Das Abkommen - Kyle Mills - E-Book

Das Abkommen E-Book

Kyle Mills

4,5
7,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine 250-Millionen-Dollar-Schadensersatzklage gegen die Tabakindustrie droht die amerikanische Wirtschaft in ihren Grundfesten zu erschüttern. Trevor Barnett, jüngster Spross einer einflussreichen Dynastie von Zigarettenfabrikanten, soll vermitteln und wird plötzlich zum Spielball verschiedenster Interessengruppen. Als es nicht mehr nur um Geld und Macht geht, sondern Trevors Leben bedroht wird, eskaliert die Lage.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 564

Bewertungen
4,5 (18 Bewertungen)
11
5
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



KYLE MILLS

DAS ABKOMMEN

Roman

Aus dem Amerikanischen von Bea Reiter

Das Buch

Trevor Barnett ist der jüngste Spross einer einflussreichen Dynastie von Zigarettenfabrikanten. Anders als sein Vater, der im Vorstand die Rechtsabteilung von Big Tobacco leitet, hat Trevor keine großen Ambitionen. Doch als der Firma eine Sammelklage auf Schadensersatz in Höhe von 250 Millionen Dollar bevorsteht und eine Verurteilung dem Bankrott der Firma gleichkäme, wird Trevor in die Verantwortung genommen und zum Vizepräsidenten der Firma ernannt. Zunächst erreicht er auch Abkommen mit den anderen Tabakfirmen, doch dann stimmt er bei Anhörungen des Gesundheitsministeriums Untersuchungen zu, die die Schädlichkeit von Zigaretten beweisen, und wird zum Hassobjekt der Zigarettenindustrie. Diese beschließt, ihre Produkte vorerst nicht weiter zu verkaufen, und macht Trevor für diese Entscheidung verantwortlich. Trevor gerät immer mehr zwischen die Fronten der Tabakindustrie und der Anti-Raucher-Lobby und muss bald um sein Leben fürchten, als sich auch die Zigarettenmafia in den Konflikt einschaltet.

Der Autor

Titel der Originalausgabe SMOKE SCREEN erschien bei G. P. Putnam’s Sons, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Wilhelm Heyne Verlag in der Verlagsagruppe Random House GmbH Copyright © 2003 by Kyle Mills Copyright © 2016 dieses E-Books by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Umschlagfoto: © Stuart Dee/The Image Bank/getty images

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorCopyrightPROLOGEINSZWEIDREI VIER FÜNF SECHS SIEBEN ACHT NEUN ZEHN ELF ZWÖLF DREIZEHN VIERZEHN FÜNFZEHN SECHZEHN SIEBZEHN ACHTZEHN NEUNZEHN ZWANZIG EINUNDZWANZIG ZWEIUNDZWANZIG DREIUNDZWANZIG VIERUNDZWANZIG FÜNFUNDZWANZIG SECHSUNDZWANZIG SIEBENUNDZWANZIG

PROLOG

Als meine Hündin urplötzlich auf die Idee kam, ihre Rolle als Fußablage aufzugeben, und aufsprang, hätte ich in meinem Sessel um ein Haar eine Rolle rückwärts gemacht. Sie erstarrte, drehte den Kopf zum Fernsehgerät und konzentrierte sich mit der Begeisterung eines Welpen auf den Mann, der gerade sprach. Ich sah ebenfalls zu, aber mit erheblich weniger Interesse als sie.

»Der neue Bericht der Gesundheitsbehörde ist über jeden Zweifel erhaben! Schließlich reden wir hier über Forschungsmethoden, die seit einem halben Jahrhundert immer weiter verfeinert worden sind. Wir reden über modernste wissenschaftliche und statistische Verfahren. Wir reden über die Koryphäen auf diesem Gebiet …«

»Warte, warte …«, sagte ich, als ein aufgeregtes Brummen aus der Kehle meiner schon etwas betagten Pyrenäenberghündin drang. Sie schlich ein paar Zentimeter nach vorn, blieb dann aber stehen.

»Dass Big Tobacco sich nicht einmal die Mühe macht, jemanden in diese Sendung zu schicken, damit er versucht, die Ergebnisse zu widerlegen, ist zwar eine Beleidigung, aber nicht gerade eine Überraschung.« Der Mann, der da sprach, war Angus Scalia, der schärfste Kritiker der Tabakindustrie und ziemlich schwer zu beschreiben. Stellen Sie sich einen sechzig Jahre alten, einhundertachtzig Kilo schweren John Lennon vor, der unter Glatzenbildung leidet und seine kahlen Stellen mit einem quer über den Schädel geklebten Pferdeschwanz zu verstecken versucht. Wenn Sie ihm dann noch etwas anziehen, was Ihrer Meinung nach für einen Texaner typisch ist, wissen Sie so ungefähr, wie Scalia aussieht.

»Es gibt keinen Zweifel mehr daran, dass Rauchen die größte Bedrohung für die öffentliche Gesundheit ist, seit die Pest im vierzehnten Jahrhundert die Bevölkerung Europas dezimiert hat.«

»Das war gut«, sagte ich laut, weil ich an alte Holzschnitte denken musste, auf denen sich ein personifizierter Tod über weinende Kinder beugt, die mit ansehen müssen, wie man die von Eiterbeulen entstellten Leichen ihrer Väter auf einen Schubkarren stapelt.

Ich würde es zwar nie öffentlich zugeben, aber Scalias durch nichts zu erschütternde Überzeugung imponierte mir. Für ihn ging es weder um Politik noch darum, sein Gesicht im Fernsehen zu sehen. Der Mann glaubte wirklich an das, was er tat. Und er brachte es tatsächlich fertig, so zu argumentieren, dass plötzlich alle Übel der modernen Welt irgendwie mit Big Tobacco zusammenhingen. Diese Zielstrebigkeit hatte etwas Reines, Unverfälschtes an sich, das mich faszinierte.

Da Scalia ein wenig aus der Puste war und offenbar eine Pause brauchte, schwenkte die Kamera auf einen grauhaarigen Mann Anfang fünfzig, der mit überzeugend gespielter Aufrichtigkeit nickte. Sein Name wollte mir nicht gleich einfallen – er klang irgendwie ausländisch und fing mit einem der Buchstaben an, die im Englischen nicht so oft vorkommen. Q? X? V?

Viasanto. Genau. So hieß er. Craig Viasanto.

»Mr Scalia, ich will Ihnen mal eine Geschichte erzählen …«, fing Viasanto an.

Meine Hündin machte einen Satz nach vorn, aber ich hatte es kommen sehen und hielt sie auf, indem ich meinen bestrumpften Fuß unter ihr Halsband zwängte.

»Vor vielen Jahren wollte R. J. Reynolds außer Kautabak auch Zigaretten verkaufen. Aber auf keinen Fall wollte er etwas unter die Leute bringen, das womöglich gefährlich war, und daher ließ er von drei unabhängigen Labors untersuchen, welche Auswirkungen das Rauchen auf die Gesundheit hat. Alle drei kamen zu dem Schluss, dass es ungefährlich ist. Ganz und gar ungefährlich. Ich will damit sagen, dass wir diesen ›wissenschaftlichen Studien‹ nicht allzu viel Glauben schenken sollten. Früher war Vitamin C das Allheilmittel, aber inzwischen ist man sich in der Medizinwelt einig, dass es Veränderungen im Erbgut verursachen kann. Und können Sie sich noch daran erinnern, wie man die Hormontherapie für Frauen nach den Wechseljahren in den Himmel gejubelt hat? Heute dagegen behauptet man, dass solche Frauen ein etwa dreißig Prozent höheres Herzinfarkt- und Brustkrebsrisiko haben.«

Der bis in die Fingerspitzen gepflegte Craig Viasanto wirkte seriös und pragmatisch und war damit das genaue Gegenteil von Angus Scalia. Aufgrund seiner botoxähnlichen Fähigkeit, wirklich alles sagen zu können, ohne dabei auch nur eine Miene zu verziehen, hatte man ihn vor Kurzem zum Sprecher der Tabakindustrie gemacht. Ich hatte natürlich gegen seine Ernennung protestiert und eine fünfseitige Aktennotiz losgelassen, in der ich detailliert die Vorteile schilderte, die eine Ernennung Pamela Andersons zur Sprecherin der Tabakindustrie haben würde. Ich für meinen Teil war jedenfalls bereit, alles zu glauben, was Miss Anderson mir vorbetete.

Erstaunlicherweise hatte es keinerlei Reaktion auf meinen durch und durch vernünftigen und erschöpfend recherchierten Vorschlag gegeben.

»Es wäre naiv von uns zu glauben, dass die Politik keinen großen Einfluss auf die Wissenschaft hat«, fuhr Viasanto fort. »Dafür könnte ich Ihnen unzählige Beispiele nennen, angefangen bei der katholischen Kirche, die steif und fest darauf bestanden hat, dass die Sonne sich um die Erde dreht.«

Um ein Haar hätte ich ihn ausgepfiffen, aber meine Hündin zerrte immer noch an ihrem Halsband, und ich musste mich am Sessel festhalten, um nicht auf den Boden gezogen zu werden. Es war ein wenig versteckt, aber Viasanto spielte eindeutig auf einen katholischen Priester an, der erst gestern zugegeben hatte, mindestens dreißig der ihm anvertrauten Jungen missbraucht zu haben. Für die Medien war es ein gefundenes Fressen, und Viasanto war sich offenbar nicht zu schade dafür, diesen Skandal zu nutzen, um den Zorn des Publikums in eine andere Richtung zu lenken.

»Es ist gerade Mode, die Tabakindustrie für alles und jedes verantwortlich zu machen, angefangen bei Lungenkrebs bis hin zum Defizit im Staatshaushalt. Wenn das so weitergeht, haben wir es bald mit einer McCarthy-Ära des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu tun.«

Nun war er ein wenig über das Ziel hinausgeschossen. Das nahm ihm niemand so richtig ab. Aber immerhin, er hatte es versucht.

»Jetzt will ich Ihnen mal eine Geschichte erzählen, Mr Viasanto«, sagte Scalia, während die Kamera sich wieder auf ihn richtete. Sein feistes Gesicht war vor Wut so verzerrt, dass es aussah, als würden die winzigen runden Brillengläser auf seiner Nasenspitze gleich von den Fettmassen verschluckt werden.

»Nach dem Ersten Weltkrieg starb ein Soldat, der Zigaretten – die damals noch recht selten waren – von der US-Army erhalten hatte, an Lungenkrebs. Bevor einer der damals bekanntesten Ärzte die Autopsie durchführte, rief er einige seiner Kollegen an und lud sie zu der Untersuchung ein. Er sagte, und ich zitiere wörtlich: ›Einen Fall wie diesen werden Sie nie wieder sehen.‹ So selten war diese Krankheit früher einmal.«

»Ups«, entfuhr es mir.

»Ein perfektes Beispiel für das, was ich meine«, entgegnete Viasanto. Scalia machte nicht oft einen Fehler, und Viasanto stürzte sich sofort darauf. »Wenn es um Lungenkrankheiten geht, ist nie die Rede von Luftverschmutzung durch die Industrie und die Abwanderung der Bevölkerung von ländlichen in städtische Gebiete.«

Scalia wusste, dass er ins offene Messer gelaufen war. Seine Bolo-Tie schien plötzlich gefährlich eng zu sitzen. »Das ist doch lächerlich! Sie wissen genauso gut wie ich, dass Rauchen schädlich ist! Ich habe noch ein Zitat für Sie: ›Wir sind ebenfalls der Meinung, dass Rauchen abhängig macht und bei Rauchern Krankheiten verursacht.‹ Das hat einer Ihrer eigenen Vizepräsidenten gesagt.«

Bevor Viasanto antworten konnte, schwenkte die Kamera zum Moderator der Nachrichtensendung, der eine kurze Werbepause ankündigte. Meine Hündin entspannte sich ein wenig.

»Warum sehe ich mir so was überhaupt an?«, fragte ich laut.

Es führte doch nur dazu, dass ich den Wert der menschlichen Rasse und insbesondere meine eigene prekäre Stellung darin anzweifelte. Außerdem war es schon halb sieben, und ich wusste, dass auf einem anderen Kanal Folgen von Herzbube mit 2 Damen wiederholt wurden.

Die Sendung wurde fortgesetzt, und ich tat, als würde ich sie ignorieren, obwohl ich nicht so genau wusste, wen ich damit beeindrucken wollte. Mich vermutlich.

»Mr Scalia«, begann der Moderator, »Berichten zufolge haben Sie gesagt, die Sammelklage in Montana sei der Anfang vom Ende für die Tabakindustrie. Aber ist eine solche Behauptung realistisch? Schließlich geht es hier um eine Industrie, die maßgeblich am Aufbau dieses Landes beteiligt war und inzwischen fast ein Prozent aller amerikanischen Arbeitsplätze stellt.«

Dazu muss ich jetzt etwas weiter ausholen.

In Montana war eine Sammelklage über zweihundertfünfzig Milliarden Dollar angestrengt worden, deren Kläger – zur Überraschung aller – behaupteten, die Tabakindustrie verkaufe ein todbringendes Produkt, ermuntere die Leute dazu, dieses Produkt zu benutzen, habe die gesundheitlichen Gefahren der Sucht heruntergespielt und tue dies auch weiterhin. Das war natürlich alles richtig. Und eigentlich war es gar nicht so schwer, die Klageschrift als Zielsetzung eines Tabakunternehmens misszuverstehen.

Aber so einfach war es nun doch wieder nicht. Schließlich gab es die Warnhinweise auf den Zigarettenpackungen, das höchst subjektive Konzept von der Verantwortung und Freiheit des Einzelnen und die Frage, ob tatsächlich jemand glaubte, Rauchen würde ihn nicht umbringen.

In der Praxis allerdings spielten diese durchaus berechtigten Einwände manchmal überhaupt keine Rolle für das Abschneiden der Tabakindustrie im Gerichtssaal. Letzten Endes lief es darauf hinaus, wie übel gelaunt die Geschworenen waren. Und in der Regel waren sie sehr übel gelaunt, weshalb Big Tobacco vor den Richtern eines Berufungsgerichts auch erheblich besser abschnitt als vor Menschen aus Fleisch und Blut.

Was also war in Montana los, und weshalb regten sich alle so auf? Schließlich war so gut wie sicher, dass die Geschworenen den Klägern die zweihundertfünfzig Milliarden Dollar zusprechen würden und die Tabakindustrie ihre bis dahin im Keller versteckten Horden gut frisierter Anwälte loslassen würde, damit diese Berufung einlegen konnten. Das war der Lauf der Dinge, stimmt’s?

Bei diesem Fall war es vielleicht anders.

Denn in Montana gab es kein Gesetz, das eine Höchstgrenze für die Kaution eines Berufungsprozesses vorsah. Wenn Big Tobacco diesen Fall verlor, würden die Unternehmen der Tabakindustrie also den gesamten durch das Urteil festgesetzten Betrag aufbringen müssen, um Berufung einlegen zu können. Und im Gegensatz zur landläufigen Meinung konnten sie so viel Geld nicht einfach aus der Portokasse nehmen.

Und das bedeutete, dass das Urteil rechtskräftig werden würde, wenn die Geschworenen in Montana der Meinung waren, die Tabakindustrie sei Schuld daran, wenn es im Juli regnete, und den Klägern mehr Geld zusprachen, als die Tabakindustrie zusammenkratzen konnte. Dann würde das ganze Kartenhaus einstürzen.

»Ich glaube, das ist realistisch«, sagte Scalia. »Genau genommen dürfte es sogar sehr realistisch sein. Big Tobacco kann nicht mehr kontrollieren und manipulieren, welche Informationen das amerikanische Volk bekommt. Diese Firmen sind jetzt endlich als skrupellose Lügner entlarvt worden. Und die Politiker wissen jetzt, dass sie, wenn sie auch nur einen Cent von Big Tobacco nehmen und diese Mörder verteidigen, in den Augen ihrer Wähler als das dastehen, was sie sind – Huren. Merken Sie sich gut, was ich jetzt sage – in den nächsten zehn Jahren wird die Tabakindustrie zusammenbrechen.«

Der Moderator nickte nachdenklich und wandte sich an Viasanto. »Möchten Sie dazu etwas sagen?«

Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, sah es tatsächlich so aus, als wüsste der mit allen Wassern gewaschene Sprecher der Tabakindustrie nicht, was er sagen sollte. »Es tut mir leid, aber zu einem laufenden Verfahren kann ich mich nicht äußern.«

Als Viasanto wieder das Wort hatte, zerrte meine Hündin so heftig an ihrem Halsband, dass ich schließlich meinen Fuß zurückzog.

»Schnapp ihn dir!«

Sie gab ein freudiges Bellen von sich, machte einen Satz nach vorn und überzog den Bildschirm meines Fernsehers mit Pfotenabdrücken und Speichel. Der nicht allzu bösartig wirkende Angriff dauerte nur ein paar Sekunden, dann hatte sie sich so verausgabt, dass sie sich zu einem wohlverdienten Nickerchen auf den Teppich fallen ließ.

Mit einem Mal wurde mir klar, dass ich jetzt ganz dringend etwas zu trinken brauchte – und zwar in einer Menge, die in meinem Kühlschrank nicht zu finden war. Ich stand auf, schaltete den Fernseher aus und ging zur Haustür.

»Nikotin, ich bin in ein paar Stunden wieder da. Kannst du so lange die Stellung halten?«

Sie schnarchte und rollte sich auf den Rücken, machte die Augen aber nicht auf.

EINS

»Muss man eigentlich nackt sein, wenn man Tischfußball spielen will?«

Das glaubte ich jedenfalls verstanden zu haben. Die Tonanlage des Hauses hatte eine halbe Million Dollar gekostet und wurde gerade mit jenen monoton wummernden Bässen malträtiert, die etwas jüngere Leute als ich gern hörten. Ich konzentrierte mich auf ihren Mund, während sie weiterredete, und versuchte, durch die Rauchschwaden und die chaotische Beleuchtung hindurch von den Lippen zu lesen, stellte dann aber fest, dass ich nur Augen für ihre perfekten Kurven hatte.

Als ich mich umdrehte, stieß ich einen Mann hinter mir an, woraufhin der größte Teil seines Biers auf meinem Rücken landete. Da ich ziemlich gute Laune hatte, nahm ich seine Entschuldigung an und sah zur Tanzfläche hin, die so voll war, dass niemand sich allzu weit aus der Vertikalen bewegen konnte. Jedes Mal, wenn sich die Köpfe der Pogotänzer senkten, konnte ich einige Zentimeter nackte Haut hinter der Menge erkennen.

»Ich bin mir nicht ganz sicher«, schrie ich laut genug, damit sie mich verstand, aber nicht so laut, dass es Speicheltröpfchen auf sie regnete. »Aber ich glaube, es ist eher eine Empfehlung.«

Sie dachte einen Moment darüber nach. »Und warum?«

Die Antwort auf diese Frage war vermutlich zu lang und zu kompliziert, um sie unter den aktuellen Umständen verständlich zu machen.

Vor hundert Jahren war das Haus, in dem wir gerade standen, das imposante Heim eines reichen Plantagenbesitzers gewesen, der immer noch anwesend war – im weißen Anzug abgelichtet auf einer alten Daguerreotypie, die über der Toilette in einem der Badezimmer hing. In seiner Blütezeit war das Haus mit europäischen Möbeln, südamerikanischem Silber und chinesischer Seide eingerichtet gewesen, was alles von ehemaligen Sklaven gepflegt wurde, denen wohl erst so langsam bewusst wurde, dass Freiheit ein weniger greifbares Konzept war als sie ursprünglich gedacht hatten. Die rauschenden Feste, die gern und häufig veranstaltet wurden, sollten die steif und starr durch die Räume wandelnden Gäste aus den besten Familien der Stadt beeindrucken und die soziale Stellung der Gastgeber heben.

Jetzt war das alles verschwunden und ersetzt worden durch die bereits erwähnte Tonanlage, eine raffinierte Bar, die aus einem alten VW-Bus zusammengeschweißt worden war, fünf Großbildschirme, Konzertscheinwerfer und eine unbestimmte Anzahl schwitzender und gelegentlich auch nackter Leute in den Zwanzigern. Auch den einst so gepflegten Garten hinter dem Haus gab es nicht mehr. Er hatte Platz machen müssen für einen zwanzig Personen fassenden Whirlpool, einen Pool, der aus unerklärlichen Gründen die Form eines Sterns hatte, und einen nicht funktionsfähigen Kran, der in Kürze verhinderte Bungeespringer dazu verleiten würde, sich aus luftiger Höhe auf die Partygäste zu übergeben.

Ich zuckte mit den Achseln, während das Mädchen und ich der Masse auf der Tanzfläche auswichen, die uns gefährlich nahe kam. Ich hatte ihren Namen nicht verstanden, oder vielleicht hatte ich ihn verstanden, aber schon wieder vergessen. »Ich weiß es nicht. Vielleicht aus Tradition?«

Sie legte den Kopf schief, was ihren Nasenring hypnotisch aufblitzen ließ, und überlegte, ob ich mich über sie lustig machte.

Seit fünfzehn Minuten versuchte ich, ihr Alter zu schätzen, aber sie gehörte zu den Frauen, die je nach Gesichtsausdruck einmal älter und dann wieder jünger wirkten. Zurzeit vermutete ich, dass sie ein paar Jahre jünger war als ich. Etwa achtundzwanzig.

»Du wolltest mir doch von deiner Reise erzählen«, brüllte ich, weil ich unser Gespräch unbedingt auf ein anderes Thema bringen wollte. Zurzeit steuerten wir gerade in eine Richtung, die unweigerlich zu Fragen über den berühmtberüchtigten Eigentümer des Hauses führen würde, was ich unter allen Umständen vermeiden wollte.

»Nach meinem Abschluss am MIT bin ich ein bisschen rumgereist. Ich hab mir ein Flugticket gekauft, dahin, wo es gerade billig war, und dann bin ich einfach mit meinem Rad losgezogen. In Europa hab ich angefangen … Bist du schon mal in Prag gewesen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Wunderschöne Stadt. Außerdem braucht man dort fast kein Geld. Ich bin durch Tschechien geradelt …«

»Ganz allein?«

»Ja. Eigentlich wollte ich mit ein paar Freunden zusammen gehen, aber nach dem Studium haben sie dann alle sofort angefangen zu arbeiten und mich im Stich gelassen. Aber das war eigentlich besser. Ich war sozusagen gezwungen, mich kopfüber in die einheimische Kultur zu stürzen. Die Leute dort waren großartig – sie haben mich eingeladen, haben mich in ihrem Haus übernachten lassen … einmal habe ich sogar in einer Scheune bei den Kühen geschlafen.«

Ich grinste, was vermutlich ziemlich blöd aussah. »Im Ernst? Kühe?«

»Du brauchst gar nicht zu lachen. Wenn du dich den ganzen Tag im Regen auf deinem Rad abgestrampelt hast, bist du so fertig, dass du dich freiwillig neben eine Kuh legst. Kühe geben eine Menge Wärme ab.«

»Ja, das kann ich mir gut vorstellen …«

»Irgendwann bin ich dann in einen Zug gestiegen und nach Skandinavien gefahren. Bist du schon mal in Kopenhagen gewesen?«

Ein Mann in einem Superman-Kostüm kletterte auf einen Billardtisch und sprang in die Menge auf der Tanzfläche. Ich sah zu, wie er von ausgestreckten Händen weitergetragen und dann neben uns auf den Boden geworfen wurde.

»Dänemark? Nein.«

»Schönes Land. Nette Leute. Und jeder spricht Englisch, was zur Abwechslung auch ganz nett war. Aber es ist verdammt teuer. Ich bin nur ein paar Tage geblieben und hab mich dann wieder auf den Weg in den Süden gemacht. Anschließend hab ich mich einen Monat lang einfach so treiben lassen, bis ich irgendwann mein Rad an meine Familie zurückgeschickt hab und nach Asien geflogen bin. Bist du schon mal in Thailand gewesen?«

»Nein, noch nie.«

»Wahnsinnig exotisch. Du musst unbedingt mal dorthin. Tolles Essen, und spottbillig noch dazu.«

»Irgendwann werde ich es sicher mal schaffen. Wenn ich mal Zeit habe.«

»Das ist das Problem. Sie nehmen einen ziemlich hart ran«, sagte sie, während sie sich noch etwas weiter zu mir beugte. »Ich bin erst seit sechs Monaten in der Firma, und es fällt mir schwer, mich an einen festen Rhythmus zu gewöhnen, nachdem ich so lange unterwegs gewesen bin. In welcher Abteilung arbeitest du denn? Ich hab dich noch nie gesehen … Wenn du mir mal über den Weg gelaufen wärst, wüsste ich das garantiert noch.«

Ich brachte es fertig, nicht zusammenzuzucken, als die Muskeln in meinem Nacken sich verkrampften. Sollte das etwa heißen, dass sie sich für mich interessierte?

Das Mädchen war schön, intelligent, trug seinen Nasenring mit Grazie, erzählte Witze über Tolstoj, die tatsächlich lustig waren, und unterhielt sich mit mir und nicht mit einem der etwa hundert anderen Männer, die hier auf Beutefang waren. Das war eindeutig zu viel Druck für mich.

Sie lächelte und zeigte dabei zwei Zahnreihen, denen man das Vermögen ansah, das ihre Eltern dafür ausgegeben hatten. »Doch, an dich würde ich mich mit Sicherheit erinnern.«

Der erste Eindruck von mir variierte, je nachdem, mit wem ich es gerade zu tun hatte. Ich bin etwas über eins fünfundneunzig groß, mit breiten Schultern und einer schmalen, deutlich ausgeprägten Taille, bei der sich meine mehr oder weniger sitzende Lebensweise noch nicht bemerkbar gemacht hatte. Dieser Körperbau rief abwechselnd sinnliche Begierde, Neid und Einschüchterung hervor.

Hellblonde Haare, blasse Haut, die keine Sonne zu sehen bekam, und Zähne, die trotz aller Anstrengungen meinerseits unnatürlich weiß wirkten, provozierten Vergleiche mit Engeln und Nazis, die sich ungefähr die Waage hielten.

Ich hatte die schlechte Angewohnheit, bei Gesprächen so gut wie nie Augenkontakt herzustellen, was einige Leute denken ließ, ich wäre schüchtern, doch die meisten warfen mir Arroganz vor.

»Ich … ähm … ich arbeite gar nicht für die Firma. Ich bin nur mit dem Besitzer befreundet«, stammelte ich, doch dann verfluchte ich mich innerlich wegen meiner Dummheit.

»Darius? Du kennst Darius? Du bist ein Freund von ihm? Unmöglich!«

»Na ja, ich kenn ihn ganz gut«, murmelte ich in dem Versuch, mich herauszuwinden.

Genau genommen war Darius seit der fünften Klasse mein bester Freund. Noch genauer genommen waren wir früher so unzertrennlich, dass Darius mir an die Chico State gefolgt war, obwohl sich die Dekane fast aller Eliteuniversitäten zur Not auch auf den Kopf gestellt hätten, um ihn an eine renommiertere Bildungsinstitution an der Ostküste zu locken.

Wenn ich ehrlich bin, hatte ich sein Angebot, mich nach Kalifornien zu fahren, nur für eine Ausrede gehalten, um wieder einmal eine seiner kriminellen Eskapaden abzuziehen, die sich dieses Mal über mehrere Staaten erstreckte. Als wir ankamen – im wahrsten Sinne des Wortes nur wenige Stunden vor der Staatsgewalt –, verschwand er einfach und überließ es mir, meine Sachen aus dem Auto zu zerren und nach oben in mein Zimmer im Studentenwohnheim zu tragen. Als er endlich wieder auftauchte, waren ihm Hemd und Strümpfe abhanden gekommen, aber dafür hatte er eine Decke, einen Wecker und ein Vollstipendium für das College.

Fünf Jahre später, nach viel zu wenigen Seminaren und einem Notendurchschnitt von »ausreichend«, wurde er von den Sicherheitsbeamten des College zum letzten Mal vom Campus eskortiert. Und was tat er? Genau das, was jeder anständige Collegeabbrecher, der etwas auf sich hält, tun würde: Er schwankte sternhagelvoll in seine Bank, hob das Geld ab, das er sich in der Zeit, in der er die Vorlesungen geschwänzt hatte, als Programmierer verdient hatte, und gründete eine Computerspielfirma. Und wenn Gott heute einen Kredit brauchte, rief Er bei Darius an.

»Ist er da?«, fragte das Mädchen.

Ich zuckte mit den Achseln, und zu meiner Überraschung kam sie plötzlich wieder auf mich zu sprechen.

»Und was machst du beruflich?«

»Ich bin … ähm … Trustafari.«

Sie verzog die Nase, was unglaublich süß aussah. »Trustafari? Was um alles in der Welt ist ein Trustafari?«

Ich überlegte, was ich ihr antworten sollte, und kippte den Rest meines warmen Gin Tonic hinunter, um die Tatsache zu verbergen, dass ich Zeit zu schinden versuchte. Wie bei allen Dingen im Leben hing die Antwort auf ihre Frage von der Perspektive ab …

Trustafari (m) 1: Person, die ihr Vermögen als Trust geerbt hat und ihr Einkommen in Form von Raten aus besagtem Trust erzielt. 2: Jemand, der von der harten Arbeit und dem Einfallsreichtum toter Verwandter lebt, die so dumm waren, ihr Geld nicht für Frauen und Alkohol zu verschwenden. 3. Person, die ein gutes Leben führt, aber nichts zur Gesellschaft beiträgt. 4. Ein zu nichts zu gebrauchender Faulpelz, der mit dieser Einstellung nie etwas im Leben erreichen wird …

»Dann tust du also nichts? Überhaupt nichts?« Sie deutete auf die Gäste. »Du gehst nur auf Partys?«

Ich seufzte unhörbar angesichts ihrer Beschreibung des euro-arabischen Ideals. In diesen zivilisierteren Gesellschaften hielt einen jeder für etwas Besseres, wenn man Geld hatte und keinen einzigen Tag in seinem Leben zu arbeiten brauchte. In Amerika war das alles schon erheblich komplizierter. »Ich arbeite in unserem Familienunternehmen.«

Sie nickte, und es sah tatsächlich so aus, als würde sie das interessant finden. Ich war davon ausgegangen, dass sie jetzt krampfhaft versuchen würde, das Gespräch wieder auf Darius den Großen zu bringen. Als sie eine Packung Zigaretten aus der Tasche zog, wich das Interesse in ihren Augen einem Ausdruck der Entschuldigung.

»Darf ich?«, fragte sie, während sie in ihren Taschen nach einem Feuerzeug suchte. Ich zog meines heraus und gab ihr Feuer.

»Willst du auch eine?«

Es war zwar nicht meine Marke, aber ich nahm trotzdem eine, zündete sie an und machte wie immer nur einen leichten Zug.

»Du warst gerade dabei, mir was über das Familienunternehmen zu erzählen«, brüllte sie.

»Wirklich?«

»Na ja, du wolltest jedenfalls.«

Ich bin zwar kein gewohnheitsmäßiger Lügner, aber manchmal behelfe ich mich mit einer kleinen Notlüge. »Wir haben diese kleinen Filzdinger erfunden, die man unten an die Stuhlbeine klebt, damit sie nicht den Boden zerkratzen.«

»Ihr habt den Filz erfunden?«

»Nicht den Filz an sich – nur die Verwendung von Filz für Möbelbeine.«

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es praktisch unmöglich ist, länger als drei Minuten über Filz zu sprechen. Der aktuelle Rekord liegt bei zweieinhalb.

»Ich hätte nie gedacht, dass man damit ein Vermögen machen kann.«

»Kann man auch nicht«, erwiderte ich. »Ehrlich gesagt ist es kein sehr großer Trust. Aber jedes kleine bisschen …«

Ich brach ab, als mir auffiel, dass der klar abgegrenzte Rand der Menge auf der Tanzfläche aufbrach und eine kleine Wellenbewegung entstand, als sich die Leute kurz zur Mitte und dann sofort wieder zum Rand hin schoben. Ich war zwar nicht sicher, was der Auslöser für diese sonderbare Unruhe war, hatte aber einen konkreten Verdacht.

»Jedes kleine bisschen was …?«, hörte ich das Mädchen sagen. Ich stellte mich vor sie, um ihr die Sicht zu versperren und sie vor den Blicken der anderen zu verstecken. Aber es war zu spät. Die Musik wurde immer leiser, bis sie eine Lautstärke erreicht hatte, bei der Kommunikation nicht mehr brüllend zu erfolgen hatte.

»Programmiererin. Tina. Neu, stimmt’s?«

Darius redete immer so. Einzelne. Worte. Bestimmte Reihenfolge? Keine. Widerwillig trat ich beiseite. Darius ging sofort zum Angriff über und strich sich lässig die Haare aus dem Gesicht, die ihm bis zur Schulter gingen. Aus irgendeinem Grund – reine Willenskraft vermutlich – waren die blau getönten, rechteckigen Brillengläser, die er ständig trug, in der dampfenden Feuchtigkeit um uns herum nicht beschlagen. Er starrte das Mädchen, dessen Name ich jetzt kannte, über seine Brille hinweg an.

»Ähm, ja, stimmt …«, sagte Tina, während sie verlegen eine Haarsträhne um ihren Finger wickelte. »Woher weißt du das?«

Darius streckte die Hände vor sich aus und wackelte wie ein stolzer Zauberer mit den Fingern hin und her. Die Musik wurde noch eine Spur leiser. »Die Firma gehört mir. Ich weiß alles. Ich hab dich noch nie hier gesehen. Ist das deine erste Party?«

Sie nickte.

Auf diese bescheidenen Zusammenkünfte kam man nur mit Einladung, und die Gästeliste gehörte zu den wenigen Dingen, die Darius nicht an seine Mitarbeiter delegierte. Er wusste ganz genau, dass sie zum ersten Mal hier war, und hatte sie mit Sicherheit erst jetzt eingeladen, weil vorher all die anderen schönen jungen Mitarbeiterinnen, die seine Personalabteilung eingestellt hatte, an der Reihe gewesen waren.

»Gefällt’s dir?«

»Es ist toll«, antwortete sie, wobei sie allerdings die neue akustische Umgebung falsch einschätzte. Ihre Antwort, oder genauer gesagt, die viel zu laute und nervöse Art, in der sie gegeben wurde, schien Darius zu gefallen.

»Ich habe mich gerade mit deinem Freund unterhalten«, sagte Tina. »Er hat mir von seinem Job erzählt.« Sie sah mich mit weit aufgerissenen Augen an, die mich zwingen wollten, etwas zu sagen, damit sie sich vor dem Präsidenten, Vorstandsvorsitzenden und Guru von DariSoft nicht zum Narren machte.

Darius’ Kopf drehte sich in meine Richtung, aber sein Körper blieb, wo er war. Mir fiel es schwer, ihn so zu sehen wie Tina. Ich war sein Charisma gewöhnt, hatte seine Wirkung auf andere aber oft genug miterlebt, um zumindest ahnen zu können, wie sie sich jetzt fühlte. Ich tat so, als wäre ich von einem der Tänzer hinter mir angerempelt worden, und drängte mich zwischen Tina und Darius.

»Mann, das ist ja der reinste Wahnsinn hier«, sagte ich. »Darius, warum unterhalten wir uns nicht draußen weiter? Ich weiß doch, wie sehr du Menschenmassen hasst.«

Er sah mich an wie mein Vater früher, wenn ich es gewagt hatte, ihm zu widersprechen. »Trevor, du versuchst doch nicht etwa, mich loszuwerden?« Unsere Blicke trafen sich für einen Moment, dann trat ich einen Schritt zurück.

»Er hat dir also von seinem Job erzählt. So, so …«, sagte Darius zu Tina, während er mich von der Seite her ansah. Am liebsten hätte ich ihm seinen Kopf wie den Schraubverschluss einer Flasche abgedreht, aber stattdessen stand ich einfach nur wie angewurzelt da.

»Lass mich raten. Campingklos?«

Obwohl ich auf meine biergetränkten Schuhe starrte, spürte ich Tinas Blick auf mir. Ich war mir nicht ganz sicher, ob das aus wachsendem Misstrauen mir gegenüber geschah oder aufgrund der Tatsache, dass es einigen Leuten sehr schwerfiel, Darius anzusehen, wenn er direkt vor ihnen stand. Ich nahm einen leichten Zug von der Zigarette, die sie mir gegeben hatte.

»Nein?«, hörte ich Darius sagen. »Hm. Elektrische Nasenhaarschneider?«

Von Tina kam keine hörbare Reaktion, aber ich vermutete, dass sie den Kopf schüttelte.

»Es sind doch nicht wieder diese kleinen Filzdinger, die man auf Möbelbeine klebt, oder doch?«

Immer noch nichts von Tina. Wahrscheinlich nickte sie gerade.

Darius legte den Arm um meine gebeugten Schultern und lachte, während er einen großen Schluck aus der Flasche Jack Daniels nahm, ohne die er bei solchen Partys selten anzutreffen war.

»Dann stimmt es also gar nicht, dass deine Familie diese kleinen Filzdinger erfunden hat?«, hörte ich Tina sagen.

Man könnte denken, ich hätte mir im Voraus etwas zurechtgelegt, um aus solchen Situationen wieder herauszukommen, aber aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen hatte ich das noch nie getan.

»Soll das ein Witz sein?«, warf Darius ein, während er mich an sich zog. »Trevors Familie hat sozusagen die Tabakindustrie dieses Landes erfunden.«

Es war so wie immer.

Ich wagte einen schnellen Blick zu Tina. Wie erwartet sah sie sich die Zigarette in ihrer Hand an.

Die nächsten Sekunden waren entscheidend. Meiner Erfahrung nach unterstützten neun von zehn jungen, gesunden Raucherinnen – wenn auch etwas widerwillig – die Industrie, der sie ein derart lustverschaffendes, entspannendes, gewichtstabilisierendes und imageverbesserndes Produkt zu verdanken hatten. Doch eine von ihnen verhielt sich immer so, als hätte sie gerade ihren zukünftigen Mörder kennengelernt.

»Noch so ein Lügner aus der Tabakindustrie«, sagte Tina, während sie ihre Zigarette in das, was von meinem Drink noch übrig war, fallen ließ. Darius und ich sahen zu, wie sie sich ihren Weg durch die Menge bahnte und schließlich durch die Tür verschwand, die nach draußen zum Pool führte.

»Die Tussi hat nicht viel Humor.« Auf Darius’ Gesicht lag ein Ausdruck, den man nur als betäubten Schmerz bezeichnen konnte. Ich runzelte die Stirn.

»Warum siehst du mich so an?«, sagte er, während er seine Flasche an mein Glas hielt und mir einschenkte, obwohl es immer noch Tinas Zigarette enthielt. Ich hielt meinen vorwurfsvollen Blick fest auf ihn gerichtet. Er starrte zurück.

»Jetzt hör schon auf zu schmollen, Trevor. Du benimmst dich wie ein zu groß geratenes Baby. Sie hätte es sowieso rausgefunden.«

In all den Jahren, die ich ihn kannte, hatte er nie zuerst den Blick abgewandt. Schließlich drehte ich mich etwas zur Seite und tat so, als würde ich mir die Leute auf der Tanzfläche ansehen.

»Warum arbeitest du nicht einfach für mich, Trev? Die Frauen stehen auf Programmierer.« Er nahm noch einen Schluck aus seiner Flasche, und sein Arm um meine Schulter war mit einem Mal nicht mehr Ausdruck unserer Freundschaft, sondern ein Mittel, um aufrecht stehen zu bleiben.

»Tun sie nicht.«

»Jedenfalls finden sie sie interessanter als große Tiere aus der Tabakindustrie.«

»Ich hab keine Ahnung von Computern.«

»Du könntest uns Kaffee kochen.«

Er lachte, während er sich krümmte und zu husten begann. Hilfsbereit, wie ich nun mal bin, schlug ich ihm so fest auf den Rücken, dass er fast in den Knien eingeknickt wäre. Er war so vernünftig, einen Sicherheitsabstand zwischen uns einzulegen. Dann strich er sich noch einmal die Haare aus dem Gesicht und ging Tina suchen.

ZWEI

»ICH … WILL STERBEN.«

Ich glaube, das habe ich laut gesagt, und ich glaube, ich habe es ernst gemeint, aber beschwören könnte ich das nicht. Das Dröhnen in meinen Ohren hatte den gleichen Rhythmus wie der auf- und abschwellende Schmerz in meinem Kopf, und die Sonne North Carolinas, die durchs Fenster hereinschien, brannte heiß auf meiner Haut. Ich versuchte, mich wegzurollen, doch dann stellte ich fest, dass völlige Regungslosigkeit das Einzige war, was mich davor bewahren konnte, mich auf der Stelle zu übergeben. Also blieb ich, wo ich war. Ich wurde von meiner eigenen Dummheit gefangen gehalten.

Langsam, ganz langsam kamen die Ereignisse zurück, die mich in diesen bedauernswerten Zustand gebracht hatten. Ich konnte mich an die tanzende Menge, die Hitze, das Mädchen erinnern. An Bier und Wodka und Whisky. Dann fiel mir auch ganz verschwommen wieder ein, dass ich Darius mit einer Zigarette und einem Glas Tequila in Brand zu stecken versucht hatte. Es war mir natürlich nicht gelungen, und ein hastig einberufenes Geschworenengericht hatte mich zu drei Gläsern der überraschend schwer entflammbaren Flüssigkeit verurteilt. Danach nichts mehr. Null.

Wie war ich eigentlich nach Hause gekommen?

Ich war mit Sicherheit nicht selbst gefahren. Hatte mich jemand mitgenommen? Ein kurzer Adrenalinstoß versuchte, mir den Schädel mit einer Brechstange zu spalten.

Das Mädchen.

Vielleicht hatte sie ja im Laufe des Abends beschlossen, die von den Medien geschürte Tabakhysterie zu ignorieren und lieber daran zu denken, zu wie vielen Jahren mentholgeschwängerter Glücksgefühle ich mit meiner Wenigkeit beitrug. Ich brauchte ein paar Minuten, bis mir ihr Name wieder einfiel, und als es dann so weit war, hatte ich mir eingeredet, dass Tina neben mir im Bett lag. Ich glaubte sogar ihren Nasenring zu sehen, der in der Sonne aufblitzte, wenn sie atmete. So musste es gewesen sein. Tina hatte mich gefahren.

Obwohl ich mir absolut sicher war, machte ich die Augen nicht auf und blieb regungslos liegen. Ich sagte mir, dass es an dem Brechreiz lag, aber in Wahrheit wollte ich mir meinen Wachtraum nicht verderben. Schließlich kam es nicht so häufig vor, dass ich nur ein paar Zentimeter neben der perfekten Frau lag, die Schluss machen würde mit Einsamkeit, Langeweile, Zweifeln … Wenn ich wollte, brauchte ich nur den Arm auszustrecken und …

Das kaum hörbare Klicken von Klauen auf Holzboden begann irgendwo im Haus und wurde lauter und schneller, als es näher kam. Ich ignorierte das Geräusch, bis die Matratze plötzlich nach unten sackte und eine nasse, nach Pizza riechende Zunge an meiner Schläfe leckte. Die Kombination von Bewegung und italienischem Hundeatem war zu viel für mich. Mir drehte sich der Magen um. Mit einem Ruck setzte ich mich auf und hoffte, dass die Schwerkraft meinen Mageninhalt wieder dorthin beförderte, wo er hingehörte. Ich schluckte ein paarmal und schaffte es gerade noch, alles bei mir zu behalten. Als das Zimmer aufhörte, sich zu drehen, wagte ich einen flüchtigen Blick auf die andere Seite des Betts, um mir zu bestätigen, was ich schon wusste. Tina war nicht da.

»Jetzt sieh dir an, was du angestellt hast«, krächzte ich. »Du hast sie verscheucht.«

Nikotin beugte sich über mich, schnüffelte an dem Jackett, das ich immer noch trug, und verzog das Gesicht, soweit ihr das die Evolution gestattete.

»Du riechst auch nicht gerade gut«, sagte ich beleidigt. »Du hast wieder die Kühlschranktür aufgemacht, stimmt’s?«

Sie schlich sich in Richtung Bad davon, um dem Gestank nach Zigaretten, Schweiß und Alkohol zu entkommen. Ich streckte das Bein aus und setzte einen Fuß auf den Boden, doch dann überlegte ich es mir anders und ließ mich vorsichtig wieder auf das Kissen und in Tiefschlaf sinken.

Es war schon fast acht Uhr, als meine beiden Füße den Boden vor dem Bett berührten. Ich griff nach der offenen Zigarettenpackung auf dem Nachttisch, brachte es aber nicht über mich, eine anzuzünden. Ich versprach mir, später die doppelte Ration zu rauchen.

Nikotin hatte sich vor der Dusche zusammengerollt und spielte große weiße Badematte. Ich musste mich über sie beugen, um das Wasser anzustellen. Lauwarm, so, wie sie es am liebsten hatte.

»Brauchst du eine Extraeinladung?«, sagte ich zu ihr, während ich die Glastür aufmachte und mich auszuziehen begann. »Na los, rein mit dir.«

In der Regel dusche ich nicht meinem Hund zusammen – vor allem, weil die Duschkabine nicht sehr groß ist, und wenn ich sie mit einem fast siebzig Kilo wiegenden, tropfnassen Vierbeiner teile, bleibt mir nur wenig Bewegungsfreiheit. Aber Nikotin liebt Duschen über alles, fast so sehr, wie sie es hasst, wenn ich sie am Samstagabend allein lasse, denn an diesem Tag setzen wir uns normalerweise mit einer Tüte Popcorn vor den Fernseher und sehen uns einen Film an. Und für einen Hund kann sie wirklich ausgesprochen nachtragend sein.

»Sie hätte dir gefallen, Nicky«, sagte ich während der kurzen Rauferei, bei der ich ihr den Duschkopf entreißen konnte. »Sie hat am MIT studiert und eine Weltreise gemacht. Etwa einssiebzig groß … Dunkelbraune Haare …«

Nikotin war damit beschäftigt, nach dem Schaum zu schnappen, den mein Shampoo produzierte. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass sie mir überhaupt nicht zuhörte.

Genau genommen hatte sie für die Frauen, die ich ab und zu mal mit nach Hause brachte – in der Regel die typischen Debütantinnen und Südstaatenschönheiten – nur Verachtung übrig. Meine erste Wahl waren sie auch nicht, aber wenigstens ließen sich die meisten von ihnen relativ problemlos von mir ansprechen und ins Bett zerren.

Die wirklich interessanten Frauen – die, die Witze über Tolstoj erzählten –, waren erheblich schwerer zu bekommen. Insbesondere jetzt, wo die Medien sich zu Tode langweilten angesichts einer nur noch leise zuckenden Wirtschaft, einer im Sand verlaufenen terroristischen Gefahr und eines Präsidenten, der sich als relativ normaler und ehrlicher Mann herausgestellt hatte. Sie brauchten einen Schurken, und der Prozess in Montana hatte sie daran erinnert, dass so einer direkt vor ihrer Nase saß. Was den Aufbau von Beziehungen zum anderen Geschlecht anging, wäre ich vermutlich besser drangewesen, wenn ich meinen Nachnamen in Manson geändert hätte.

»Nie wieder«, murmelte ich mit einer Überzeugung, die sich sogar durch einen Mund voller Zahnpastaschaum noch gut anhörte. Ich nahm mir fest vor, nie wieder meiner Abhängigkeit von Darius nachzugeben. Genau genommen wollte ich ihn nie wiedersehen. Nie. Seine Anrufe würde ich ignorieren. Und wenn er herkam, würde ich zum Fenster hinausspringen und in den Sumpf rennen, der langsam wieder den Rasen hinter meinem Haus verschlang.

Ich stellte das Wasser ab und stieg aus der Dusche, wo ich wartete, bis Nikotin sich geschüttelt hatte, bevor ich mich abtrocknete. Dann wischte ich Feuchtigkeit und Hundehaare vom Spiegel und starrte mit zusammengekniffenen Augen mein Spiegelbild an. Es erinnerte mich ans College – an die Zeit, in der Darius mir so etwas fast jeden Abend angetan hatte. Damals waren die grünliche Haut und die rot unterlaufenen Augen ein Ehrenabzeichen gewesen – der Beweis dafür, dass man alles ausprobierte, was die Jugend zu bieten hatte. Jetzt sah ich einfach nur aus wie ein Säufer.

DREI

Das Bürohochhaus war brandneu – eines jener steil aufragenden Gebäude mit viel Glas und strengen Linien, denen man in New York auf Schritt und Tritt begegnet, die in North Carolina aber immer noch so aussahen, als wären sie gerade vom Himmel gefallen und einfach stecken geblieben. Ich war auf der anderen Straßenseite und versteckte mich in einem kleinen Lebensmittelgeschäft, das demnächst abgerissen werden sollte, um Platz zu machen für etwas Neues, das sich besser in das aufblühende Viertel einfügte. Eine Anwaltskanzlei vielleicht?

Ich tat so, als würde ich mir den mit rosa Zuckerguss überzogenen kleinen Kuchen in meiner Hand ansehen, aber beim Gedanken daran, ihn zu essen, wurde mir noch schwindliger. Bevor mir der Schweiß ausbrechen konnte, der nach Tequila stinken und mir für den Rest des Tages anhaften würde, ging ich zum Getränkeautomaten und füllte mir einen Becher mit Cola, der so groß war, dass ich ihn nur mit beiden Händen halten konnte.

Das kleine Geschäft war gut besucht. In einem Konvexspiegel über mir waren mindestens zehn verzerrte Gestalten zu erkennen, die sich durch die Gänge bewegten und mit einer Art militärischer Präzision ihre Einkaufe machten: Chips, Heftpflaster, Mineralwasser, Babywindeln …

Als der Becher endlich vollgelaufen und ich mit fast zwei Liter Cola und Eis bewaffnet war, ging ich zur Kasse, nickte den anderen Kunden kurz zu und flüchtete dann in die schwülheiße Luft nach draußen.

Der Dunstschleier, der zu dieser Jahreszeit für gewöhnlich über den Südstaaten hing, hatte sich zu einer trüben Wolkendecke verdichtet, die einen kräftigen, warmen Regenschauer ankündigte und vermutlich der Grund für die reichlich gedämpfte Stimmung der Menschenmenge auf der anderen Straßenseite war. Ich schätzte, dass nicht mehr als zwanzig Demonstranten vor dem breiten Eingang des Gebäudes, in dem ich arbeitete, hin- und hergingen, und diejenigen, die Plakate in der Hand hielten, hatten sie schon mit durchsichtiger Plastikfolie abgedeckt. Die normalerweise so forschen und mehr als deutlichen Sprechchöre, die alle möglichen und unmöglichen Wörter enthielten, die sich auch nur im Entferntesten auf Mörder reimten, waren aufgrund des deprimierenden Wetters so gut wie verstummt.

Normalerweise ging ich all dem aus dem Weg, indem ich meinen mit einem Parkausweis gekennzeichneten Wagen in die schwer bewachte Tiefgarage steuerte und von dort aus den Fahrstuhl zu meinem Büro nach oben nahm. Aber heute Morgen hatte ich mein Auto nicht finden können – ich hoffte nur, dass ich es unversehrt in Darius’ Auffahrt hatte stehen lassen und nicht um einen seiner Bäume gewickelt hatte. Mir blieb deshalb nichts anderes übrig, als einen Frontalangriff zu wagen.

Ich trank einen Schluck Cola, marschierte los und setzte einen angemessen wütenden und entschlossenen Gesichtsausdruck auf, als ich mich zu einigen der nachdrücklicher demonstrierenden Kritikern von Terra gesellte. Dieses gesund und umweltfreundlich klingende Unternehmen war vor Kurzem durch den Zusammenschluss von drei recht großen Tabakfirmen entstanden, von denen eine von meinem Urururgroßvater gegründet worden war. Oder war es mein Ururururgroßvater gewesen? Ich konnte es mir nie merken. Jedenfalls war die Terra Holding Corporation jetzt das weltweit größte Einzelunternehmen der Tabakindustrie und angeblich das größte unternehmerische Übel Amerikas.

Als ich mich von der Gruppe der Demonstranten löste und auf den gläsernen Eingang von Terras Zentrale zuging, hörte ich jemanden direkt hinter mir so laut brüllen, dass ich mich reflexartig umdrehte und meinen riesigen Colabecher wie ein Schild vor mich hielt. Der Schreihals war ein sehr klein gewachsener Mann von etwa fünfzig Jahren, mit einem Schild in der Hand, auf dem ZWANZIG MILLIONEN UND ES WERDEN IMMER MEHR stand.

»Mörder!«

Er schien nicht mich, sondern das Gebäude anzubrüllen.

Ich lächelte ihm verlegen zu und hob aufmunternd beide Daumen. Dann drehte ich mich um und startete sofort einen Ausfall in neutrales Gebiet – ein paar unbesetzt gebliebene Quadratmeter zwischen den Demonstranten und den vor dem Gebäude aufgereihten Sicherheitsbeamten. Zum Glück erkannte mich einer der Sicherheitsleute und riss die Tür auf. Ich rannte hinein, während die Demonstranten hinter mir in laute Buhrufe ausbrachen. Sie hatten inzwischen gemerkt, dass man sie überlistet hatte und eine der mordlustigen Bestien mitten durch sie hindurchmarschiert war.

»Haben wir denn kein kochendes Öl?«

Meine Sekretärin stand mit dem Rücken zu mir in meinem Büro und beugte sich zum Fenster, um die Demonstranten unten besser sehen zu können. Sie trug wie immer das leicht gelblich wirkende Kostüm, das sie jeden Montag trug, und ihr Gesicht hatte wie immer den leicht gelblich wirkenden Hautton, der sich nicht verändert hatte, seit ich sie kennengelernt hatte. Als sie herumwirbelte, glättete die Zentrifugalkraft die Haut auf ihrem Gesicht so stark, dass sie für kurze Zeit etwas jünger aussah als zweihundert Jahre.

»Die Fenster lassen sich nicht öffnen«, erinnerte sie mich.

Sie hob ihre Brille, die an einer silbernen Kette um ihren Hals hing, und sah mich mit einer Mischung aus Missfallen und Enttäuschung durch die Gläser hindurch an. Die Kette war der einzige Wertgegenstand gewesen, den ihre Mutter je besessen hatte. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, woher ich das wusste – es war das einzige Persönliche, das ich jemals über Miss Davenport herausgefunden habe.

»Sie haben Ihre Besprechung mit Chris Carmen versäumt.«

»Ich hatte ein Problem mit meinem Wagen«, sagte ich. Dass das Problem darin bestand, dass ich ihn nicht finden konnte, verschwieg ich.

»Ich habe den Termin für zehn Uhr noch einmal angesetzt.«

»In Ordnung.«

Sie verließ mein Büro, und wie immer stieß ich einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, als sie weg war.

»Und? Was hast du so gehört?«

Diese Frage hörte ich dreimal am Tag und fünf Tage die Woche, und das nun schon seit so vielen Jahren, dass es mir langsam zum Hals heraushing.

»Über was?«

Stan grinste süffisant, aber er rührte sich nicht von der Stelle und blieb im Türrahmen stehen. Er hatte die Form, den Umfang und die Farbe eines großen Schneemanns und bekam in meinem unaufgeräumten Büro immer Platzangst. »Komm schon, Trev. Ich platz gleich vor Neugier.«

Wegen meines Nachnamens – Barnett – hatte ich gute zwei Jahre gebraucht, um meine Kollegen davon zu überzeugen, dass ich kein Spion war, der seine Anweisungen aus der Chefetage bekam. Und ich würde mindestens noch zwei Jahre brauchen, um sie davon zu überzeugen, dass man mir – trotz meiner Familiengeschichte – sowieso nie etwas erzählte.

»Ich habe jedenfalls gehört, dass wir da oben ganz schön in Schwierigkeiten stecken«, soufflierte Stan.

»Da oben« stand in der Tabakindustrie für »Montana«. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen tatsächlich einmal jemand das Wort »Montana« in den Mund nahm, wurde es stets geflüstert.

»Ein Bekannter von mir kennt jemanden, der mit einer Geschworenen verwandt ist. Er sagt, sie hätte Raucher schon immer gehasst. Ich frage mich nur, warum sie solche Leute in die Jury gelassen haben.«

Ich zuckte mit den Achseln und wünschte, er würde mich mit meinem Eimer Cola und meinen Schweißausbrüchen allein lassen. »Die Leute rauchen eben. Sie haben schon immer geraucht, und sie werden auch in Zukunft rauchen.«

Stan vollbrachte eine Meisterleistung und betrat mein Büro. Er ging zu einem kleinen Tisch an der Wand und schnüffelte in den daraufliegenden Papierstapeln herum, während er so tat, als müsste er für seinen breiten Hintern Platz schaffen.

»Trevor, siehst du denn nicht fern? Es wird jeden Tag schlimmer. Man kann das verdammte Ding schon gar nicht mehr einschalten, ohne ständig Leute darüber jammern zu hören, wir hätten sie reingelegt, und sie hätten keine Ahnung davon gehabt, dass Rauchen abhängig macht oder gefährlich ist. Haben die im Fernsehen denn nicht langsam die Schnauze voll davon, immer wieder diesen Mist aufzuwärmen? Hast du eigentlich gewusst, dass Kolumbus in seinen Tagebüchern geschrieben hat, dass seine Männer tabaksüchtig geworden sind? Und das hat er gemerkt, ohne dass die Regierung fünfzig Millionen Dollar für wissenschaftliche Untersuchungen ausgeben musste.«

Die Geschichte mit Kolumbus hatte ich ihm erzählt. Ich hatte es schon immer als Ironie der Geschichte empfunden, dass ein Typ, der so blöd war, Kuba mit China zu verwechseln, vor über fünfhundert Jahren draufgekommen war, dass Rauchen süchtig macht. Ich war mir ziemlich sicher, dass das einiges über die moderne Gesellschaft aussagte, ich wusste nur nicht, was.

»Das war mir neu, Stan. Sehr interessant.«

Ich sah zur Tür, vor der sich immer mehr Mitarbeiter herumdrückten. Das Stockwerk, in dem ich arbeitete – das elfte – lag genau in der Mitte des Gebäudes. Hier wimmelte es nur so von Managern der mittleren Führungsebene, die etwa fünf Stockwerke zu niedrig arbeiteten, um zu wissen, was wirklich vor sich ging, und etwa drei Stockwerke zu hoch, um diese Ahnungslosigkeit einfach akzeptieren zu können.

»Jetzt ist es so weit«, sagte Stan im Brustton der Überzeugung. »Jetzt kriegen sie uns, stimmt’s? Ich hab gehört, dass die Unternehmen sich zusammengesetzt und eine Kanzlei aus Deutschland beauftragt haben, die die Insolvenz abwickeln soll. Man erzählt sich, dass die Typen aus der Geschäftsführung Immobilien und anderen Kram auf Partnerschaften überschreiben und sich als Eigentümer eintragen lassen. Trevor, die holen sich ihre Abfindungen selbst. Und bevor das alles hier zusammenkracht, machen sie den Abflug.«

Ich sah wieder zur Tür, wo mich vier Augenpaare anstarrten und auf eine Antwort warteten. Sie warteten darauf, dass ich ihnen sagte, an Stans Gerüchten sei nichts dran. Dass alles gut ausgehen würde. Ich schwieg.

»Ich hab gehört, der Alte denkt darüber nach, einen Job bei Xerox anzunehmen«, sagte Stan, der immer noch versuchte, mich zu ködern.

Der Alte, den er gerade erwähnt hatte, war Paul Trainer, der legendäre Vorstandsvorsitzende von Terra. Warum er so berühmt war, hatte ich bis jetzt noch nicht herausbekommen. Abgesehen davon, dass er die Angewohnheit hatte, Mitarbeiter selbst für das geringste Vergehen zu feuern, konnte ich absolut nichts Bemerkenswertes an ihm feststellen. Aber jeder andere war fest davon überzeugt, dass unser Boss brillante, bedeutende Dinge vollbracht hatte, und die Tatsache, dass niemandem auch nur ein einziges Beispiel dafür einfiel, verstärkte seine geheimnisvolle Ära noch. Ich hatte den Mann nur ein paarmal flüchtig getroffen, und wie alle einfachen Tabaksklaven war ich ihm kurz in den Hintern gekrochen und hatte mich dann aus dem Staub gemacht, bevor er mich feuern konnte, weil er mein Aftershave nicht riechen konnte oder ihm etwas anderes an mir missfiel. Trotzdem schien jeder auf meinem Stockwerk zu denken, er und ich würden in ständigem Kontakt miteinander stehen.

»Da weißt du vermutlich mehr als ich, Stan.« Ich sah auf meine Uhr. »Ich muss weg. Besprechung.«

Ich bin schon immer der Meinung gewesen, dass sich die meisten Leute in ihre entsprechende Familie und Spezies einordnen lassen, wenn man sich ihre Reaktion auf Begünstigte eines Trusts wie mich ansieht. Mein Chef, Chris Carmen, zum Beispiel war ein typischer Vertreter des Zweireihigen Aufgeplusterteten Bürohuhns. Genau genommen war er das ansehnlichste Exemplar dieser Spezies, das mir je über den Weg gelaufen war.

»Tut mir leid wegen der Verspätung, Trevor«, sagte er, während er mit übertriebener Hektik in den Konferenzraum platzte, nur um beschäftigter zu wirken, als er es tatsächlich war.

»Kein Problem. Es ist ja meine Schu …«

»Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan.« Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und rieb sich das Gesicht, als würde er dadurch seinen Kreislauf in Schwung bringen können. »Danny hat Grippe, und jetzt hat er Karen angesteckt. Ich bin erst Viertel vor sieben hier gewesen, und jetzt hinke ich eine ganze Stunde hinterher.«

Außer durch sein prächtiges Federkleid unterscheidet sich das Zweireihige Aufgeplusterte Bürohuhn von anderen Spezies durch einen hoch bezahlten Job, eine sorgfältig gepflegte Märtyrermiene und die völlige Unfähigkeit, sich klar und deutlich auszudrücken. Carmen hatte Folgendes sagen wollen: »Ich habe mir heute Nacht von einem Kleinkind aufs Hemd kotzen und mich von meiner kranken Frau anschreien lassen, während dir schöne Frauen Weintrauben in den Mund gesteckt und mit Palmwedeln Luft zugefächelt haben. Wäre es zu viel verlangt, dass du morgens deinen Hintern mal rechtzeitig aus dem Bett hebst und pünktlich zur Arbeit kommst?«

ENDE DER LESEPROBE