er ist ein Musterbeispiel für die Kategorie «Rich College Kids». Seine arrogante Haltung, die teuren Lederschuhe, die vintage Armbanduhr, die an seinem Ärmel herausblitzt und sicher ein altes Erbstück ist. Dieses gelangweilte Nicht-Lächeln. Er verkörpert Woodford.

Auf der Website der Universität kann man sich Dutzende Fotos vom Campus ansehen, und über dem Eingang des Hauptgebäudes ist das Motto der Universität in Stein gemeißelt. Paratus ad omnia. Bereit für alles.Dieser Kerl sieht so aus, als wäre er bereit für alles. Als wäre er schon bereit geboren worden. Er ist ganz sicher niemand, mit dem ich in Zukunft etwas zu tun haben werde, aber er ist definitiv einer von denen. Jemand, für den Kaschmir erfunden wurde.

Mit einer Kopfbewegung schüttelt William sich die dunkelblonden Haarsträhnen aus der Stirn und dreht mir das Gesicht ganz zu.

Oh.

Ich glaube, jetzt weiß ich, was er mit Visitenkarte meinte. Etwas, das dieses perfekte Bild von ihm zerstört. Ein großer dunkelroter Abdruck, der sich vom Jochbein über sein linkes Auge bis zur Augenbraue zieht. Ich starre ihn an, obwohl mir klar ist, wie unhöflich das ist.

Hat er deshalb bei diesem Wetter eine Sonnenbrille getragen? Wenn er diese dunkelrote Haut darunter verstecken wollte, dann ist das wegen mir ganz schön in die Hose gegangen.

Nach einer Prellung sieht es nicht aus. Was um Himmels willen ist das?

Natürlich frage ich das nicht, es wäre nicht nur unsensibel, es geht mich auch nichts an. Aber ich kann auch nicht so tun, als würde ich diesen Fleck in seinem Gesicht nicht sehen. Er ist groß. Er hat eine Form wie Brasilien. Nur wenn ich meine ganze Hand drauflegen würde, könnte ich ihn verdecken. In Gedanken fahre ich die Ränder entlang, wie ich es mit den Grenzen auf einer Landkarte tun würde. Ich frage mich, warum es gerade dieser Fehler in seinem Gesicht ist, den ich anziehend finde.

Als sich Williams Kiefer anspannt, zwinge ich mich dazu, den Blick abzuwenden. Mist. Ich weiß, wie schrecklich es ist, von anderen angestarrt zu werden, und es tut mir leid, dass ich nicht schnell genug reagiert habe. Dieses Mal in seinem Gesicht ist vermutlich angeboren. Das würde auch erklären, warum er denkt, dass man ihn sofort erkennt.

Nur dass ich niemanden hier kenne.

Als er spricht, zuckt mein Blick wieder zu ihm hoch.

«Ich nehme an, du bist zu dem Schluss gekommen, dass es in echt genauso aussieht wie auf den Fotos», sagt er mit herausfordernd gehobener Braue, was mir sofort die Hitze ins Gesicht treibt. «Falls du also gedacht hast, das wäre nur ein Partytrick, muss ich dich enttäuschen. Ich sehe immer so aus.»

Dass er es anspricht, habe ich nicht erwartet. Und das war nun wirklich das Letzte, was ich gedacht habe. Eigentlich habe ich grad überlegt, dass der Fleck mich an etwas erinnert. «Gedankenlesen gehört offenbar nicht zu deinen Stärken», entschlüpft es mir.

Für eine Sekunde wirkt er überrascht, seine Augen weiten sich, aber ziemlich schnell senkt er die Lider wieder. Williams Augen sind grün. Nein, blau. Irgendwas dazwischen. Und sie wirken müde. «Ich denke, ich bin sogar recht gut darin. Also keine Sorge, Feuermale sind nicht ansteckend.»

«Das ist … mir klar.» Feuermal. So nennt man das also. Aber hat er solche Fragen wirklich schon öfter gehört? Ob das ansteckend ist? Die Vorstellung macht mich traurig. «Ich habe nichts dergleichen gedacht, wirklich nicht. Tut mir leid, dass ich dich so angestarrt habe.» Ein verlegenes Lächeln huscht über mein Gesicht. «Es ist nur, dass ich …» Ich sollte das nicht sagen. Auf keinen Fall sollte ich das sagen. Nein, Eden, sag es einfach nicht! «Ich habe nur gerade überlegt, woran mich die Form erinnert. Und jetzt weiß ich es. Es hat was von einer Superheldenmaske. Also wenn du es über beiden Augen hättest.»

Oh Gott.

Warum? Warum habe ich nicht einfach die Klappe gehalten? Kendra atmet geräuschvoll ein, und ihr Bruder fängt an, abgehackt zu lachen. William muss denken, dass ich mich über ihn lustig mache. Ich hätte einfach nur Entschuldigung und ansonsten gar nichts sagen sollen. Es geht mich nichts an, und es ist kein Thema, das man mit einem wildfremden Menschen bespricht.

Oh Gott, Eden! Superheldenmaske??

Die Hitze, die eben nur in meinem Gesicht gebrannt hat, verteilt sich wie ein rasendes Feuer auf meinem gesamten Körper.

William wirkt im ersten Moment verwirrt, dann kehrt ein Ausdruck in sein Gesicht zurück, der mich an Resignation erinnert. «Das würde meine Chancen verdoppeln, kleine Kinder zu erschrecken.»

Seine Stimme kratzt, als müsse er jedes Wort erst einzeln aus dornigem Gestrüpp herausziehen. Und nur deshalb habe ich das Gefühl, noch etwas sagen zu müssen. Ich habe damit angefangen, und jetzt gibt es kein Zurück, auch wenn es mir unangenehm ist. Dieses Feuermal ist rosarot. Es sieht in meinen Augen kein bisschen Angst einflößend aus, sondern faszinierend, fast schön. Als hätte jemand Wasserfarbe über sein Gesicht gegossen und sie sorgsam über sein Auge vermalt. Ein dunkles Krapprot. «Sie würden dich bestimmt fragen, wo dein Umhang oder dein Superheldenanzug ist. Oder was deine geheime Fähigkeit ist.»

«Ich kann mit meiner Zunge einen Knoten in einen Kirschstängel machen.»

Ich weiß nicht mal, warum ich jetzt lächeln muss. Vielleicht liegt es daran, dass er nicht mal überlegen musste und das wie aus der Pistole geschossen aus ihm herauskam. Vielleicht, weil er selbst so ernst dabei bleibt. Vielleicht aber auch, weil ich mir das gerade bildlich vorstelle.

Keine Bilder, Eden!

Himmel, man sollte sich definitiv nicht ausmalen, wie andere Menschen irgendetwas, egal was, mit ihrer Zunge anstellen!

«Das habe ich noch nie versucht», sage ich, und meine Mundwinkel klettern noch eine Spur höher. Ich kann einfach nicht anders. Und weil ich nicht damit rechne, dass William mein Lächeln erwidert, bin ich überrascht, als sich seine Mundwinkel plötzlich auch nach oben ziehen. Gerade noch sah er so angenervt aus. So müde und gelangweilt. Doch jetzt lässt sein Lächeln ein Grübchen an seinem Kinn stärker hervortreten, seinen kräftigen Mund und das Philtrum darüber. Das ist die Stelle zwischen Mund und Nase, deren Namen kaum jemand kennt. Seins ist geradezu anmutig gewölbt.

«Hey, Eden», mischt Devin sich ein. «Vielleicht passt du beim nächsten Mal einfach auf, wo du rumstolperst.»

Die kaputte Brille in meiner Hand. Die hatte ich völlig vergessen. Meine Temperatur wechselt unmittelbar von heiß zu kalt. Vielleicht passt ihr verwöhnten Schnösel beim nächsten Mal einfach auf, wen ihr schubst, würde ich am liebsten zurückschießen, aber Devin hält meinen Rucksack in der Hand. Und ich könnte schwören, dass ich seine Hand gerade noch am Reißverschluss der kleinen Vordertasche gesehen habe. Aber das war bestimmt keine Absicht, oder?

«Der Rucksack gehört mir», sage ich fast zu heftig.

«Und die Sonnenbrille gehört meinem Kumpel.» Er lässt den Rucksack vor meinen Füßen fallen.

Schnell halte ich William die Einzelteile seiner Sonnenbrille hin. «Tut mir wirklich leid», sage ich. «Ich konnte leider nicht kontrollieren, wo ich hinstolpere.»

William ignoriert den versteckten Vorwurf in meiner Aussage. «Ich kann auch ohne Sonnenbrille überleben.»

Ja, nur kann er sich dann nicht mehr dahinter verstecken, und das ist meine Schuld. Ich wische mir die Hände an meinen Jeans ab. Doch weil sein Kumpel mir immer noch ziemlich abfällige Blicke zuwirft, habe ich das Bedürfnis, mich zu verteidigen. «Du hast mich angerempelt, nicht ich dich. Also …»

«Ich weiß.»

«Wenn ich nicht geschubst worden wäre …»

«Auch das weiß ich.»

Ich atme tief durch, weil ich ihm klarmachen will, worum es mir eigentlich geht. Er hat vielleicht ein Problem damit, dass ihn jeder sofort erkennt, aber ich habe ganz andere Probleme. «Ich kann es mir nicht leisten, dir eine neue Sonnenbrille zu kaufen», flüstere ich, damit Devin und Kendra das nicht hören. «Ich habe wirklich keine Ahnung, wer du bist. Ich bin neu hier. Ich habe nur ein Stipendium für Woodford. Ich …»

Nur? Das wollte ich nicht sagen. Da könnte ich auch genauso gut sagen: Ichgehöre nicht zu euch.

«Verstehe.» William lässt das Wort eine Weile in der Luft stehen, bevor er langsam nickt. «Keine Sorge. Es war meine Schuld. Ich habe nicht gesehen, dass du hinter mir stehst.» Sein Blick geht an mir runter und stockt für eine Millisekunde an meinen nackten Knien, dann fährt er sich in das vom Regen feuchte Haar und wirkt mit dem leichten Lächeln dabei fast verlegen. «Ich schätze, das wird mir nicht noch einmal passieren.»

Dass er mich anrempelt? Oder dass er mich übersieht?

«Dann ist alles okay?», hake ich nach.

«Soll ich eine Verzichtserklärung unterschreiben?» Nun wirkt er belustigt, und das regt mich auf. Mir ist es nämlich ziemlich ernst. Ich weiß nicht, in was für einer Welt er lebt, aber in meiner sind ein paar Hundert Dollar Extraausgaben eine Katastrophe.

Ich komme jedoch nicht dazu, ihm zu antworten, weil sein Freund langsam ungeduldig wird. «Die Fähre hat schon angelegt. Wir müssen los, Mann. Außerdem habe ich keinen Bock mehr auf den Scheißregen.» Er klappt den Kragen seines Jacketts nach oben, dabei hat das Nieseln längst nachgelassen.

«Ich geh schon mal», sagt Kendra und schnappt sich ihren Koffer.

«Komm, Alter.» Devin zieht seinen Freund am Arm.

William zögert kurz, dann nickt er mir zu. «Vergiss das mit der Sonnenbrille einfach.» Er schiebt die kaputten Teile in die Gesäßtasche seiner Hose. «Hat mich gefreut, Eden.»

«Bis später, Eden», ruft Kendra über ihre Schulter.

«Bis später», murmle ich, obwohl es sowieso niemand von ihnen mehr hört. Hastig beuge ich mich vor, um meine restlichen Papiere einzusammeln, da entdecke ich erst, dass einer meiner Zettel direkt neben mir liegt. Und dass William mit einem Fuß mitten auf dem Logo der Woodford-Universität gestanden haben muss. Genauer gesagt auf meiner Bestätigung für das Studentenzimmer.

So ein Mist!

Wahrscheinlich hat er es nicht mal gemerkt. Es war keine Absicht. Aber es tut mir geradezu körperlich weh, als mir auffällt, dass das Blatt auch noch eingerissen ist. Ganz vorsichtig hebe ich den Zettel an einer Ecke an, damit nicht noch mehr kaputt geht. Mein Versuch, etwas von dem Dreck abzuwischen, macht es aber nur noch schlimmer. Jetzt ist der Dreck zusätzlich verschmiert, man kann kaum noch etwas lesen. Ein verschmierter Fußabdruck von einem Kerl aus einer Luxuslimousine auf meinen Unterlagen. Ich könnte heulen.

Klarsichthüllen sind dafür da, etwas zu schützen, und selbst das habe ich nicht hingekriegt. Ich bin selbst schuld, denn ich hätte die anderen Zettel einfach in der Hülle lassen sollen.

Unwillkürlich schließt mir der Gedanke in den Kopf, dass ich auch Lark nicht beschützen konnte. Es gab nichts, aber auch gar nichts, womit ich ihn hätte schützen können. Zumindest hoffe ich das. Weil alles andere nicht zu ertragen wäre.

Es ist einer dieser Gedanken, die ich täglich habe, die immer dicht unter der Oberfläche lauern.

Ich schiebe die Blätter, so vorsichtig es geht, in meinen Rucksack und hänge ihn mir über die Schulter. Der einzige Ausdruck, der nichts abbekommen hat, ist das Ticket für die Fähre, das ich immer noch in der Hand halte. Aber alles andere habe ich sowieso auf dem Handy, versuche ich mich zu beruhigen. Wenn mein Akku hält, gibt es kein Problem. Und im Notfall kann ich mich vielleicht auf einem Unirechner einloggen und die Bestätigungen aus meinem Postfach neu ausdrucken.

Alles halb so wild. Das ist nicht das Schlimmste, was mir passieren konnte. Die schlimmsten Dinge in meinem Leben habe ich doch schon hinter mir. Elf Monate hinter mir. Es gibt nichts, was mich noch einmal so hart treffen könnte.

4. Kapitel

Der Metalldetektor knistert, als ich hindurchgehe und mit meinem Koffer auf die Fähre rumple. Daran bin ich gewöhnt. Wenn man auf einer öffentlichen Highschool gewesen ist, gehören Metalldetektoren zum normalen Leben. Metalldetektoren, Kameras und Sicherheitsleute in Uniform, die einen jedes Mal kontrollieren, wenn man ein anderes Gebäude betritt. Ich kann mir kaum vorstellen, wie es sein wird, an einem Ort zu studieren, wo das nicht notwendig ist. Wo der Campus wie ein eigenes Dorf ist. Einmal auf der Ivy Island, ist man sicher. Woodford ist ein eigener Kosmos für sich, das habe ich in so vielen Artikeln gelesen.

Auf der Fähre ist es kurz darauf so voll, dass ich von hinten gegen die Reling gedrückt werde. Mit den Händen stütze ich mich ab, damit mir nicht die Luft aus den Lungen gepresst wird. Der Mann, der mein Ticket kontrolliert hat, hat mir gesagt, dass 256 Menschen auf das Schiff kommen. Garantiert hat er sich verzählt. Es müssen viel mehr sein.

Sobald die Fähre abgelegt hat, sprüht mir der Fahrtwind Meerwasser ins Gesicht, und meine Jacke ist leider immer noch ganz unten im Koffer. Meinen Rucksack halte ich vor mir und kontrolliere, ob das Portemonnaie mit meinem Bargeld noch an Ort und Stelle ist. Seitdem dieser Devin seine Finger darauf hatte, habe ich ein ungutes Gefühl. Aber es ist noch da. Mein Portemonnaie, meine alten Kopfhörer, die Tüte mit dem angetrockneten und nur halb aufgegessenen Bagel, den ich am Busbahnhof gekauft habe, mein Stiftemäppchen und ein Liebesroman, den ich zweckentfremdet und bisher zum Blumenpressen und einmal für Blackout Poetry benutzt habe. Wegen Lark habe ich auf eine Seite des Romans einen Schmetterling gemalt und dabei die ganze Zeit geheult. Ich stopfe das Buch zurück. Erleichtert ziehe ich den Reißverschluss wieder zu und drücke den Rucksack an mich.

Aber …

Merkwürdig.

Da knistert etwas in der Vordertasche.

Ich verstaue nie Sachen in dieser kleinen Tasche, weil man viel zu leicht etwas daraus klauen könnte. Aber das Knistern stammt definitiv aus dieser Tasche. Eine dunkle Ahnung baut sich in mir auf, aber ich dränge sie zurück. Bis mir plötzlich einfällt, was Devin zu William gesagt hat, bevor wir den Zusammenstoß hatten.

Wenn die unsere Taschen durchsuchen, bin ich im Arsch.

Was hat sein Freund ihm darauf geantwortet? Hat er überhaupt etwas dazu gesagt? Ich kann mich nicht erinnern. Dafür aber erinnere ich mich sehr gut an Devins Hand am Reißverschluss meines Rucksacks.

Mein Herz fängt wie wild an zu pochen, obwohl das bestimmt Blödsinn ist. Ich schüttle über mich selbst den Kopf – dieser Gedanke ist doch paranoid. Ich habe einfach nur Vorurteile. Vorurteile gegenüber Typen, die so reich sind, dass sie von einem Chauffeur rumkutschiert werden. Keiner von ihnen würde irgendwas Illegales in meinem Rucksack verstecken. Das hätten sie gar nicht nötig.

Und wenn doch?

Ich taste über die Tasche, und es raschelt erneut. Sofort ziehe ich den Reißverschluss auf, fahre mit der Hand hinein und hole einen Briefumschlag ans Licht, um den ein Gummiband gespannt wurde.

Diesen Umschlag habe ich noch nie gesehen. Er ist leicht, und als ich mit den Fingern draufdrücke, kann ich kleine runde Dinger darin ertasten. Es steht nichts drauf. Keine Adresse, kein Name, gar nichts.

Nein. Bitte, nein.

Nervös kaue ich auf der Innenseite meiner Wange, als ich das Gummiband abstreife. Mit einem Seitenblick kontrolliere ich, dass mich niemand dabei beobachtet. Den Umschlag halte ich so eng an meinen Bauch gepresst, dass hoffentlich niemand sehen kann, was ich da tue. Vorsichtig ziehe ich die Papierlasche auf und hole das erste Mal wieder Luft.

Okay. Das ist … nicht okay.

Es sind lose Tabletten. Im ersten Augenblick bin ich erleichtert. Das sieht nach ganz normalen Medikamenten aus. Einige sind in der Mitte durchgebrochen, aber die meisten sind unbeschädigt.

Doch dann überlege ich, wie unlogisch das ist. Wieso sollte jemand Medikamente in meinem Rucksack verstecken? Das ergibt keinen Sinn. Das sind bestimmt mehr als hundert kleine orangefarbene Pillen, auf deren Vorderseite die Zahl 20 eingeprägt ist. Ich habe solche Tabletten noch nie gesehen, aber ich habe auch keine Ahnung davon. Was ich allerdings habe, ist ein Problem.

Mein Atem geht hektisch. Ich versuche, möglichst kontrolliert ein- und auszuatmen, um einen klaren Kopf zu bewahren. Als ich mich umschaue, ist jeder auf dieser Fähre mit sich selbst beschäftigt. Ich kann Kendra, Devin und William nicht entdecken. Es kann auch nicht mehr lange dauern, bis wir anlegen. Mir bleiben vielleicht noch zwei Minuten, um dieses Zeug loszuwerden. Denn dass ich es loswerden muss, steht außer Frage. Wenn mich jemand damit erwischt, ist mein Stipendium garantiert Geschichte.

Diese Arschlöcher!

Dieser Devin hat mir allen Ernstes irgendwelche Drogen untergeschoben. Das ist wirklich das Allerletzte!

Aber ich kann mir nicht erlauben, jetzt durchzudrehen. Ich zwinge mich dazu, eine gelassene Miene aufzusetzen, auch wenn es in mir drin ganz anders aussieht. Unter mir zieht das Wasser schwarz vorbei. Mit zusammengebissenen Zähnen falte ich den Umschlag zu einem dicken Päckchen zusammen und spanne das Gummiband wieder darum.

Die Fähre wird bereits langsamer. Sie dreht sich gegen die Strömung, bewegt sich nun fast parallel zur Anlegestelle. Meine Hand mit dem Päckchen schiebe ich unauffällig durch das Geländer. Und dann überlege ich nicht lange und lasse los. Es ist so leicht und der Motor der Fähre so laut, dass ich nicht höre, wie es auf dem Wasser auftrifft. Als ich mich über die Reling beuge und nachsehe, blitzt nur für wenige Sekunden das helle Papier auf, bevor es in der Fahrrinne verschwindet.

Ich hoffe, dass ich mit diesem Gift nicht alle Fische in der Umgebung umbringe! Und vor allem hoffe ich, dass mir dieser William und sein Freund Devin so schnell nicht wieder über den Weg laufen.

5. Kapitel

Bitte halten Sie die Zusage für das Studentenwohnheim bereit, um den Ablauf zu beschleunigen.

Dieser Hinweis wurde direkt vor dem Eingang aufgestellt. Allerdings geht es nicht schnell. Im Gegenteil. Ich stehe hier schon seit einer halben Stunde an und muss mich nun entscheiden: Entweder kümmere ich mich um mein Zimmer oder ich höre mir die Begrüßung der College-Präsidentin an. Um es kurz zu machen: Ich werde die Rede verpassen.

In der Wartezeit habe ich meinem Dad geschrieben, dass ich gut angekommen bin, und ihm natürlich nichts davon erzählt, was passiert ist. Dad würde sich nur unnötig Sorgen machen. Aber er hat die Nachricht noch nicht gelesen, vermutlich weil er noch in Alpha 7 bei den Triebwerkstests dabei ist. Ich weiß, dass die für heute anstehen, weil sie schon seit Tagen an diesem Kampfjet arbeiten. Ich werde einfach später versuchen, ihn anzurufen.

Die Gesichtserkennung funktioniert nicht mehr durch den verdammten Riss in meinem Display, deshalb muss ich erneut den Zahlencode eingeben. Ich scrolle mich durch den Woodford-Ordner, den ich angelegt habe, und berühre die Datei mit dem Namen «Saltonstall».

Mein Akku hat noch zweiundvierzig Prozent. Die PDF lädt, und sobald sie vollständig runtergeladen ist, schalte ich das Display vorsorglich aus. Als ich dann endlich an der Reihe bin und das Sekretariat betrete, sitzen hinter einer langen Theke nur zwei Leute, die sich um die Neuankömmlinge kümmern. Ein Mann mit Dreadlocks und Lesebrille winkt mich zu sich, schaut dabei aber nicht einmal auf. Den Falten nach zu urteilen ist er mindestens sechzig, und er trägt den mit Abstand niedlichsten Pullover, den ich je gesehen habe. Braun mit lauter orangefarbenen Minikürbissen, deren grüne Blätter wie Segelohren von der Wolle abstehen.

«Name?»

«Eden Collins.»

«Ich hoffe, Sie haben die App schon runtergeladen.»

Die App von der Uni. «Ja, hab ich.»

«Also, dann legen wir mal los: Änderungen im Kursplan geben die Dozenten online ein. Wenn sie es nicht wieder mal vergessen. Damit habe ich nichts zu tun. Ihre Fragen richten Sie deshalb immer an den jeweiligen Dozenten und nicht an mich. Klappt am besten per Mail. Alle Adressen sind in der App. Auch eine Karte des Campus, damit Sie sich zurechtfinden.»

«Okay.» Ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt etwas zur Bestätigung sage. Der Mann redet einfach immer weiter, während er einen Packen Papier durchblättert, bis er offenbar zur richtigen Stelle kommt und mit einem Stift etwas darauf notiert.

«Wir haben auf dem Gelände eine Campus-Police, die für die Sicherheit zuständig ist. Sollte Ihnen also mal jemand auf den Fuß latschen, sprechen Sie mit der, bloß nicht mit mir.»

Ich nicke, aber nicht eine Sekunde denke ich daran, der Campus-Police von dem Vorfall mit den Tabletten zu erzählen. Ich habe keine Beweise, und ehrlich gesagt will ich damit auch nichts zu tun haben. Es ist alles gut ausgegangen, und jetzt möchte ich das nur noch vergessen.

Der Mann wartet meine Reaktion ohnehin nicht ab, sondern greift nach einem Karteikasten und zieht eine Karte heraus. «Der Studentenausweis funktioniert als Schlüsselkarte für alle Räume, die für euch Studenten vorgesehen sind. Sollte er zumindest. Wenn da was nicht klappt, dürfen Sie zu mir kommen. Oder zu jemand anderem hier.» Er deutet mit dem Kinn in Richtung seiner Kollegin, und es ist ihm deutlich anzumerken, dass es ihm lieber wäre, wenn ich sie wähle. «Er gilt auch als Ausweis für beide Bibliotheken. Alle Angehörigen von Woodford können mit der Fähre kostenlos übersetzen, wenn sie den Campus verlassen. Auf der Rückseite befindet sich dafür ein Code.» Er hält die dunkelblaue Karte in der Größe eines Führerscheins in die Höhe. «Wohnen Sie extern?»

Ich bin noch dabei, alles zu verarbeiten, was er gerade aufgezählt hat, und schüttele etwas zu spät den Kopf. «Ich habe eine Zusage fürs Wohnheim.»

«Und ich brenne darauf, die zu sehen.» Mit der Karte klopft er ungeduldig auf die Ablage.

«Ja, sofort.» Schnell aktiviere ich mein Handy und klicke die PDF-Datei mit meiner Zusage an. Das Bild baut sich auf. Ich hebe schon den Arm, um ihm das Handy über die Theke zu reichen, da wird in der nächsten Sekunde alles schwarz. Das ist jetzt nicht wahr! Mehrmals hintereinander tippe ich auf den Bildschirm und drücke dann auf den Knopf an der Seite, aber nichts passiert.

Dieser Akku ist ein Verräter.

«Ms. …»

«Collins», erinnere ich ihn mit einem leicht verzweifelten Unterton. «Verzeihung, ich hatte es vorbereitet, aber mein Akku …»

Er seufzt. «Wir haben seit drei Tagen ein Problem mit der EDV. Ich kann auf die Daten der Zulassungsabteilung nicht zugreifen. Auf keine einzige. Das ist eine mittlere Katastrophe. Ich arbeite mich per Hand durch ein Personenregister, das eigentlich in diesem Computer steckt. Außer Ihnen warten noch eine Menge anderer Leute, die ich abarbeiten muss, bevor ich eine Pause machen kann.»

«Ich …»

«Ich konnte seit zwei Stunden nicht aufs Klo und habe eine Kanne abgestandenen Kaffee intus, der so schwarz gewesen ist, als würde der gesamte Schlamm des Merrimack Rivers darin schwimmen. Das Einzige, was ich will, ist alle Leute unterbringen und vermeiden, dass einer von denen, die Anrecht auf ein Zimmer haben, heute Nacht im Park schlafen muss. Also haben Sie Ihre verdammte Bestätigung?»

Wow. Ich bin mir sicher, das hat er nicht das erste Mal aufgezählt. Diese Rede muss er schon den ganzen Tag über wiederholt haben.

«Tut mir wirklich leid. Einen Moment, Mr. …» Mein Blick huscht über das Schild, das vor ihm auf der Theke steht. Ms. Michelle Genelius? Ups, das ist definitiv nicht sein Namensschild. «Ich habe einen Ausdruck, eine Sekunde.» Ich bücke mich, reiße meinen Rucksack auf und hole die Zettel heraus, die durch die Nässe wie ein Klumpen zusammenpappen. Ich kann hören, wie mir das Blut in den Ohren rauscht, während ich versuche, die einzelnen Blätter zu lösen. Als ich es endlich geschafft habe, lege ich ihm das nasse, halb zerrissene, durchscheinende Blatt Papier mit Schuhabdruck vorsichtig auf die Ablage, und ich hoffe, etwas ist darauf noch leserlich.

Er betrachtet das Blatt und sieht mir dann das erste Mal direkt in die Augen. Das Band, das an seinem Brillenbügel befestigt ist, baumelt an seinen Wangen herunter. Er ist schlecht rasiert, über seiner Oberlippe haben sich Falten der Frustration eingegraben. Trotz des Pullis wirkt er einfach nur einschüchternd. «Ist das Ihr Ernst?», fragt er.

«Ich hatte einen kleinen … Zwischenfall an der Anlegestelle», stammle ich. «Und es hat geregnet.» Ich hole tief Luft, um mich zu sammeln. «Mich hat jemand umgerannt, der … der … Das interessiert Sie vermutlich nicht wirklich. Sie haben ein EDV-Problem, und ich hatte leider ein Feuchtigkeitsproblem. Es tut mir total leid, wenn Sie wegen mir jetzt Extraarbeit haben, aber es ist auch nicht mein bester Tag.» Ich deute auf die Stelle, an der meine Zimmerwahl angegeben war. «Wenn ich kurz an einen Ihrer Rechner darf, kann ich das Bestätigungsschreiben noch einmal ausdrucken. Ich beeile mich auch, versprochen. Ich hatte Saltonstall als erste Wahl angegeben, und das wurde auch bestätigt.»

«Wie gesagt, das ist zurzeit nicht möglich. Irgendjemand hat sich in das verfluchte System gehackt. Ich werde den Teufel tun und jemanden an den Computer lassen. Außerdem haben mir das neunzig Prozent aller Leute gesagt, die vor Ihnen da waren. Saltonstall ist das modernste Wohnheim.»

Ich glaube nicht, dass er sich darauf einlassen wird, zu warten, bis ich meinen Uralt-Laptop hochgefahren habe. So, wie er klingt, wird er mir wahrscheinlich auch keinen Zugang zum WLAN geben. «Aber ich habe wirklich eine Bestätigung für Saltonstall bekommen. Schon vor sechs Monaten. Das Datum kann man sicher noch erkennen.»

«Auch das haben mir neunzig Prozent der Leute gesagt, die vor Ihnen da waren. Solange ich nicht auf das System zugreifen kann, muss ich die freien Zimmer in Saltonstall für die älteren Semester auf der Warteliste freihalten. Was war Ihre zweite Wahl? Eliot Place? Ich kann Ihnen ein Zimmer im Eliot Place anbieten.»

Das ist auf meinem Wahlzettel Platz drei. Ich versuche, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, spüre aber, wie mein Herzschlag sich beschleunigt. Ich hatte eine Zusage für mein Wunschwohnheim. Wenn William mich nicht angerempelt hätte …

«Eliot Place?», murmle ich zweifelnd.

«Das liegt auch auf der Ostseite», erklärt er. «Erdgeschoss, tagsüber kommt kaum Sonne rein. Die Fenster sind schlecht isoliert, Toiletten und Duschräume befinden sich auf dem Flur. Aber es wird gerade saniert, die Handwerker arbeiten morgens ab sieben. Nächstes Jahr wird alles brandneu sein. Also nur ein Jahr durchhalten, und Sie haben das perfekte Zimmer im perfekten Wohnheim.»

Das muss ein Scherz sein. Nur dass er nicht so aussieht, als mache er Witze. Sollen die Leute dort jetzt ein ganzes Jahr auf einer Baustelle leben? «Gibt es auch etwas Positives an diesem Zimmer?», frage ich in der Hoffnung, dass er das, was er gerade aufgezählt hat, relativiert.

«Es hat vier Wände.»

Das ist die Definition eines Zimmers. In meinem Magen baut sich Druck auf. Meine Hand tastet an der Außenseite meiner Jeans entlang, bis ich Larks Stein unter dem rauen Stoff spüre. Mein Auflachen klingt seltsam fremd. Als würde ich nur lachen, damit andere mitlachen und ich so die Bestätigung bekomme, dass ich nichts falsch gemacht habe. Ich fühle mich hier so falsch. Ich bin hier falsch.

Du siehst gar nicht so aus wie eine von denen.

Ich frage mich, ob das jemandem wie William oder Devin auch passieren würde, und verdränge diesen frustrierenden Gedanken gleich wieder. Bitte. Ich muss ein vernünftiges Zimmer bekommen, schließlich werde ich die nächsten vier Jahre hier verbringen. In ein Zimmer auf dem Festland zu ziehen, kann ich mir nicht leisten, geschweige denn, mir eine ganze Wohnung zu mieten.

Ihm fällt noch etwas ein. «Das Beste habe ich Ihnen noch gar nicht gesagt. Es ist ein Zweibettzimmer. Sie werden also immer nette Gesellschaft haben.»

Ich hole Luft. Mehrmals. Ich will unbedingt Anschluss finden, ich will dazugehören, aber ich habe mir das alles anders vorgestellt. «Ich schlafe sehr schlecht. Schon seit … seit elf Monaten.» Genau genommen wache ich regelmäßig schweißgebadet auf, weil ich in meinen Albträumen versuche, Lark noch rechtzeitig zu erreichen, aber ich komme zu spät. Immer komme ich zu spät.

«Sehe ich so aus, als würden mich Ihre Schlafgewohnheiten interessieren?»