Darklander: Dunkles Verlangen - Andra Leabhar - E-Book

Darklander: Dunkles Verlangen E-Book

Andra Leabhar

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Beschreibung

Welches Geheimnis hütet der attraktive Lord MacConnell auf Ballinmore Castle? Wieso ist Lady Carlotta allen gegenüber so abweisend? Und warum kann Maryan den Lord nicht einfach vergessen? Während sie in alten Dokumenten stöbert, stößt Maryan auf schaurige Details in der Historie des MacConnell-Clans. Gerät sie dadurch tatsächlich in so große Gefahr, wie der Lord behauptet?

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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Danksagung

 

 

 

 

 

 

DARKLANDER: Dunkles Verlangen

Band 1

 

 

 

Andra Leabhar

 

DARKLANDER: Dunkles Verlangen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Herstellung: MACHWERKE Verlag, Trier

C/O Block Services

Stuttgarter Straße 106

70736 Fellbach

 

1. Auflage 2019

Buchsatz: Machwerke Verlag

Covergestaltung: TRAUMSTOFF Buchdesign

Lektorat/Korrektorat: Stephanie Kempin

 

ISBN 978-3-947361-15-1

 

[email protected]

www.machwerke-verlag.de

 

Alle Rechte vorbehalten.

Sämtliche Inhalte, Fotos und Grafiken dieses Machwerkes sind urheberrechtlich geschützt. Sie dürfen ohne vorherige Genehmigung weder ganz noch auszugsweise kopiert, verändert, vervielfältigt oder veröffentlicht werden.

*

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

DISCLAIMER

 

Die erotische Darklander:Vampirreihe ist nur für Leser*innen über 18 Jahren gedacht und enthält explizite, möglicherweise verstörende Sprache und Szenen, ebenso wie Darstellungen von ungeschütztem Geschlechtsverkehr. Sollten Sie Probleme damit haben, sehen Sie bitte vom Lesen dieses MACHWERKES ab. Vom Nachahmen der im Buch aufgeführten Szenen rät der Verlag/die Autorin dringend ab. Für etwaige Schäden, die durch Nachahmungen entstehen könnten, übernimmt der Verlag/die Autorin keinerlei Verantwortung. Diese obliegt Ihnen ganz alleine. Gehen Sie bitte liebevoll und verantwortungsbewusst mit Ihren Mitmenschen und sich selbst um.

 

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Danke!

Kapitel 1

 

Schottland zeigte sich von seiner besten Seite. Ein böiger Wind trieb mir dunstige Luft ins Gesicht und längst war meine Kleidung klamm und kalt geworden. Solange ich nicht stehen blieb, fror ich nicht. Aber spätestens, wenn in gut einer halben Stunde die Sonne im Meer versinken würde und es dunkel wurde, würde ich mein Cape aus dem Rucksack holen müssen. Zum x-ten Mal verfluchte ich meine Nachlässigkeit, die Regenhose zu Hause gelassen zu haben. Auf ein paar Gramm mehr oder weniger in meinem Wandergepäck wäre es nicht angekommen. Und was das Modische betraf, war mir das auf meiner Reise egal. Die Schafe oder die zotteligen Highland-Rinder auf Skye interessierten sich kein bisschen für eine wandernde Touristin und hoben nur vereinzelt die hörnerbesetzten Köpfe, um dann sofort wieder weiterzugrasen. Seit Stunden war mir niemand begegnet. Meine Plastikhose hätte also niemanden beeindruckt, aber sie hätte mich wenigstens trocken gehalten. Ich seufzte und stapfte weiter. Es waren noch einige Meilen bis zur nächsten größeren Ortschaft. In Kilmaluag gab es ein schickes Hotel mit Preisen, die meine Reisekasse arg strapazieren würden. Weniger weit entfernt gab es ein kostengünstiges B&B in Duneany, das ich jetzt ansteuerte. Die Internetseite des Buttercup B&Bs anzusehen, hatte ich mir bislang gespart. Ich war mit meinen vorab herausgesuchten Strecken und Unterkünften bisher immer gut gefahren. Warum sollte es heute also anders sein?

Es hatte angefangen zu regnen. Der Wind wehte kräftig und ließ die Regentropfen wie Nadelstiche auf meine Haut prasseln. Ich hielt an einem Gatter an, durch das mein Weg weiterführte. Langsam atmete ich würzige Luft ein und genoss den Moment. Ich überlegte, ob ich trotz des Regens ein paar Fotos machen sollte, ließ es dann aber bleiben. Man würde ohnehin kaum etwas erkennen können. Ungemütliches Wetter hin oder her, die raue Schönheit der Natur war berauschend. Zur Meerseite hin fiel die Küste steil ab, weiter unten brandete das Meer gegen die Felsen, über allem tanzten Krähen. Den Vögeln schien das Wetter gerade recht zu sein. Sie ließen sich in den Himmel hinauftreiben und schossen dann wie Pfeile entlang des Cliffs zurück gen Meer. Dabei drehten sie kunstvolle Pirouetten. Ihr Krächzen übertönte selbst das Rauschen des Windes. Landeinwärts waren die sanften Hügel mit saftigem Grün bedeckt und wurden, ebenso wie die Umrisse eines Schlosses, vom Regen weich gezeichnet. Alles verschmolz zu einem organischen Ganzen, von dem auch ich längst ein Teil geworden war. Hier fühlte ich mich trotz aller Widrigkeiten wohl. Und es war mit ein Grund, warum ich Schottland liebte und immer wieder bereiste. Anders als zu Hause in der Zivilisation spürte ich hier, alleine in den Highlands, nicht bloß eine tiefe Verbundenheit zur Natur, sondern auch eine befriedigende Ruhe. Genau das Richtige, um den Akku wieder aufzuladen. Dafür war ich hergekommen. Allerdings wäre es mir lieber gewesen, ich wäre trocken geblieben. Ich nahm meinen Rucksack ab, kramte das Regencape hervor und zog es über. Es flatterte im Wind so sehr, dass ich es mir unter die Arme klemmen musste, damit es nicht fortflog.

Ich hörte den Mann nicht kommen, wohl aber das ferne Donnergrollen, das mir sagte, ich solle mich beeilen, wenn ich nicht als triefnasse Touristin den Teppich des B&Bs ruinieren wollte. Als ich aufsah, stand er einfach vor mir. Entweder hatte ich ihn überhört oder er hatte sich absichtlich angeschlichen. Mit einem überraschten Schrei sprang ich zurück und vergaß für einen Moment das Wetter. Das Cape klatschte mir prompt ins Gesicht. Ich hatte Mühe, es von meinem Kopf zu ziehen. Ich hörte den Mann lachen und wäre es nicht ein angenehmes Lachen gewesen, hätte ich mit einem gepfefferten Kommentar gekontert.

Mit seiner Hilfe schaffte ich es schließlich, das wild gewordene Cape zu bändigen.

„Das nächste Mal sollten Sie dieses Untier besser zu Hause lassen. Der Wind hier am Cliff ist tückisch. Und der Regen, nun ja, der Regen ist einfach nur Wasser.“ Sein Lächeln war so entzückend, dass ich es nicht vertreiben wollte. Ich versuchte, ebenso entzückend zurückzulächeln, und musterte ihn.

Vor mir stand ein waschechter Schotte im Kilt, wie man ihn von Filmen oder typischen Bildern von Folklore-Festen kannte. Sein weißes Hemd klebte an seinem Körper und ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er durchtrainiert und muskulös war. Sehr zu meiner Verwunderung stand er barfuß vor mir. Als ich aufsah, blickte ich ihm direkt in die Augen. Ich fühlte mich ertappt und sah demonstrativ weg.

„Sie lieben wohl die Abgeschiedenheit“, sagte er. „Es verirren sich selten Touristen in diese abgelegene Gegend. Erst recht keine allein reisenden Frauen. Die meisten bleiben auf den offiziellen Routen.“

Sollte ich jetzt Angst haben? Hätte ein Mann in einer fremden Stadt so etwas zu mir gesagt, hätte ich schleunigst das Weite gesucht.

Hier aber fühlte ich mich genauso zu Hause, wie der beeindruckende Schotte vor mir.

„Ich mag es, alleine zu sein“, antwortete ich.

Seine dunklen Augen musterten mich kurz und hefteten sich dann wieder an die meinen. Seine angenehme Stimme hatte einen schweren schottischen Einschlag. Ich liebte diesen Akzent, seitdem ich ihn zum ersten Mal gehört hatte. Vor Ewigkeiten im Kino, in einer Originalversion von Braveheart. Ich wurde mir plötzlich bewusst, dass ich den Mann immer noch anstarrte. Nur mit Mühe konnte ich meinen Kopf drehen und stattdessen die Vögel beobachten. Sie zogen angriffslustig über unsere Köpfe hinweg. Ihr lautes Krächzen klang bedrohlich und ging mir durch Mark und Bein. Automatisch zog ich die Schultern hoch.

„Sie brauchen keine Angst vor den Tieren zu haben.“ Die schwarzen Augen des Schotten glänzten selbst im schwachen Grau des späten Nachmittages wie Diamanten, was sie magisch und geheimnisvoll erscheinen ließ. Mir gefiel das Lächeln darin, aber ich schämte mich ein wenig, dass ich ihn schon wieder anstarrte. Glücklicherweise schien es ihn nicht zu stören.

„Halten Sie mich bitte nicht für aufdringlich“, meinte er höflich. „Hätten Sie vielleicht Lust, mir heute Abend beim Essen Gesellschaft zu leisten? Sie könnten auch in meinem Schloss nächtigen.“

Ich machte wohl ein ziemlich verdutztes Gesicht, denn sofort fügte er entschuldigend hinzu: „Natürlich bloß, wenn Sie es wünschen. Ich möchte Sie zu nichts überreden, aber Sie sehen erschöpft aus und in nicht einmal einer Stunde wird es dunkel. Heute Abend wird heftiger Regen einsetzen und der Buttercup B&B in Duneany hat vor einigen Tagen wegen eines Wasserschadens schließen müssen. Sie müssten also bis Kilmaluag weitergehen.“ Er zuckte mit den Schultern und lächelte wieder. Weiße Zähne blitzten zwischen seinen vollen Lippen hervor.

Ich zögerte. Es gehörte sich nicht, sich von einem Wildfremden einladen zu lassen. Andererseits hatte ich ein gutes Gefühl. Sein Angebot wirkte herzlich und offen. Er schien mir nicht wie ein Mann, der auf eine Gelegenheit aus war, eine Frau in sein Bett zu locken.

Und wenn doch? Dann passiert, was passieren soll. Oder auch nicht. Hat er eben echt „bei mir nächtigen“ gesagt?

Wortgewandt war er ja. Wieso zögerte ich dennoch? Wenn das B&B tatsächlich geschlossen hatte, würde ich bis nach Kilmaluag laufen müssen. Dort wäre das Kings and Queens Hotel, das beim Bewertungsportal im Internet zwar als „Best Stay“ ausgezeichnet war, dessen Zimmerpreise jedoch mein restliches Reisebudget überschreiten würden. Dabei hatte ich mir extra für den letzten Tag vor dem Abflug noch etwas Besonderes ausgesucht und ich war nicht bereit, jetzt das Geld dafür bei einer ungeplanten, extravaganten Übernachtung zu verprassen. Eher schlief ich irgendwo in einer Scheune im Stroh.

„Ich könnte meinem Butler auftragen, Ihnen etwas Schmackhaftes zuzubereiten. Angeblich soll sein Stew außerordentlich delikat sein.“

„Haben Sie ihn denn noch nicht probiert?“, rutschte es mir heraus. Immerhin hatte ich meine Sprache wiedergefunden.

„Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich ihn tatsächlich noch nicht gekostet habe. Ich mag kein Fleisch.“ Das Lächeln erreichte dieses Mal nicht seine Augen und er drehte sich leicht von mir weg. Eine kleine, unbedeutende Geste, die mir jedoch seltsam vorkam.

Ich überlegte kurz. Es könnte ja durchaus ein netter Abend werden. Und auf einen Marsch im Dunkeln, noch dazu bei Regen, hatte ich keine Lust. Ich hatte seit Stunden nichts mehr gegessen, und Durst hatte ich auch. Wäre es noch früher am Tag gewesen, hätte ich mich möglicherweise anders entschieden. Aber ich wollte endlich aus den dreckigen Reiseklamotten raus. Die Aussicht auf ein kostenloses Dach über dem Kopf, vielleicht sogar eine heiße Dusche und der schmackhafte Stew eines mir unbekannten Butlers schienen mir plötzlich ein sehr verlockendes Angebot. Trotzdem war ich unentschlossen.

„Ich würde doch lieber erst im Buttercup B&B anrufen und mich vergewissern, dass sie geschlossen haben. Möglicherweise haben sie den Wasserschaden ja schneller behoben als erwartet. Ich möchte Ihnen ja nicht unnötig zur Last fallen.“

Vielleicht war es bloß eine Finte. Andererseits … er sieht nicht aus, als würde er lügen.

„Natürlich.“ Er hob die Hand und deutete gen Norden. „Wenn Sie sich entscheiden sollten, mein Angebot anzunehmen, dann müssen Sie lediglich noch einen halben Kilometer den Weg entlanggehen. An der nächsten Abzweigung müssen Sie dann links hinauf zu Ballinmore Castle. Sie können es praktisch nicht verfehlen. Man sieht es bereits von hier aus auf der nächsten Bergkuppe.“

„Stimmt, ich habe es gesehen, als es weniger stark geregnet hat. Ballinmore Castle, das klingt sehr malerisch.“

„Das ist es. Es ist zwar ein wenig in die Jahre gekommen, aber immer noch beeindruckend.“ Er hielt mir die Hand hin.

Ich ergriff sie und erwartete, dass wir nun Hände schüttelten. Stattdessen legte er meine Finger behutsam in seine Linke, hob sie und deutete einen Handkuss an. Er sah nicht gleich wieder auf, sondern verharrte ein paar Sekunden über unseren Händen. Mich faszinierte diese altmodische Geste derart, dass ich wie hypnotisiert auf seinen dunklen Haarschopf sah und fast entzückt geseufzt hätte. Als er sich aufrichtete, ließ er meine Finger lasziv aus seiner Hand gleiten. Die sanften Berührungen unserer Fingerkuppen waren kleine Gefühlssensationen, und hätte es tatsächlich ein paar Funken gegeben, hätte ich mich nicht darüber gewundert.

Wir hielten Blickkontakt. Ich konnte nicht anders, ich musste ihn ansehen und studierte die feinen Linien in seinem makellosen Gesicht. Er war eine Spur zu blass, aber das mochte am schottischen Wetter liegen. Schwarze Wimpern umrahmten die tiefgründigen Augen. Die hohen Wangenknochen wirkten weder aufdringlich noch knochig. Sie und das kantige Kinn mit einem angedeuteten Grübchen gaben ihm genau das richtige Maß aristokratischen Ausdruckes. Ich mochte auch die Art, wie er sich rasiert hatte. Lange Koteletten und eine leichte Kontur um den hübschen Mund. Das brachte seine vollen Lippen bestens zur Geltung.

Er ließ meine erneute Musterung wortlos über sich ergehen. Ich seine auch. Sie war mir nicht unangenehm. Im Gegenteil. Ich spürte seine bewundernden Blicke auf mir, spürte sie prickelnd über meinen Hals hinabgleiten und zwischen meinen Brüsten verharren. Und ich erwischte mich dabei, mir zu wünschen, es mögen nicht seine Augen, sondern vielmehr seine feinen Hände sein, die mich berührten. Das Verlangen wuchs in mir, ohne dass ich es wollte. Ebenso unwillkürlich hoffte ich auf baldige Erlösung. Seine Worte waren vielversprechend. „Ich erwarte Sie“, sagte er, verneigte sich leicht und trat einen Schritt zurück. Es war, als hätte mir jemand die Sonne genommen. Sofort fröstelte ich und rieb mir über die Oberarme. Dabei machte sich das Cape selbstständig und versperrte mir die Sicht. Es dauerte, bis ich es gebändigt hatte. „Wenn Sie warten, rufe ich gleich an“, sagte ich, doch als ich wieder freie Sicht hatte, stand ich alleine auf der Wiese. Verwirrt sah ich mich um. Kein Mensch weit und breit. Auch kein Baum, hinter dem sich jemand verstecken konnte. Ich lehnte mich über die Mauer, doch auch dort war niemand. Wie hatte der Mann so schnell verschwinden können?

„Ich weiß noch nicht einmal Ihren Namen“, sagte ich dem kalten Wind und mir war, als trüge er mir ein charmantes Lachen als Antwort heran.

Kapitel 2

 

Im Buttercup bestätigte man mir, dass zurzeit keine Gäste aufgenommen wurden und ich leider bis nach Kilmaluag weitergehen müsse. Ich entschied mich gegen das teure Kings and Queens Hotel und für Ballinmore Castle, das aus der Nähe betrachtet jedoch mehr Ruine denn Schloss war. Es thronte auf einem Hügel, dessen Küste zur Meerseite hin steil abfiel. Auf einer umzäunten Koppel standen Pferde und ein paar Schafe. Eine Stute hatte ein Fohlen, das neugierig zu mir herüber trabte, dann aber mit einem Ruck abdrehte und wieder zu seiner Mutter zurück galoppierte. Ich stellte mich unter einen knorrigen Baum, der wenigstens etwas Regenschutz bot, und sah mich um. Das Nebengebäude schloss sich zur Landseite an Ballinmore Castle an. Es war, wie auch das Schloss, in keinem guten Zustand, jedoch schien das Dach erst kürzlich neu eingedeckt worden zu sein und der Vorplatz war sauber. Ein Traktor und andere Gerätschaften standen ordentlich in einem offenen Verschlag. Alles wirkte friedlich und verlassen. Lediglich ein gesatteltes Pferd stand angebunden neben dem Eingangstor zum Stall. Es schnaubte laut und warf ungeduldig den Kopf nach oben. „Ich komme ja schon, Holly“, rief eine Stimme aus dem Stall und Sekunden später erschien ein Mann auf dem Platz. Er trug einen Eimer und eine Kiste, in der, wie ich vermutete, Putzzeug für das Pferd war. Da er mich nicht bemerkte, konnte ich ihm zusehen, wie er Eimer und Kiste abstellte und dem Tier einen Klaps auf die Flanke gab, damit es zur Seite ging.

„Jetzt stell dich nicht so an, Holly“, sagte er in breitem schottischen Akzent. „Es ist doch immer das Gleiche. Das müsstest du doch mittlerweile begriffen haben, oder? Erst das Putzen, dann der Hafer.“

Der Mann nahm dem Pferd den Sattel ab, verschwand damit im Stall und kehrte kurz darauf wieder zurück. Derweilen hatte sich das schlaue Pferd über den Eimer hergemacht.

„Lässt du das sein“, schimpfte der Mann, hob den Kopf des Tieres aus dem Eimer und stellte den Hafer weiter weg. „Du verfressenes Biest, du!“, lachte er und gab Holly einen Nasenstüber. Dafür knabberte sie ihm freundschaftlich in den Haaren und zerrupfte ihm die Frisur. Lachend band er sich die blonden Haare neu zum Zopf und begann mit seiner Arbeit.

Ich konnte nicht ewig hier stehen bleiben und trat aus meiner Deckung hervor. Der Weg führte auf einer Anhöhe am Stallvorplatz vorbei, sodass der Mann mich unweigerlich sehen musste. Als sein Kopf nach oben ruckte, winkte ich zu ihm hinüber. Sein Blick war alles andere als freundlich.

„Hier gibt es nichts zu sehen“, rief er entrüstet. „Das hier ist keine Touristenattraktion. Das hier ist Privatbesitz.“ Ich änderte meinen Kurs und steuerte auf ihn zu. „Hallo“, rief ich und winkte noch einmal.

Er warf sein Werkzeug beiseite und kam mit großen Schritten auf mich zu. „Haben Sie mich nicht gehört? Ich sagte, das hier ist Privatbesitz.“

Sein Verhalten hätte mich eingeschüchtert, hätte ich nicht einen guten Grund gehabt, hier zu sein.

„Guten Abend“, sagte ich betont freundlich. „Entschuldigung, dass ich hier einfach so vorbeikomme, aber ich wurde dazu eingeladen. Vermutlich von Ihrem Arbeitgeber.“

Sein Blick wurde finster.

Ich wurde misstrauisch und hielt an. „Möglicherweise war es der Besitzer des Schlosses?“, fragte ich unsicher. „In dem Schloss wohnt doch jemand, oder?“

Vielleicht war ich ja doch auf einen üblen Scherz reingefallen? Vielleicht hatte mich jemand hierher locken wollen, um dem Mann vor mir eins auszuwischen? Er sah zornig aus und die Muskeln seiner vor der Brust verschränkten Arme ließen keinen Zweifel daran, dass er mich nicht einfach so weitergehen lassen würde.

„Sind Sie vielleicht der Inhaber von diesem wunderschönen Schloss?“ Möglicherweise konnte ich ihn mit meiner Schmeichelei über die Ruine besänftigen.

Verdammt noch mal, dann war das womöglich doch nur ein Möchtegern-Braveheart? Ein verkleideter Typ, der sich einen Scherz erlaubt hat und eine kleine Touristin ins Bockshorn jagen wollte. Prima. Und ich bin auch noch darauf reingefallen. Wie konnte ich bloß auf die Idee kommen, so jemanden ernst zu nehmen? Keiner rennt doch heutzutage freiwillig im Kilt und noch dazu barfuß herum.

Der Gedanke an den Butler mit dem leckeren Stew, an eine warme Dusche und ein trockenes Plätzchen zum Schlafen hatte mich blind für das Offensichtliche gemacht. Als mein Gegenüber stumm blieb und mich weiterhin böse anfunkelte, gab ich auf und akzeptierte meine Niederlage. „Okay, wenn ich Ihnen jetzt sage, dass mir vorhin ein Schotte begegnet ist, also, ein richtiger Schotte in Kilt und Hemd und allem, außer Schuhen, dann würden Sie mich vermutlich zu Stew verarbeiten, oder?“

Frechheit siegt. Wenn schon Untergang, dann mit wehenden Fahnen.

„Und eben jener Mann hat mich für die Nacht hierher eingeladen und nur deshalb bin ich hier. Nicht, um mich auf Privatbesitz herumzutreiben. Eigentlich wollte ich nach Duneany, in den B&B, aber der hat leider geschlossen. Ich habe extra dort angerufen, um mich zu vergewissern, dass der Schotte mich nicht anlügt. Und ...“

„MacConnell“, blaffte der Mann. Seine Miene war zwar mittlerweile nicht mehr ganz so grimmig, jedoch immer noch weit entfernt von gastfreundlich.

„Bitte?“, fragte ich.

„MacConnell. So heißt der Besitzer von Ballinmore Castle. Der Schotte in Kilt und Hemd, der Sie angeblich eingeladen hat.“

„Ich lüge nicht! Er hat mich eingeladen. Vorausgesetzt, wir reden von dem gleichen Schotten.“ Meine Hoffnung wuchs und ich war erleichtert. Also doch kein Scherz? „Kennen Sie ihn? Wohnt er tatsächlich hier?“

„Ich arbeite hier“, sagte mein Gegenüber lediglich.

Ich seufzte. „Gut. Wenn das jetzt geklärt ist, darf ich dann weitergehen? Möglicherweise wartet Herr MacConnell auf mich.“

„Lord MacConnell. Wohl kaum.“

Seine Sturheit machte mich wütend. „Wohl doch“, blaffte ich zurück.

„Er hat noch nie jemanden eingeladen.“

„Vielleicht, weil Sie ihm mit ihrem gastfreundlichen Empfang alle Besucher vergraulen?“, konterte ich frech und starrte ihn genauso böse an wie er mich. Er antwortete nicht, sah aber als Erster weg.

Ha! Eins zu null für mich.

Mein Triumph fühlte sich gut an. Leider währte der Moment nur kurz.

In den Hünen kam plötzlich Bewegung. „Sie warten gefälligst hier.“ Er deutete auf meine Füße. „Keinen weiteren Schritt! Ich gehe hinein und frage nach.“ Er würdigte mich keines weiteren Blickes und stürmte Richtung Schloss. Dabei brummte er unentwegt vor sich hin. Ich bekam bloß Fetzen gälischer Wörter mit, aber es war auch so klar, dass er kein poetisches Gedicht zum Besten gab. Er stieg die Hintertreppe hinauf – wohl der Dienstboteneingang – und knallte die Tür laut und unmissverständlich hinter sich zu. Kurz überlegte ich, ob ich ihm dennoch folgen sollte, unterließ es dann aber. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass Lord MacConnell gar nicht der Schotte war, der mich eingeladen hatte. Ich war durchaus neugierig, aber Hausfriedensbruch zu begehen lag mir fern. Also wartete ich ab. Ich drückte mein Cape fester an mich und sah den Schafen und Pferden beim Nasswerden und beim gelangweilten Herumstehen zu. Irgendwie waren wir uns gerade ziemlich ähnlich, mit dem Unterschied, dass ich nicht sattgefressen war und mein Magen protestierte. Den letzten Müsliriegel hatte ich vor Stunden aufgebraucht, der nächste Take-away war Kilometer entfernt und Gras wollte ich nicht essen. Zumindest so lange nicht, bis ich wusste, ob nicht doch noch ein Stew zum Abendessen möglich war. Es dauerte gefühlt eine Ewigkeit, bis der Stallbursche endlich wiederkam.

Seine Stimme klang zwar freundlicher, doch der grimmige Gesichtsausdruck war der gleiche. „Lord MacConnell erwartet Sie“, sagte er. „Aber nehmen Sie bloß den Vordereingang und warten Sie ab, bis Henk Ihnen die Tür aufmacht.“

„Ich nehme an, Henk ist der Butler?“

„Beeilen Sie sich, bevor er es sich anders überlegt.“

Er blieb mir die Erklärung schuldig, wen von beiden er damit meinte, und stiefelte zurück zum Stall. Ich nahm es mit Humor, schließlich erwarteten mich jetzt – hoffentlich – eine warme Stube, ein gutes Essen und nette Gesellschaft. Die Erinnerung an das Glitzern in den hübschen Augen des Schotten bereitete mir einen wohligen Schauer.

An der Eingangstür angekommen staunte ich. Sie als gewöhnliche Tür zu bezeichnen, war maßlos untertrieben. Der Eingang war ein imposantes Portal mit gut drei Meter hohen Holzflügeln. Starke Eisenbeschläge hielten sie in Position. Und auch der Türklopfer war alles andere als gewöhnlich. Zwei fein gearbeitete Fledermäuse klammerten sich an einen Stab, den ich anheben und gegen eine runde Medaille schlagen konnte. Das Geräusch, das der Klopfer von sich gab, war leise und ich überlegte schon, ob ich kräftiger klopfen sollte, als sich einer der Türflügel langsam öffnete. Dahinter stand ein alter Mann im Anzug. Dem Anschein nach hatte ich Henk vor mir. Er nickte mir höflich zu, zog die Tür ganz auf und forderte mich mit einer schwungvollen Armbewegung auf, einzutreten. Wie man es von einem Butler erwartete, steckten seine Hände in weißen Handschuhen.

„Kommen Sie bitte herein, junge Dame“, sagte er. Selbst seine Stimme klang wie die eines Butlers.

„Maryan Lecon“, stellte ich mich vor und hielt ihm die Hand hin, die er erst kurz anschaute, bevor er sie ergriff. Sein Händedruck war sanft. Ich spürte, dass es ihm unangenehm war, und gab seine Hand schnell wieder frei.

„Angenehm, Sie kennenzulernen, Miss Lecon. Aber es ist nicht nötig, mir die Hand zu geben“, sagte er und lächelte verhalten. „Ich bin Henk, der Butler. Bitte kommen Sie herein und reichen Sie mir Ihr Cape und Ihr Reisegepäck. Ich werde es sogleich in Ihr Zimmer bringen, derweilen Sie im Salon auf die Lordschaft warten.“

„Lordschaft?“ Erst ein Schotte im Kilt, dann der Stallbursche, jetzt die Lordschaft. Und ich dachte, der Adel legt heutzutage keinen Wert mehr auf dieses Brimborium.

Trotzdem musste ich mir eingestehen, dass ich es mochte. Es hatte etwas Märchenhaftes und Erhabenes und es hätte mich nicht gewundert, wenn gleich auch noch ein schwer bewaffneter Ritter aufgetaucht wäre. Bei diesem absurden Gedanken musste ich ein Kichern unterdrücken.

„Bitte. Ihr Cape und Ihr Reisegepäck“, sagte Henk und hielt mir zuvorkommend einen Arm als Kleiderständer entgegen.

Ich zog das Cape aus, unterdrückte den Impuls, es auszuschütteln, und hängte es über Henks Arm. Den Rucksack gab ich ihm in die andere Hand.

„Bitte, folgen Sie der Treppe nach oben und gehen Sie dann rechts. Die Türen zum Salon stehen offen“, sagte er. „Ich habe Ihnen den Kamin angezündet. Es wird aber noch einige Zeit brauchen, ehe es im Salon warm ist. Sobald der Stew vorbereitet ist, werde ich auch in Ihrem Schlafgemach das Kaminfeuer entfachen. Heute Nacht soll es ausgesprochen frostig werden.“

Unschlüssig stand ich in der großen Eingangshalle und zog schließlich meine nassen Schuhe aus. Henk war durch und durch Butler und schaute dezent zur Seite. Als ich zur ausladenden Treppe gehen wollte, gab er mir noch einen Hinweis.

„Lassen Sie sich Zeit, Miss Lecon. Sie dürfen sich gerne überall umschauen, jedoch sind Sie nicht befugt, Räume zu betreten, deren Türen geschlossen sind.“

„Selbstverständlich“, antwortete ich. „Ich wäre nie auf die Idee gekommen, hier herumzuschnüffeln. Natürlich werde ich mich an Ihre Anweisung halten, Herr Henk.“

„Henk. Lediglich Henk, Miss Lecon. Ohne ‚Herr‘. Der Abort befindet sich rechts vom Salon.“

„Abort?“

„Die Toilette, Miss Lecon.“

„Oh, ja. Danke.“

Er verzog den Mund zu einem angedeuteten Lächeln und ging dann mit dem tropfenden Cape und meinem Rucksack in einen angrenzenden Raum, in dem ich die Garderobe vermutete.

Erstaunlicherweise wirkte Ballinmore Castle im Innern weitaus weniger baufällig, als es von außen den Eindruck erweckte. Was aber nicht heißen musste, dass es standsicher war. Möglicherweise waren manche Gebäudeteile des Schlosses durchaus sanierungsbedürftig und es war lebensgefährlich, sie zu betreten. Langsam lief ich durch die mit dickem Teppich ausgelegte Halle und nahm mir Zeit, die vielen Gemälde an der Wand zu studieren. Die großformatigen Ölbilder in schnörkeligen, goldenen Rahmen hingen in chronologischer Reihenfolge und waren mal mehr, mal weniger gut erhalten. Unter ihnen waren kleine Messingschildchen angebracht, die das Geburts- und Sterbejahr der Porträtierten angaben. Die Reihe reichte bis in die frühen 1500er Jahre zurück. Neben einigen Männern, die sich oft im Tartan und mit Hundemeute oder Pferden hatten malen lassen, gab es auch einige Frauen, die mit ausdrucksloser oder verkniffener Miene auf üppigen Sesseln thronten. Es war das übliche Sammelsurium von Ahnenbildern, wie man sie auch in anderen Schlössern fand. Zwei Bilder fehlten in der Reihe und die hellen rechteckigen Flecken, die noch von ihrer Abwesenheit zeugten, wirkten wie eine Anklage gegen all die anderen, die da sein durften. Unter einem hing noch das Messingschild, worauf der Name „Robert, Earl of Thee“ stand. Beim anderen fehlte hingegen das Schild, was ich bedauerte, denn es war das letzte Bild in der Reihe. Ich hätte gerne den jüngsten Spross der Familie in Augenschein genommen. Bestimmt hatte sich auch Lord MacConnell mit seinen Jagdhunden oder seinem Lieblingshengst in den Highlands malen lassen.

Vermutlich wurden die Bilder gerade restauriert, denn insgesamt machte die Ahnengalerie keinen guten Eindruck. Das Alter hatte die Farben nachdunkeln lassen und so war es kein Wunder, dass die Stimmung auf den Bildern eher düster und unheimlich war. Mit einer Ausnahme. Ein bemerkenswert schlichtes Bild in einem nüchternen, schwarzen Rahmen, schien vollkommen aus der Reihe zu fallen. Es zeigte eine Frau, die auf einem Sessel saß. Sie hielt ein aufgeschlagenes Buch in den Händen, und schien gerade darüber nachzusinnen, was sie gelesen hatte. Die Frau wirkte vollkommen entspannt und diese Ruhe hatte sich auch auf den Maler übertragen, denn die Komposition war mehr als gelungen. Wurde man im Allgemeinen von der Opulenz solcher Bilder erschlagen, war dieses hier in seiner Darstellung und Ausstattung klar, ja fast karg. Außer der Frau, dem Buch und der Andeutung einer Rückenlehne gab es kein Detail, das von der Porträtierten ablenkte. Jeglicher Schnörkel fehlte, was den Liebreiz der Szenerie und die Magie des Momentes deutlich hervorhob. „Charlott de Burgh, 6. Duchesse of Clarence, 4. Countess of Ulster “ benötigte keinen zusätzlichen Zierrat, außer ihrem beeindruckenden Namen. Auf dem Messingschild stand ihr Geburtsjahr: 1795. Sie war eine bildhübsche, junge Frau mit gelocktem und zur Hochsteckfrisur drapiertem Haar. Einige vorwitzige Locken kringelten sich an ihren Schläfen, ihre Lippen waren zu einem zaghaften Lächeln geformt und die feine Nase wies einen süßen Schwung nach oben auf. Am ausdrucksvollsten fand ich jedoch die Augen. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ihr Blick direkt auf dem Betrachter lag oder ob er an ihm vorbei ins Unendliche ging. Ich tat ein paar Schritte nach rechts und links, bloß um festzustellen, dass mich ihr Blick verfolgte.

Ein wenig unheimlich ist das aber schon. Das ist wie eines dieser Bilder in Gruselfilmen. Fehlt bloß noch, dass sich jetzt gleich Löcher in den Augen auftun und mich jemand von der anderen Seite der Wand ausspioniert.

War es wirklich ein argloses, naives Lächeln? Oder lag da nicht vielmehr ein diabolischer Zug um Lady Charlotts Mundwinkel? Ich fröstelte.

Meine Güte. Das hier ist kein Geisterhaus. Das ist lediglich ein altes Schloss und eine gewöhnliche Ahnengalerie.

Mein Magen knurrte leise und erinnerte mich daran, was ich lange Zeit aufgeschoben hatte. Ich rieb mir über die Oberarme, die ganz kalt waren. Meine Kleidung war immer noch klamm und in der Eingangshalle war es nicht sonderlich warm. Ich nickte Lady Charlott ein letztes Mal zu und stieg, gefolgt von ihrem nicht zu deutenden Blick, die weit ausladende Treppe hinauf zum hoffentlich warmen Salon.

Kapitel 3

 

Im Salon herrschte eine angenehme Temperatur, was daran lag, dass auch hier der Raum mit dickem Teppich ausgelegt war. Vor dem brennenden Kamin standen zwei gemütliche Sofas, auf denen zahlreiche Kissen drapiert lagen. Zwar waren die Vorhänge der deckenhohen Fenstertüren offen, doch es kam kaum mehr Licht herein. Dennoch war der Blick auf das tosende Meer beeindruckend und ich konnte mir gut vorstellen, wie man hier auf dem Sofa sitzend Stunden damit zubringen konnte, nur hinaus auf den Horizont und den Ozean zu schauen. Wie wunderbar musste es sein, hier zu leben? Jeden Tag diesen Ausblick genießen zu können, fernab jeglichen Tagesgeschehens. Behütet in seinen eigenen vier Wänden, in seinem eigenen Fort? Oder fühlte man sich irgendwann gefangen und ausgegrenzt?

Eine Zeit lang wäre es vielleicht ganz schön, so zu leben. Aber ein Leben lang? Der Galerie nach zu schließen, konnte man annehmen, dass die Inhaber seit Generationen hier wohnten. Aber es war ja bekannt, dass viele Adlige oft mehrere Schlösser besaßen und gelegentlich wechselten. Je nach Laune, Jahreszeit oder Familienstand. Vielleicht lebten die modernen Besitzer ja auch gar nicht mehr hier, sondern in Edinburgh, Dundee oder Glasgow in einer hippen Appartementwohnung und kamen bloß wenige Tage oder Wochen zum Ausspannen hierher. Andererseits hatte der Schotte nicht nach Hipster ausgesehen. Er passte viel besser hierher, als in eine Großstadt.

Ich war gespannt, über welche Themen wir uns heute Abend unterhalten würden. Das Schloss und die Umgebung boten viele Möglichkeiten. Eintönig würde es sicherlich nicht werden. Es sei denn, er stellte sich als Langweiler heraus, aber das glaubte ich nicht.

Und wenn doch, dann schweigen wir uns eben die ganze Zeit an und genießen den Ausblick.

Ich nahm auf einem der Sofas Platz, versank in den weichen Kissen und sah mich weiter um. Neben mir auf dem Kaminsims stand eine goldene Uhr, die jedoch nicht tickte. Rechts und links davon standen seltsam geformte Kelche. Über allem hing das Ölgemälde einer Jagdszene. Es war eine jener deprimierenden Szenen, wie man sie von Schlössern dieser Art kannte. Jäger auf ihren Pferden, die nach der erfolgreichen Treibjagd triumphierend tote Füchse emporhielten, während unter ihnen zähnefletschend die Hundemeute versuchte, an die Beute heranzukommen. Ich fand diese Darstellungen widerlich und konnte nichts Schönes oder gar Sinnvolles darin erkennen, Tiere zum Spaß zu töten. Aber hier in den ruhigen Weiten der Highlands war das Leben eben ein anderes, als das in der beengten, lebhaften Stadt. Hier prägte die Natur mit all ihren Facetten den Alltag. Und dazu gehörte für viele die traditionelle Parforcejagd, die glücklicherweise aber seit 2005 verboten war. Neben den Sofas und den kleinen Tischchen fand ich außer etwas Nippes und mehreren kleinen Stehlampen nichts Aufregendes. Flügeltüren mit kunstvollen Glasfüllungen führten in den angrenzenden Raum. Da die Türen jedoch verschlossen waren, konnte ich nur vermuten, dass sich dahinter eine Bibliothek befand. Ich glaubte, die Schemen dunkler Regale und einer Sitzgruppe auszumachen.

Die angenehme Wärme macht mich müde. Ich war durch das viele Laufen ohnehin erschöpft und hätte problemlos hier auf dem Sofa einschlafen können. Mühsam versuchte ich, mich wachzuhalten, und hoffte, dass mein Gastgeber nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen würde. Es wäre peinlich, wenn er mich schlafend und womöglich schnarchend auf seiner Couch antreffen würde.

Andererseits, wer eine Wanderin nach einem langen Marsch auf einem kuschelig warmen Sofa warten lässt, der muss damit rechnen.

Ich unterdrückte ein Gähnen und schloss kurz die Augen. Das Prasseln des Feuers und der Regen, der in den letzten Minuten zugelegt hatte und nun gegen die Fensterscheiben schlug, wirkten einschläfernd. Als ich eine Berührung spürte, erschrak ich so sehr, dass ich quiekte und reflexartig aufsprang. Neben mir saß mein Gastgeber mit einem zauberhaften Lächeln auf den Lippen.

„Verflixt, Sie haben mich zu Tode erschreckt!“, rief ich und legte mir die Hand auf die Brust. „Wo kommen Sie denn so plötzlich her?“

„Entschuldigen Sie. Es war nicht meine Absicht, Sie zu erschrecken.“ Sein Lächeln verschwand nicht und mit einem leichten Nicken forderte er mich auf, mich wieder zu setzen. „Sie sind wohl eingenickt und haben mich nicht kommen hören. Ich habe sogar an die Tür geklopft, doch Sie haben nicht reagiert. Da bin ich einfach hereingekommen.“

Ich setzte mich mit einem gewissen Abstand zu ihm wieder aufs Sofa. Ich war mir sicher, nicht eingeschlafen zu sein. Ich hatte doch bloß ganz kurz die Augen zugemacht. Es waren maximal ein paar Sekunden gewesen, höchstens eine Minute, vielleicht auch zwei.

„Der Tag war anstrengend“, gab ich zu. „Und hier ist es so furchtbar gemütlich und warm. Außerdem ist das hier Ihr Schloss. Sie dürfen also kommen und gehen, wohin und wann Sie wollen.“ Ich erinnerte mich an meine Manieren. „Herzlichen Dank noch einmal für die großzügige Einladung.“ Ich hielt ihm eine Hand hin. „Ich hatte vorhin ganz versäumt, mich vorzustellen. Ich bin Maryan Lecon.“

Er zögerte kurz, ehe er mir die Hand gab. Sein Händedruck war kräftig, seine Hand aber ungewöhnlich kalt. Er bemerkte mein Erstaunen. „Ich komme gerade von draußen. Ich habe noch schnell nach den Pferden gesehen.“ Er log, das sah ich ihm sofort an.

„Ihren Mitarbeiter im Stall durfte ich vorhin schon kennenlernen. Ein äußerst netter, sympathischer Zeitgenosse.“

Sein Lachen war herzlich. „Dann müssen Sie jemand anderen meinen. Eric Sanders ist ein sehr zuverlässiger, treuer Stallbursche und liebt Tiere über alles. Fremden gegenüber ist er aber in der Regel erst einmal abweisend. Oh.“ Er hob den Kopf, als höre er etwas. „Henk wird jeden Moment zum Essen rufen.“ Kaum hatte er ausgesprochen, hallte auch schon ein tiefer Gongschlag durchs Schloss. „Ihr Abendessen steht im Speisesaal bereit“, sagte er. Er stand auf und streckte mir die Hand hin.

Ich ließ mir aufhelfen, auch wenn es unnötig war. Es war eine nette Geste, die ich schlecht abweisen konnte, ohne unhöflich zu wirken. Wieder fiel mir die Kälte seiner Hand auf, doch dieses Mal überraschte sie mich nicht mehr. Ich tolerierte es, dass er meine Hand auf seinen Arm legte und mich aus dem Salon hinaus zur Treppe führte. Wir schritten wie ein Brautpaar nebeneinander die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Fehlten bloß noch die Fanfaren oder Glockenklang. Ich schmunzelte.

„Vorhin trugen Sie einen Kilt“, sagte ich, um die Stille auszufüllen, die lediglich von unseren durch den Teppich gedämpften Schritten untermalt wurde.

Er hielt auf der letzten Stufe an. Ich musste ein wenig den Kopf heben, um ihm in die Augen sehen zu können. Eine kleine Haarsträhne hatte sich aus seinem Zopf gelöst und in sein Gesicht geschmuggelt. Ich konnte gerade noch verhindern, dass sich meine Hand selbstständig machte, um sie wieder zurückzustecken.

„Ich trage ihn immer nur zu besonderen Gelegenheiten“, sagte er. Er wandte den Blick nicht ab und machte keinerlei Anstalten weiterzugehen.

„Und heute war so eine besondere Gelegenheit?“

„Eine ganz besondere.“

Ich spürte es zuerst in meinem Bauch. Dieses feine Zittern, wenn man glaubt, ein wichtiger Moment stünde bevor. Diese Aufregung, der Nervenkitzel und die Ungeduld, wann es endlich passieren würde. Würde er mich gleich am ersten Abend küssen? War er zu sehr Gentleman und würde abwarten? Oder wartete er auf ein Signal von mir? Ich kam ihm entgegen, beugte mich leicht zu ihm herüber und zuckte zurück, als jemand verkündete: „Der Stew steht im Speisesaal für Sie bereit, Miss Lecon.“

Henk stand in der Halle und blickte völlig unbeeindruckt, auch wenn wir auf der Treppe sicherlich ein seltsames Bild abgeben mussten. Der Zauber war verflogen. „Den Stew von Henk sollte man nicht kalt werden lassen, Miss Lecon“, sagte mein Gastgeber und führte mich in einen riesigen Saal, in dem einzig ein langer Tisch mit unzähligen Stühlen stand. Lediglich ein Platz war formvollendet mit Bestecken, Gläsern und Serviette eingedeckt. Er zog mir den Stuhl zurecht, wartete, bis ich mich setzte, und schob ihn mir dann langsam unter. „Sie müssen mich entschuldigen, aber ich werde nicht mitessen. Ich habe bereits gegessen.“

Wieder eine Lüge.

Er setzte sich mir gegenüber an den Tisch.

„Ich erinnere mich.“ Ich nickte. „Sie erwähnten ja vorhin, dass sie kein Fleisch mögen.“

Henk, der gerade mit einem Tablett hereinkam, hüstelte. Er stellte das Geschirr auf den Tisch, hob den Deckel und sofort verbreitete sich der Duft von Gebratenem in dunkler Soße. Mir lief augenblicklich das Wasser im Mund zusammen. Mein Magen reagierte prompt mit einem lauten Knurren. Beide Männer, sowohl Henk als auch mein Gastgeber, überhörten es kavaliersmäßig.

„Ich hoffe, Sie mögen Kartoffel-Möhren-Püree, Miss Lecon?“, fragte Henk. „Ich habe davon abgesehen, Scones zu backen, wie sie traditionell zum Stew gegessen werden. Dies hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen. Ich hoffe sehr, Sie nehmen es mir nicht übel.“ Er legte mir von allem etwas auf den Teller.

Es war ungewohnt, sich bedienen zu lassen. Aber schließlich war ich in einem Schloss. Hier war alles außergewöhnlich. Sogar mein Gastgeber, dessen Namen ich noch immer nicht kannte.

„Danke, das war sehr zuvorkommend“, sagte ich und lächelte Henk dankbar zu. „Es riecht ganz köstlich und das Püree passt sicher perfekt zur Soße.“

Der Butler nickte freundlich und ließ uns dann alleine. Ich begann zu essen. Es schmeckte köstlich und ich seufzte vor Genuss.

„Da fällt mir auf, Sie haben sich noch gar nicht vorgestellt“, sagte ich, nachdem ich Bissen hinuntergeschluckt hatte.

„Levente“, sagte er. „Levente Finlay MacConnell. Das ist mein Name.“

Ich sah von meiner vollen Gabel auf. „Wow, was für ein schöner Name.“

Und was für ein bescheuerter Spruch von mir!

„3. Duke of Ballinmore, 7. Marquess of Clarence, 13. Lord of Hurtly.“

Oha, das klingt jetzt aber sehr gewichtig.

„Oha, das klingt aber sehr vornehm“, sagte ich.

Er lehnte sich vertrauensvoll zu mir herüber. Wieder stahl sich eine Strähne aus seinem Haar und fiel ihm über die Wange. Fast streifte sie das feine, weiße Tischtuch. „Für dich einfach nur Levente.“

Das Fleischstückchen, das ich gerade auf die Gabel genommen hatte, fiel herunter und landete glücklicherweise im weichen Püree. Warum mich das Angebot so nervös machte, wusste ich nicht. Dennoch war ich es, und zwar mächtig. Ich, eine einfache Frau aus Deutschland, sollte diesen Adeligen, der ein eigenes Schloss und wer weiß wie viele Ländereien besaß, duzen und mit seinem Rufnamen ansprechen? Der Name Levente war mir vorher noch nie zu Ohren gekommen. Ich versuchte, mein Essen so beiläufig wie möglich wieder aufzunehmen, und fischte das Fleischstück aus dem Kartoffelbrei.

„Gerne.“ Probehalber versuchte ich, den Namen auszusprechen. „Levente. Aber dann nennst du mich bitte auch Maryan.“ Ich machte den Fehler und sah von meiner Gabel zu ihm hinüber. Er schaute mir direkt in die Augen.

„Sehr gerne, Maryan“, sagte er mit diesem verführerischen Akzent.

Levente, testete ich den Namen in Gedanken erneut. Er gefiel mir. Er passte hervorragend zu einem Mann wie ihm. Stilvoll, charmant und sexy.

„Wenn du weiter so langsam isst, wird das Stew kalt“, lachte er und setzte sich aufrecht hin. Er deutete auf meinen Teller. „Ganz schön widerspenstig, das Fleisch. Mit ein Grund, warum ich es nicht mag.“

Ich schloss verlegen meinen Mund, der mir immer noch offen stand, und verbat mir, ihn anzusehen. Stattdessen konzentrierte ich mich auf die Mahlzeit. „Sind die Titel, die du eben aufgezählt hast, wirklich alle echt?“, fragte ich.

„Jeder einzelne“, antwortete er. „Ich könnte dir noch den einen oder anderen weiteren Titel aufzählen. Die, die ich dir genannt habe, sind nur die wichtigsten. Manche liegen schon seit Generationen in unserer Familie.“

Ein Hüsteln kündigte den Butler an. Henk trat ein, blieb aber bei der Tür stehen. „Schmeckt es Ihnen, Miss Maryan?“, fragte er. „Soll ich Ihnen nachlegen?“

„Ich habe noch genug, danke. Es ist köstlich.“

„Wasser haben wir ja bereits, aber möchtest du vielleicht auch ein Glas Rotwein zum Essen?“

„Das ist nicht nötig“, sagte ich, obwohl Rotwein das Mahl perfekt abrunden würde.

„Ist das ein Ja?“

Ich lachte. „Ja.“

„Bringen Sie für Miss Maryan bitte noch Rotwein, Henk?“

Henk nickte dienstbeflissen. „Sehr wohl, Sir. Ich bin sofort wieder da.“

„Das wäre echt nicht nötig gewesen“, meinte ich. „Wasser hätte auch gereicht.“

„Was ist schon nötig?“, fragte Levente. „Man kommt mit so viel weniger zurecht, als man im Allgemeinen hat.“

Ich konnte nicht anders, ich sah ihn wieder an. „Das klingt nach schwerer Kost. Vielleicht sollten wir besser erst Wein trinken, bevor wir mit dem Philosophieren anfangen?“

„Gerne“, sagte er. „Trinken wir. Und danach philosophieren wir über Dinge, auf die wir nicht verzichten möchten.“

Ich grübelte über diesen Satz nach, bis Henk zurückkam und mein Glas mit einem tiefroten, herrlich duftenden Rotwein füllte. Die Karaffe stellte er auf einen gläsernen Untersetzer auf dem Tisch, ohne Levente ein Glas oder gar Wein gereicht zu haben.

„Gießen Sie mir bitte auch ein Glas ein, Henk?“

Ich hatte gerade zu Henk aufgesehen und so bemerkte ich, dass ihn die Frage seines Arbeitgebers Sekundenbruchteile aus dem Konzept brachte. „Wie Sie wünschen, Sir“, sagte er souverän.

Nachdem auch Levente ein Glas Wein vor sich stehen hatte, verließ Henk den Raum. Schweigend aß ich mein Essen auf, derweilen Levente mich beobachtete. Mir waren seine Blicke nicht unangenehm, denn er hatte stets ein Lächeln auf den Lippen, wenn ich kurz zu ihm hinübersah. Es wirkte keineswegs gönnerhaft oder aufdringlich. Mein Gastgeber schien sich wirklich zu freuen, jemandem etwas Gutes tun zu können. Er wirkte irgendwie ...

Glücklich?

Wer lebte sonst noch alles hier? Hatte Levente Familie? Lebte er nur mit seinem Butler und dem Stallburschen in diesem riesigen Schloss?

„Lebt sonst niemand hier? Außer dir, Henk und Eric?“ Ich traute mich erst nach ein paar Anläufen, ihm diese indiskrete Frage zu stellen.

Wieder überraschte er mich mit einem Lachen. „Außer mir, Henk und Eric lebt keiner hier im Schloss“, sagte er und strich sich die Haare zurück. Ich glaubte, einen Anflug von Trauer in seinem Gesicht zu sehen, verkniff mir aber, nach dem Warum zu fragen. Es war auch nicht nötig.

„Menschen halten es nicht lange mit mir aus“, erklärte er. „Ich bin wohl zu ... speziell.“

„Verstehe ich nicht. Ich finde dich höflich, zuvorkommend und charmant.“

Oh, Mist. Hoffentlich empfindet er das jetzt nicht als plumpe Anmache.

„Ich meine, du bist sehr nett. Du lädst mich hierher ein, bewirtest mich und bietest mir eine Unterkunft an. So etwas ist heutzutage nicht mehr selbstverständlich.“

Er könnte auch ein gesuchter Axtmörder sein und mich als sein neues Opfer auserkoren haben. Dann wäre er auch so zuvorkommend, bevor er mir den Kopf abhackt.

Ich verwarf diesen absurden Gedanken.

„Danke für die Komplimente“, sagte er. „Hier in den Highlands ist es durchaus noch üblich, Wanderer aufzunehmen und zu bewirten. Aber es ist etwas völlig anderes, mit einem Menschen Tag und Nacht oder gar das ganze Leben zu verbringen.“ Jetzt war ich mir sicher, dass da ein trauriger Zug um seinen Mund lag.

„Hast du denn diesbezüglich schlechte Erfahrungen gemacht?“, fragte ich und bereute meine vorschnelle Frage sofort. Es ging mich nichts an, welche Beziehungsprobleme er hatte oder weshalb er der Meinung war, dass er ein schwieriger Mensch sei. Dennoch interessierte es mich. Er machte nicht den Eindruck eines resignierten, beziehungsgeschädigten Mannes. „Entschuldige, es ist mir einfach so rausgerutscht. Es geht mich gar nichts an. “

„Genau genommen habe ich es mir nicht ausgesucht“, erwiderte er und nippte an seinem Wein. Er behielt das Glas in der Hand und stand auf. „Bist du fertig? Wenn du möchtest, können wir hinauf in die Bibliothek gehen und uns dort weiter unterhalten.“ Er deutete mit einem Nicken zur Tür. „Wir müssen nur wieder ins erste Geschoß, durch den Salon.“

Ich war durchaus nicht abgeneigt, mir andere Räumlichkeiten des Schlosses anzuschauen, und die Bibliothek interessierte mich besonders. Ich mochte volle Regale und den Geruch alter Bücher. „Gerne.“ Ich tupfte mir den Mund mit der Serviette ab und versuchte, den blütenweißen, gestärkten Stoff nicht allzu schmutzig zu machen.

Levente hatte sein Glas und die Weinkaraffe gegriffen und war bereits zur Tür gegangen. „Machst du bitte auf? Ich habe beide Hände voll.“ Er hob entschuldigend seine Fracht.

„Klar.“ Ich stand auf und ergriff die Türklinke. Dabei streifte ich unbeabsichtigt Leventes Arm. Es gab eine kleine elektrische Entladung, die zwar nicht wehtat, mich aber zurückzucken ließ. „Mist“, fluchte ich, weil durch meine heftige Bewegung mein Glas überschwappte und Wein auf den Teppich tropfte. „Das tut mir leid!“

„Um den Teppich ist es nicht schade, aber dein Shirt hat jetzt ein paar Farbtupfer mehr.“

 

Wir gingen in die Halle und die Treppe hinauf in den Salon.

„Hier entlang.“ Levente nickte zu den Flügeltüren.

Ich öffnete vorsichtig eine der großen Türen und blieb im Rahmen stehen. Was sich vorhin durch die Scheiben nur verschwommen abgezeichnet hatte, war tatsächlich eine Bibliothek. Eine, die den Namen zu Recht verdiente.

„Sehr beeindruckend!“, sagte ich anerkennend und konnte mich kaum sattsehen.

Deckenhohe, zweigeschossige Regale zogen sich die Wände entlang, einzig eine Kaminnische unterbrach die Vitrinen. Der Balkon der Galerie war über eine schmale Stiege erreichbar. Manche Abteile waren mit Glastüren versehen, hinter denen dezent beleuchtet dicke, alt aussehende Almanache standen. In einigen Vitrinen standen Artefakte, kleine Phiolen und Kreuze. Inmitten des Raumes thronte ein riesiger Globus auf einem hölzernen Gestell. Er musste immens viel wert sein. Darüber hing ein mächtiger Kronleuchter an der stuckbesetzten Decke. Er spendete jedoch kein Licht und auch von draußen kam mittlerweile keines mehr herein. Stattdessen setzten verdeckt angebrachte Wandleuchten den Raum meisterhaft in Szene. Es gab ein kleines Stehpult, auf dem ein aufgeschlagenes Buch auf die nächste Lesezeit wartete. Und in einer getäfelten Ecke stand ein weinrotes Sofa, das vom Stil her überhaupt nicht zu der sonstigen, antiken Ausstattung passte. Doch gerade deshalb wirkte die Nische so gemütlich. Da es die einzige Sitzgelegenheit in der Bibliothek war und daneben ein Beistelltischchen stand, steuerte ich darauf zu.

Die Kissen waren weniger bequem als erwartet und ich rutschte ein paar Male hin und her, ehe ich die richtige Position fand.

„Bist du sehr müde?“, fragte Levente. Er stellte sein Glas ab und drehte sich ganz zu mir. Ein Bein legte er dabei halb auf das Sofa und berührte meinen Oberschenkel. Es schien ihm nicht aufzufallen. Oder es störte ihn einfach nicht. Mich störte es auch nicht.

Ich bekam eine angenehme Gänsehaut. Ob vom Wein, seiner Berührung oder von seiner Stimme, konnte ich nicht sagen. „Ein wenig“, log ich. Eigentlich war ich hundemüde, aber die Gelegenheit, alleine mit ihm in dieser traumhaften Bibliothek zu sitzen, wollte ich mir nicht entgehen lassen. Schlafen konnte ich auch später noch.

„Du hattest einen anstrengenden Tag. Wenn du also lieber schlafen gehen möchtest, dann …“

„Nein.“

Er lachte, weil ich ihn so schnell unterbrach.

„Ja, es war ein langer Tag“, erklärte ich. „Und ja, ich bin müde. Aber ich möchte noch nicht zu Bett gehen. Ich würde sehr gerne mehr über dieses Schloss erfahren.“

Er zog eine Grimasse. „Für Schlossführungen ist Eric zuständig und der hat bereits Dienstschluss. Damit musst du dich also leider bis morgen gedulden. Gibt es noch etwas anderes, das dich interessiert? Ansonsten hätte ich ein paar Fragen an dich.“

Der Wein war mir längst zu Kopf gestiegen. „Du bist interessanter. Immerhin lebst du in einem riesigen Schloss auf Skye, ich nur in einem winzigen Appartement in Hamburg“, kam es aus meinem Mund.

„Das Schloss ist alt und marode und ich bin sterbenslangweilig, glaube mir. Aber du“, er sah mich an und ich hielt die Luft an, „du bist sehr reizvoll.“

Reizvoll? Hatte mich jemals jemand so bezeichnet? Normale Männer redeten nicht so.

Bei anderen würde es geschwollen und gestelzt wirken. Aber nicht bei ihm. Er ist schließlich auch Lord und lebt auf Ballinmore Castle. Er kann so reden, ohne lächerlich zu wirken.

Und wie er es konnte. Sein Bein berührte mich immer noch. Wartete er auf meine Reaktion? Wollte er testen, wie weit er bei mir gehen konnte?

„Ich bin bloß eine ganz gewöhnliche Bürgerliche“, sagte ich. „Auch wenn ich dank meines Vaters französische Wurzeln habe. Aber ich bin keine Lady Charlott, Duchesse von Irgendetwas und x-te Countess Sowieso.“

Seine Reaktion hätte nicht heftiger ausfallen können. Levente zog sich unvermittelt von mir zurück und griff nach der Karaffe. Energisch schenkte er sich Wein ins Glas und trank es in einem Zug leer.

„Es tut mir leid, wenn ich etwas Falsches gesagt habe“, entschuldigte ich mich kleinlaut. Mir war die Situation peinlich. „Wenn ich getrunken habe, dann plappere ich manchmal ziemlichen Unsinn. Ich wollte niemanden beleidigen.“

Er hatte beide Gläser nachgefüllt und stellte die Karaffe so fest ab, dass sie auf das Holz donnerte. „Hast du nicht.“ Er hob sein Glas erneut an die Lippen, als wolle er es in einem Zug leeren.

„Was zum Teufel geht hier vor, Finlay?“, drang da eine wütende Frauenstimme vom Speisesaal zu uns herüber und stoppte ihn in seinem Vorhaben.

Kapitel 4

 

„Finlay? Wieso Finlay? Ich dachte, dein Rufname wäre Levente.“ Verwirrt sah ich von einem zum anderen.

Und hieß es vorhin nicht, er lebt hier nur mit einem Butler und einem Stallburschen?

Levente gab mir keine Antwort und starrte die Furie an, die sich vor uns aufbaute. Die hochgewachsene Frau kam mir bekannt vor, ich konnte sie im Moment jedoch nicht zuordnen. Ihre blonden Haare waren zu einem strengen Knoten zusammengefasst. Die Bluse mit dem eng anliegenden Stehkragen und der kurze, schwarze Blazer ließen sie wie eine Gouvernante erscheinen. Mit dem Finger deutete sie auf mich. „Was hat das eigentlich zu bedeuten? Seit wann lädst du dir so was ins Schloss ein?“

Geht´s noch? Sie kennt mich nicht und redet über mich wie über ein Ding? Und überhaupt, wieso bestimmt sie so über ihn? Wer ist sie überhaupt?

Ihre herablassende Art ging mir augenblicklich gegen den Strich. Dennoch blieb ich still, schließlich war ich bloß Gast hier und die Frau offensichtlich Bewohnerin des Schlosses. Es war Leventes Sache, ihr zu erklären, was ich hier zu suchen hatte.

Wieder hatte sich seine Stimmung verändert. Er stand auf und funkelte die Frau böse an. „Das ist mein Gast, Maryan Lecon. Sie wird heute Nacht hierbleiben.“

Ich wurde mit einem feindlichen Blick begutachtet. „Es gibt genügend Gasthöfe in der Umgebung“, sagte sie kalt.

„Wie du weißt, ist das Buttercup in Duneany geschlossen und bis nach Kilmaluag wäre es zu weit.“

„Dann hätte sie bei einem Bauern fragen sollen. Die haben in ihren Ställen immer Platz für Reisende. Zur Not tut es auch die Kammer bei Eric.“

Levente antwortete ihr nicht. Ich kam mir vollkommen deplatziert vor. Es war klar, dass Leventes Frau, oder wer auch immer sie war, von der ganzen Situation nicht erfreut war.

Hätte ich geahnt, dass er liiert ist, hätte ich die Einladung erst gar nicht angenommen oder wäre zumindest nicht ganz so offensiv gewesen.

Kein Wunder, dass sie sich aufregte. Seinen Partner mit einer fremden Frau in trauter Zweisamkeit in der eigenen Bibliothek vorzufinden, war bitter. Aber sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie peinlich mir die Sache war.

Ich gehe besser, bevor der Streit eskaliert.

Ich hatte mich kaum erhoben, da drückte mich Levente zurück aufs Sofa.

„Du bleibst!“, herrschte er mich an. Perplex lehnte ich mich in die Kissen und wagte kaum, die Frau anzusehen, deren Miene noch finsterer geworden war.

„Ich muss dich nicht daran erinnern, was letztes Mal passiert ist, oder?“, fauchte sie. „Da standen wir kurz vor der Katastrophe, mein Lieber. Und noch mal werden sie kein Auge zudrücken, das garantiere ich dir.“ Sie taxierte mich.

Ihr Blick ging mir durch und durch. „Ich werde nicht noch einmal für dich den Kopf hinhalten. Nicht für so etwas Profanes wie … das da.“

Mir schwirrte der Kopf. Was redete die Frau da? War sie nun Leventes Frau oder nicht? Und von welchen „Sie“ war hier die Rede?

Levente schien von dem imponierenden Auftritt und der Warnung wenig beeindruckt. Er verschränkte die Arme vor der Brust und blieb hart. „Ich wiederhole: Maryan ist mein Gast. Ich habe sie eingeladen. Und wenn du sie noch einmal respektlos behandelst, dann sind wir geschiedene Leute. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt, Carlotta?“

„Du wirst es ruinieren, Finlay. Ich dachte, du würdest aus dieser Eskapade von Lord Reginald lernen. Aber es sieht ganz danach aus, als würdest du jetzt den gleichen Fehler machen wollen. Maryan Lecon?“ Sie lachte verächtlich und deutete spöttisch einen Knicks an. „Ich heiße Sie auf Ballinmore Castle willkommen. Fühlen Sie sich wie zu Hause und genießen Sie die Gastfreundschaft, solange es Ihnen noch möglich ist.“ Damit drehte sie sich auf dem Absatz herum und rauschte davon.

Levente sah ihr grimmig hinterher. „Es tut mir unendlich leid, dass du dir das anhören musstest. Carlotta ist manchmal sehr eigen. Und in den letzten Tagen ist sie äußerst gereizt und regt sich über jede Kleinigkeit auf.“

„Das habe ich mitbekommen“, sagte ich. „Vielleicht hättest du sie vorher besser fragen sollen, ob sie damit einverstanden ist, wenn ich hier übernachte.“

„Es ist mein Zuhause“, antwortete er und wollte sich wieder setzen.

Ich sprang auf. „Ich will nicht unhöflich sein, aber ich bin todmüde. Wärst du so nett und zeigst mir das Gästezimmer?“

Er sah mich an und hob ansatzweise eine Hand, um mich zu berühren. Mein Zurückweichen hielt ihn jedoch auf Abstand. „Natürlich. Komm, ich zeige dir das Zimmer.“

 

Ich hatte tausend unbeantwortete Fragen. Zum Beispiel, wieso er mir verschwiegen hatte, dass er verheiratet, getrennt oder geschieden war. Antworten erwartete ich aber keine mehr. Der Zauber des Abends war längst verflogen. Hätte ich geahnt, dass Lady Carlotta ebenfalls hier wohnte, wäre ich der Einladung gar nicht erst gefolgt, oder wenn, dann nur mit ihrer ausdrücklichen Erlaubnis. Jetzt war ich aber bereits hier. Ich würde schlafen gehen und mich am nächsten Morgen früh auf den Weg machen. Ich hatte noch ein paar Kilometer Wegstrecke vor mir.

Nach dem Frühstück bin ich weg. Und dann ist das Thema schottischer Schlossherr abgehakt.

Levente ging vor mir her. Ich sah, wie seine Schultern beim Gehen leicht hin und her pendelten, wie sein knackiger Hintern dem Schwung des Oberkörpers folgte ...

Ich richtete meinen Blick stur geradeaus. Da vorne war eine Tür, die nur angelehnt war. Dämmerlicht drang aus dem Türspalt. Ich konzentrierte mich darauf und vermied den Blick auf das hübsche Hinterteil. Levente öffnete die Tür und winkte mich hinein. „Bitte sehr. Ich hoffe, es gefällt dir.“

Ich betrat den schlichten Raum, der an einen Turm grenzte. Ein großes Himmelbett dominierte hier. Daneben brannte eine hübsche, gusseiserne Lampe. Vor dem Bett lehnte mein Rucksack an einer Truhe. Das mittlerweile getrocknete Cape hing über einem antiken Stuhl, der in einer Turmnische stand.

„Das Badezimmer ist hier.“ Levente deutete auf eine schmale Tür. „Und ein Kleiderschrank ist hinter der Vertäfelung.“ Dem Bett gegenüber war die Kaminnische. Ein Feuer brannte darin und verbreitete Wärme und den angenehmen Geruch von Holz. Die Seite des Raumes, in der auch die Badezimmertür war, war vollständig mit Holz vertäfelt. Hätte sich die Tür nicht durch eine schmale Zarge verraten, wäre sie mir nicht aufgefallen, so perfekt fügte sie sich in die Paneele ein. Die Schranktür fand ich nicht. Aber das war nicht schlimm. Ich würde meinen Rucksack ohnehin nicht ausräumen.

„Danke“, sagte ich und reichte ihm förmlich die Hand. „Ich werde eure Gastfreundlichkeit nur heute Nacht in Anspruch nehmen. Morgen früh reise ich weiter.“

Er ignorierte meine unterschwellige Aufforderung und sah mich an. Traurig, wie ich fand.

„Es ist nicht, wie du denkst“, sagte er.

„Ich kann gerade nicht mehr denken, Levente, oder wie auch immer du heißt.“

„Ich heiße Levente. Und Finlay.“

Ich überging seine Erklärung. „Es war für heute ein bisschen zu viel. Meine lange Wanderung war anstrengend und es ist spät geworden. Danke nochmals.“

„Gerne.“ Er wollte mehr sagen. Ich sah, dass er überlegte, ob er es sollte, doch letzten Endes war er höflich genug, meine Verabschiedung zu akzeptieren. „Dann sehen wir uns morgen zum Frühstück. Schlaf gut, Maryan.“

Wie er meinen Namen ausspricht! Er genießt den Klang eines jeden Buchstaben.

„Süße Träume“, hörte ich ihn noch sagen, dann schloss sich die Tür und ich war alleine mit meinen Gedanken.

 

Nach einer Katzenwäsche lag ich unter dem kuscheligen Federbett und starrte hinauf in den Stoffhimmel. Das leise Prasseln des Feuers wirkte einschläfernd, doch ich lag hellwach im Bett und ging das Geschehene immer wieder durch. Eigentlich konnte ich Levente keinen Vorwurf machen. Ich hätte vorsichtiger handeln sollen. Es war schließlich vorschnell von mir gewesen, eine andere Intention als Freundlichkeit hinter seiner Einladung zu vermuten.

Er hat sich vielleicht einfach nur gefreut, Gesellschaft zu haben und jemanden zum Essen einladen zu können. Vielleicht, jemanden zum Reden zu haben. Eine normale Unterhaltung scheint mit diesem Biest Carlotta ja nicht möglich.

Über das Knistern des brennenden Holzes hörte ich plötzlich noch etwas anderes. Redete draußen im Gang jemand?

Das geht mich nichts an.

Ich schloss die Augen und versuchte mich zu entspannen. Ich rief mir die sanften Hügel der Highlands ins Gedächtnis, zählte die Schafe, die vor meinem imaginären Auge über die Weide hopsten.

Etwas rumpelte laut vor meiner Tür, sodass ich die Augen wieder aufriss und erwartete, jemand käme gleich hereingestürmt. Doch es passierte nichts. Als vor meiner Tür erneut ein Poltern ertönte, war es deutlich weiter entfernt als zuvor. Was war da draußen bloß los?

Ich schlüpfte aus dem Bett und tappte barfuß über die Dielen. Der Boden war eiskalt, gelegentlich knarrte das Holz verräterisch. Ich drückte vorsichtig die Klinke herunter. Der Griff war ein altmodischer, goldener Bogen, der vom Gebrauch blank poliert war. Es klackte leise im Innern des Schlosses, dann sprang die Tür einen Spalt weit auf. Ich lauschte in den Gang hinaus. Nichts, nur Stille und ein kalter Windhauch. Meine Füße waren mittlerweile zu Eisklumpen mutiert und meine Arme mit Gänsehaut übersät. Ich sah kurz zu meinem Bett. Es war bestimmt noch kuschelig warm. Bloß, wie lange noch? Ich drückte die Klinke, um sie geräuschlos zurück ins Schloss fallen zu lassen, da hörte ich draußen Stimmen. Ich legte ein Ohr zwischen Tür und Rahmen und lauschte. Ja, da stritt jemand. Ich vernahm Leventes und Lady Carlottas Stimmen, beide aufgebracht und aggressiv. Aber in welcher Sprache redeten sie da miteinander? Schottisch war es nicht. Gälisch konnte es auch nicht sein. Ich sprach zwar kein Gälisch, verstand aber ein paar Worte. Die Sprache, in denen sich die beiden unterhielten, konnte ich jedoch nicht zuordnen. Vielleicht war es ein Dialekt?

Das Gespräch wurde hitziger. Carlotta schrie plötzlich, ein Krachen folgte, dann herrschte Ruhe.

Es geht mich nichts an. Es geht mich nichts an.

Ich wiederholte es wie ein Mantra, doch es war sinnlos. Meine Neugierde war einfach stärker und auch wenn ich genau wusste, dass ich es nicht tun sollte, schnappte ich mir einen Pulli, zog mir Socken an und trat zur Tür hinaus in den dunklen Gang.

Unschlüssig stand ich da und schaute hinaus. Der Flur führte geradeaus über die Galerie zum Salon und der Bibliothek. Links hingegen führte er an der Treppe vorbei und in einen Gang hinein, von dem noch mindestens zwei weitere Türen abgingen. Viel konnte ich nicht erkennen. Vom dunklen Ende des unbekannten Korridors her schimmerte ein dämmeriges Licht. Ich tappte behutsam gen Treppe, versicherte mich, dass unten niemand stand und mich beobachtete, und schlich in den Korridor. Der dicke Teppich auf den Dielen dämpfte meine Schritte. Um ein Haar wäre ich jedoch gegen eine lebensgroße Statue gerempelt, weil ich zu weit am Rand gelaufen war und auf der Kante des dicken Flors umknickte. Ich konnte mich gerade noch an der Wand abfangen und verhindern, dass ich gegen den hölzernen Schild der Ritterstatue krachte. Platt an die Wand gedrückt hing ich für ein paar kurze Atemzüge da und versuchte, meinen Herzschlag zu mäßigen. Das war mein Glück, denn just in diesem Moment stürmte jemand den Gang entlang und rannte nur einen halben Meter entfernt an mir vorbei in Richtung Treppe. Lady Carlotta übersah mich und stob leise fluchend die Treppe hinunter. Kurz darauf knallte eine Tür. Mein Herz raste. Ich atmete ein paarmal tief durch.

Ich muss zurück ins Bett. Ich habe hier nichts zu suchen. Nachts in einem Schloss auf Entdeckungstour zu gehen, ist was für Kinder. Ich bin schon zweiunddreißig.