Die Geheimakte - Kyle Mills - E-Book

Die Geheimakte E-Book

Kyle Mills

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Beschreibung

In Washington verschwindet eine brisante Geheimakte, die den Ausgang der Präsidentschaftswahlen und das Schicksal der ganzen Welt entscheidend verändern könnte.

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KYLE MILLS

DIE GEHEIMAKTE

Roman

Aus dem Amerikanischen von Oliver Neumann

Das Buch

Mark Beamon, der aufgrund der enthüllenden Aufzeichnungen aus seinem letzten Fall inzwischen landesweit bekannt und bei Politikern verhasst ist, wird vom FBI suspendiert. Doch er ist der Einzige, der sowohl mutig als auch verzweifelt genug ist, von dem erfolgreichen Präsidentschaftskandidaten Hallorin einen unmöglichen Auftrag anzunehmen: Eine junge Frau ist im Besitz einer hochbrisanten Geheimakte, die nicht nur den Ausgang der anstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA, sondern auch das Schicksal der ganzen Welt entscheiden kann. Doch die Frau zu finden, ist eine schier unmögliche Aufgabe – sie gehört zu den besten Bergsteigern der Welt und hat die Fähigkeiten und Kontakte, an jedem beliebigen Ort auf dem Globus unterzutauchen.

Beamon wagt das Unmögliche – von der Regierung verlassen, vom FBI verdächtigt und viel zu neugierig, um einen Auftrag dieser Dimension ungefragt auszuführen, sieht er sich schon bald selbst in der Rolle eines Flüchtigen. Nicht nur Beamon selbst, auch das Schicksal einer ganzen Nation steht gefährlich nahe am Abgrund …

»Wenn Sie dieses Buch lesen, schnallen Sie sich besser an.« Stephen Coonts.

Der Autor

Kyle Mills, Jahrgang 1966, lebt in Jackson Hole, Wyoming, wo er sich neben dem Schreiben von Thrillern dem Skifahren und Bergsteigen widmet. In den USA ist Kyle Mills mit seinen Romanen regelmäßig in den Bestsellerlisten zu finden und gilt neben Tom Clancy, Frederick Forsyth oder David Badacci als Erneuerer des intelligenten Politthrillers.

Die Originalausgabe FREE FALL erschien bei Avon Books, New York Imprint of Harper Collins Publishers, New York

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage Wilhelm Heyne Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © 2000 by Kyle Mills

Copyright © 2016 dieses E-Books  by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Umschlagillustration: © Annie Griffi ths Belt/corbis

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorCopyrightPROLOGEINSZWEI DREI VIER FÜNF SECHS SIEBEN ACHT NEUN ZEHN ELF ZWÖLF DREIZEHN VIERZEHN FÜNFZEHN SECHZEHN SIEBZEHN ACHTZEHN NEUNZEHN ZWANZIG EINUNDZWANZIG ZWEIUNDZWANZIG DREIUNDZWANZIG VIERUNDZWANZIG FÜNFUNDZWANZIG SECHSUNDZWANZIG SIEBENUNDZWANZIG ACHTUNDZWANZIG NEUNUNDZWANZIG DREISSIG EINUNDDREISSIG

PROLOG

»Würdest du mir bitte Platz machen?«

Seine Stimme klang frustriert. Ein übertriebenes Flüstern, das weiter zu hören war als ein normales Gespräch, aber noch nicht ganz die Lautstärke eines Schreis erreicht hatte. Fred Clausen biss sich auf die Unterlippe und versuchte, das Lachen zu unterdrücken. Er trat einen Schritt zur Seite und beobachtete, wie sein junger Partner mit angestrengtem Gesicht den nächsten Versuch unternahm, den Schlüssel in das Schloss zu stecken.

Da der verbeulte, nur noch locker an der Tür hängende Knauf keinerlei Anstalten machte nachzugeben, lehnte sich Clausen mit dem Rücken an die gemauerte Wand, um seine von Arthritis geplagten Knie zu entlasten. Die große Leuchtreklame am anderen Ende des Parkplatzes blinkte abwechselnd weiß und rot und ließ das Gesicht seines Partners einmal engelhaft und gleich darauf teuflisch wirken. Er mühte sich weiter mit der scheinbar einfachen Aufgabe ab, die Tür von Zimmer vierzehn zu öffnen.

Die Architektur des Pagoda-Motels sollte asiatisches Flair verbreiten, was ihr aber nicht gelang – es sei denn, es gab auch in Peking Trailer-Parks. Das Motel bestand aus sechs frei stehenden Gebäuden rund um eine völlig kahle, asphaltierte Fläche, die nur durch einen kaum erkennbaren Spalt im Belag des Parkplatzes von der Straße getrennt wurde.

Clausen hielt sich das Handgelenk vor die Nase und musste ein paar Sekunden warten, bis ein Auto vorbeifuhr und Scheinwerferlicht in das Halbdunkel fiel. Auf seiner Uhr war es 23.32. Eigentlich hätte er schon seit einer halben Stunde im Bett liegen und dem leisen, rhythmischen Schnarchen seiner Frau lauschen sollen.

Im Licht der Scheinwerfer war es seinem eifrig werkelnden jungen Schützling endlich gelungen, die Tür aufzusperren und ins Zimmer zu schlüpfen. Einen Augenblick später war er schon wieder da und sah ihn ungeduldig an, das Gesicht eine Maske aus Wut und Zielstrebigkeit.

Clausen stieß sich widerwillig von der Wand ab und schlurfte an seinem Partner vorbei in die schal riechende Zimmerhöhle. Seine Füße machten leise, knirschende Geräusche, als sie Essensreste, und wer weiß was sonst noch, in dem flauschigen roten Teppich fanden. Er ging schnurstracks zum Fernseher und schaltete ihn ein, dann nahm er das Telefon neben dem Bett und stocherte damit in einem besonders dunklen und beim besten Willen nicht zu identifizierenden Fleck auf der Tagesdecke herum. Es schien nicht zu kleben, also ließ sich Clausen auf das Bett fallen, während sein Partner die Vorhänge zuzog und die prall gefüllte Ledertasche, die er bei sich trug, auf den Tisch unter dem Fenster stellte.

»Was zum Teufel machst du da? Bist du fertig?«

»Fertig wofür?«, grunzte Clausen, während er zum Fußende rutschte und mit dem großen Zeh auf den Schalter für die Lautstärke des Fernsehers drückte. Daraufhin pries die Hausfrau auf dem Bildschirm ihr Geschirrspülmittel auf einem Dezibelniveau an, das den Aschenbecher auf dem Fernseher zum Hüpfen brachte.

»Ich will dich ja nicht stören, Fred, aber muss ich dich wirklich daran erinnern, dass wir hier etwas zu erledigen haben? Vielleicht hättest du die Güte, mir zu helfen?«

Clausen wandte den Kopf und sah mit gespieltem Interesse zu, wie sein Partner die vorgebohrten Löcher in der Wand zum Nebenzimmer freilegte. Der Junge war ein hoffnungsloser Fall. Er sah auch schon so aus: kurz geschorenes Haar, hager und steif wie ein Ladestock, mit einem ernsten, würdevollen Ausdruck im Gesicht, der ihm selbst dann noch in den Augenwinkeln hing, wenn er einmal lachte, was selten genug vorkam.

Und erst sein Aufzug. Sie sollten hier schmutzige Fotos von jemandem machen, in einem Motel, das seine Zimmer stundenweise vergab – wenn es einen Anlass für Freizeitkleidung gab, dann diesen. Und was trug er, um nicht aufzufallen? Er hatte seine Anzugjacke abgelegt und eine blaue Windjacke angezogen, die ganz danach aussah, als wäre sie gebügelt worden.

Clausen hatte versucht, seinem Partner beizubringen, wie man beim FBI weiterkam. Wie man der Polizei auf die Nerven ging und die eigene Verhaftungsstatistik frisierte, wie man sich bei den Abteilungsleitern und den ASACs, den Assistant Special Agents in Charge, einschleimte – einfach alles, was er in seinen fünfundzwanzig wohltuend ereignislosen Jahren beim Bureau gelernt hatte. Und was hatte er für seine Mühe und Güte bekommen? Einen frostigen Blick. Der Junge hatte keine Zukunft. Nicht einmal den Hauch einer Zukunft.

»Tut sich schon was?«, fragte Clausen, der sich aus der durchgelegenen Kuhle in der Mitte der Matratze herauskämpfte. Als er sich auf den Boden kniete, versuchte er, die Schmerzen in seinen Beinen zu ignorieren.

Sie beschatteten den schwerreichen Drecksack nun schon seit drei todlangweiligen Wochen. Was die pausenlose Überwachung anging, so waren ihre Befehle sehr präzise gewesen, doch sie wussten immer noch nicht, wonach sie eigentlich suchten. Allerdings sah es jetzt ganz danach aus, als würde endlich Licht in das Dunkel kommen.

Clausen griff nach dem Spulentonbandgerät unter dem Bett und setzte die Kopfhörer auf, was den laut dröhnenden Fernseher sofort verstummen ließ.

Sein junger Partner war damit beschäftigt, eine kleine Kamera zusammenzubauen, die er aus der Ledertasche gezogen hatte, daher kroch Clausen auf allen vieren zu der Wand neben dem Resopal-Kopfteil des Betts. Das Tonbandgerät nahm nur Stille auf, als er sein Auge auf eines der kleinen Löcher presste und in den Raum nebenan sah, der das genaue Spiegelbild ihres Hotelzimmers zu sein schien.

Ihrer Zielperson – oder zutreffender: ihrem Opfer – war es nur wenig besser als seinem Partner gelungen, sich an die in diesem Teil der Stadt herrschende Kleiderordnung anzupassen: eine alte, verdreckte Polyesterhose, dazu ein schwarzes T-Shirt mit einem unmöglichen Slogan, dessen Aufdruck abbröckelte, und Tennisschuhe, bei denen sich eine Sohle löste. Die Mühe hätte er sich allerdings sparen können, denn obwohl er sein dichtes braunes Haar zerwühlt hatte, sah man auf den ersten Blick, dass es von einem teuren Friseur geschnitten worden war. Seine zarte, blasse Haut sah genauso gepflegt aus, und sein leicht arrogantes Auftreten, das ihn älter als zweiunddreißig Jahre wirken ließ, war zu perfekt, um antrainiert zu sein – es musste angeboren sein.

Die Schwarze, um die er langsam herumging, interessierte Clausen nicht. Sie war eine der unzähligen Prostituierten von der Straße, denen man in diesem Teil der Stadt an fast jeder Straßenecke begegnete. Während er die Frau einen Moment lang musterte, fragte er sich, warum sich ihr Opfer ausgerechnet sie und nicht eine andere ausgesucht hatte.

Sie schien nichts Besonderes zu sein. Vielleicht etwas größer als der Durchschnitt, und etwas stämmiger. Nicht dick, nur nicht von jener knochigen Magerkeit, die viele ihrer Kolleginnen wie ein Banner für ihre diversen Suchtkrankheiten vor sich her trugen. Und die Jüngste war sie auch nicht mehr – vermutlich schon kurz vor dem Ende ihrer Nutzungsdauer in dieser Art von Branche. Ihre Kleidung war allerdings typisch, aus einem schreiend bunten Material, das so konstruiert worden war, dass es im schwachen Licht der Straßenlaternen schimmerte und die knappe Unterwäsche darunter nachzeichnete. Make-up hatte sie reichlich und ziemlich stümperhaft aufgelegt. Ihr Haar war unter einer Perücke in einer unnatürlich wirkenden Farbe versteckt.

Clausen wich ein Stück zurück und hob die Hörmuschel von seinem linken Ohr. »Irre ich mich, oder haben wir vor nicht einmal zwei Wochen die Hochzeit dieses Kerls fotografiert? Ich weiß ja, dass diese blaublütigen Schnepfen nicht gerade das sind, was man eine Granate im Bett nennen würde, aber ich …«

»Könntest du bitte ruhig sein?« Wieder ein scharfes, missbilligendes Flüstern. Clausen ignorierte es.

»Ich kenn mich da aus. Wirklich. Seine Ehe wird nicht lange halten.« Er schüttelte mit gespieltem Mitleid den Kopf. »Ich weiß ja nicht, was du darüber denkst, aber ich glaube, ich warte erst einmal ein Jahr, bevor ich den beiden ein Hochzeitsgeschenk schicke.«

Das brachte das Fass zum Überlaufen. Sein junger Partner nahm den Blick vom Kamerasucher und sah Clausen an. Seine Augen schienen etwas tiefer in den Höhlen zu liegen als sonst, was vermutlich an den extrem angespannten Gesichtsmuskeln lag. »Findest du das lustig, Fred? Findest du das wirklich lustig?«

Clausen grinste.

»Wir haben einen Auftrag!«, verkündete der junge FBI-Beamte ernst. »Einen wichtigen Auftrag.«

»Einen wichtigen Auftrag. Ah ja.« Clausen sah wieder durch das Guckloch und beobachtete die Prostituierte nebenan, die verführerisch zu tanzen begann, zu einer Musik, die es nur in ihrem Kopf gab.

»Jetzt hör mir mal zu«, sagte Clausen, während er sich auf den Teppich setzte und gegen das Bett lehnte. »Die Sache hier ist doch nur institutioneller Verfolgungswahn. Man könnte mit Fug und Recht behaupten, dass wir keinen verdammten Grund haben, die Bürgerrechte unserer Zielperson zu verletzen.«

Sein Partner konzentrierte sich wieder auf den Sucher der Kamera. Bis auf das fast unmerkliche Zucken seiner Kiefermuskeln reagierte er überhaupt nicht auf Clausens Kommentar.

»Willst du einfach nur so rumstehen, oder kommst du jetzt zu mir und holst dir, was du willst?« Die Stimme der Frau war wegen der Störgeräusche im Kopfhörer kaum zu hören. Clausen seufzte leise und presste wieder das Auge an das kleine Guckloch. Er sah, wie sie die Hand ausstreckte, doch der junge Mann wich zurück. »Fass mich nicht an!«

Clausen hielt das für eine etwas sonderbare Bitte an eine bezahlte Prostituierte, doch die Frau schien nicht sonderlich überrascht zu sein. Er beobachtete, wie der junge Mann einen Schritt nach vorn machte und mit einem Kopfnicken in eine Ecke des Zimmers wies, die vom Guckloch aus nicht einzusehen war.

Nach ein paar gedämpften Schritten kam ein zweites Mädchen ins Blickfeld. Sie ging quer durchs Zimmer und blieb dann zwischen der Frau und dem jungen Mann stehen, der aussah, als hätte er vorübergehend aufgehört zu atmen. Clausen spürte, wie ihm das Adrenalin ins Blut schoss, während er die neue Darstellerin in ihrem kleinen Drama ausgiebig musterte.

Sie war so klein. Ihr dünner Körper wies keinerlei Rundungen auf und hätte selbst dann keine ein Meter fünfzig gemessen, wenn sie sich auf die Zehenspitzen gestellt hätte. Ihre Haut schien etwas dunkler zu sein als die der anderen Frau, aber das konnte auch an dem fehlenden Make-up oder den dunklen Locken liegen, die ihr Gesicht umrahmten. Auch ihre Kleidung entsprach nicht dem, was im horizontalen Gewerbe üblich war – sie trug ein einfaches blaues Hängerkleid mit Knöpfen auf der Vorderseite. Clausen war sofort klar, dass es noch eine ganze Weile dauern würde, bis aus diesem Mädchen ein Teenager wurde.

Die ältere Frau ging zögernd einen Schritt auf ihren Freier zu, doch dieser wich wieder zurück. Der verwirrte Ausdruck auf ihrem Gesicht verwandelte sich in ein wissendes Lächeln, als der Mann mit dem Kinn auf das junge Mädchen wies, das zwischen ihnen stand.

»Komm, Schätzchen, wir legen uns aufs Bett«, sagte die Frau. Clausen konnte das Zögern und die Unsicherheit auf dem Gesicht des kleinen Mädchens sehen, als es von der Frau an der Hand genommen und zum Bett geführt wurde. Das Mädchen legte sich auf die Matratze und ließ den Kopf auf ein schmutziges Kissen sinken. Ihr Kleid schob sich so weit nach oben, dass Clausen ihren weißen Schlüpfer sehen konnte, der mit großen orangefarbenen Punkten bedruckt war. Der Brechreiz in seinem Magen wurde stärker, als ihm klar wurde, dass es keine Punkte waren. Es waren Zeichentrickfiguren.

Clausen wich zurück und ließ sich auf den verdreckten Teppichboden sinken. »Nein«, murmelte er, während er seinen gleichermaßen entsetzten Partner ansah. »Nicht mit mir.« Er stand langsam auf, holte seine Achtunddreißiger aus dem Holster und ging schnurstracks zur Tür.

»Was machst du da?«, zischte ihm sein Partner zu. Dann sprang er auf und stellte sich vor die Tür. Clausen packte den jungen Mann an den Aufschlägen seiner Windjacke und versuchte vergeblich, ihn aus dem Weg zu stoßen. »Was zum Teufel machst du da?«, fragte dieser noch einmal, während sein Blick auf Clausens rechter Hand ruhte, die außer dem Aufschlag seiner Nylonwindjacke eine geladene Pistole festhielt.

»Wofür hältst du es denn?«

»Wir sind nicht befugt einzugreifen, Fred. Und das weißt du auch. Wir sind nur hier, um alles aufzunehmen. Komm schon. Wir müssen uns um unseren Auftrag kümmern.«

»Unseren Auftrag?« Er ließ einen Aufschlag der Windjacke los und deutete auf die Wand zum Nebenzimmer. »Unser Auftrag ist das, was gerade nebenan geschieht.« Er versuchte, an seinem jungen Partner vorbeizukommen, doch dieser stieß ihn unsanft zurück. »Ja, Fred, genau das ist unser Auftrag. Wir werden die Beweise sammeln, so, wie man es uns befohlen hat. Glaubst du etwa, mir gefällt das? Meine Tochter ist fast so alt wie das Mädchen nebenan. Am liebsten würde ich dort hineingehen und diesen Drecksack festhalten, während du ihm eine Kugel in den Hinterkopf jagst. Aber das kann ich nicht. Hier steht mehr auf dem Spiel als …«

»Jetzt fang endlich an zu denken! Hier steht gar nichts auf dem Spiel.«

»Was du denkst, Fred, spielt gar keine Rolle. Und was ich denke, spielt auch keine Rolle. Unsere Befehle sind eindeutig.«

Clausen hob langsam die Hand mit der Waffe, bis sie auf die Brust seines Partners gerichtet war, und sah ihm in die Augen. Sie waren klar und furchtlos und leuchteten mit dem Eifer eines Mannes, der noch jung genug war, um zu denken, dass er etwas verändern konnte. Ein Milchgesicht, dem man eingetrichtert hatte, es könne die Welt retten.

Doch Clausen war zu alt für diese Entschuldigung. Er war alt genug, um zu wissen, dass dieser Auftrag ein zum Himmel stinkender Haufen Mist war. Und noch mehr stank es zum Himmel, dass er nichts unternehmen würde. Sein gerechter Zorn legte sich nach und nach, als er an seine Pension und an seinen Ruhestand dachte, der für ihn untrennbar mit sonnigen Stränden und Schirmchen-Drinks verbunden war. Er ließ die Hand mit der Waffe sinken und sah zu, wie sein Partner zu der Kamera zurückging, als wäre nichts geschehen. Scheinbar eine Ewigkeit lang stand er reglos in der Mitte des Raums. Schließlich kehrte er langsam zur Wand zurück und sah wieder durch das Guckloch. Er zwang sich dazu, sich auf ihre Zielperson zu konzentrieren. Dem Gesichtsausdruck des Mannes nach zu urteilen, war die Show auf dem Bett das Einzige, das in diesem Augenblick für ihn existierte. Als Clausen seinem Blick folgte, sah er, wie die ältere Frau den Schlüpfer des Mädchens mit den Zähnen über die Turnschuhe zog, die es noch immer an den Füßen trug. Das blaue Kleid war jetzt von oben bis unten aufgeknöpft und gab das gleichmäßige Braun des zarten Mädchenkörpers preis. Clausen schnürte es die Kehle zusammen, während er sah, wie die Frau mit der Zunge über die dünnen Beine des Mädchens nach oben fuhr. Als sie das Gesicht zwischen den Beinen der Kleinen vergrub, wandte er den Blick ab.

Ihre Zielperson hatte sich lange genug von der Show losreißen können, um ein Paar Latexhandschuhe anzuziehen. Clausen schloss die Augen und wich zurück. Als er sie wieder aufmachte, starrte ihn sein Partner mit einer Mischung aus Mitgefühl, Unsicherheit und Entsetzen an. Solche Gefühle hätte er dem kleinen Drecksack gar nicht zugetraut.

»Tu, was du tun musst«, sagte Clausen, während er zum zweiten Mal an diesem Abend zur Tür ging. »Aber ich will damit nichts zu tun haben. Du kannst in den Bericht schreiben, was du willst, aber ich werde nicht hier bleiben und mit ansehen, was er dem kleinen Mädchen mit diesen Handschuhen antut.«

EINS

Tristan Newberry warf einen Blick auf die scheinbar endlosen Reihen grauer Metallregale, die ihn auf allen Seiten umgaben, und entdeckte den alten Mann, als dieser um einen Berg aus Aktenkartons bog.

»Kann ich den nächsten bringen?«, fragte der Schwarze, während er leicht gebeugt auf Tristan zugeschlurft kam.

»Ich glaube, ja.« Tristan schob einen Zeh unter den Karton zu seinen Füßen und hob ihn einige Zentimeter an. Noch immer recht schwer. Der alte Sicherheitsbeamte war der einzige andere Mensch in diesem vergessenen Lager und bestand darauf, beim Herumschleppen der Akten zu helfen. Aber mit seinen zweiundsiebzig Jahren waren er und sein Rücken nicht mehr die Jüngsten. Tristan bückte sich, nahm einige besonders schwer aussehende Aktenbündel aus dem Karton und legte sie auf den Boden.

»Was machen Sie da?«, erkundigte sich Carl, während er näher kam. Es war jeden Tag die gleiche Frage.

»Der Boden dieses Kartons sieht aus, als würde er jeden Moment herausfallen.« Es war jeden Tag die gleiche Antwort.

Carl nickte weise und akzeptierte die kleine Notlüge mit einem dankbaren Lächeln.

Mit einem übertrieben lauten Stöhnen hob Tristan den Karton an und hielt das leichtere Ende dem alten Mann hin, der es mit beiden Hände packte und dann langsam nach hinten schlurfte. »Wir sollten besser hier entlang gehen«, sagte er, während er plötzlich die Richtung änderte. »Da drüben gibt es wohl wieder eine undichte Stelle.«

Tristan legte den Kopf in den Nacken, sah sich das Leitungsgewirr an der Decke an und versuchte, das Rohr zu finden, von dem Carl sprach. Die Dämmung, mit der fast alle Leitungen isoliert waren, hatte schon vor Jahren zu modern begonnen, und jetzt tropfte das Kondenswasser auf den gesammelten Regierungsschwachsinn in den Regalen darunter. Nach den ersten paar Wochen, in denen er hier in der Falle gesessen war, hatte Tristan auf der Fahrt nach Hause bemerkt, dass ihm der Modergeruch noch immer anhaftete. Und inzwischen hatte er ihn sogar noch nach dem Duschen in der Nase.

Es war nicht unbedingt das, was er sich vorgestellt hatte.

Er hatte seit einem Jahr Jura an der Georgetown University studiert, als die Wirtschaft ins Trudeln geraten war. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon so gut wie alles verkauft, was er besaß, um die Studiengebühren bezahlen zu können. Er war bis über beide Ohren verschuldet, nachdem er seine Kreditkarten überzogen und gleich mehrere Studentenkredite aufgenommen hatte. Aber wen kümmerte das schon? Schließlich würde er in nicht einmal zwei Jahren seinen Abschluss machen und dann für hunderttausend Dollar im Jahr bei einer angesehenen Anwaltskanzlei anfangen.

Irrtum. In der Abschlussklasse des letzten Jahres waren vermutlich mehr Juristen gewesen als überhaupt in der Stadt praktizierten. Und diese hatten sich alle auf dieselben zehn Stellen beworben. Vor kurzem hatte er zufällig einen Freund getroffen, der vor sechs Monaten die Anwaltsprüfung bestanden hatte und jetzt bei einem Videoverleih arbeitete.

Und daher hatte er keine andere Wahl gehabt, als sein Studium abzubrechen und zu versuchen, einen Job in einer der wenigen Wachstumsbranchen zu ergattern, die es in den Vereinigten Staaten noch gab: der Regierung. Oder genauer gesagt, bei der Freigabe von Dokumenten, deren Veröffentlichung durch das vor kurzem verbesserte Gesetz zur Informationsfreiheit erzwungen wurde.

Als er zu dem Vorstellungsgespräch gegangen war, hatte man ihn in einen Warteraum gewiesen, in dem schon so viele andere Bewerber warteten, dass sich einige von ihnen kleine Bereiche auf den hässlichen grünen Fliesen abgesteckt hatten und auf dem Boden hockten. Nachdem er sich ein paar Sekunden lang durch die Menge gekämpft und gesehen hatte, wie vehement die Fliesen verteidigt wurden, war er wieder gegangen. Was für eine Chance hatte er denn schon? Er war nur ein mittelloser Studienabbrecher aus einer amen Farmerfamilie, der über keinerlei Beziehungen verfügte und noch nie für die Regierung gearbeitet hatte.

Er war schon halb den Korridor hinunter und damit beinahe in Freiheit gewesen, als eine junge Frau mit einem großen schwarzen Brillengestell auf der Nase hinter ihm hergerannt kam und ihn am Arm nahm. Er wusste heute noch, was sie gesagt hatte: »Mr Newberry, es tut mir Leid. Das war das falsche Vorstellungsgespräch.«

Gehorsam war er ihr durch das Labyrinth von Gängen, Treppen und Fahrstühlen gefolgt, so lange, bis sein normalerweise untrüglicher Orientierungssinn aufgegeben hatte. Irgendwo tief in den Eingeweiden des Gebäudes war er dann in ein kleines, fensterloses Büro geführt worden, wo er warten sollte.

Und dort hatte er dann einen kahlköpfigen Mann mit schlechten Zähnen kennen gelernt und sich die rätselhafte Geschichte von den falsch archivierten Dokumenten angehört. Anschließend hatte der Mann zu Tristan gesagt, dass sein Lebenslauf beeindruckend sei – was gelogen war – und er über ganz hervorragende Qualifikationen verfüge, um bei der Suche nach den Dokumenten zu helfen – was ebenfalls gelogen war. Blabla, blabla.

Zuerst hatte er mit nur mäßigem Interesse zugehört. Er suchte lediglich eine sichere Stelle, mit der er genug verdiente, um einigermaßen über die Runden zu kommen, bis die Wirtschaft wieder an Fahrt gewann. Doch je mehr der Kerl geredet hatte – eigentlich war es immer dasselbe gewesen –, desto faszinierter war Tristan gewesen. Der Glatzkopf – Tristan konnte sich beim besten Willen nicht mehr an seinen Namen erinnern – hatte ihm gesagt, dass sie sozusagen nach dem Indiana Jones des Nationalarchivs suchten. Und wer konnte so einen Job schon ablehnen?

»Auf drei«, sagte Carl.

Tristan wartete auf Carls Kommando und holte Schwung, während der alte Mann zählte. Bei drei wuchteten sie den schweren Karton auf den Kartentisch, der Tristan seit seinem ersten Tag als Arbeitsplatz diente.

»Ich hole die Sachen, die Sie herausgenommen haben.« Carl schlurfte in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren. Tristan nickte abwesend und warf einen Blick in den Karton. Was würde es wohl heute sein? Budgets für landwirtschaftliche Subventionen an Farmer aus den Vierzigerjahren? Eine detaillierte statistische Analyse über das Verhältnis von Weizenhöhe zu Niederschlag in Millimeter? Egal.

Wie so oft hatte sich herausgestellt, dass sein neuer Job nicht ganz so aufregend war, wie man es ihm erzählt hatte. Im Grunde genommen ging es darum, dass irgendein Schwachkopf vor einiger Zeit eine Ladung geheimer FBI-Dokumente in ein Aktenlager des Landwirtschaftsministeriums gebracht hatte. Und jetzt mussten diese Dokumente gefunden werden, bevor das Archiv der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden konnte.

Das hatte sich nicht gerade nach einer besonders monumentalen Aufgabe angehört, doch dann hatte der Glatzkopf angefangen, dicke Stapel gebundenen Papiers auf den Schreibtisch zu knallen.

»Überarbeitung des Aktenablagesystems«, hatte er gesagt. Bums!

»Ursprüngliches Aktenlager wurde geschlossen, die Dokumente hat man umgelagert.« Bums!

»Wasserrohrbruch, Dokumente wieder umgelagert.« Bums!

»Bauarbeiten.« Bums. Und so war es weitergegangen, bis annähernd zwanzig Zentimeter Papier vor ihm auf dem Schreibtisch gelegen hatten.

Das Seltsame daran war jedoch, dass diese Art von Arbeit genau Tristans Fall war. Schon in der Grundschule hatte er immer, wenn er diese Tests gemacht hatte, bei denen man in Zahlenreihen oder geometrischen Formen ein bestimmtes Muster finden musste, die höchste Punktzahl erreicht. Das hatte er dem Glatzkopf bei seinem Vorstellungsgespräch auch gesagt und dafür ein desinteressiertes Lächeln bekommen, das zu sagen schien: »Was für ein interessanter Zufall.«

Tristan seufzte tief und massierte sich die Schläfen, während er sich auf den abgenutzten, mit Segeltuch bespannten Stuhl fallen ließ. Tagein, tagaus, es war immer das Gleiche. Endlose Stunden, in denen er alte Akten wälzte und versuchte, der kaum mehr sichtbaren Spur zu folgen, die ein paar stumpfe FBI-Nadeln im Heuhaufen des Landwirtschaftsministeriums hinterlassen hatten.

Als er eines Tages die Nase aus der endlosen Prozession von Kartons und Akten genommen und sich ein wenig umgesehen hatte, war ihm plötzlich klar geworden, wie absurd seine Situation doch war. Warum war er eigentlich allein hier, bis auf einen Sicherheitsbeamten im Greisenalter, der ihn beaufsichtigte? Oder besser gesagt, bis auf einen Sicherheitsbeamten und eine ganze Batterie von Videokameras. Tristan sah zu der schmalen, ultrakleinen Kamera, die vor ihm an die bröckelnde Wand montiert war, und fragte sich wieder einmal, wer ihn beobachtete. Carl war es jedenfalls nicht – soweit Tristan das beurteilen konnte, gab es im ganzen Gebäude keinen einzigen Monitor, auf dem man das Bild der Überwachungskameras hätte sehen können. Es hatte ihm zu denken gegeben. Als er dem Glatzkopf von den Ergebnissen seiner Tests erzählt hatte, hatte dessen Lächeln da wirklich »Was für ein interessanter Zufall« bedeutet? Oder war es nicht etwa »Das wissen wir« gewesen?

Es waren die Kleinigkeiten, die sein Interesse geweckt hatten. Tristan war schon immer sehr neugierig gewesen. Warum kontrollierte ihn niemand? Seit er seine Stelle angetreten hatte, hatte er weder mit dem Glatzkopf noch mit jemand anderem gesprochen, den man als Vorgesetzten hätte bezeichnen können. Und warum hatte er den Eindruck, dass einige der Archivbelege absichtlich so rätselhaft und undurchsichtig verfasst worden waren?

Es sah ganz danach aus, als würde es nicht mehr lange dauern, bis er es herausgefunden hatte. Eine Unmenge von Detailarbeit und zwei Zufallstreffer kurz nacheinander hatten ihm den Weg zu dem Teil des Aktenlagers gewiesen, aus dem er jetzt die Kartons von den Regalen holte. Nach vier Monaten, sechs Tagen, vier Stunden und dreiunddreißig Minuten abstumpfender Folter sah er endlich den Silberstreifen am Horizont.

Tristan beugte sich vor und drehte den kleinen Fernseher lauter, der am Rand des Tisches stand, doch seine Aufmerksamkeit richtete sich auf seinen Laptop, auf dem gerade der Bildschirmschoner aktiviert wurde. Aus über einer Million Pixel entstand das Foto eines Mannes, der auf einen schneebedeckten Berg kletterte. Um ihn herum war nur der Himmel. Tristan hob die Hand und berührte sehnsüchtig den Bildschirm, als Carl um die Ecke bog und einen Teil der restlichen Akten auf den Tisch fallen ließ.

»Tristan, wen werden Sie wählen?«

»Wie bitte?«

Carl wies mit dem Kinn auf das Fernsehgerät, in dem gerade zum hundertsten Mal die Höhepunkte aus der Debatte der Präsidentschaftskandidaten vom Abend zuvor wiederholt wurden.

»Oh, ich wähle nicht.«

»Was soll das heißen, Sie wählen nicht? Sie waren doch auf dem College. Wenn jemand wählen sollte, dann Sie. Sie verstehen das alles.« Carl deutete auf den Fernseher. »Dieser Hallorin gefällt mir immer besser. Ich hatte schon vorher den Eindruck, als hätte er etwas zu sagen, aber er war immer so ein scharfer Hund. Jetzt allerdings scheint er mir … ich weiß nicht, irgendwie nicht ganz so …«

»Die Brille«, sagte Tristan zerstreut, während er eine staubige Akte vor sich auf den Tisch legte.

»Was?«

»Es liegt an der Brille. Bei der letzten Wahl, als es mit der Konjunktur nach oben ging, wollte jeder mit der Regierung in Verbindung gebracht werden, um den Eindruck zu erwecken, er hätte die Wirtschaft in Gang gebracht. Aber jetzt, da der Dow Jones auf viertausendfünfhundert steht, ist alles ganz anders. Niemand will mehr wie ein Politiker aussehen. Deshalb hat sich Senator Hallorin, unser ehedem so arroganter Vertreter der dritten Partei, eine Brille zugelegt. Und wie Ihnen schon aufgefallen ist, hat die Brille den angenehmen Nebeneffekt, dass sie ihn weicher macht.« Tristan wies mit dem von großen Heftklammern zusammengehaltenen Papierstapel in seiner Hand auf den Fernseher. »Der überaus scharfsinnige Kandidat der Demokraten wiederum bricht mit dem ehernen Gesetz, dass Haare im Gesicht der Todesstoß einer politischen Karriere sind, und hat sich aus dem gleichen Grund einen Bart wachsen lassen. Senator Taylor, der dilettantische Spitzenreiter und Kandidat der Republikaner, hat den Zug wie immer verpasst. Ihm bliebe nur noch, sich eine Glatze scheren zu lassen. Aber da er mit dreizehn Prozentpunkten in Führung liegt, werden wir wohl lange darauf warten können. Image, Carl. Rauch und Spiegel, mehr ist es nicht.«

Der alte Mann trat verlegen von einem Fuß auf den anderen und steckte seine von Gicht verkrümmten Hände in die Tasche. »Ich glaube nicht, dass es nur darum geht, wie sie aussehen. Wichtig ist, was sie sagen …«

»Was sie sagen?«, unterbrach ihn Tristan, dessen Laune sich zusehends verschlechterte, wie immer, wenn er auf Politik zu sprechen kam. »Sie sagen doch gar nichts.« Er deutete wieder auf den Fernseher. »Als Vizepräsident hat sich der Kandidat der Demokraten schon so an Limousinen und Schleimscheißer gewöhnt, dass er sich auf gar keinen Fall einen neuen Job suchen will. Also wird er den Leuten sagen, dass er die Armen und Arbeitslosen unterstützen will. Aber wenn man von ihm wissen will, wie das finanziert werden soll, weicht er aus.«

Carl wollte etwas sagen, doch Tristan schnitt ihm das Wort ab. »Bob Taylor wird versuchen, die Schuld für den desolaten Zustand des Landes und der Weltwirtschaft auf unsere demokratische Regierung zu schieben, und dabei natürlich nicht erwähnen, dass die Republikaner in den letzten Jahren die Mehrheit im Kongress hatten und er seit Ewigkeiten zu den mächtigsten Mitgliedern dieser Partei gehört. Ist Ihnen schon aufgefallen, dass er nie den Kongress erwähnt, wenn er über seine Qualitäten als Führungspersönlichkeit spricht? Nein, er redet immer nur über die Vergangenheit – über seine Zeit als Direktor der CIA, den Kalten Krieg, die Carter-Ära.

Und dann wäre da als Letzter noch unser neu bebrillter unabhängiger Kandidat David Hallorin, der auch in den Umfragen der Letzte ist. Er wird der Öffentlichkeit einzureden versuchen, dass der aktuelle Zustand des Landes das Ergebnis jahrelanger Misswirtschaft der beiden etablierten Parteien ist, was im Grunde genommen ja auch stimmt. Dabei wird er allerdings verschweigen, dass die Parteien eigentlich nur dem Mandat des Volkes gefolgt sind, nur ja keinen Aufstand zu machen – Politiker, die etwas verändern, werden nicht wiedergewählt. Und während er um die Tatsache herumschleicht, dass das amerikanische Volk genau das bekommen hat, worum es gebeten hat, wird er alle möglichen, hoffnungslos vereinfachten Lösungen für Amerikas komplexe Probleme aufzählen, die er selbst dann, wenn sie funktionieren würden, nie im Leben durch den Kongress bringen könnte. Denn für den Fall, dass er gewinnt – was eher unwahrscheinlich ist –, werden sich die etablierten Parteien zusammentun und dafür sorgen, dass er keinen Fuß auf den Boden bekommt. Schließlich wollen sie sicher stellen, dass ein unabhängiger Kandidat nie wieder zu einer ernsthaften Bedrohung für sie werden kann.«

Carl schlurfte in Richtung seines winzigen Büros davon, das sich am Eingang des Lagers befand. Er ging noch gebeugter als sonst. »Carl, warten Sie! Sie haben mir noch nicht gesagt, wen Sie wählen«, rief Tristan ihm nach.

»Es wäre wohl Zeitverschwendung, mir darüber Gedanken zu machen«, antwortete der alte Man, als er hinter einem der vielen, mit Aktenkartons voll gestopften Regale verschwand.

Tristan beugte sich vor und versuchte, noch einen Blick auf den alten Mann zu werfen. »Carl, jetzt seien Sie doch nicht gleich beleidigt.« Er beugte sich noch weiter vor, konnte aber immer noch nicht um das Regal sehen. »Nehmen Sie mich nicht so ernst. Nach der Arbeit gebe ich Ihnen einen aus und erzähle Ihnen, warum ich so einen Schwachsinn rede.«

Es kam keine Antwort, doch Tristan wusste, dass der alte Mann um fünf Uhr nachmittags mit Ausnahme der Einladung zum Bier alles vergessen haben würde.

Als er sich dem Aktenstapel vor sich zuwandte, machte er sich Vorwürfe. Seine brillant-zynische Analyse des politischen Systems der Vereinigten Staaten wollte eben nicht jeder hören. Er wusste nicht einmal, ob er sie noch hören wollte. Wahrscheinlich war es Zeit, sich damit abzufinden, dass es mit seinem sorgfältig konstruierten Plan, mit sechsunddreißig Millionär zu sein, nichts mehr werden würde. Und schuld daran war eine Horde nutzloser Politiker.

Tristan machte sich an die Arbeit und blätterte Seite um Seite um, während er den Inhalt der Dokumente überflog. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie für ihn nicht von Interesse waren, legte er sie in einem ordentlichen Stapel auf den Boden rechts von seinem Stuhl.

Nach ein paar Stunden sah es immer mehr so aus, als hätte er sich wieder einmal in einer Sackgasse verrannt. Dieser Karton unterschied sich in nichts von den anderen. Egal, ob er Glück hatte oder nicht, er wusste, dass es nicht viel brauchte, nur einen kleinen Fehler seinerseits oder in den Dokumenten, auf die er sich verließ, um ihn ins Leere zu führen.

Frustriert schlug Tristan mit der Faust gegen den Karton und warf ihn zu Boden. Er wollte ihn gerade mit den bereits gelesenen Akten füllen, als ihm auffiel, dass unter einer der beiden Laschen am Boden ein zusammengefaltetes Stück Papier steckte.

Er sah es sich flüchtig an und ließ dann einen Stapel von Dokumenten darauf fallen, bevor sein Gehirn Gelegenheit gehabt hatte, das Gelesene zu verarbeiten. Einen Augenblick später kniete er auf dem Boden, drehte den Karton um und schob die Papierstapel aus dem Weg. Nachdem er das Blatt Papier, das sich in der Lasche des Kartons verfangen hatte, herausgezogen hatte, starrte er auf den Briefkopf. Vor sich hatte er nicht das schlichte Siegel des Landwirtschaftsministeriums, das er in den letzten vier Monaten, sechs Tagen, sieben Stunden und zweiundzwanzig Minuten fünfzigtausend Mal gesehen hatte, sondern das Siegel des Federal Bureau of Investigation.

Tristan war klar, dass die Kamera über ihm aufzeichnete, wie er auf dem Boden kniete und mit offenem Mund ein Blatt Papier in seiner Hand anstarrte. Als sich der anfängliche Schock über seinen Fund etwas gelegt hatte, fühlte er sich, als hätte jemand die Luft aus ihm herausgelassen. Er stand so beiläufig wie möglich auf, warf die Aktennotiz wieder in den offenen Karton und fing an, wahllos die Aktenstapel auf dem Tisch herumzuschieben, während er gleichzeitig versuchte, die Situation zu durchdenken.

Wenn es ein falscher Alarm, ein falsch abgelegtes Stück Papier war, hatte das Ganze nicht viel zu bedeuten. Aber was, wenn es anders war? Was, wenn er Recht hatte und den Dokumenten, die er finden sollte, auf der Spur war? Er arbeitete für die Regierung – er wurde nicht für Ergebnisse bezahlt, nur dafür, dass er hier morgens auftauchte. Es würde keine Prämie für außergewöhnliche Leistungen geben, keine Beförderung, keine Gehaltserhöhung. Was, wenn er sich gerade selbst um seinen Job gebracht hatte?

Tristan wuchtete den Karton vom Tisch und ging damit zu dem Regal zurück, in dem er ihn gefunden hatte. Er konzentrierte sich darauf, möglichst entspannt zu wirken, da er wusste, dass am anderen Ende des Gangs zwischen den Metallregalen eine Kamera installiert war und jeden seiner Schritte überwachte. Er bog nach rechts in die Regalreihe, in der er den Karton gefunden hatte, und stellte ihn in die Lücke, die er zwischen den anderen Kartons hinterlassen hatte. Dann streckte er sich übertrieben heftig und nutzte die Gelegenheit, um die Wände und Regale um sich herum abzusuchen und sich zu vergewissern, dass er nicht mehr im Winkel der Kamera war.

Als er ganz sicher war, das er nicht mehr beobachtet wurde, zog er leise die Kartons links und rechts von dem Karton, den er gerade wieder zurückgestellt hatte, aus dem Regal heraus. Er kippte den Inhalt der ersten drei Kartons auf den Boden und fing an, sich durch die Akten zu wühlen, so schnell und gründlich wie er nur konnte. Nach fünf Minuten mehr oder weniger systematischer Suche hatte er noch ein paar lose FBI-Dokumente gefunden, die eigentlich nicht hierher gehörten, aber nichts, was von Bedeutung war. Vielleicht waren die sonderbaren Umstände seiner Einstellung und seine geheimnisvolle Arbeitsplatzbeschreibung doch nur ein weiterer Beweis für die Unfähigkeit der Regierung.

Er sah auf die Uhr und schätzte, dass er noch etwa fünf Minuten hatte, bevor es auffallen würde, dass er sich nicht mehr in einem der kameraüberwachten Bereiche des Aktenlagers aufhielt. Er legte die Akten in die Kartons zurück und stellte sie wieder an ihren Platz. Dann zog er drei weitere Kartons aus dem Regal und kippte den Inhalt auf den Boden.

Im sechsten Karton wurde er fündig.

Fast schon am Boden, unter einem zehn Zentimeter dicken Dokument über Salatanbau im Ausland, stieß er auf einen braunen Ziehharmonikaordner, der von einem Stück Nylonschnur zusammengehalten wurde. Der große Aufkleber, mit dem der Ordner versiegelt war, zeigte ein verblasstes FBI-Siegel. Auf einem Papieretikett rechts oben stand ein einziges Wort: PRODIGY.

Er legte den Ordner auf den Boden hinter sich und setzte seine Suche fort, indem er noch drei Kartons aus dem Regal zog. Zehn Minuten nach den fünf Minuten, die er sich zugestanden hatte, schien klar zu sein, dass der versiegelte Ordner das Einzige war, was er hier finden würde. War der Rest der falsch archivierten Dokumente auseinander gerissen und im Laufe der Jahre in alle Himmelsrichtungen verstreut worden? Existierten die Dokumente überhaupt?

Er wusste, was jetzt von ihm erwartet wurde. Er sollte die Telefonnummer auf der Karte, die man ihm gegeben hatte, anrufen – die Nummer des Glatzkopfs, wie er vermutete – und alles übergeben. Ihm war unmissverständlich klar gemacht worden, dass er sofort zum Telefon greifen sollte, wenn er herausgefunden hatte, wo die Dokumente sein könnten.

Tristan lehnte sich an das Regal hinter sich und ließ sich auf den Boden sinken. Er zog den Ordner auf seinen Schoß und spürte, wie sein Herz schneller schlug, als er mit den Fingerspitzen über die Nylonschnur strich.

Das Richtige würde sein, den Anruf zu machen und die Dokumente an seine Vorgesetzten zu übergeben. Doch was würde dann passieren? Man hatte ihm nichts versprochen. Der Job war nicht das, was er sich erträumt hatte, aber er wurde gut bezahlt und war mehr oder weniger sein eigener Chef.

Tristan fing an, mit den Fingern auf dem Ordner in seinem Schoß herumzutrommeln. Und wenn er ganz einfach vergaß zu erwähnen, dass er die Akte gefunden hatte? Er würde weiterhin hierher kommen und für die Kameras so tun, als würde er arbeiten. Lange Mittagspause, gutes Gehalt, kein Leistungsdruck. Und wenn die Wirtschaft wieder anzog, würde er das Geld nehmen, das er gespart hatte, damit schnurstracks ins Sekretariat der Georgetown University marschieren und sein Studium fortsetzen.

Aber was war mit der Akte? Er sah auf sie hinunter. Wenn er Recht hatte und die Geschichte, die man ihm erzählt hatte, ein Haufen Mist war, suchte die Regierung etwas ganz Bestimmtes. Vielleicht sollte er sie lesen. Schließlich war es doch seine Pflicht, sie zu lesen, oder etwa nicht? Was, wenn sie ein Heilmittel für Krebs oder etwas in der Art enthielt?

Er fuhr mit dem Zeigefinger über das Siegel auf dem Ordner und überlegte, obwohl er genau wusste, dass er sich schon viel zu lange in dieser Ecke des Aktenlagers versteckte.

Doch seine Nervosität wurde rasch von den monatelang gehegten Spekulationen und Mutmaßungen bezwungen. Er löste den Knoten des Nylonfadens, mit dem die Akte zusammengehalten wurde. Warum er ihn nicht gleich durchschnitt, wusste er nicht so genau, denn das Siegel musste er auf jeden Fall zerbrechen. Irgendwie kam es ihm falsch vor.

Er hielt für einen Moment den Atem an, traf eine nicht wieder rückgängig zu machende Entscheidung und zog am Deckel des Ordners. Das Siegel riss nur bis zur Mitte auseinander. Dass es so hartnäckig an dem braunen Karton klebte, ließ ihn zögern. Plötzlich war er sich nicht mehr so sicher, dass er es tun wollte. Er wollte aufstehen und die Akte in den Karton zurücklegen, doch seine Neugier ließ es nicht zu.

Er zog noch einmal am Deckel, öffnete den Ordner und holte mehrere Mappen heraus. Die erste enthielt verschiedene FBI-Dokumente, die wie alle Schriftstücke des FBI in einer winzigen Schriftart und mit knappen Formulierungen geschrieben waren. Er hatte es gerade aufgegeben, den ersten Absatz der ersten Aktennotiz zu lesen, als zwischen den Seiten ein Foto herausfiel.

Die Qualität des Fotos war ziemlich schlecht, und es sah aus, als wäre es mit einem Weitwinkelobjektiv aufgenommen worden. Tristan hatte noch nie ein Überwachungsfoto gesehen, aber so in etwa musste eines aussehen. Es war wohl durch einen Einwegspiegel oder durch ein Loch in der Wand aufgenommen worden. Auf dem Bild war ein Gruppe gut gekleideter Männer und Frauen zu sehen, von denen keiner älter als dreißig aussah. Die Männer hatten ihre Jacketts abgelegt und den obersten Knopf ihrer Hemden geöffnet. Sie saßen alle im Kreis auf dem Boden eines teuer eingerichteten Büros, umgeben von Bierflaschen, und reichten ein flaches Tablett herum, das anscheinend leer war. Als Tristan den Rest der Fotos aus dem Ordner zog, stellte er fest, dass die Aufnahmen immer interessanter wurden. Das Tablett war in Wirklichkeit ein Spiegel, und die Leute zogen sich mit einem zusammengerollten Stück Papier, das wohl ein Dollarschein war, etwas in die Nase – das Bild war zu körnig, um es genau erkennen zu können. Überwacht worden war eindeutig der junge Mann auf der rechten Seite des Fotos, da es von ihm gleich mehrere Abzüge auf Hochglanzpapier gab, auf denen er mit dem Dollarschein in der Nase abgebildet war. Tristan wusste nicht, wer er war, aber er kam ihm bekannt vor. Den Namen würde er wohl in den dazugehörenden Dokumenten finden.

Da er sich nicht gleich durch hundert Seiten FBI-Geschwafel wühlen wollte, um die Information zu finden, nahm er sich stattdessen die nächste Mappe vor, in der er Bilder von einem ähnlich gekleideten jungen Mann in einer ähnlich verfänglichen Situation fand.

Hastig durchsuchte er die übrigen Mappen und fand in jeder einen Stapel Fotos. Einige – die meisten davon hatten etwas mit Drogen zu tun – zeigten ganz eindeutig ein Verbrechen. Andere wiederum sahen einfach nur so aus, als hätten sich zufällig zwei Leute getroffen, von denen der eine allerdings immer ein junger, gut aussehender Mann war. Bei diesen Fotos würde er wohl erst durch einen Blick in die beigelegten Berichte feststellen können, um was es ging.

Als Tristan die letzte Akte aufschlug, stellte er fest, dass die Fotos dieses Mal nicht lose in der Mappe lagen, sondern in einem großen, versiegelten Umschlag steckten. Er zögerte einen Moment, doch nachdem er sich selbst daran erinnert hatte, dass es schon zu spät war, um es sich anders zu überlegen, riss er den Umschlag auf.

Ihm stockte der Atem, als er das erste Bild aus dem Umschlag zog. Es zeigte zwei nackte schwarze Frauen, die zusammen auf einem Bett lagen und Sex hatten. Lesbischen Sex. Als er sich das Foto genauer ansah, konnte er den Ausdruck auf dem Gesicht der einen Frau erkennen – sie wirkte eher eingeschüchtert und verwirrt als sexuell erregt. Und dann sah er auch, dass es gar keine Frau war. Es war ein kleines Mädchen.

Tristan überflog die Fotos, bis er zu einem Bild kam, das einen nackten jungen Mann am Bettrand zeigte. Er saß auf einem Klappstuhl und starrte auf die Szene vor sich. Dem Zustand seines Penis nach zu urteilen, hatte er großen Spaß daran.

Tristan ließ die Fotos auf den Boden fallen und zog eine Hand voll weiterer Aufnahmen aus dem Umschlag. Alles in allem waren es etwa fünfzig Stück, zehnmal so viele wie in den anderen Mappen. Die Bilder, die er sich zuerst angesehen hatte, stammten wohl aus der Mitte des Stapels. Sie waren in mehr oder weniger chronologischer Reihenfolge. Auf den ersten Fotos waren alle drei noch bekleidet, dann war die Frau mit dem jungen Mädchen auf dem Bett zugange, und schließlich gesellte sich der junge Mann zu ihnen.

Tristan starrte auf eine Nahaufnahme des jungen Mannes. Obwohl das Gesicht noch die letzten Spuren sexueller Erregung trug, kam es ihm irgendwie bekannt war – so wie das der drei oder vier anderen Männer.

Er steckte die Bilder wieder in den Umschlag und nahm sich die Berichte vor, die an die Innenseite der Mappen geklammert waren. Noch ein paar Minuten. Er wollte sich nur noch ein paar Minuten vor den Kameras verstecken.

ZWEI

Zum ersten Mal seit die Inquisitoren nacheinander den Saal betreten hatten, sah einer von ihnen zu Mark Beamon hinunter und zwang ihn so, sich um eine halbwegs aufrechte Haltung auf seinem Stuhl zu bemühen. Doch bevor es Beamon gelungen war, sich aus seiner lässigen Pose aufzurappeln, hatte die Frau sich schon abgewandt und die geflüsterte Unterhaltung mit ihren Mitverschwörern wieder aufgenommen. Theoretisch sollte ja Beamon der Star der Show sein, da sie sich nur wegen ihm hier versammelt hatten, doch jetzt fühlte er sich eher wie schmückendes Beiwerk. Und je länger man ihn ignorierte, desto stärker wurde das unangenehme Gefühl in seinem Magen.

Beamon drehte sich um und starrte auf die leeren Bänke zwischen sich und der mächtigen Flügeltür am anderen Ende des Saals, durch die er hereingekommen war. Fernsehkameras und Zuschauer waren nicht zugelassen. Außer ihm und den fünf Kongressabgeordneten, die von ihrem gewaltigen, auf einem hohen Podest stehenden Tisch auf ihn herabsahen, waren nur noch nur ein paar junge Mitarbeiter der Kongressabgeordneten anwesend, die anscheinend die Kunst perfektioniert hatten, mit jeder Wand zu verschmelzen, vor die sie sich stellten.

Wenn es nicht so verdammt gefährlich gewesen wäre, hätte er das Ganze ja für lustig gehalten. Nichts, was er heute hier sagen würde, würde etwas ausmachen. Seine Zukunft – oder besser gesagt, der Mangel an Zukunft – war vorherbestimmt. Er war Teil eines perfekt inszenierten Stücks, das einzig und allein zu Gunsten der darin mitwirkenden Schauspieler auf die Bühne gebracht worden war.

Beamon griff nach dem Zinnkrug am Rand des Tisches, doch dieser war genauso leer wie die Wassergläser, die um ihn herum standen. Er sah zur Kongressabgeordneten Candice Gregory hoch, die den Vorsitz des Ausschusses innehatte, und vergewisserte sich, dass sie und ihre Kollegen immer noch heftig diskutierten. Vermutlich ging es darum, welche Version der Wahrheit der Gruppe als Ganzes am ehesten gelegen kam.

Nachdem klar war, dass man ihn noch nicht brauchte, versuchte er, an nichts mehr zu denken und sich zu entspannen. Der Ablauf der Anhörung war offenbar sorgfältig inszeniert worden, um ihn ins Schwitzen zu bringen. Aber darauf konnten sie lange warten.

»Mr Beamon … Mr Beamon!«

Er zuckte zusammen und lächelte höflich. »Entschuldigung, Frau Vorsitzende. Sind Sie jetzt so weit?«

»Wenn es Ihnen nicht zu viele Umstände macht«, erwiderte sie frostig.

Beamon ließ das bewusst dümmliche Lächeln auf seinem Gesicht gefrieren und blieb stumm, während ihm eine ganze Reihe ausgesprochen unhöflicher Antworten durch den Kopf schossen. Er wusste, dass es noch schlimmer werden würde. In letzter Zeit war die politische Arena zu einem sehr kleinen Rettungsboot auf einem sehr stürmischen Meer geworden. Und was noch um einiges beunruhigender war, für die Männer und Frauen, die um ein trockenes Plätzchen in diesem Rettungsboot kämpften, war er der Kerl, der mit einem Bohrer in der Hand um den Schiffsrumpf herumschwamm.

»Geben Sie bitte Ihren Namen und Ihren Beruf für das Protokoll an.«

»Mark Beamon. Ich bin Special Agent und leite die Dienststelle des FBI in Flagstaff.«

Er hätte es nicht für möglich gehalten, aber der Ausdruck auf dem Gesicht des Mannes, der rechts von der Kongressabgeordneten Gregory saß, wurde noch ein wenig selbstgefälliger, als er sich zum Mikrofon beugte. »Soweit ich weiß, sind Sie doch suspendiert worden.«

Der Mann kam aus einem der Südstaaten, dachte Beamon, aber er konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, welcher es war. Eines dieser Arschlöcher, deren lächerlich wirkende Sprechweise jedes Mal, wenn wieder Wahlen anstanden, noch etwas gedehnter und schleppender wurde.

»Dann nennen Sie mich doch einen berufsmäßigen Teilnehmer von Anhörungen«, erwiderte Beamon und bereute es sofort.

Von den bis jetzt mucksmäuschenstillen jungen Leuten an den Wänden des Saals war unterdrücktes Gekicher zu hören. Von allen, bis auf zwei, die mit ernstem Gesicht vor sich ins Leere starrten. Es war unschwer zu erkennen, für wen sie arbeiteten.

Die Kongressabgeordnete Gregory ignorierte Beamons spöttische Bemerkung, da sie nicht gegen sie gerichtet war, und fuhr fort. Sie blätterte übertrieben laut durch ein dickes, gebundenes Dokument und schnitt ihrem Kollegen das Wort ab, bevor dieser Beamon einen »Mangel an Respekt vor diesem Verfahren« oder »unbotmäßiges Verhalten angesichts Ihrer wichtigen Aufgaben« oder das, was ein Politiker eben sonst in einer solchen Situation zu sagen pflegte, entgegenschleudern konnte. »Mr Beamon, wir haben Ihren Bericht in dieser Angelegenheit sehr sorgfältig gelesen. Trotzdem würden wir es begrüßen, wenn Sie uns in Ihren eigenen Worten eine kurze Zusammenfassung geben könnten.«

Beamon konnte ein leichtes Stirnrunzeln nicht unterdrücken – der Bericht war in seinen eigenen Worten geschrieben. Er hatte Monate gebraucht, um ihn fertig zu stellen. »Ich habe gegen die Kneissianer ermittelt …«

Der Kongressabgeordnete aus dem Süden beugte sich wieder zu seinem Mikrofon, was ihm leicht verärgerte Blicke seiner Kollegen einbrachte. »Um etwas klar zu stellen – man hatte Ihnen anlässlich einer ganzen Reihe von Vorfällen befohlen, diese Ermittlungen nicht weiterzuführen. Ist das richtig?«

Beamon seufzte etwas zu laut. Sein Mikrofon verstärkte den Seufzer und warf ihn gegen die Wände. »Ich habe den Tod zweier Menschen und das anschließende Verschwinden eines jungen Mädchens untersucht. Da die Kneissianer über erhebliche finanzielle Mittel verfügten und politisch sehr viel Einfluss hatten, kamen meine Vorgesetzten beim FBI zu dem Schluss, dass Ermittlungen im Umfeld der Sekte … problematisch werden könnten. Aber da die Kneissianer das Mädchen gefangen hielten und vorhatten, sie zu töten, habe ich es als meine Pflicht angesehen, mich mit meinen Ermittlungen weiterhin auf sie zu konzentrieren …«

Wie immer bei der politischen Elite schien der Mann völlig zu ignorieren, dass Beamons Verdacht sich am Ende als richtig erwiesen hatte. Seine Körpersprache ließ erkennen, dass er tatsächlich der Meinung war, den Schlagabtausch mit Beamon gewonnen zu haben. »… und das war einer der Gründe dafür, dass man Sie suspendiert hat.«

Beamon holte tief Luft und unterdrückte seinen wachsenden Zorn, bevor er sich um Kopf und Kragen redete. »Ähm, ja. Das war mit Sicherheit einer der Faktoren.«

»Bitte fahren Sie fort«, warf die Kongressabgeordnete Gregory ein.

»Während der Ermittlungen habe ich erfahren, dass die Sekte ein ausgeklügeltes Telefonüberwachungssystem eingerichtet hatte. Die Kneissianer hatten eine kleine Telefongesellschaft namens Vericomm gekauft, die auf Ferngespräche spezialisiert war und alle Telefonverbindungen über das Internet herstellte. Im Wesentlichen mussten alle Gespräche über die Mainframes der Sekte laufen, bevor sie auf die verfügbare Bandbreite des Internets verteilt wurden. Und dabei sind die Gespräche abgehört und aufgezeichnet worden. Die Ferngespräche bei Vericomm waren sehr billig – fünf Cents pro Minute rund um die Uhr. Sie haben einfach jedem einen Vertrag angeboten, an dem sie interessiert waren.«

»Und als Sie von diesem System erfahren haben, haben Sie da Ihre Vorgesetzten beim FBI informiert?«

»Nein. Man könnte sagen, dass das Bureau und ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr miteinander kommuniziert haben.«

»Sie sind also eigenmächtig vorgegangen?«

Beamon warf einen nervösen Blick auf den leeren Wasserkrug, hustete und nickte. »Ja. Es ist mir gelungen, in die Datenbank, in der das interessantere Material gespeichert war, einzudringen und einige der mitgeschnittenen Gespräche herunterzuladen. Wie Sie wissen, ging es dabei häufig um politische Persönlichkeiten. Als ich meine Ermittlungen abgeschlossen und das verschwundene Mädchen gefunden hatte, habe ich die Mitschnitte dem FBI übergeben.«

Sie sah ihn misstrauisch an. »Und vermutlich werden Sie mir jetzt gleich sagen, dass Sie keine Ahnung haben, wie diese Aufnahmen der Presse zugespielt wurden.«

»Wenn Sie mich danach fragen, werde ich Ihnen genau das antworten.«

Die Mitglieder des Ausschusses starrten auf ihn herab. Er starrte zurück. Schließlich begann einer der Männer, von denen Beamon bis jetzt noch nichts gehört hatte, zu sprechen: »Dann fragen wir Sie jetzt danach, Mr Beamon.«

»Ihr Kollege hat ganz richtig darauf hingewiesen, dass ich suspendiert bin«, fuhr Beamon fort, der seinen kleinen Sieg genoss. »Ich war vor Übergabe der Mitschnitte suspendiert, und ich bin es immer noch. Ich hatte gar keine Möglichkeit herauszufinden, was vorgefallen ist, nachdem das FBI die Aufnahmen an sich genommen hat.«

»Illegale Aufnahmen«, warf die Kongressabgeordnete Gregory ein.

Beamon lehnte sich zurück und sagte kein Wort. Jetzt wusste er, in welche Richtung dieser Schwachsinn gehen sollte.

In den Mitschnitten, die er dem FBI übergeben hatte und die anschließend von dem großen Unbekannten der Presse zugespielt worden waren, war von Aktivitäten der politischen Elite die Rede, die so abscheulich waren, dass sie selbst auf dem Höhepunkt eines Aufschwungs und der damit einhergehenden Wählerapathie nicht ignoriert worden wären. Jetzt allerdings, da die Arbeitslosenrate nicht mehr unter zehn Prozent sank, wollte die Öffentlichkeit Blut sehen. Und allem Anschein nach wollten die Männer und Frauen vor ihm mit allen Mitteln dafür sorgen, dass es nicht ihr, sondern Beamons Blut war.

Wenn sie das amerikanische Volk davon überzeugen konnten, dass Beamon moralisch korrupt war – ein krimineller FBI-Beamter, der seine Amtsbefugnisse missbraucht hatte, um durch Schlüssellöcher zu spähen –, würde das vielleicht reichen, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf jemand anderen zu lenken. Heute sind es mächtige Politiker, würden sie zum amerikanischen Volk sagen, aber morgen könnte es genauso gut der Mann auf der Straße sein.

»Die Mitschnitte waren illegal«, sagte Beamon, während er sich wieder vorbeugte. »Aber weder ich noch das FBI haben in Zusammenhang mit diesen Mitschnitten ein Verbrechen begangen.«

Die Kongressabgeordnete Gregory nickte und machte keine Anstalten, das Schweigen zu unterbrechen, das sich jetzt wieder im Saal ausbreitete. Offenbar versuchte sie, ihn dazu zu bewegen, noch mehr zu sagen, aber nach jahrelangem Umgang mit der Presse roch er diese kleinen Tricks schon von weitem.

ENDE DER LESEPROBE