Hagzissa - Chronik der Hexen - Andra Leabhar - E-Book

Hagzissa - Chronik der Hexen E-Book

Andra Leabhar

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Beschreibung

Ein Dämon, hungrig nach Vergeltung und Tod. Eine mächtige Gabe, vererbt von einer Hagzissa zur nächsten. Und eine Chronik, geschrieben um altes Wissen zu bewahren und das Böse endgültig zu besiegen. Im Jahre 1584 kämpft die kleine Joanna nicht bloß gegen die wütende Inquisition, sondern stellt sich auch tapfer gegen einen Dämon, der die Macht über die Menschheit an sich reißen will. Was alle für unmöglich halten, geschieht: Joanna besiegt den Dämon Modroch. Über 400 Jahre später scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Modroch kehrt zurück und plant seinen Rachefeldzug. Doch seine einstigen Widersacher waren nicht untätig und hielten ihr Wissen in der „Chronik der Hagzissa“ fest. Verstehen es die Erben, mit dieser mächtigen Waffe umzugehen?

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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
DANKSAGUNG
Nachwort von Stefanie Altmeyer
Andra Leabhar

 

 

 

 

 

3. Auflage, 2020

© Andra Leabhar, 2018

(Dieser Titel wurde 2015 als „Chronik der Hagzissa“ veröffentlicht)

Herstellung&Satz: MACHWERKE Verlag, Trier

© Covergestaltung: BenSwerk, Berlin

Nachwort und Literaturverweise: Stefanie Altmeyer

Lektorat: MACHWERKE Verlag, Trier

 

 

ISBN 978-3-947361-16-8

 

MACHWERKE Verlag, Trier

[email protected]

www.machwerke-verlag.de

 

Alle Rechte vorbehalten.

Sämtliche Inhalte, Fotos und Grafiken dieses Machwerkes sind urheberrechtlich geschützt. Sie dürfen ohne vorherige Genehmigung weder ganz noch auszugsweise kopiert, verändert, vervielfältigt oder veröffentlicht werden.

*

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

*

 

 

 

DISCLAIMER:

 

Liebe Leserinnen und Leser,

 

der Dark Fantasy-Roman *Hagzissa-Chronik der Hexen* enthält

explizite, brutale Sprache und Szenen ebenso wie Darstellungen

von ungeschütztem Geschlechtsverkehr. Sollten Sie Probleme damit haben, sehen Sie bitte vom Lesen dieses Buches ab.

Vom Nachahmen der im Buch aufgeführten Szenen rät der Verlag/die Autorin dringend ab. Für etwaige Schäden, die dadurch entstehen könnten, übernimmt der Verlag/die Autorin keinerlei Verantwortung. Diese obliegt Ihnen ganz alleine. Gehen Sie bitte liebevoll und verantwortungsbewusst mit Ihren Mitmenschen und sich selbst um.

*

Die im Text genannten Personen und fantastischen Wesen, egal ob lebendig, tot oder untot, sind allesamt frei erfunden. Dies gilt auch für Zeitungsartikel, Mails und Nachrichten jeglicher Art. Sie wurden nie geschrieben oder veröffentlicht und entspringen alleine der Fantasie einer kreativen Autorin.

*

Wenn Ihnen diese Lektüre gefallen hat, dann erzählen Sie es weiter, schreiben Sie eine Rezension darüber und empfehlen Sie sie Ihren Freunden und Bekannten. So fördern Sie nicht bloß diesen Verlag und die Autorin, sondern auch eine fantastische Lesewelt. Danke.

 

 

Andra Leabhar

 

 

 

 

 

 

 

 

Hagzissa

Chronik der Hexen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dark Fantasy Roman

 

 

 

 

 

 

 

Dark Fantasy

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Ruby, Tanja und Andrea.

 

Prolog

Er starrte auf das Treiben und frohlockte. Ein ruchloser Engel, der voller Gier auf den Verfall der Menschheit lauerte. Ihm verlangte nach Zwietracht und Missgunst, nach Zorn und Neid, nach all den anderen Verfehlungen, die sie Sünden nannten. Sünden! Welch ein Frevel, diese einzigartigen, starken Gefühle zu beklagen, ja gar zu missbilligen. Dabei waren es gehaltvolle Empfindungen und somit pure Energie, um seinem Wesen als Antrieb und Nahrung zu dienen. Er brauchte sie. Und sie hatten ihm diese Gefühle viel zu lange vorenthalten, ihn damit aus ihrer Welt verbannt.

Die Zeit seiner Rückkehr kam mit jedem Tag näher. Die Menschen waren reif, die Ernte stand bevor. Er hatte sie beobachtet. Er hatte den Aufbau und den Fall ihrer Städte und Gesellschaften erlebt, hatte sie stürzen und wieder aufstehen sehen. Doch endlich neigte sich die Waagschale zu seinen Gunsten.

In den Städten regierten Wahn und Feuer. Hungrigen Wölfen gleich fielen die Menschen übereinander her. Sie bezichtigten sich der aberwitzigsten Handlungen mit Luzifer und anderen Dämonen und wussten doch nicht, dass ihnen der richtige Krieg erst noch bevorstand. Sie folterten einander auf herrlichste Weise. Ihr Einfallsreichtum kannte dabei keine Grenzen und je abscheulicher die Torturen waren, desto mehr Energie setzten sie frei. Mord und Tod dezimierten die, die an Gott glaubten, ebenso, wie Ideologie und Engstirnigkeit. Sie fürchteten ihren Heiland und den Teufel gleichermaßen und lebten in ständiger Angst vor dem Zorn ihrer Götzen. Ihnen zum Wohle opferten sie ihr Leben, ihre Kinder und ihren Verstand.

„Gut so!“, hohnlachte er. „Ihr Würmer ächtet Meister wie mich und metzelt im selben Atemzug im Namen eures feinen Herrn. Macht weiter, bestellt mir den Acker, sodass ich kommen kann, euch zu erlösen.“

Dann fiel sein Blick auf die kleinen Gruppen, die abseits des Treibens standen. Zunächst unscheinbar und von ihm unbeachtet, hatten sie sich wie zähes, heimtückisches Geschmeiß in seinen Ackerboden gewühlt.

„Wenn nur ihr nicht wärt“, grollte er. „Ihr, die Feinde jener menschenverachtenden Intoleranz. Hebammen, Heiler und wie ihr euch sonst noch nennt. Elendes Pack! Elende Hagzissas!“

Er hatte tatenlos zusehen müssen, wie sie sich karnickelgleich vermehrten und die Welt mit Wohltat und Mitgefühl überschwemmten. Niedrige Gefühle, die denen eines Dämons nicht würdig waren, und die ihm gefährlich werden konnten. Er musste handeln und konnte es doch nicht. Er wusste, sein Zögern war ein Wagnis. Und so sehr es ihn auch drängte, war es eine bittere Notwendigkeit. Noch reichte seine Kraft nicht für den finalen Schlag. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sie aus der Ferne anzubrüllen, sie zu verfluchen und ihnen die wildesten Träume zu schicken. Bilder von Verwüstung, Marter und Tod.

„Bald werde ich über euch kommen“, spie er ihnen entgegen. „Ich werde euch bei lebendigem Leib die Gedärme herausreißen und eure Herzen verschlingen. Eure Schädel werde ich zu Staub zermalmen und nichts von euch übrig lassen. Nie wieder sollt ihr mir gefährlich werden und meine Pläne durchkreuzen, ihr widerwärtigen Hexen!“

Grimmig ging er auf die Suche, kundschaftete und fand einem geeigneten Platz für sein Vorhaben. Da, in jener Stadt am Fluss, brannten die Feuer höher als andernorts. Die Flammen streckten ihre Zungen gierig in alle Richtungen aus und legten einen unvergleichlichen Flächenbrand. Dieser Ort war der rechte für den Beginn seines verheißungsvollen Kreuzzuges gegen die Tugenden. Die wenigen Hagzissas, die in der Stadt lebten, würde er mit Leichtigkeit zur Strecke bringen. Er würde ihnen zeigen, wer ihr wahrer Erlöser war. Nicht Liebe, Hoffnung und Glaube waren ihre Befreiung, sondern alleine der Tod. Er, Modroch, würde sich ihrer Seelen erbarmen und sich an ihren Todesqualen weiden, denn er war der Gott der Unbarmherzigkeit. Und er war allmächtig!

Kapitel 1

„Schon gehört? Wir kriegen einen Neuen!“ Aufgeregt platze Marina in das Schreibbüro und tänzelte zu ihrer Freundin Stefanie. Die hörte augenblicklich mit dem Tippen auf und drehte sich zu ihrer Kollegin um.

„Weiß ich! Hab ihn sogar schon gesehen“, triumphierte sie grinsend.

„Echt? Und? Erzähl! Wie sieht er aus?“

Stefanie betrachtete ihre grellrot lackierten Fingernägel.

„Mensch, Steff!“, motzte Marina. „Jetzt sag schon! Wäre er was für mich?“

„Finger weg!“, antwortete Stefanie. „Mein Typ! Groß, blond ...“

„Lange Haare?“

„Nicht ganz. Surfer-Frisur. Starke Wangenknochen und eine Nerd-Brille. Der hat ’nen Hintern und ’n Blick zum Dahinschmelzen!“

„Wow!“, kommentierte Marina hingebungsvoll.

Hanna hatte von ihrem Schreibtisch aus dem alltäglichen Small Talk ihrer Kolleginnen nur am Rande zugehört. Zwischenzeitlich hatte sie ihren Arztbrief fertig getippt. Die Gerüchteküche der Klinik interessierte sie, im Gegensatz zu ihren Kolleginnen, nicht sonderlich. War eine MTA schwanger oder stand eine Kündigung ins Haus: Marina und Stefanie wussten es als Erste und hielten nichts von Diskretion. Wollte man also eine Neuigkeit schnellstmöglich in der Klinik verbreiten, musste man es den beiden nur erzählen. Binnen eines Vormittags wusste es dann das gesamte Haus.

Hanna seufzte und schnappte sich die nächste Akte. Die sich öffnende Tür und den hereinschauenden Mann ignorierte sie geflissentlich. Wenn er etwas von ihr wollte, würde er sich schon melden. Ihre beiden Kolleginnen waren dermaßen ins Gespräch vertieft, dass sie ihn nicht kommen hörten. Der Mann blieb unschlüssig in der Tür stehen, sagte aber nichts.

„Wann fängt der Prachtkerl denn an?“, fragte Marina. Hanna schielte zur Tür. Ein amüsiertes Grinsen erschien auf dem Gesicht des Ankömmlings. Er rückte zuerst seine schwarze Hornbrille auf der Nase zurecht und deutete Hanna dann mit einem auf die Lippen gelegten Finger an, ihn nicht zu verraten.

„Am Montag.“ Stefanie fuhr sich über die Haare. „Ich gehe heute extra noch einkaufen. Ich brauche neue Schuhe. Mit denen hier bin ich bestimmt zu klein für ihn. Hab gehört, er steht auf große Frauen.“

„So ein Mist!“, motzte Marina ungehalten. „Ausgerechnet Montag habe ich frei. Muss gleich mal auf dem Dienstplan nachschauen, mit wem ich tauschen kann.“ Sie blinzelte ihrer Kollegin zu.

„Vergiss es! Mit mir ganz bestimmt nicht!“

„Doktor Wolf Hörling“, probierte Marina den Namen. „Schon das ist ein echter Knaller!“

„Rein fachlich gesehen, natürlich“, lästerte Stefanie.

Marina grinste vieldeutig. „Selbstverständlich. Er ist bestimmt ein Meister seines Fachs!“

„Was für ein Fachgebiet hat er doch gleich? Kamasutra?“

Die Frauen lachten laut.

„Wolf klingt so … so animalisch“, seufzte Marina dann. „Darf mir gar nicht vorstellen, wie der im Bett abgeht.“

Stefanie rückte sich nervös auf ihrem Schreibtischstuhl zurecht und schaute zum ersten Mal auf. Jetzt erst bemerkte sie den Mann, der ihrem Gespräch lauschte.

„Tu es besser nicht“, warnte sie ihre Kollegin und nickte gen Tür. Marina drehte sich um und riss die Augen auf.

„Ähhh“, stammelte sie. Hanna konnte ein Kichern beim besten Willen nicht mehr unterdrücken.

Der Lauscher kam nun herein und hielt Marina die Hand hin. „Doktor Wolf Hörling, der neue Assistenzarzt, Facharzt für Chirurgie. Und Kamasutra. Und außerdem ihr zukünftiger Vorgesetzter.“

Marina wurde rot bis zum Haaransatz und suchte Blickkontakt zu ihrer Freundin. Die riss die Augen auf, als ihre Kollegin statt eines Handschüttelns einen angedeuteten Handkuss bekam. Gierig streckte auch sie ihre Hand aus. Hörling erfüllte ihr den Wunsch gerne. Als er auch Hannas Hand forderte, verweigerte sie ihm diese jedoch und nickte ihm stattdessen einfach zu.

Der Arzt nahm es mit Humor und fuhr sich durch die halblangen, blonden Haare. „Ich wollte mich nur mal kurz vorstellen. Wir werden uns in Zukunft schließlich noch öfter über den Weg laufen.“

„Hoffe ich doch“, flüsterte Marina, doch für alle hörbar. Ihr Blick sprach Bände. Sie musterte den Mann unverhohlen.

„Wie Sie wissen, fällt Herr Breuer für die nächste Zeit krankheitsbedingt aus. Man fragte mich, ob ich nicht schon heute anfangen könnte. Nun“, er breitete die Arme aus, „hier bin ich. Der neue Meister des Fachs. Ich wünsche den Damen einen angenehmen Arbeitstag. Zögern Sie nicht, mich anzusprechen, wenn Sie meinen fachlichen Ratschlag benötigen.“ Er musterte Hanna ein letztes Mal, tippte sich an die Stirn und verließ die Schreibstube.

„O-m-G!“, hauchte Marina.

„Kannst du laut sagen!“, antwortete Stefanie beeindruckt.

„Oh! Mein! Gott!“, rief Marina und lachte dann. „Das ist der geilste Wolf ever!“ Sie schnappte sich eine Akte und klemmte sie sich unter den Arm. „Ich bin dann mal weg! Er hat bestimmt Arbeit für mich.“

„Lass bloß die Finger von ihm!“

„Nichts da! Ich geh jetzt zum Direktdiktat“, juchzte Marina und verschwand mit leisem Wolfsgeheule.

Hanna atmete erleichtert auf. So schnell würde sie die neugierige Kollegin sicherlich nicht mehr zu Gesicht bekommen. Sie würde garantiert keine Sekunde von Hörlings Seite weichen und spätestens heute Abend mit ihrem neuen Haustier an der Leine aus der Klinik marschieren. Bleibt abzuwarten, ob die Männer im Team auch so begeistert sind, wie Marina und Stefanie, überlegte Hanna.

„Macht es dir was aus, wenn ich kurz das Fenster aufmache?“, fragte sie Stefanie. „Hier drin stinkt es.“

Die Kollegin schnupperte. „Macht mich ganz wuschig. Ist wohl das Aftershave vom Wolf.“

Hanna stand auf und kippte das Fenster.

Der Wolf kehrt nach Deutschland zurück. Hatte sie diese Schlagzeile nicht erst kürzlich irgendwo gelesen? Jetzt hatte es ihn sogar bis ins Städtische Klinikum von Trier getrieben. Er würde sicherlich neuen Wind in den Laden bringen.

Miefigen Wolfsgestank. Die Kolleginnen schienen sich nicht daran zu stören. Doch der unangenehme Schweißgeruch von Hörling war ihr nicht entgangen.

Als sich der Arbeitstag dem Ende neigte, räumte Hanna den Schreibtisch auf und packte ihre Tasche. Weder Marina noch der neue Arzt war aufgetaucht und so hatte sie, unbehelligt von weiteren Störungen, ihre Arbeit erledigen können. Auch Stefanie hatte schweigsam ihre Briefe getippt und kein Wort mehr über den Neuen verloren. Sie redeten ohnehin nicht viel miteinander, sie wussten schlichtweg nichts miteinander anzufangen. Marinas Welt war so ganz und gar nicht Hannas. Mit Glamour, Mode und Oberflächlichkeit konnte sie nichts anfangen. Ansonsten gab es nichts, das ihre Kollegin zu interessieren schien, von privaten und pikanten Details anderer einmal abgesehen. Die ihren hielt Hanna grundsätzlich geheim. Es wäre ein gefundenes Fressen für Marina und Stefanie gewesen, und wahrscheinlich auch für die gesamte Abteilung, wenn sie von Hannas ‚Spleen‘ gewusst hätten. Die Kolleginnen lästerten ohnehin schon über genügend Dinge ab. Dass Hanna Heiligenscheine um die Köpfe anderer sah, hätte es auf der Läster-Hitliste sicherlich auf den ersten Platz geschafft.

„Hey, cool! Ich habe eine neongrüne Wolke um meinen Kopf. Passt die denn auch zur momentan angesagten Fashion?“ oder „Dunkelrosa? Shit! Wenn es heller wäre, würde es besser mit meinem neuen Blush harmonieren.“

Sie konnte sich die Sprüche schon denken. Hanna, die Merkwürdige. Hanna, die Eso-Spinnerin. Auch wenn der Gedanke, sich ein für alle Mal von diesen aufgedrehten Hühner zu distanzieren, ein angenehmer war, so war doch ihr Job in der Abteilung nur durch Teamwork zu erledigen. Und da ihre Anstellung und das damit verdiente Geld wichtig waren, tat sie ihre Arbeit und hielt die Klappe. Und ganz so schlimm war es hier im Schreibbüro nicht. In anderen Abteilungen war es schließlich auch nicht besser. In der Gynäkologie hatte es erst vor Kurzem ein eiligst einberufenes Abteilungsgespräch gegeben, weil sich zwei MTAs in die Wolle bekommen hatten. Die eine hatte der anderen aus Zorn über einen auf den weißen Kittel verschütteten Kaffee eine Haarsträhne abgeschnitten, woraufhin die andere ihr aus Rache bei nächster Gelegenheit die Krankenakten vertauscht hatte. Der Eklat folgte, als einer älteren Privatpatientin daraufhin statt der geplanten Verödung der Hämorrhoiden eine Spirale eingesetzt wurde. Man wurde erst hellhörig und kontrollierte die Akte, als die Patientin sich mit den Worten verabschiedete: „Die Jungen lassen sich die Falten aus dem Gesicht spritzen, die Alten am Hintern.“ Danach gab es heftigen Ärger in der gynäkologischen Abteilung. Dagegen ging es hier im Schreibbüro regelrecht gemächlich zu. Vom gelegentlichen, büroüblichen Klatsch und Tratsch abgesehen, ließ man sich in Ruhe und ging konzentriert seiner Arbeit nach.

 

16 Berichte in 6 Stunden. Rekordverdächtig! Hanna freute sich und schob den Bürostuhl an den Tisch. Und jetzt heim zur Pasta. Ihre Freundin und WG-Genossin Juls hatte versprochen zu kochen. Von deren Nudelauflauf konnte Hanna nicht genug bekommen. Ob sie noch schnell bei der Tankstelle vorbeifahren sollte, um eine Flasche Rotwein zu besorgen?

„Schon auf dem Heimweg? Wartet dort jemand auf Sie?“ In Wolf Hörlings Stimme lag für Hannas Geschmack zu viel Überheblichkeit.

„Sicher“, gab sie knapp zurück. Sie würdigte ihn keines Blickes und betrachtete stattdessen stur die Anzeige des Aufzugs. Warum brauchten die Dinger eigentlich immer eine Ewigkeit?

„Anzunehmen, bei solch einer Schönheit“, schleimte Hörling weiter. „Darf ich es trotzdem wagen, Sie zum Essen einzuladen? Ich kenne mich in Trier nicht aus. Schlagen Sie ein Restaurant vor.“

Jetzt blickte sie doch auf. Er lächelte und wirkte charmant. Aber der schmutzig grüne Schatten um seinen Kopf stand ihm überhaupt nicht.

„Danke, nett gemeint“, erwiderte Hanna. „Ich habe heute Abend bereits eine Verabredung.“

„Das heißt im Klartext: Sie leben alleine und haben sich auswärts verabredet. Sie sind also nicht gebunden.“

Sie starrte ihn an. Hinter ihr öffnete sich mit leisem Rauschen die Aufzugstür. Ohne Antwort zu geben wandte Hanna sich ab und wollte in den Fahrstuhl steigen. Eine Hand griff nach ihrem Oberarm und eine elektrische Entladung stach ihr wie ein Nadelstich ins Fleisch. „Morgen vielleicht?“, fragte der Arzt. „Ich bin ungern alleine.“

„Dann kaufen Sie sich einen Hund!“, fauchte Hanna zurück, riss ihren Arm los und trat in den Aufzug. Die Türen schlossen sich und die Kabine setzte sich mit leisem Brummen in Bewegung. „Arroganter Sack!“ Sie nahm sich vor, ihm zukünftig aus dem Weg zu gehen.

Hanna fuhr an der Tankstelle vorbei und kaufte eine Flasche Dornfelder. Es war kurz vor sechs, als sie die Wohnungstür aufschloss. Knoblauch- und Basilikumgeruch schlugen ihr entgegen. „Hi, Juls, ich bin zu Hause!“, rief sie gut gelaunt.

„Du hast noch 10 Minuten“, antwortete die Freundin von der Küche aus. Dem Geräusch nach siebte sie etwas.

„Nachtisch?“, rief Hanna, während sie die Tasche abstellte und die Jacke auszog.

„Klaro! Tiramisu á la Casa.“

Hanna steckte den Kopf durch die Küchentür und schnupperte. „Lecker. Ich geh schnell noch unter die Dusche, ok?“

Juls hatte ihre roten Haare zum Knoten hochgebunden und stand in Küchenschürze vor der kleinen Arbeitsfläche. Eine Strähne hatte sich aus ihrem Haarknoten gelöst und badete gerade im Quark. „Beeil dich, sonst futtere ich den Nachtisch alleine.“ Sie schleckte lachend die letzte Mascarponecreme aus der Schüssel. „Willst du probieren?“ Sie hielt Hanna einen Finger voll Creme hin.

„Danke“, winkte Hanna ab. „Ich zähle auf deine Beherrschung.“

„Zähl nicht zu lang.“ Auf Juls‘ Kinn hing dunkler Kakao. „Ist viel zu lecker, um sich beherrschen zu können.“

 

Vierzig Minuten später saßen die Freundinnen am Wohnzimmertisch vor der leeren Auflaufform und aßen Tiramisu. Schon während des Essens hatte Hanna Juls von den neusten Ereignissen in der Klinik berichtet.

„Was für eine Farbe hatte er denn?“, wollte die Freundin wissen. Juls machte keinen großen Staatsakt daraus, sah es als normal an, Farbschatten um anderer Leute Köpfe zu sehen, und machte gerne ihre Witze damit. „Nein, halt, warte. Lass mich raten: ein dunkles Kackbraun!“

„Fast“, kicherte Hanna. „Kotzgrün!“

Juls lachte und verschluckte sich am Rotwein. „So schön bunt es ist, aber wie hältst du das mit den Farben bloß aus? Ich hatte mal eine Brille, da habe ich immer Regenbogenfarben gesehen, wenn ich nur zur Seite geschaut habe. Der schnuckelige Optiker musste mir eine Neue machen. Machte mich kirre!“

„Der schnuckelige Optiker oder die neue Brille?“

Sie lachten beide herzlich und verschütteten dabei fast ihren Wein.

„Kotzgrün“, kam Juls wieder auf das eigentliche Thema zurück. „Passt zu dem Macho. Recht so, ihm einen Hund zu empfehlen.“

Sie schenkte ihnen den letzten Dornfelder ein.

„Na ja, ich hoffe nur, der Schuss geht nicht nach hinten los. Immerhin ist er jetzt mein Vorgesetzter.“

„Sind auch nur Menschen“, meinte Juls. „Gehst du eigentlich am Wochenende wieder zu deiner schrumpeligen Rosine?“

„Rosina“, korrigierte Hanna automatisch und seufzte innerlich. Über den Namen ihrer Oma machte sich Juls nur zu gerne lustig. „Ich wollte morgen nach der Arbeit wenigstens kurz bei ihr vorbeischauen.“

„Und ich wollte ins Kino.“ Juls räumte die Teller zusammen. „Der neue Johnny-Depp-Film läuft.“

„Zur Abendvorstellung kann ich mitkommen.“ Hanna griff sich die leere Auflaufform und lief mit in die Küche.

„Ich wollte vorher noch zum Eishockey. Der ESC spielt morgen gegen die Bären aus Bitburg.“

„Du und dein Eishockey“, lachte Hanna. „Mir ist das viel zu aggressiv.“

„Eben, drum geh ich ja hin. Schwitzende, muskulöse Testosteronbolzen, die ordentlich zupacken. Geil!“

„Bei Gelegenheit stelle ich dir mal den neuen Wolf vor“, lästerte Hanna. „Der passt prima in dein Beuteschema.“

„Wenn er noch zu haben ist“, meinte sie schulterzuckend. „Und er bis dahin nicht schon von den MTAs zerfleischt und aufgeteilt worden ist.“ Sie nahm die Lasagne-Form entgegen und packte sie in die Spülmaschine. Ihre Hände zitterten nur kurz.

„Alles ok?“, fragte Hanna besorgt und beäugte den Farbsaum, der um Juls’ Kopf erstrahlte. Das Orange hatte nach wie vor eine kräftige Farbe. Es erinnerte Hanna immer an das Fruchtfleisch einer reifen Papaya.

„Bestens.“ Wenn Juls getrunken hatte, war es um ihrer Körperbeherrschung nicht gut bestellt. Als sie eine zweite Flasche Rotwein aus dem Flaschenkorb holte, wagte Hanna zu widersprechen. „Findest du es gut, so viel …“

Juls zog sie ungeduldig am Arm. „Die epileptischen Anfälle kommen so oder so. Ich sterbe schon nicht. Also hör auf zu nerven und komm. Wir haben ein Date. Typen wie Eric lässt man nicht warten!“

Kapitel 2

Hanna fand das Schreibbüro am Freitagmorgen leer vor. Sie legte Jacke und Tasche ab und kochte sich erst einmal eine Kanne Tee, bevor sie sich die Arbeitsliste der Untersuchungen vom Nachtdienst ansah. Es musste eine ruhige Schicht gewesen sein. Gerade mal zehn Fälle gab es aufzuarbeiten. Sie schenkte sich eine Tasse Tee ein und machte sich an die Arbeit. Sie saß an der ersten Akte, als die Tür aufging und der neue Chef hereinkam.

„Einen wunderschönen guten Morgen, hübsche Frau. Na, wie war Ihr Date gestern?“

Hanna sah vom Bildschirm auf. „Guten Morgen“, grüßte sie und dachte an den attraktiven Eric. Ob man einen fiktiven Wikingervampir aus Louisiana als richtiges Date bezeichnen konnte?

Immerhin habe ich den ganzen Abend mit ihm verbracht. Ich lag auf der Couch und er war im Fernseher. Aber das musste sie Hörling ja nicht auf die Nase binden.

„Scheint ein netter Abend gewesen zu sein“, deutete Wolf Hannas Gesichtsausdruck. „Mehr als das“, konnte sie sich nicht verkneifen und erinnerte sich an die Szene, in der Eric nackt einem See entstiegen war.

Der Doktor winkte ab. „Ein Abend mit mir hätte Ihnen bestimmt genauso gut gefallen. Aber was nicht war, kann ja noch werden, oder?“

Es klopfte plötzlich laut an der Tür. Pfleger Klaus Bornheim kam herein.

„Hi, Hanna!“, grüßte er fröhlich und blieb abrupt stehen, als er den neuen Assistenzarzt sah. „Oh, guten Morgen Herr Doktor Hörling. Störe ich?“

„Nein, nein, Klaus“, antwortete Hanna schnell. „Gibt es sonst noch etwas zu besprechen, Herr Doktor Hörling?“ Sie hatte die Frage betont höflich gestellt.

„Nichts, was wir nicht auch noch später klären könnten, Frau Strobel“, gab Hörling ebenso freundlich zurück. Er nickte dem Pfleger kurz zu und verschwand.

Klaus wirkte etwas verwirrt. „Bekommst du neuerdings persönliche Morgengrüße vom Neuen?“

Hanna zuckte nur mit den Schultern. „Was gibt’s?“, lenkte sie vom Thema ab.

„Wegen der Faschingsfeier … Marina hat ‚Himmel und Hölle‘ vorgeschlagen.“

„Du weißt doch: Ich mache da nicht mit.“ Hanna weigerte sich jedes Jahr, an dem Klamauk teilzunehmen, und boykottierte alles, was mit Fasching zu tun hatte.

„Ich dachte bloß“, murmelte er. „Hätte ja sein können, dass du mal eine Ausnahme machst. Ich wollte dich jedenfalls gefragt haben.“

„Das ist nett, Klaus.“

Der Pfleger war der Einzige auf der Station, mit dem sie sich gerne unterhielt und gelegentlich in die Kantine zum Mittagessen ging.

„Treffen wir uns nachher in der Cafeteria?“, fragte sie versöhnlich.

Die Tür wurde plötzlich ohne Vorwarnung aufgerissen und Stefanie stöckelte herein.

„Hallöööchen“, rief sie, knallte ihre Tasche auf den Schreibtisch und klapperte zur Kaffeemaschine, ohne sich weiter um die Anwesenden zu kümmern. Sie startete die Maschine und schaltete das Radio ein. Lautes Gedudel plärrte durchs Büro. Dann setzte sie sich wortlos an ihren Platz und fuhr den Computer hoch. Dabei würdigte sie Hanna und den Pfleger keines Blickes.

„Ich bin ab 12 weg“, versuchte Klaus über den Krach hinweg zu antworten. Genervt drehte er die Lautstärke des Radios herunter.

Stefanie quittierte es mit einem wütenden Blick. „Ey, das ist das neue Lied von Katy Perry. Lass das!“

„Bullshit!“, kommentierte Klaus und wandte sich wieder an Hanna. „Ich muss heute meinem Kumpel beim Umzug helfen. Morgen wieder, ok?“

„Klar. Pass auf deinen Rücken auf. Du bist schließlich nicht mehr der Jüngste.“

„Und du auf dein Gehör“, gab er lachend zurück und verließ das Büro.

 

Hanna saß vor ihrem Tablett und stocherte missmutig in ihrem Mittagessen herum. Juls’ Thaicurry schmeckte wesentlich besser und sah vor allen Dingen appetitlicher aus.

„Ist hier noch frei?“ Wolf Hörling wartete nicht erst ab, sondern setzte sich ungefragt neben sie und stellte sein Tablett auf den Tisch.

„Sieht lecker aus. Schmeckt es auch so?“, fragte er und stopfte sich schon den ersten Bissen in den Mund. „Mmhhm.“ Er brummte genüsslich und nickte vor sich hin.

Hanna legte ihre Gabel beiseite, wischte sich den Mund ab und drückte die zerknüllte Serviette demonstrativ auf den Essensrest. Normalerweise tat sie so etwas nicht, doch heute war ihr danach.

„Schon fertig?“ Hörling verschluckte sich, ließ das Besteck fallen und hustete.

„Mit vollem Mund spricht man nicht!“ Hanna reichte ihm mit der einen Hand die Serviette und wollte ihm mit der anderen helfend auf den Rücken schlagen. Doch dann erinnerte sie sich an die unangenehme Berührung im Aufzug und ließ die Hand wieder sinken.

„Das glaub ich jetzt nicht!“, hörte sie Stefanie von der Kasse aus rufen. Mit ausgestreckter Hand deutete die Kollegin in Hannas Richtung und begann sogleich mit ihrer Freundin Marina zu tuscheln.

„Geht schon wieder“, krächzte Hörling gequält. „Ich wäre fast erstickt.“ Er beugte sich vertrauensvoll zu ihr herüber. „Ich entschuldige mich für meine miserablen Manieren. Ich beweise dir das Gegenteil gerne heute Abend bei einem schicken Essen.“

Wann habe ich dir eigentlich das Du angeboten?

„Kein Bedarf“, knurrte sie, schnappte sich ihr Tablett und stand auf. „Ich fürchte, dazu sind unsere Geschmäcker zu verschieden.“ Dann besann sie sich ihrer Lage. Er war ihr Vorgesetzter, Anmache hin oder her. „Trotzdem danke für die Einladung zum Abendessen“, fügte sie hinzu. „Vielleicht ein anderes Mal.“ Sie drehte sich um und prallte prompt gegen Marinas Tablett.

„Super, hier wird frei“, freute sich die Kollegin. „Dürfen wir?“ Marina zeigte Hanna die kalte Schulter, blinzelte Hörling zu und setzte sich, wie auch schon der Assistenzarzt ein paar Minuten zuvor, einfach auf den freigewordenen Stuhl. Stefanie rückte mit ihrem Tablett nach, musterte Hanna aber von oben bis unten.

„Schon fertig?“, fragte sie ironisch.

Hanna ließ die Kolleginnen einfach stehen. Das muntere Geplapper über Marinas neue Schuhe ging im allgemeinen Gemurmel unter, als sie die Cafeteria verließ.

Kapitel 3

Wie jeden Freitag machte Hanna gegen drei Uhr mittags Feierabend und fuhr in die Nordstadt, wo Oma Rosina in einem Häuschen wohnte. Sie stellte den Wagen in der Einfahrt ab. Oma besaß kein Auto und das Pflaster war längst von Moos und Gras verdeckt. Entlang der Grundstücksmauer schlängelte sich Efeu. Ein üppig blühender Busch mit langen, orangenen Blüten wucherte über die Mauerkrone. Hanna stieg die wenigen Stufen zur Tür hinauf. Auch hier hingen und standen überall Pflanzen, blühten Stiefmütterchen und andere Blumen, deren Namen Hanna nicht kannte. Ihre Oma hatte ein Faible für allerlei Grünzeug. Der gesamte Garten war ein Urwald und in einer sonnigen Ecke gab es sogar einen Kräutergarten. Früher, als Rosina noch mobiler gewesen war, war sie sogar nachts auf die Suche nach ganz besonderen Gewächsen gegangen. Doch das war schon eine Zeit lang her.

Hanna klingelte. Nach einer halben Minute hörte sie drinnen Geräusche, dann drehte sich der Schlüssel im Schloss und die Tür öffnete sich.

„Hanna, wie schön!“ Die vielen Falten in Rosinas Gesicht wurden stets ein wenig tiefer, wenn sie lachte. Und Oma lachte oft. Hanna konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, ihre Oma je anders gesehen zu haben. Die alte Dame trug wie eh und je Schürze und rote Filzpantoffeln. Ihre langen, grauen Haare hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten. An ihrem Hals baumelte eine Kette mit hölzernem Anhänger. Es war das Pendant zu dem verschlungenen Knoten, den Oma ihr zum Einzug in die WG geschenkt hatte, und den Hanna gelegentlich trug. Omas war vom vielen Tragen jedoch dunkler geworden.

„Komm, Schätzchen.“ Rosina öffnete die Tür vollständig und ließ Hanna eintreten. Wie immer roch es im Haus nach Maiglöckchen und frisch gebackenem Kuchen. „Ich habe schon auf dich gewartet. Komm in die Küche. Ich mache dir gleich einen heißen Kakao.“

In der Küche stand ein alter, gusseiserner Herd, wie er manchmal noch in alten Bauernhöfen, nicht jedoch in einem modernen Haushalt zu finden war. Rosina schwor auf diesen Dinosaurier, der gleichzeitig als Ofen für die riesige Küche diente. Sie nahm einen der Töpfe, die an Haken von der Decke baumelten, füllte Milch hinein und stellte den Topf auf die warme Herdplatte. „Wie war deine Woche, Schatz?“, fragte sie beiläufig, während sie das bereitgestellte Schokoladenpulver und Zucker in die Milch hinein rieseln ließ. Mit leisem Scheppern schlug der Rührbesen gegen den Topf.

„Mäßig“, gestand Hanna und setzte sich an den alten Küchentisch. Die Holzoberfläche war mit unzähligen Kratzern und Flecken übersät. Eine Patina, die von einer langen, interessanten Geschichte zeugte.

„Wegen dem neuen Assistenzarzt?“

Mittlerweile wunderte sich Hanna nicht mehr über Rosinas Wissen. Oma war stets bestens informiert. „Ein ziemlich aufdringlicher Typ“, seufzte sie. „Der ist voll von sich überzeugt und will mich ständig zu einem gemeinsamen Essen einladen.“

Rosina drehte sich zu ihr um. „Er meint es nur gut, Schätzchen. Er ist bestimmt einsam.“

„Kennst du ihn? Woher weißt du überhaupt, dass wir einen neuen Arzt haben?“

„Die Bekannte meines Nachbarn kennt jemanden aus der Personalabteilung vom Krankenhaus“, war die Antwort. Rosina drehte sich wieder zum Herd und begann erneut zu rühren. Der Schneebesen schlug jetzt einen schnelleren Takt.

„Aha“, machte Hanna und lachte. „Dir bleibt wohl nichts verborgen, wie?“

„Selten. Weißt du doch.“ Rosina nahm eine große Tasse aus dem Unterschrank und stöhnte leise, als sie sich wieder aufrichtete.

„Wie geht es eigentlich mit deiner neuen Hüfte?“, erkundigte sich Hanna sorgenvoll. Anhand der Unterlagen, die sie in der Schreibstube bearbeitet hatte, war Omas Hüft-OP komplikationslos verlaufen.

„So lala“, wiegelte Rosina ab. „Wie es in meinem Alter eben zu erwarten ist.“ Sie füllte den heißen Kakao um und stellte die Tasse vor Hanna auf den Tisch. Ein Teller mit einem riesigen Stück Nusskuchen folgte. Dann setzte sie sich. „Lass es dir schmecken“, meinte sie und lächelte aufmunternd.

„Und du? Isst du nichts?“ Hanna nahm ein Stück Kuchen auf die Gabel und betrachtete den dicken Guss.

„Ich muss auf meinen Zucker achten.“, antwortete Rosina und zuckte mit den Schultern. „Aber mir macht es Spaß, dir deinen Lieblingskuchen zu backen. Das weißt du doch.“

„Zum Glück“, lachte Hanna und steckte sich den Kuchen in den Mund. Er schmeckte köstlich. Sie hatte den zweiten Bissen genommen, als sich ihre Oma plötzlich räusperte.

„Ich wollte noch etwas mit dir bereden, Kind“, begann sie. Überrascht blickte Hanna vom Kuchenteller auf.

„Es geht um mein Haus …“ Verlegen drehte Oma ihren Anhänger. „Ich habe ja nur noch dich …“ Gedankenverloren strich sie das Relief des Talismans nach. „Und wie du weißt, kümmern sich die wenigen Anverwandten nicht um uns. Aber ich wette, wenn ich das Zeitliche segne, fallen sie wie die Geier über meine bescheidene Habe her.“

Hanna bekam den Rest des Kuchens nur mit Mühe hinunter.

„Aber so ist das nun mal. Verwandtschaft kann man sich leider nicht aussuchen. Freunde glücklicherweise schon. Anwesende natürlich ausgenommen.“ Rosina blinzelte ihr zu. „Ich bin froh, dass ich dich so oft um mich habe, Schatz!“ Dann holte sie tief Luft. „Ich war diese Woche beim Notar“, erklärte sie. „Ich habe dich als meine Haupterbin eintragen lassen.“

Hanna starrte sie mit offenem Mund an. „Du wirst nicht sterben“, sagte sie automatisch und schielte zu Rosinas Aura. Sie funkelte in einem kräftigen, gesunden Violett. „Du bist kerngesund! Wie eh und je!“

Oma musterte sie aufmerksam. „Dennoch weiß man nie, was wird. Manchmal kommt der Tod ganz plötzlich und auf unvorhersehbare Weise. Darauf möchte ich vorbereitet sein.“ Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder und starrte lange zum Fenster hinaus. Nach einer Weile sagte sie: „Ich habe dir mit meinem Altweibergewäsch hoffentlich nicht den Appetit verdorben.“

„Quatsch!“, murmelte Hanna verlegen. „Ich weiß nur nicht, was ich sagen soll.“

„Es ist nicht viel, nur ein bisschen was. Und es macht zudem viel Arbeit. Alleine der Garten!“ Rosina blickte hinaus in das üppige Grün. Ein paar Zweige ihres Lieblingsbaumes, eines Wacholders, waren schon an den Rand des Fenstersimses gewachsen. Manchmal schnitt Oma einen kleinen Zweig ab und räucherte damit ihr Haus aus. Sie hatte dies auch bei Hannas Einzug in die WG getan. Juls hatte sich fürchterlich darüber aufgeregt und war sogar für einen Tag ausgezogen, „weil es stinkt, wie in der Kirche“.

„Er wird mir fehlen!“, seufzte Oma.

Diesmal blieb der Kuchen tatsächlich hängen. Hanna musste mit Kakao nachspülen. „Vielleicht solltest du mir Nachhilfeunterricht in Gartenarbeit geben“, meinte sie dann, in der Hoffnung, Rosina wieder aufzumuntern. „Ich verstehe nicht viel von Blumen, Büschen und Bäumen.“

Ihre Rechnung ging auf. Oma lachte schon wieder. „Ach!“, winkte sie ab. „Nichts leichter als das! Du könntest mit dem Mähen der Wiese anfangen. Da wäre gerade die rechte Zeit für.“

„Wiese? Welche Wiese?“, kicherte Hanna. „Du meinst wohl das Gestrüpp hinterm Haus.“

„Genau. Das Stückchen Erde, in dem meine fleißigen Helfer wohnen. Bienen, Hummeln, Erdwespen, Hornissen …“

„… neben Stechmücken, Bremsen und Ratten“, zählte Hanna weiter auf.

„Auch diese Lebewesen haben ihren Zweck zu erfüllen, Liebes. Egal wie unnötig oder lästig sie uns erscheinen. Dennoch werde ich demnächst wohl mein Bienenvolk verkaufen müssen.“

„Was?“, wunderte sich Hanna. „Ich dachte, du liebst deine Wuchtbrummen?“

Die zwei Bienenstöcke standen im hinteren Bereich des Gartens. Das Volk war derart fleißig zu Werk gegangen, dass Oma bald schon den überschüssigen Honig verkaufen musste.

Rosina seufzte schwer. „Der Methersteller, der mir immer den Honig abgekauft hat, hat die Produktion eingestellt. Es würde sich nicht mehr lohnen, seitdem große Firmen mitmischen, hat er gesagt. Und was soll ich mit 60 Kilo Honig anfangen?“

„Du könntest Lebkuchen backen“, schlug Hanna vor und trank ihren Kakao leer.

„Damit könnte ich ganz Trier mit Lebkuchen versorgen“, lachte Rosina und schüttelte den Kopf. „Nein, ich werde meine Bienchen wohl verkaufen. Ich habe schon beim Verein nachgefragt. Dort hat sich neulich eine junge Frau aus der Nähe von Bad Kreuznach gemeldet, die auf der Suche nach einem Volk ist. Eine Anfängerin. Vermutlich hat sie keine Ahnung, was da auf sie zukommt. Na ja, jeder hat schließlich mal klein angefangen. Da muss man ohnehin reinwachsen.“ Oma stand umständlich auf. „Noch Kakao?“

„Gerne.“

Oma schenkte nach und setzte sich dann wieder. „Schatz, hast du Lust, nächste Woche mit mir einen ausgedehnten Spaziergang zu machen?“, fragte sie. „Ich würde dir gerne mal die schönsten, ältesten Bäume in der Region zeigen.“

„Spaziergang?“ Hanna ging in Gedanken schon ihren Kalender durch. Samstags schlief sie immer aus, frühstückte dann spät und ließ sich ansonsten durchs Wochenende treiben. Abgesehen vom Nachmittagstee mit Jules gab es für das kommende Wochenende keine konkrete Planung. „Bei mir steht nichts Besonderes an. Aber schaffst du das denn? Ich meine, wegen deiner Hüfte?“

„Funktioniert“, winkte Rosina ab und nahm Hannas Teller. „Noch ein Stück?“

„Aber nur ein ganz kleines, dafür mit ganz viel Guss, bitte.“

„Ich habe den Guss ordentlich dick aufgetragen“, lachte Oma und schnitt eine extra große Scheibe Kuchen ab. „Ich weiß doch, wie sehr du Schokolade magst.“

„Ich gestehe“, seufzte Hanna genießerisch. „Ich bin tatsächlich ein Schokoholic.“ Sie stach den Guss als Erstes ab. Er zerging wie Butter auf der Zunge.

Rosina warf ihr einen amüsierten Blick zu. „Ihr Jungen und eure neumodischen Wortkreationen. Früher gab es so etwas nicht.“

„Klar, früher war eben alles besser“, neckte Hanna.

„Nein!“, widersprach Rosina ungewohnt heftig. „Früher war mitnichten alles besser, Kind. Aber lass uns von etwas Schönerem reden“, bat sie freundlicher. „Also kommst du mit mir spazieren? Sie haben bei CityRadio gesagt, das gute Wetter soll sich halten. Normalerweise kann man sich auf deren Vorhersage verlassen.“

„Wir fahren aber mit dem Auto.“ Oma hasste Autofahren, das wusste Hanna nur zu gut. „Natürlich nur, wenn du willst“, fügte sie schnell hinzu, um nicht allzu belehrend zu klingen.

„Noch vor ein paar Wochen hätte ich dich für diese Unverschämtheit aus dem Haus gejagt. Da hätte ich den Weg nach Quint noch zu Fuß geschafft. Doch jetzt … Angebot angenommen. Ich muss schließlich dem Alter Rechnung tragen.“

„Eher deiner Hüfte“, korrigierte Hanna. „Ist es ok, wenn ich dann Freitag nicht komme?“

„Sicherlich.“

„Um wie viel Uhr soll ich dich morgen in einer Woche abholen?“

„Passt dir zehn Uhr? Oder liegst du da noch in Morpheus’ Armen?“

„Morpheus? Nö, ich bin nach wie vor solo“, grinste Hanna. „Zehn ist ok. Kriege ich hin.“

„Gut. Zieh vernünftiges Schuhwerk an, Kind“, warnte Rosina. „Wir gehen auf Entdeckertour. Und eine Überraschung habe ich auch noch für dich.“

 

„Mensch, wo bleibst du denn?“, maulte Juls, als Hanna kurz nach sieben vor dem Kino ankam. Sie stand breitbeinig in Lederhose und -jacke vor dem Kino und wedelte mit den Karten. „Ich habe Tickets fürs Podest. Hoffentlich bekommen wir jetzt noch einen vernünftigen Platz.“

„Sorry“, entschuldigte sich Hanna und rannte hinter ihrer Freundin ins Foyer. Sie kam kaum nach, als Juls einen Spurt die Treppen hinauf absolvierte. „Wir haben uns verquatscht“, japste sie, als sie vor dem Kinosaal angekommen waren. „Und ich habe noch das Auto zu Hause abgestellt, bevor ich hierher kam.“

Juls war schon durch die Tür ins Halbdunkel geschlüpft und reckte den Hals nach freien Plätzen. Der Vorfilm lief bereits. „Da drüben, vor den beiden Typen ist noch was frei. Komm.“ Kurzerhand schnappte sie Hanna am Arm und zog sie die kleine Empore hinauf, in eine fast schon volle Reihe hinein. Genervt machten die Sitzenden Platz. Juls ließ sich in den freien Sessel plumpsen. „Jo, das passt.“, freute sie sich. „Prima Sicht von hier aus.“

„Schnauze“, motzte der Hintermann prompt.

Sofort drehte Juls sich nach ihm um. „Angenehm, Gehlen“, grüßte sie mit einem überaus freundlichen Lächeln zurück und fuhr süffisant fort: „Haben Sie schon einmal über eine Namensänderung nachgedacht? Wäre vielleicht angebracht. Sonst könnte Sie jemand eines Tages missverstehen und Ihnen ordentlich die Fresse polieren.“

„Hör auf!“, mahnte Hanna und zog ihre Freundin auf dem Sitz herum. „Lass das!“

„Ist doch wahr. Scheißtyp!“, zischte Juls ungehalten, während das Licht im Raum nun vollends erlosch. „Den soll der Blitz …“

„Ruhe!“, verlangte Hanna jetzt energisch. „Der Film fängt an.“

Juls starrte missmutig auf die Leinwand. „Ein Glück für den Typen, dass er nicht vor mir sitzt“, flüsterte sie. „Für die Unverschämtheit würde ich ihm nur zu gerne ins Kreuz treten.“

Kapitel 4

„Du hast mir noch gar nicht gesagt, wie es beim Eishockey war“, bemerkte Hanna, als sie später zusammen aus dem Kino kamen. Der Johnny-Depp-Film hatte Juls nicht wirklich zur Ruhe bringen können. „So, wie du drauf bist, scheint es ja aufregend gewesen zu sein.“

Juls zuckte mit den Schultern. „Stinklangweilig war’s! Keine Schlägerei, noch nicht mal die kleinste Debatte.“

„Hey, ich dachte, es geht ums Eishockeyspielen“, lachte Hanna und knuffte ihre Freundin in die Seite. „Fairness und so.“

Juls zog eine Schnute. „Nee, nix Fairness. Nur Adrenalin. Das muss brazzeln, dass die Luft vibriert. Dann macht’s doch erst so richtig Spaß.“

Hanna blieb vor einer roten Ampel stehen.

„So was verstehst du Mimöschen natürlich nicht.“ Ungeduldig zog Juls sie über die leere Straße.

„Das Mimöschen hat immerhin einen Wolf verscheucht. Ich komme mit schwitzenden Männern schon klar, nur eben nicht mit aggressiven.“

„Deshalb kommen wir uns auch nicht in die Quere.“ Juls legte ihr freundschaftlich den Arm um die Schulter und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Komm schon, war nicht so gemeint. Wir haben beide eben unterschiedliche Vorlieben. Ich mag’s heftig und gemein, du ruhig und blumig. Passt schon.“

„Soll ich das jetzt als Kompliment ansehen?“ Hanna beäugte ihre Freundin kritisch.

Die nickte. „Klaro. Du bist der ausgleichende Pol unserer Beziehung, der Fels in der Brandung, wie’s in der Werbung so schön heißt. Ohne dich wäre ich doch schon längst abgehoben.“

„Oder hättest eine verpasst bekommen. Der Typ hinter uns sah aus, als würde er dich fressen wollen.“

„Hätte er es nur mal versucht. Der hätte sich an mir sämtliche Zähne ausgebissen“, lachte Juls.

 

Ein paar Minuten später kamen sie zu Hause an.

„Prima“, nörgelte Juls an der sperrangelweit offen stehenden Haustür. „Hat der alte Sack wieder vergessen, die Tür zuzumachen.“

Hanna stapfte auf den Türstopper, um die Verriegelung zu lösen. Von oben hörte man ein Rumpeln. Dann kam jemand behände die Stufen hinunter gesprungen.

„Wohl doch nicht der alte Sack“, feixte Juls, als ein junger Mann auf dem Treppenabsatz erschien. Ihre Stirn zog sich kraus, als sie seinen fast kahlen Schädel sah. Sie stand auf Männer mit Haaren und nicht auf ‚Deoroller‘. Da half auch ein stoppeliger Dreitagebart nicht weiter. „Ein junger Sack, wie’s aussieht.“

„Guten Abend“, grüßte der Mann gut gelaunt. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne noch den letzten Karton reinholen, dann bin ich für heute fertig.“

Juls zuckte nichtssagend mit den Schultern.

Hanna hielt die Tür offen. „Sicher. Sind Sie der neue Mieter?“ Sein hellblauer Heiligenschein erinnerte sie an den Frühlingshimmel. Er passte perfekt zu seinen Augen.

Der Typ streckte ihr eine Hand hin. „Genau. Leif Konstantin“, stellte er sich vor und strahlte sie an.

Ohne die Haustür loszulassen reichte ihm Hanna die linke Hand zum Gruß. „Hanna Strobel. Und das hier ist Julia Gehlen. Wir wohnen auf demselben Stock, genau gegenüber von Ihnen.“

Juls nickte Leif zu, ohne ihm jedoch die Hand zu reichen.

„Nett, Sie kennenzulernen“, erklärte der neue Nachbar und wandte sich wieder zum Gehen. „So ein Umzug ist mehr Arbeit, als man glaubt. Eigentlich wollte ich vor einer Stunde fertig sein.“ Mit einem Lachen war er zur Tür hinaus. „Bin gleich wieder da.“

„Ich halte die Tür so lange auf“, rief Hanna ihm hinterher.

„Mach sie doch fest, dann kannst du gehen.“ Juls gähnte. „Ich verschwinde jedenfalls. Bin hundemüde. Tschö!“

Kaum war die WG-Tür hinter Juls zugefallen, kam Leif schwer bepackt wieder zurück.

„Nett von Ihnen“, japste er und wuchtete die Last durch den engen Durchgang. Stöhnend stellte er den Karton auf dem ersten Treppenabsatz ab, während Hanna die Haustür abschloss.

„Warten Sie, ich helfe Ihnen dabei“, schlug sie vor.

„Nur unter einer Bedingung“, forderte er und grinste spitzbübisch.

„Die da wäre?“

„‚Du‘! Bei ‚Sie‘ komme ich mir steinalt vor. Was ich nach der ganzen Tortur heute wohl auch bin, aber man muss es ja nicht noch zusätzlich durch ein ‚Sie‘ betonen, oder? Außerdem klingt das so nach ‚altem Sack‘.“

„Damit kann ich leben.“

„Womit?“, tat Leif irritiert. „Damit, dass ich ein alter Sack bin oder mit dem Angebot?“

„Angebot?“, konterte Hanna. „Wohl eher Erpressung.“

„Wie kann mein Vorschlag eine Erpressung sein, wenn ich Ihre Hilfe gar nicht einfordere, sondern Sie sie selbst anbieten?“

„‚Du‘!“, lachte Hanna. „Nicht ‚Sie‘. Sonst muss ich mir alt vorkommen. Und das wäre nicht ladylike.“

„Also nimmst du meine Erpressung an?“

„Unter einer Bedingung“, wiederholte Hanna.

„Welche?“

„Der Erpressung folgt ein Espresso!“ Sie hielt ihm diesmal die rechte Hand hin.

„Deal!“ Leif schlug lachend ein. „Aber ich warne dich: Ich weiß nicht, ob ich auf die Schnelle alle Zutaten für einen Kaffee finden werde. Bei mir herrscht heilloses Chaos.“

„Bei uns auch, aber wir haben eine Maschine, die auf Knopfdruck perfekte Heißgetränke liefert.“

„Wir?“

„Wie ich schon sagte: Juls und ich wohnen gleich gegenüber von dir. Mädels-WG!“, setzte sie sofort nach, weil sie glaubte, er könne etwas Falsches denken.

„Da bin ich aber erleichtert“, sagte er prompt und Hanna fühlte sich bestätigt. „Ich dachte schon, ich käme heute nicht mehr zu einem vernünftigen Kaffee.“

Gemeinsam hoben sie die Kiste an und schleppten sie nach oben. Als sie ihn in seiner Wohnung abstellten, japste nicht nur Leif nach Luft.

Hanna deutete auf den Karton. „Sag mal, was hast du denn da drin? Der ist ja bleischwer.“

„Lektüre.“ Leif klopfte sich den Staub von der Jeans. „Ich habe ein Faible für alte Schmöker aus dem Antiquariat. Willst du sie mal sehen?“

„Nix da“, feixte Hanna. „Deine Briefmarkensammlung muss warten. Jetzt gibt’s erst mal einen Kaffee zur Stärkung.“

Ein paar Minuten später stellte Hanna die Espressotassen auf die Fensterbank und holte die Zuckerdose aus dem Schrank. „Bin gleich wieder da.“ Sie lief zurück in ihr Zimmer, öffnete die Balkontür und schnappte sich die beiden Klappstühle. Als sie zurück in die Küche kam, stand Leif immer noch etwas unschlüssig herum.

„Ihr habt da ja einen richtigen Dinosaurier.“ Er deutete auf die ins Eck gequetschte Waschmaschine. „Dass es Toplader heutzutage überhaupt noch gibt. Andererseits halten diese Maschinen auch ewig. Anders als die Neuen, die zwei Tage nach Ablauf der Garantiezeit zusammenbrechen.“

„Der Dino ist von meiner Oma und eine praktische Sache“, erklärte Hanna, während sie ihm einen Stuhl hinstellte und den anderen für sich selbst aufklappte. „Wir haben die Arbeitsplatte obendrüber abgeschnitten und mit Scharnieren versehen. Damit haben wir zusätzliche Fläche zum Werkeln. Bei einer drei mal drei Meter großen Küche ein riesiger Zugewinn.“

Leif lachte. Kleine Fältchen gruben sich in seine Augenwinkel. Er setzte sich und nahm seine Tasse von der Fensterbank. Der Kaffee schwappte bedenklich.

„Ok, vielleicht ist es klein, aber es ist immerhin finanzierbar“, entschuldigte sich Hanna. „Jede von uns hat ihr eigenes Zimmer. Und wir haben sogar noch ein gemeinsames Wohnzimmer. Die kleine Küche hier und ein Duschbad. Mehr braucht’s nicht, um glücklich zu sein.“ Hanna sich nie an ihrer beengten Wohnsituation gestört. Sie genoss die Kuschelatmosphäre. „Juls hat unserer Wohnung den Namen Hexenschuppen gegeben.“

„Hexenschuppen?“ Leif verschluckte sich schier am Kaffee und stellte die Tasse ruckartig ab. Ein Schwapp der dunklen Brühe landete auf dem Unterteller. „Wie kam es dazu?“

Augenblicklich verfluchte sich Hanna. Sie konnte ihm ja kaum erzählen, dass ihr Spleen Juls dazu veranlasst hatte, die WG so zu nennen. Fieberhaft dachte sie über eine Antwort nach.

„Lass mich raten“, kam ihr Leif glücklicherweise zuvor. Seine blauen Augen blitzten schelmisch. „Zwei alleinstehende, gut aussehende Mädels. Die eine mit roten, die andere mit schwarzen Haaren. Das erinnert ein wenig an die ‚Hexen von Eastwick‘.“

„Fehlt nur noch die Blonde.“ Hanna war erleichtert. „Die lebt einen Stock tiefer. Du könntest ja den Part des Teufels übernehmen, um den sich die Hexen scharen.“

„Ah, damit ihr euch um den neuen Nachbarn streiten könnt?“, spielte Leif mit.

Im Flur klapperte es. „Nicht mit mir“, motzte Jules, die im Schlafanzug in die Küche getappt kam. „Ich hab’s nicht so mit alten Säcken. Weiß gar nicht, was die alle an Nicholson fanden. Der war weder jung noch geil.“ Sie griff sich ein Glas aus dem Regal, füllte es mit Wasser und trank es in einem Zug leer. Dann füllte sie es erneut. Mit dem Getränk in der Hand schlurfte sie zurück in ihr Zimmer und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

„Vielleicht sollte ich jetzt besser gehen?“, fragte Leif irritiert. „Mir scheint, ich störe hier.“

„Quatsch“, behauptete Hanna sofort. Auch sie wunderte sich über die unfreundliche Art ihrer Freundin. „Juls ist nur müde.“

„Vielleicht hätten wir ihr auch einen Espresso anbieten sollen?“ Leif kippte den letzten Rest seines Kaffees hinunter.

„Noch einen?“ Hanna stand auf, um sich selbst eine weitere Tasse zuzubereiten. Leif sollte nicht auf die Idee kommen, es wäre ihr unangenehm, dass er blieb. Statt einer Antwort lächelte er nur. Ihre Finger berührten sich leicht, als er ihr die Tasse übergab.

Der Automat machte sich mit lautem Mahlen erneut ans Werk.

„Eigentlich ist Kaffee in der Nacht ja nichts für alte Säcke wie mich“, juxte Leif. „Ist nicht gut fürs Herz. Aber wenn ich von dir so nett bedient werde …“

Zittrig setzte Hanna die Tasse auf den Unterteller und reichte beides an Leif zurück. Erneut berührten sich ihre Fingerkuppen und die Tasse wackelte gefährlich. Leif stabilisierte den Tassenrand, während sein Blick zwischen Hannas Augen und ihrem Mund hin und her wanderte.

„Ähm, ja.“ Hanna zog verlegen ihre Hand weg. Umständlich setzte sie sich mit ihrer Tasse auf den Klappstuhl und tat, als wäre nichts geschehen.

„Du hast da was.“ Leif deutete auf ihren Mund.

„Was?“

„Da.“ Er beugte sich einfach herüber und fuhr ihr vorsichtig über die Oberlippe. „Kleiner Kaffeerand. Jetzt ist er weg.“

 

Dem Kaffee folgte eine Flasche Weißherbst, die sie in den Tiefen des Kühlschrankes fand. Sie fühlte sich wie beim ersten Date. Leif war nicht der erste Mann in ihrem Leben. Aber er war charmanter und witziger als die anderen. Hanna konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal mit einem Mann derart ausgelassen gelacht und sich wohlgefühlt hatte. Und das, obwohl sie lediglich über Belanglosigkeiten geredet hatten und er praktisch ein Fremder war.

Ein fremder Deoroller. Die kurz geschorenen Haare standen ihm bestens. Die fehlende Haarpracht lenkte die Aufmerksamkeit auf seine strahlend blauen Augen, die immerzu lächelten. Ihr kam es vor, als würden sie sich seit einer Ewigkeit kennen. Sie hätte es Leif nicht übel genommen, wenn er auch noch den Rest der Nacht geblieben wäre.

„Also lass mich zusammenfassen“, meinte er und zählte dabei an seinen Fingern ab. „Du bist 24 Jahre jung und arbeitest mit ein paar verrückten Kolleginnen im Städtischen Klinikum. Du hast einen seltsamen Musikgeschmack, magst schwarze Klamotten und hättest gerne eine Fledermaus als Haustier. Du beharrst aber strikt darauf, kein Grufti zu sein. Und du lebst mit einer rothaarigen Kratzbürste in einer Mädels-WG, wo sie kocht, weil sie putzen hasst, und du putzt, weil du kochen hasst. Soweit richtig?“

Hanna musste kichern. „So in etwa. Nur, dass Juls keine Kratzbürste ist, auch wenn sie vorhin etwas komisch rüberkam.“ Sie hatte das Gefühl, ein gutes Wort für ihre Freundin einlegen zu müssen. Normalerweise benahm Juls sich nicht so daneben. „Sie ist wirklich die weltbeste Freundin, die man sich wünschen kann. Wir haben schon viel miteinander durchgemacht. Momentan geht es ihr nur nicht so gut.“

„Hm.“ Es hätte sowohl Kritik als auch Zustimmung sein können.

Hanna überhörte es. „Ohne sie hätte ich es niemals so weit gebracht. Sie war immer da, wenn ich sie brauchte. Und abgesehen von Oma ist Juls die Einzige, der ich vertraue.“

„Na, dann“, meinte er und stand auf. „So, jetzt gehe ich aber wirklich. Schön, so nette Nachbarinnen zu haben.“

„Du kennst den Rest im Haus noch nicht“, bemerkte Hanna. War es der Wein oder Leif, der sie so flatterig machte?

„Darf ich mich demnächst mal für deine Hilfe revanchieren?“, fragte er auf dem Weg zur Wohnungstür.

„Darfst du.“

„Jetzt?“ Er machte einen Schritt zurück zu ihr.

„Darfst du.“ Hanna blickte zu ihm auf.

Leifs Mund verzog sich zu einem Lächeln. Als er näher kam, schloss Hanna die Augen. Wie lange war es her, dass sie ein Mann geküsst hatte? Monate? Jahre? War nicht wichtig, dieser hier zählte. Jetzt. Ein Knarzen riss sie aus der Vorfreude. Neben ihr öffnete sich eine Zimmertür.

„Klo“, brummelte Juls schlaftrunken. Als wolle sie lästige Fliegen fortfegen, schob sie Hanna und Leif auseinander und tappte zum Bad. Konsterniert blickte Hanna ihrer WG-Genossin hinterher.

„Ich bin weg“, flüsterte Leif und hauchte Hanna einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange. „Nicht, dass sie mich doch noch in einen Frosch verwandelt.“ Schon hatte er die Wohnungstür geöffnet.

„Sehen wir uns morgen?“, bettelte Hanna und biss sich auf die Lippen. Sie klang wie ein unreifes Schulmädchen.

„Sorry, morgen bekomme ich Besuch.“

Hanna nickte. Er sollte nicht den Eindruck bekommen, sie würde ihm nachlaufen.

„Aber wir sehen uns wieder“, verabschiedete er sich.

Kapitel 5

Er drehte sich noch mal zu ihr um. Der Ausdruck in seinem Gesicht ließ sie alles andere vergessen. Die offene Tür, Juls nebenan. Anstand und Aids waren ihr egal. Alles war egal, nur nicht Leif. Der neue Nachbar sollte mit ihr kommen und bleiben. Für den Rest der Nacht und vielleicht auch für den Rest ihres Lebens. Seine Hände fuhren sachte über ihren Kopf, lösten vorsichtig das Haargummi.

„Ich weiß, was du willst. Und ich will es auch“, hauchte er ihr ins Ohr. „Wieso also warten? Ich kenne keinen vernünftigen Grund dafür. Du etwa?“

Statt zu antworten, nahm sie seine Hände und führte ihn in ihr Zimmer. Das schwarze Rollo dimmte die Helligkeit der Straßenlaternen. Mehr Licht brauchten sie ohnehin nicht.

Er drückte leise die Tür zu. „Ich will dich jetzt, Hexe!“ Er lächelte erneut. Gott, warum küsste er sie nicht endlich?

Dann waren seine Hände wieder auf ihren Haaren, dann auf den Schultern. Warm, weich und zärtlich. „Wir gehören zusammen.“

Seine warmen Finger fuhren ihr Schlüsselbein entlang in den Ausschnitt ihrer Bluse hinein. „In uns fließt dasselbe Blut, Hanna.“

Dasselbe Blut? Was redete er für ein Blödsinn? Sie waren doch nicht Bruder und Schwester. Aber egal, solange er nur weitermachte. Im Hintergrund spielten Deine Lakaien. ‚Dont wake me up‘ sang Veljanov gerade. ‚ … we are longing for a new escape. Don’t wake me up!‘. Wie oft hatte sie den Refrain schon mitgesungen? Noch nie hatte sie es sich mehr gewünscht. Jetzt bloß nicht aufwachen!

Eine sachte Berührung auf ihrem Brustbein ließ sie kurz erzittern. Wie feine Spinnenbeinchen streiften Leifs Fingerspitzen über ihre Haut. „Wir haben denselben Ursprung, denselben Urahn“, quatschte er weiter. Ob sie ihn bitten sollte, den Mund zu halten? Konnte er nicht endlich zur Sache kommen? Quälend langsam begann er, die Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen. Eine Ewigkeit verging, ehe er endlich an ihrem Bauchnabel angekommen war. Ein kurzes Zupfen, ein Schütteln der Schultern, und der Stoff rutschte zu Boden.

„Endlich habe ich dich gefunden. Niemand wird uns jemals wieder trennen können.“

Doch, dachte Hanna. Ein paar Lagen Stoff tun es immer noch.

Beherzt schob sie den Saum seines T-Shirts nach oben. Leif half nach, zog sich mit einem Ruck das Shirt über den Kopf. Hanna blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Ein Muskel reihte sich an den anderen. Glatt rasierte Haut, soweit das Auge reichte. Nur ein kleines Muttermal zierte sein linkes Schulterblatt.

„Wir sind eins!“, sagte er.

Wenn wir’s doch nur schon wären! Ungeduldig nestelte Hanna jetzt an seiner Jeans herum. Leif legte Hand an und die Hose flog in hohem Bogen davon. Keine Unterhose! Der Kerl trug keine Unterhose. Blank, wie die Natur ihn erschaffen hatte.

Hanna stöhnte leise auf, als er sie heranzog und sich seine warmen Oberschenkel an sie drückten. Falsch! Nicht nur Oberschenkel, da war noch etwas anderes, unmissverständlich Hartes. Ein aufregender Schauder ging durch ihren Körper.

„Wir werden es immer sein, so wie wir es seit Hunderten von Jahren sind. Denn wir sind Hagzissas!“

„Hagzissas?“, wiederholte Hanna verblüfft und fing sich sofort wieder. Jetzt nur nicht ablenken lassen. Sie griff sich seinen Hintern und drückte ihn noch fester an sich. Leif stöhnte. Seine Lippen berührten ihren Hals, ihre Schulter, wanderten tiefer und saugten sanft an ihrer Brustwarze. Hanna schloss die Augen und genoss jede Sekunde.

‚It seems that we shall realize the truth‘, sang es im Hintergrund.

„Typisch.“ Die Stimme des Assistenzarztes Hörling übertönte den begnadeten Sänger. „Den Arsch lässt du ran und bei mir bist du zimperlich. Weiber!“

Klar, in Träumen war die Handlung oftmals vollkommen sinnentleert. Alles passierte im fliegenden Wechsel. Aber musste der Traum ausgerechnet jetzt eine Wendung nehmen? Es war doch gerade so spannend. Hanna blinzelte und sah Wolf Hörling nackt und breitbeinig auf ihrem Bett liegen. Er stupste seine Brille zurück auf die Nasenwurzel, setzte sich in Position und grinste frech. Schnell schloss Hanna wieder die Augen.

„Ok, der steht ganz gut da“, gestand Hörling ein. „Und so wie’s aussieht …“

Hanna schrie unwillkürlich auf, als Leif ein wenig zu fest in ihre Brustwarze biss.

„… geht er richtig ran.“ Den Geräuschen zufolge stand Hörling auf. „Aber ich wette, ich kann’s besser.“ Hanna linste zwischen halb geöffneten Lidern hindurch. Er hatte sich provozierend vor ihnen aufgebaut und wedelte jetzt mit seinem steifen Penis wie ein Hund mit dem Schwanz. Der Blick nach unten ließ ihn zufrieden grinsen. „Bereit, wenn Sie es sind!“

Leif schien den Konkurrenten erst jetzt ernst zu nehmen. „Verpiss dich!“, fauchte er und ließ Hanna los. Mit einem groben Schubs verfrachtete er sie kurzerhand aufs Bett und stieß sie in die Kissen, in denen eben noch Hörling gelegen hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---