Das Antiquariat an der Seine - Lorenza Gentile - E-Book
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Das Antiquariat an der Seine E-Book

Lorenza Gentile

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Beschreibung

Eine Italienerin in Paris – Neuanfang nicht ausgeschlossen. Poetisch und mit liebevollem Humor erzählt der Roman »Das Antiquariat an der Seine« von Selbstfindung, einem Familiengeheimnis und der Kult-Buchhandlung »Shakespeare & Company« in Paris. Äußerlich ist die 30-jährige Italienerin Oliva Villa immer perfekt gestylt und auf dem besten Weg in das ideale Vorstadt-Leben, nebst attraktivem Verlobten. Von der Leere in ihrem Inneren ahnt niemand etwas. Als Oliva eine Einladung ihrer exzentrischen Tante Vivienne erhält, die vor 16 Jahren von einem Tag auf den andern aus ihrem Leben verschwand, zögert sie nicht lang und fährt nach Paris. Doch vor der berühmten Buchhandlung »Shakespeare & Company«wartet sie vergeblich auf Vivienne. Immer wieder scheint Oliva ihre Tante in den nächsten Tagen knapp zu verpassen – dafür begegnen ihr Bücher, Gedanken und das Leben selbst mit all seinen Möglichkeiten … Der Sinnsuche-Roman der italienischen Autorin Lorenza Gentile eroberte in Italien direkt die Bestseller-Liste und sprüht vor Lebensfreude. Mit seiner Heldin Oliva auf der Suche nach sich selbst und dem zauberhaften Flair der 100 Jahre alten Buchhandlung»Shakespeare & Company« ist »Das Antiquariat an der Seine« wunderbar inspirierende Unterhaltung für die Leser*innen von Elena Molini, Jackie Fraser oder Nina Georges »Lavendelzimmer«.

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Seitenzahl: 449

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Lorenza Gentile

Das Antiquariat an der Seine

Roman

Aus dem Italienischen von Annette Lardschneider-Pedicini

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Eine Italienerin in Paris – Neuanfang nicht ausgeschlossen

 

Poetisch und mit liebevollem Humor erzählt der Roman »Das Antiquariat an der Seine« von Selbstfindung, einem Familiengeheimnis und der Kult-Buchhandlung »Shakespeare & Company« in Paris.

Äußerlich ist die 30-jährige Italienerin Oliva Villa immer perfekt gestylt und auf dem besten Weg in das ideale Vorstadt-Leben, nebst attraktivem Verlobten. Von der Leere in ihrem Inneren ahnt niemand etwas.

Als Oliva eine Einladung ihrer exzentrischen Tante Vivienne erhält, die vor 16 Jahren von einem Tag auf den andern aus ihrem Leben verschwand, zögert sie nicht lang und fährt nach Paris. Doch vor der berühmten Buchhandlung »Shakespeare & Company« wartet sie vergeblich auf Vivienne.

Immer wieder scheint Oliva ihre Tante in den nächsten Tagen knapp zu verpassen – dafür begegnen ihr Bücher, Gedanken und das Leben selbst mit all seinen Möglichkeiten …

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Le début

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

Samedi

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Dimanche

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

Lundi

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Mardi

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

Mercredi

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

Jeudi

25. Kapitel

26. Kapitel

Vendredi

27. Kapitel

28. Kapitel

Samedi

29. Kapitel

30. Kapitel

Dimanche

31. Kapitel

Lundi

32. Kapitel

33. Kapitel

Mardi

34. Kapitel

35. Kapitel

Mercredi

36. Kapitel

37. Kapitel

La clôture

38. Kapitel

Danksagung

Zitatnachweise

 

 

 

 

Für Davide, mit dem ich mich wirklich frei fühle

 

 

 

 

That is part of the beauty of all literature. You discover that your longings are universal longings, that you’re not lonely and isolated from anyone. You belong.

Scott F. Fitzgerald

 

 

Ich bin davon überzeugt, dass wir selbst im letzten Augenblick unseres Lebens die Möglichkeit haben, unser Schicksal zu ändern.

Giacomo Leopardi

Le début

1.

Das Geschenk liegt auf meinem Schreibtisch, eingepackt in ein Stück Zeitung mit chinesischen Schriftzeichen. Ein Umschlag ist auch dabei. Der wurde so hastig beschriftet, dass man meinen Namen kaum lesen kann.

Ein Zeichen von Respektlosigkeit, würde mein Vater sagen.

Es ist die Handschrift meiner Tante.

Noch im Regenmantel stehe ich einfach da, das Gesicht zu einer hässlichen Grimasse verzogen. Meine Arme kläglich in die Luft gestreckt, als würde ich versuchen, ein Orchester zu dirigieren, und dabei eine ziemlich schlechte Figur machen. In meiner Brust ertönen die Klänge der Carmina Burana.

Ich schließe die Augen und atme dreimal tief in den Bauch ein, so wie es mir Frau Dr. Manubrio gezeigt hat.

 

Bei unserer ersten Sitzung hatte mich Frau Manubrio gebeten, eine Liste der Dinge zu erstellen, die mich glücklich machen – was auf die Schnelle gar nicht so einfach war. Morgens gemütlich zu frühstücken und es trotzdem pünktlich ins Büro schaffen? In der Mittagspause ins Fitnessstudio zu hetzen und dann feststellen, dass es wegen Wartungsarbeiten geschlossen ist?

Doch als ich mit der Liste anfing, wurde ich zunehmend lockerer, und eine kleine Freude folgte der nächsten. Unter einer voll aufgedrehten Hoteldusche zu stehen und laut zu singen, ohne dass man es im Nachbarzimmer hört. Einen Berg perfekter Macarons zu backen, innen weich und außen knusprig, und alle aufzuessen, die übrig geblieben sind.

Vieles, das mich glücklich macht, behielt ich jedoch für mich: allein über die Felder zu laufen und, sobald ich sicher bin, dass mich niemand sieht, laut loszuheulen. Mich auf den Boden zu werfen und »Verschieben wir’s doch auf morgen« zu brüllen oder wie Holly Golightly in Frühstück bei Tiffany eine Katze auf den Arm zu nehmen und einen imaginären Paul zu küssen, der in seinen Regenmantel gehüllt vor mir steht.

Und auch die Gespräche, die ich mir ausdenke und stundenlang mit meiner Tante, mit Totò, Lady Diana, Einstein, Mutter Teresa, Picasso, Napoleon, Marilyn Monroe, Mozart oder Kleopatra führe, habe ich verschwiegen.

Stattdessen habe ich laut gesagt: ziellos durch die Regale des asiatischen Supermarktes hinter dem Büro zu streifen und mir die Verpackungen mit den lachenden Zeichentrickfiguren anzuschauen, auf gut Glück irgendetwas davon zu kaufen und in der Mittagspause zu essen, ohne den anderen davon zu erzählen.

Dann sind mir noch mehrere Dinge eingefallen, die mir recht harmlos vorkamen. Ich habe sie einzeln aufgezählt: Der Gedanke, mit Anfang dreißig ein richtiges Gehalt zu bekommen und nicht mehr von meinen Eltern abhängig zu sein. Nicht mehr jedem erzählen zu müssen, »dass ich mein Gehalt mit technischen Übersetzungen aus dem Englischen aufbessere«. Seit der Erfindung von Google Translate habe ich sowieso keine Aufträge mehr bekommen … Mir vorzustellen, wie ich in sechs Monaten im weißen Kleid neben Bernardo stehen werde und, abgesehen von den Reiskörnern im Haar, zum ersten Mal richtig gut auf einem Foto aussehe. Die stolzen Gesichter meiner Eltern, auch wenn die vorderen Kirchenbänke, die normalerweise für die Familie reserviert sind, halb leer sein werden. Die Abende bei Bernardo, wenn er arbeiten muss und ich im Sessel sitze und stundenlang Sudokus löse. Samstags meiner Mutter im Haushalt zu helfen und all die Arbeiten zu erledigen, die die Putzfrau immer auslässt: Die Matratzen und Sofapolster zu lüften, unter den Teppichen zu kehren, die Mikrowelle zu reinigen, die Schränke aufzuräumen, die Regale abzustauben. Mein gutes Gewissen deswegen, denn ich habe geschwitzt und vielleicht sogar ein paar Gramm abgenommen, und meine Mutter ist zufrieden, schließlich ist alles wieder an seinem Platz und strahlt vor lauter Reinheit. Meinen Vater lächeln zu sehen, wenn ich ihm von meinem festen Vertrag erzähle. Das wäre immerhin das erste Mal, und sein Grinsen kann ich mir jetzt schon vorstellen. Und einen Strauß weißer Schwertlilien zu kaufen, meine Lieblingsblumen, die man das ganze Jahr über im Blumenladen bekommt.

 

Dann habe ich schweigend den eiförmigen Sessel am Fenster angestarrt, um der Manubrio zu verstehen zu geben, dass ich nun fertig bin.

Sie hat kurz überlegt und daraufhin zu meiner großen Erleichterung verkündet, dass ich, genau wie alle anderen auch, zwar ein paar Schwachstellen habe, aber dass sonst alles mit mir in Ordnung wäre.

Es sind nun sechs Monate, in denen ich immer dienstags in der Mittagspause für eine Stunde in ihre Praxis komme, und ich habe noch kein einziges Wort über meinen Bruder verloren. Über meine Tante auch nicht. Warum auch? Die Manubrio ist mit meiner Mutter befreundet. Es gibt eine ärztliche Schweigepflicht, aber kann man sich da wirklich sicher sein? Meine Mutter wird doch alles haargenau wissen wollen. Seit einiger Zeit guckt sie mich immer so besorgt an. Sie weiß wahrscheinlich, dass ich ihre Schlaftabletten geklaut habe und dass nicht die Putzfrau, sondern ich heimlich die Ferrero Rocher aus der Schale im Wohnzimmer nehme und dann alles wieder so anordne, als wäre nichts geschehen.

Auch die wiederkehrenden Schübe meiner Schuppenflechte hat meine Mutter viel zu ernst genommen.

»Die meisten Hautkrankheiten haben einen psychosomatischen Ursprung«, sagte sie, nachdem sie meinen fleckigen Arm unter die Lupe genommen hatte. Sie musste schockiert feststellen, dass ich versucht habe, die hässlichen Flecken unter einer Foundation zu verstecken. »Bist du … irgendwie wütend? Deprimiert? Hast du Angstattacken?«

»Nein, nein, auf keinen Fall«, habe ich gesagt. Obwohl ich das in Wirklichkeit gar nicht genau wusste. Ihre Maßnahme war recht simpel: Ich sollte zur Manubrio gehen und ein bisschen mit ihr quatschen.

Obwohl sie Glücksspiele nicht mögen, haben meine Eltern bei meiner Erziehung alles auf eine Karte gesetzt. Sie haben mich zu den Nonnen auf die Schule geschickt, ich lerne seit dem Kindergarten Englisch, ich wurde zum Ballettunterricht gebracht und habe Gesang- und Reitstunden bekommen. Und jetzt seht mich an. Niemand käme auf die Idee, dass ich einmal Tanzen gelernt habe. Ich singe höchstens unter der Dusche, und selbst das nicht besonders gut. Mit dreißig Jahren warte ich immer noch auf eine Festanstellung. Ja, ich kann gut Englisch, mir gefällt es, aber was soll ich damit machen? Ich komme nicht einmal mit technischen Übersetzungen über die Runden.

In meinem kleinen Ort haben alle in meinem Alter schon längst Karriere gemacht, Kinder bekommen und Kredite aufgenommen. Ich hinke überall hinterher, aber ich werde mich hüten, das der Manubrio zu erzählen. Ganz im Gegenteil, ich gebe mir alle Mühe, ihr genügend Argumente zu liefern, die meine Mutter beruhigen könnten.

Wie ich so bequem ausgestreckt auf der Chaiselongue im Ponyfellimitat liege, beschließe ich, ihr lieber nichts von meinen pochenden Kopfschmerzen zu erzählen, aus Angst, sie könnte irgendeine obskure Erklärung dafür finden, vielleicht der Elektrakomplex oder ein unbewusster Hass auf meine Arbeit. Ich sage ihr auch nicht, wie ich die Nächte verbringe, wie ich die auf die Wand reflektierten Ziffern des Weckers anstarre und mich frage, wie mein Leben wohl ausgesehen hätte, wenn mein Bruder oder meine Tante noch da wären, oder was wohl aus mir geworden wäre, wenn ich weiter über den Jurabüchern geschwitzt hätte, anstatt zu Wirtschaftswissenschaften zu wechseln. Wäre ich jetzt Anwältin? Wäre mein Vater glücklicher? Oder war ich mehr für das Theater gemacht? Hätten es meine Eltern akzeptiert, wenn ich meine Leidenschaft zum Beruf gemacht hätte?

Als mich die Ärztin nach irgendwelchen körperlichen Beschwerden gefragt hat und dabei ihre Brille auf der Nase zurechtrückte, habe ich nur den Kopf geschüttelt und auf die Andy-Warhol-Reproduktionen auf der Wand gestarrt. Schaue deiner Psychoanalytikerin niemals direkt in die Augen! Vor allem dann nicht, wenn sie ihre Wände mit Campbell’s Suppendosen tapeziert hat.

Meine akute Schuppenflechte verschwieg ich (die ich übrigens mit der Foundation gut kaschieren kann), genau wie das gelegentliche Herzrasen und die darauffolgende Leere, in der ich fast ertrinke. Es sind alles nur vorübergehende Phasen. Wer hat die nicht? Es lohnt sich nicht mal, darüber zu sprechen. Und jetzt gibt es Bernardo, und wir werden heiraten, und sie werden mich im Büro übernehmen. Ich werde so sein wie alle anderen: glücklich. Bald werde ich auch die Manubrio nicht mehr jeden Dienstag sehen müssen. Ich kann nachts wieder schlafen und brauche das Nutella-Glas nicht mehr in den leeren Blumentöpfen zu verstecken.

Wenn ich etwas verstanden habe im Leben, ist es die Tatsache, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Träume wahr werden, gegen null geht. Warum also einer Enttäuschung hinterherjagen, wenn man sie gleich vermeiden kann? Vielleicht haben die kleinen Botschaften, die in den Baci Perugina versteckt sind, recht, wenn sie Oscar Wilde zitieren: »Glück ist nicht, das zu bekommen, was man will, sondern das zu schätzen, was man hat.« Glück ist, ein normales Leben zu leben.

»Ich würde Ihnen gerne eine Metapher an die Hand geben, Oliva. Wenn Sie es mir erlauben«, sagte die Manubrio am Ende der ersten Sitzung.

»Sicher«, antwortete ich, obwohl es eigentlich keine Frage war.

Von Neuem rückte sie ihre Brille auf der Nase zurecht. »Stellen Sie sich vor, Ihr Leben ist wie das Meer. Schließen Sie die Augen, können Sie es sehen?«

Ich nickte, obwohl ich überhaupt nichts gesehen habe. Ich möchte wetten, dass niemand sich konzentrieren kann, wenn er so angestarrt wird.

»Das Meer ist oft ruhig und spiegelglatt, und dann plötzlich wieder stürmisch. Sie können nichts dagegen tun. Die Wellen lassen sich nicht aufhalten. Richtig? Aber eine Sache können Sie machen: Sie können lernen, auf den Wellen zu reiten.«

Wellenreiten also. Ich stellte mir vor, wie ich mich inmitten einer Horde von Surfern in hautengen Neoprenanzügen an ein glitschiges Brett klammere. Noch nicht einmal in meiner Fantasie war ich in der Lage, aufrecht zu stehen. Ich brauche wahrscheinlich nicht zu sagen, dass ich mich in dem Moment nicht wirklich besser gefühlt habe.

»Es gibt viele Techniken des Wellenreitens«, sagte sie. »Die einfachste: die Augen schließen und dreimal tief einatmen, um sich wieder mit dem inneren Ich zu verbinden.«

Ich habe es nicht ganz verstanden, aber weil ich die Befürchtung hatte, dass wir wieder ganz von vorne anfangen würden, habe ich lieber nicht nachgefragt. Sosehr ich mich auch anstrengte, ich hätte hier, auf der Liege mit dem borstigen Ponyfell, das sich durch meine Kleidung bohrte, und mit den Andy-Warhol-Suppen an der Wand, niemals das Meer sehen können. Vielleicht, wenn ich auf dem eiförmigen Sessel am Fenster gesessen hätte … Aber ich wollte lieber nicht darum bitten, wer weiß, was für Schlüsse eine Psychoanalytikerin daraus gezogen hätte.

Obwohl ich einfach keinen Zugang zu den Therapieansätzen der Manubrio finde, versuche ich trotzdem, sie ab und zu in die Praxis umzusetzen, schon allein aus Angst, dass sie eines Tages merken könnte, wie wenig Mühe ich mir gebe.

Vielleicht ist es wie bei den Diäten, und irgendwann klappt es einfach?

 

Diesmal zumindest nicht. Nach dem dritten tiefen Atemzug öffne ich die Augen: Das Paket liegt immer noch da.

Eigentlich hatte ich Die Biotypen-Diät erwartet, ein Buch, das ich vor ein paar Tagen bestellt habe. Ich versuche seit fünf Jahren, fünf Kilo abzunehmen. Von den zwei Schubladen in meinem Schreibtisch ist eine vollgestopft mit Büchern mit Titeln wie Die Dukan-Diät – Rezeptplaner für sieben Tage, Dr. Joshis ganzheitliche Tipps gegen Hungerattacken, Die Wasser-Diät oder Die besten Fett-Weg-Smoothies … Sie sind alle noch in Folie eingeschweißt, denn jedes Mal erscheinen wieder neue Bücher, die ich überzeugender finde. Die Biotypen-Diät werde ich aber ganz bestimmt lesen, und sei es nur, um zu sehen, ob ich eine Apfelfrau bin oder mehr so der Birnentyp. Wenn sich herausstellen sollte, dass ich eher eine Birne bin, dann schwöre ich, dass ich mich nicht weiter bemühen werde, sondern einfach in dem Trapezkleid heirate, das meine Mutter mir aus Die moderne Braut ausgeschnitten hat. Doch es nützt alles nichts, das Buch über die Biotypen ist noch nicht da, dafür gibt es Neuigkeiten von meiner Tante.

Die Carmina Burana erklingt wieder in meiner Brust. Ich starre das in die chinesische Zeitung gewickelte Paket an und kann meinen Augen kaum trauen. Meine Tante lebt.

»Das hat der Kurier für dich dagelassen«, erklärt Veronica von der anderen Seite des Schreibtisches und zeigt mit dem Kinn auf das Paket.

Ich versuche es mit einer anderen Technik des Wellenreitens. Sich auf die kleinen konkreten Dinge zu fokussieren, um … wie hat es die Manubrio genannt? Der mentalen Gemengelage zu entkommen? Oder war es das mentale Gewusel? Oder das Gemisch? Also kurz: dem inneren Ich.

Ich ziehe den Mantel aus und hänge ihn an die Garderobe. Ich greife nach dem Kuvert, öffne es und schaffe es gerade noch, meine zitternden Hände unter Kontrolle zu bringen. In meiner Brust hat die Carmina Burana aufgehört und Metallica Platz gemacht, aber aus der Zeit, als sie noch ihre Gitarren auf der Bühne zerlegten.

Im Umschlag steckt eine Karte.

Oliva, komm zu mir nach Paris, hat meine Tante geschrieben, es ist wirklich sehr wichtig.

Da der erste Satz wohl mehr Platz in Anspruch genommen hat als gedacht, hat sie den Rest einfach drum herumgeschrieben. Mit jedem Wort wird die Schrift etwas kleiner.

Ich erwarte dich nächste Woche bei Shakespeare and Company, in der Nähe von Notre-Dame. Bring das Geschenk mit, aber öffne es nicht, bevor du da bist. Bis bald, Viv.

Auf der Rückseite der Karte ist eine französische Werbung abgedruckt, auf der steht: Malik, Afro Kosmetik. Diesen Monat 30 % Rabatt auf Perücken, Dreadlocks und Extensions. Kostenlose Anprobe.

Meine Tante hat eine alte Werbepostkarte recycelt. Das ist wieder typisch. Sogar ein Fettfleck ist drauf.

Noch nie hat sie ein schlichtes weißes Blatt Papier für ihre Korrespondenzwut benutzt. Warum sollte man die globale Abholzung unterstützen, wenn die Welt voller beschreibbarer Oberflächen ist, die man sonst verschwenden würde, hat sie immer zu meinem Vater gesagt, der jedes Mal entsetzt war über ihre Briefe, die sie wahllos auf die Rückseiten von Pariser Métro-Tickets, Taschentüchern, Briefumschlägen der Hausverwaltung oder Rechnungen kritzelte. Das wäre respektlos gegenüber dem Empfänger, meinte er. Ein vorgegebenes Format würde doch nur ablenken, erwiderte sie, wegführen vom eigentlichen Inhalt, ihn kontaminieren und auf Dauer entwerten. Ich war noch ein Kind und fühlte mich nicht in der Lage, mir meine eigene Meinung zu bilden, aber ich hob die Botschaften meiner Tante, die sie auf jedem x-beliebigen Stück Papier hinterließ, wie bunte Sammelbilder auf.

Ich habe sie alle aufbewahrt, auch den kleinen Zettel, der so fest in einem Parfümflacon steckt, dass ich ihn nicht mehr herausbekomme. Ich glaube, auf dem steht nicht mal was drauf.

Erst jetzt bemerke ich, dass in dem Umschlag außer der Postkarte noch ein Zugticket steckt, für nächsten Freitag. Für einen Nachtzug von Mailand nach Paris, ausgestellt auf meinen Namen.

Ich nehme das in Zeitungspapier eingewickelte Päckchen prüfend in die Hand, es fühlt sich weich an und auch ziemlich schwer. Ein Wintermantel vielleicht? Aber wir haben bereits Frühling. Oder eine Tischdecke? Was soll ich denn mit einer Tischdecke in Paris anfangen? Und vor allem: Was für einen Grund gibt es, mir ein Geschenk aus Paris zu schicken, damit ich es ungeöffnet wieder dorthin zurückbringe? Auf so eine Idee kann auch nur sie kommen.

Ich hätte gerne weiter darüber nachgedacht, aber die Arbeit ruft. Ich schiebe alles auf eine Seite des Schreibtisches, an die Stelle mit den vielen Kaffeeflecken. In den beiden Schubladen ist kein Platz mehr. Die eine ist voller Diätratgeber, in der anderen ist mein Vorrat an Snacks aus dem Asia-Markt. Glückskekse, Ginseng-Kaugummis, Schoko-Erdnüsse mit Kokosgeschmack, gesalzene Zitronenbonbons, Knuspererbsen mit Chili, KitKat mit grünem Matcha-Tee, gerösteter Seetang »Hot and Spicy« und Krabbenchips. Während der Computer hochfährt, gieße ich die Aloe-vera-Pflanze. Es ist Montag. In der Erde steckt ein Zahnstocher mit einem kleinen Fähnchen, auf dem Ich bin durstig steht.

»Wer schickt dir denn so coole Pakete?«, fragt Veronica und lehnt sich zu mir.

Ich weiß nicht, ob das ein Witz sein soll. Achselzuckend antworte ich: »Ach, nur meine Tante.«

Ich sage nichts über mein Herzrasen, meine Lust, einmal um den Block zu rennen, zu heulen, eine ganze Packung Krabbenchips zu verdrücken oder gleich laut loszuschreien.

Zudem erwähne ich nicht, dass meine Tante seit sechzehn Jahren verschwunden ist.

 

»Also, dann schauen wir mal, wie wir diese eventuelle Katastrophe noch abwenden können«, sagt Veronica mit ihrer Notfallstimme.

Sie ist so alt wie ich, aber sie hat im Gegensatz zu mir keine Zeit verschwendet, als es darum ging, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Sie wusste es eigentlich schon, sobald sie auf der Welt war. Sie hat ihr Studium mit Bestnote abgeschlossen und sofort angefangen zu arbeiten.

Während ich die Fakultäten wechselte und mich von einem Praktikum zum nächsten hangelte, immer auf der Suche nach »dem richtigen Weg« war, hatte sie bereits ihren ersten festen Job. Und dann den nächsten. Und den übernächsten. Und schließlich wurde sie befördert, und dann noch einmal befördert, und jetzt ist sie meine Chefin.

Bei Energy and Co. verkaufen wir Energieriegel. Wir sind die Marktführer. Unsere Konkurrenten essen wir zum Frühstück. Vor Kurzem haben wir jedoch eine schlimme Entdeckung gemacht: Ein multinationales Unternehmen, das Frühstücksprodukte herstellt, plant eine eigene Reihe Müsliriegel. Das ist die mögliche Katastrophe. Wir leben im Jahr 2011, alles verändert sich, die Menschen sind bequem geworden und versuchen, wo es geht, zu sparen. Die meisten unserer Kunden finden es wahrscheinlich einfacher, die Riegel im Supermarkt zusammen mit ihren Lieblingskeksen zu kaufen, anstatt nach unseren Produkten im Fitnessstudio, im Sportgeschäft oder in der Apotheke Ausschau zu halten.

Und ziemlich sicher werden sie auch weniger dafür bezahlen.

»Hier geht alles den Bach runter, und wir haben noch nicht einmal eine Hochwasserübung gemacht«, war der Kommentar von Ruggero, unserem Big Boss, der so scharfsinnig ist, dass er mich nach einem Jahr immer noch Olivia nennt.

»Wir müssen uns eine Strategie überlegen«, sagt Veronica und reicht mir eine neue Marktstudie herüber.

Marketing mag ich eigentlich, es ist ein wenig wie Sudoku. Es geht um Zahlen und logisches Denken, mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden. Nun ist der höchste erreicht.

Nach meinem Praktikum haben sie mir ein einjähriges Volontariat angeboten, das demnächst ausläuft. Bald werden sie mich bestimmt übernehmen. Veronica ist überzeugt davon, dass es diesmal klappen wird. Meine Ideen gefallen ihnen, der Job würde mir liegen, und ich wäre eine gute Ergänzung für das Team. Was lehren uns all diese Motivationsvideos? Wenn du etwas wirklich willst,dann nutz die Chance und nimm es dir. Und das ist es, was ich tun muss: die Hand ausstrecken und den Vertrag annehmen. Das sage ich mir jeden Morgen im Aufzug, auch wenn ich dann jedes Mal so verwirrt bin, dass ich im falschen Stock aussteige und zwei oder drei Etagen zu Fuß laufen muss. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass das gegen Cellulite helfen soll.

Mein Blick fällt auf die Marktstudie, ich muss eine neue Strategie entwickeln, mir muss irgendwas einfallen. Aber genau wie beim Sudoku braucht auch das Marketing höchste Konzentration, und meine Gedanken schweifen ständig ab. Immer wieder kehren sie zu meiner Tante zurück.

Sechzehn Jahre!

2.

Als ich klein war, kam Tante Vivienne oft zu Besuch. Sie brachte jedes Mal einen riesigen Koffer aus Paris mit, voll mit antiquarischen Büchern und Kleidung, die meine Mutter für reichlich geschmacklos hielt. Bunte Socken, breitkrempige Hüte, lange, mit Perlen bestickte Röcke, Paillettenhosen, Pelzjacken … ich war verrückt danach.

Vivienne war schlank und voller Energie. Sie hatte haselnussbraune Augen und lange Wimpern, zartrosa geschminkte Lippen und trug ihre blonden Haare zu einem kurzen Bob geschnitten, der später weiß wurde. Als junge Frau hatte sie als Model gearbeitet und wurde zum Gesicht der Werbekampagnen von Orangina, Chinotto und dem Bialetti-Standmixer. Ständig hatte sie Liebeskummer. Die Männer, in die sie verliebt war, erwiderten ihre Gefühle nämlich nie. Deshalb steckte sie all ihre Energie in immer neue Projekte und Hobbys.

In ihrer astrologischen Phase verkündete sie, dass nicht nur Sternzeichen und Aszendent von Bedeutung wären, sondern das ganze Astralhoroskop für die einzelnen Personen in Betracht gezogen werden müsse. Die Strenge meines Vaters kam davon, dass er mit Jupiter im Steinbock geboren ist, und das große Problem von Nonna Renata war Uranus im siebten Haus. In dieser Phase war sie stets blau gekleidet, trug silberne Kreolen an den Ohren und lange Halsketten mit eingefassten Anhängern aus Halbedelsteinen.

Dann kam die Zeit des Umweltaktivismus, die nach ihrer ersten Afrikareise begonnen hatte. Auf einmal war sie Vegetarierin, trug selbst in der Stadt Kleidung, als würde sie gleich auf Safari gehen, und hatte eine wahre Obsession für die Geschichten von Karen Blixen. Kaum war sie von ihrer Reise zurückgekehrt, reiste sie gleich wieder ab, um eine Elefantenfamilie in der Serengeti zu retten, und ließ dafür das Weihnachtsessen ausfallen.

Mein Vater hielt sie für launenhaft und oberflächlich, aber ich fand das ganz und gar nicht. Sie ging vollständig und voller Euphorie in jeder ihrer Phasen auf und brachte von ihren nicht enden wollenden Entdeckungsreisen zu anderen Welten neue wichtige Lektionen mit. Sie studierte weiterhin die Stellung der Planeten für die Menschen, die ihr am Herzen lagen, und sie blieb Vegetarierin, zumindest bis zum letzten Mal, als wir uns gesehen haben.

Mit meiner Tante konnte ich als Kind die gefährlichsten Dinge tun: mit den Händen über ein offenes Feuer streichen, den einhändigen Handstand versuchen und die elektrische Küchenmaschine benutzen. Wir unterhielten uns unterwegs mit wildfremden Menschen, verirrten uns in den Straßen von Mailand und färbten uns mit Haarfarbe aus dem Supermarkt die Haare blau.

Sie war gegen alles Mögliche, gegen Tafelsilber, Verschwendung, Gefängnisse, Videospiele, Benimmregeln, Anglizismen oder die Ehe. Und sie hatte von allem ihre eigenen Vorstellungen: »Das Reisen muss dich verändern, sonst ist es nur Tourismus!«, »Die Menstruation ist kein Grund, sich zu schämen!«, »Scheitern ist immer auch eine Chance!«, »All unsere Übel haben ihren Ursprung in der industriellen Revolution!«. Es schien mir, als würde jede ihrer Gesten ein Echo erzeugen und die Welt enthüllen, als ob es die Realität nur geben würde, um ihr als Resonanzboden zu dienen.

Sie brachte mir bei, die Leute, die sich über meinen Namen lustig machten, zum Schweigen zu bringen. Mein Name ist das einzige Extravagante im Leben meiner Eltern. Das kam so: Nach dem Verlust meines Bruders konnten meine Eltern keine Kinder mehr bekommen. Als sie in Cefalù Urlaub machten, knieten sie sich in der Kirche Santa Oliva vor der Statue der Heiligen aus Palermo nieder und baten um ihre Gnade. Neun Monate später kam ich auf die Welt. Ganz offenbar war ich ein Wunder, man musste mich einfach so nennen.

»Es ist ein wunderschöner Name«, tröstete mich meine Tante. »Weißt du, was du zu deinen Klassenkameraden sagen kannst? Dass er aus dem Lateinischen kommt. ›Könnt ihr Latein?‹, musst du fragen. Und wenn sie Ja sagen, sagst du: ›Veni, vidi, vici.‹ So bringst du sie zum Schweigen.«

Genauso habe ich es gemacht. Und es hat funktioniert. Manchmal.

Als ich älter wurde, wurde Tante Vivienne zu meiner Vertrauten. Flaschenspiele, Knutschflecken, erste Küsse – ich konnte sie immer um Rat fragen. Da sie kein Telefon besaß, beschrieb ich ihr meine Dilemmas per Post. Sie antwortete mit Zitaten von Martin Luther King, Buddha, Madonna und Sätzen aus der Bibel. Es waren Weisheiten, die mir immer geholfen haben, insbesondere das fröhliche Motto »Allegria« des Showmasters Mike Bongiorno.

Vivienne war meine einzige und liebste Tante.

Das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben, befand sie sich in ihrer romantischen Phase. Sie trug gotisch anmutende Ohrringe, las Lord Byron und Shelley, pries das Erhabene, verkündete die Notwendigkeit einer unmittelbaren Naturverbundenheit und verteidigte das Ideal der Freiheit.

Sie spielte mir Schubert, Strauss, Wagner, Tschaikowski und Mahler vor. Sie war aus Paris gekommen, weil es Nonna Renata immer schlechter ging, doch anstatt Wache an ihrem Krankenbett zu halten, beschloss sie, mit mir nach Ligurien zu fahren, »um mich das Meer zu lehren«. Das war Januar 1995. Ich war vierzehn Jahre alt.

Das Meer kann man nur im Winter lehren, erklärte sie mir, und deshalb mussten wir sofort los. Wir wollten einen Tagesausflug machen und sind am Ende zwei volle Tage geblieben. Als wir zurückkamen, war meine Großmutter tot.

Mein Vater hatte Vivienne ganz aufgelöst in sein Arbeitszimmer zitiert. Eine gefühlte Ewigkeit sprachen sie dort so leise hinter verschlossenen Türen, dass ich, sosehr ich auch die Ohren spitzte, nichts hören konnte. Meine Tante verließ noch am selben Abend in aller Eile, und ohne ein einziges Wort zu sagen, unser Haus. Meine Eltern und ich haben beim Abendessen schweigend auf unsere Teller gestarrt. Es fühlte sich an wie ein zweiter Trauerfall. Als ich meinen ganzen Mut zusammennahm und fragte, was eigentlich passiert war, sagte mein Vater, dass er etwas über meine Tante erfahren hätte. Genauer gesagt, er habe etwas in ihrem Koffer gefunden. Etwas, das so ernst war, dass wir nie wieder Kontakt zu ihr aufnehmen durften und so tun sollten, als hätte sie nie existiert.

Meine Tante? Nie existiert? Ich verstand kein Wort und konnte mir einfach nicht erklären, wodurch solch eine extreme Reaktion gerechtfertigt war. Doch nur durch ein Verbrechen, sagte ich mir. Ich stellte mir eine Waffe vor, Schmiergeldzahlungen mit gestohlenem Geld, falsche Dokumente … Aber wäre die Tante dazu wirklich in der Lage? Sie, die an die reine Liebe glaubte, an Pazifismus und den Weltfrieden? Sie, die eher gehungert hätte, als sich eine Hähnchenbrust auf den Grill zu legen? Nein, es musste irgendeine andere Erklärung geben. Etwas, was außerhalb meiner Vorstellungskraft lag.

An jenem Abend vor so langer Zeit fand ich in meinem Zimmer ein französisches Taschenwörterbuch auf dem Bett. Darin lag ein Stadtplan von Paris, auf dem ein Post-it-Zettel klebte: Veni, vidi, vici. Ich warte auf dich. Viv.

Das war der Anfang von vielen Dingen. Mein Vater hatte aufgehört, fröhlich zu sein. Abends verkroch er sich stets in sein Arbeitszimmer und starrte aus dem Fenster in die Nacht hinaus. Meine Mutter war zunehmend gebrechlich, immer in gereizter Stimmung und eigentlich nie zufrieden.

Nachdem ich monatelang nicht herausfinden konnte, was meine Tante Schlimmes angestellt hatte, gab ich auf. Ich fing an zu zweifeln. In gewisser Weise verabscheute ich sie. Sie hatte die Spielregeln zu Hause geändert und kam nicht mehr zurück. Sie war einfach verschwunden.

Eines Morgens leistete ich vor meinem Spiegelbild im Wohnzimmerfenster, das zum Garten hinausgeht, einen feierlichen Schwur: Niemals würde ich die Menschen um mich herum so sehr enttäuschen. Und niemals würde ich mit irgendjemandem über sie sprechen. Doch dann verbrachte ich viele Stunden damit, Petit Choux, Eclairs, Tartes Tatin und Macarons zu backen, und lernte Französisch mit einem heimlich gekauften Grammatikbuch. Zu Hilfe nahm ich dabei das kleine Wörterbuch, das sie mir geschenkt hatte.

Als meine Tante noch da war, schien mir alles möglich zu sein. Die Welt war bunter, und ich fühlte mich nie allein. Und irgendwo, vielleicht auch weit weg, in Paris, in Afrika oder am Nordpol, gab es einen Menschen, der mich verstand. Ohne sie wusste ich weder, wem ich mich anvertrauen konnte, noch, mit wem ich meine Zeit verbringen sollte. Ich war wieder ein Nichts geworden.

Also begann ich, ihr Briefe zu schreiben. Eine Antwort erhielt ich jedoch nie. Sie hat anscheinend ihre Adresse geändert. Was mein Vater über sie herausgefunden und warum sie sich nie wieder gemeldet hat, blieb ein Geheimnis. Es war die zweite tiefe Wunde unserer Familie.

 

Die Mittagspause ist fast um. Es ist sehr wichtig, wiederhole ich immer wieder in Gedanken, ich erwarte dich nächste Woche bei Shakespeare and Company …

Wie jeden Montag hänge ich mir um Punkt ein Uhr meine Sporttasche um und verlasse das Büro. Spontan beschließe ich, noch schnell einen Kaffee zu trinken und einen kleinen Umweg zu machen. Ich gehe in meine Lieblingsbar, die von einer freundlichen chinesischen Familie betrieben wird. Der Ort wirkt unpersönlich und steril, aber ich mag ihn, weil niemand hierherkommt, und wegen des Sohnes der Besitzer, der sich nur von Snacks und Limo zu ernähren scheint. Der Glückliche! Einmal hat er mir ein Stück weiße Schoko mit Kirschen angeboten. Es war sehr schwer, aber ich konnte der Versuchung widerstehen.

Der starke Kaffee bahnt sich den Weg in meinen leeren Magen, und ich spüre, wie sich meine Innereien krampfartig zusammenziehen. Das Fitnessstudio kann ich erst mal sausen lassen. Dann eben ein andermal, sage ich mir und fühle mich so lahm wie jedes Mal, wenn ich den Sport ausfallen lasse. Zumindest habe ich heute eine gute Ausrede.

Beim bloßen Gedanken an den Nachtzug fallen mir in ungeordneter Reihenfolge sofort Fledermäuse, Drogenhandel, Agatha Christie, Springmesser, Gift, Dunkelheit, Tunnel und, ich weiß nicht warum, Lepra, Pest und Lazarett ein.

Aber klar, Fliegen wäre natürlich noch schlimmer. Früher hat es mir gefallen, aber jetzt überlasse ich den Nervenkitzel, stundenlang in einer schweren Metallkiste in der Luft festzuhängen, lieber anderen. Es mag das sicherste Verkehrsmittel sein, doch wenn man abstürzt, dann in Sekundenschnelle.

Die Wanduhr zeigt zwei Uhr an. Meine Kollegen sitzen sicher schon wieder alle an ihren Schreibtischen. Ich ziehe die Statistik, die ich mir noch gar nicht angeschaut habe, aus der Tasche und bezahle den Kaffee. Hinter dem Tresen lächeln sie mir freundlich zu. Der Kleine winkt mir hinterher, bevor er eine Fanta aufmacht. Ich eile rasch zurück ins Büro, so habe ich zumindest ein bisschen geschwitzt.

Sechzehn Jahre. Einmal wieder nach Paris fahren, steht ganz oben auf meiner Liste der Dinge, die ich in meinem Leben noch machen möchte. Diese Liste ist lang, und ich habe noch keinen einzigen Punkt abgearbeitet.

Im Fahrstuhl nehme ich das kleine Handtuch aus meiner Sporttasche und lege es mir um den Hals, ohne den Schweiß vom Laufen wegzuwischen. Das muss eigentlich reichen, damit es so aussieht, als hätte ich trainiert. Nicht, dass es jemanden interessieren würde, aber ich benutze das Fitnessstudio als Ausrede, um die gemeinsamen Mittagessen zu umgehen, wo sie mich nur dazu nötigen würden, die Spaghetti Bolognese aus der Cafeteria zu probieren oder den Obstsalat zu essen, denn »der hat schließlich Vitamine«. Nein, ich verbringe meine Mittagspausen lieber in der chinesischen Bar, lasse die gemeinsame Mahlzeit ausfallen und futtere dafür, wenn ich mich unbeobachtet fühle, die Snacks aus der Tüte.

Meine Tante lebt und will mich treffen! Im Laufe der Jahre habe ich über alles Mögliche spekuliert: dass ihre Liebe schließlich von einem charmanten Mann à la Peter O’Toole erwidert wurde, und dass sie mit ihm in einem kleinen Dorf im Périgord lebt, wo sie fleischfressende Pflanzen anbauen und Havanna-Kaninchen züchten, oder dass sie Informantin des Geheimdienstes war, dass sie sich als Nonne in ein Kloster zurückgezogen hat oder auf eine Missionsreise nach Afrika gegangen und nie wieder zurückgekehrt war. In meinen schlimmsten Vorstellungen malte ich mir aus, wie sie allein auf der Straße lebte und Gedichte für ein paar Francs verkaufte, so wie die Bettlerin, die ich einmal als Kind in Paris gesehen hatte, als wir bei meiner Tante zu Besuch waren. Aber dass sie noch am Leben ist, ist ja schon mal etwas. Und wenn sie mir ein Geschenk geschickt hat, kann es ihr ja so schlecht nicht gehen.

Ich öffne die Schreibtischschublade, nehme die Packung Knuspererbsen mit Chili heraus, lasse sie in den Jackenärmel meines Kostüms gleiten und schlüpfe ins Bad. In zweiundzwanzig Sekunden habe ich sie vertilgt. Pikantes hilft, den Heißhunger zu stillen. Das wurde in den ländlichen Regionen Indiens entdeckt.

Wie es wohl wäre, Vivienne wiederzusehen? Und herauszufinden, was damals passiert ist und wie sie die letzten Jahre verbracht hat? Womöglich kann ich sie von meinen Erfolgen ja gar nicht so beeindrucken. Wirtschaftswissenschaften, Praktika, ein Job im Marketing. Wie wird sie auf die Nachricht reagieren, dass ich bald heiraten werde?

Wäre das nicht die Gelegenheit, die Sache zwischen ihr und meinem Vater wieder in Ordnung zu bringen? Aber was, wenn er es herausfindet und dann auch mit mir nicht mehr sprechen will? Wenn diese mögliche Entdeckung eine Vergangenheit ans Licht bringt, mit der er schon längst abgeschlossen hat?

Der Zug fährt Freitagabend ab und kommt Samstagmorgen in Paris an. Ich muss direkt vom Büro zum Bahnhof gehen und am Sonntagabend wieder zurückfahren, damit ich am Montag in der Früh wieder am Schreibtisch sitze. Zwei Nächte unterwegs, und eine in Paris. Der reine Wahnsinn.

Die Manubrio kann ich nicht um Rat fragen, sie ist in Mexiko und den ganzen Monat nicht erreichbar.

»Urlaub ist Urlaub«, hat sie nach der letzten Sitzung gemeint und mir ihre juwelenberingte Hand zum Abschied gereicht.

Mich Bernardo anzuvertrauen, käme einer Gerichtsverhandlung gleich, es geht ihm stets um prinzipielle Fragen, und er behält immer recht.

Wenn das Leben wirklich wie der Ozean ist, dann ist das hier eine Monsterwelle. Ich stehe kippelnd auf meinem Surfbrett, das sich seinen eigenen Weg bahnt, und der Neoprenanzug sitzt so eng, dass ich nicht weiß, ob es mir jemals gelingen wird, ihn wieder auszuziehen.

3.

Das tranchierte Brathähnchen thront auf einer Silberplatte in der Mitte des Tisches. Wie jeden Donnerstagabend ist Bernardo bei uns, und meine Mutter hat den Tisch feierlich gedeckt. Und wie jeden Donnerstag diskutieren sie darüber, wer sich zuerst bedienen darf.

»Zuerst der Gast«, sagt meine Mutter.

»Danke, nach dir, Gabriella.«

»Oh, das ist nett von dir«, gibt sie schließlich nach und legt sich das kleinste Stück Hähnchenbrust auf den Teller.

Ich werfe meinem Vater einen Blick zu. Wie erwartet, starrt er angestrengt auf das Display seines Handys. Er hat wohl noch was für die Arbeit zu tun.

»Es schmeckt ein wenig langweilig«, sagt meine Mutter beschämt. »Das ist mir nicht gelungen.«

»Ich finde es perfekt«, beruhigt Bernardo sie umgehend.

Jetzt bin ich dran. Ich nehme einen Schenkel.

»Es ist sehr lecker«, sag ich schnell. Aber eigentlich hat sie recht.

Auch an diesem Donnerstag kommt das Gespräch nach einigen Fehlstarts nicht wirklich in Gang. Es gibt nicht viele Themen, über die man sich bei mir zu Hause unterhalten kann. Tabu sind am Tisch unlösbare Probleme, traurige Nachrichten, Extremsportarten, Verschwörungstheorien, Esoterik, Homöopathie und andere schwer zu beweisende Behauptungen. Meine Erfolgserlebnisse wären ein idealer Gesprächsstoff, leider gibt es so wenige davon. Ab und zu taucht mein Oberstufenzeugnis auf, in dem ich zwei Einser hatte, einen in Italienisch und einen in Latein. Unser Lehrer war nie da, und bei seiner Vertretung haben wir jedes Mal nur Backgammon gespielt. Die Note wurde aus irgendeinem Hut gezaubert, aber das habe ich natürlich nie erzählt.

Seit wir verlobt sind, lassen meine Eltern auch Bernardos Erfolge gelten. Zum Glück gibt es heute einen zu feiern. Wir stoßen darauf an, dass er gerade von einer großen Anwaltskanzlei angestellt wurde. Die Zeiten, in denen er sich dauernd nur mit streitenden Wohnungseigentümern befassen musste, sind vorbei.

Mein Vater schüttelt ihm feierlich die Hand.

»Jetzt sitzen wir im selben Boot.«

»Danke, Marcello, das weiß ich sehr zu schätzen«, antwortet er. Die Vorstellung, dass mein zukünftiger Ehemann eines Tages seine Kanzlei übernehmen könnte, macht meinen Vater richtig glücklich. Eigentlich hätte ich seine Nachfolge antreten sollen, wären da nicht die Prüfungen in römischem Recht und Privatrecht gewesen. Dazu kam meine mangelnde Disziplin und der bei mir nicht vorhandene Masochismus, den es braucht, um Anwältin zu werden. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass ich, wenn ich schon an der Universität gescheitert bin, bei der Wahl meines zukünftigen Ehemanns ein glücklicheres Händchen hatte.

Das Gespräch fällt auf das Haus, in das wir nach unserer Hochzeit einziehen wollen. Bald werden die Mieter ausziehen und den Weg für uns frei machen.

»Das war eine gute Investition«, sagt mein Vater. »In zwanzig Jahren hat sich der Wert bereits verdoppelt.«

Das Haus liegt gleich unten an der Straße. Es sieht genauso aus wie alle anderen Häuser in der Nachbarschaft, auch wie das meiner Eltern, in dem ich immer noch wohne. Schrägdach, zwei Stockwerke, und an jedem Fenster ein Balkon.

Ich versuche, nicht daran zu denken, dass sie es eigentlich für meinen Bruder gekauft haben. Ob er tatsächlich dort eingezogen wäre, mit einem sicheren Job und einem perfekten Leben? Hätte das meinen Eltern genügt? Hätten sie mich dann noch gebraucht? Manchmal frage ich mich, wie es wohl gewesen wäre, wenn ich nicht geboren wäre, aber das ist Unsinn. Trotzdem stelle ich mir manchmal vor, wie ich in der absoluten Leere oder in völliger Dunkelheit schwebe, aber das ist nicht dasselbe, denn solange ich mir ein Bild von mir selbst machen kann, gibt es mich auch.

»Die Stadt kommt ja immer näher«, sagt Bernardo, »und wir haben sogar einen Garten.«

Die Aussicht, aus Mailand wegzuziehen und hier in dem kleinen Ort zu leben, gefällt ihm. Ruhe und Frieden, eine etwas menschlichere Dimension, und wenn man zur richtigen Zeit das Haus verlässt und auf der Umgehungsstraße ein bisschen Gas gibt, ist es gar nicht mal so weit bis zur Kanzlei. Zu mir meinte er aber einmal, dass wir nur dort einziehen, um Miete zu sparen, denn irgendwann möchte er eine Wohnung in Mailand kaufen. Er will im Zentrum wohnen. Das würde mir sicher auch gut gefallen, schob er schnell hinterher, so als müsste ich davon noch überzeugt werden.

»Glaube niemandem, der denkt, dass die Zukunft eine Illusion ist«, sagt mein Vater immer. »Wenn es eine Gewissheit im Leben gibt, dann ist es die Zukunft. Und es ist wichtig, auf sie vorbereitet zu sein.«

»Ich bringe Oliva am Samstag nach Alassio«, kündigt Bernardo an.

Bin ich denn sein Dackel!? Hätte er nicht mal vorher fragen können? Selbst ich kenne den zweiten Artikel unserer Verfassung: Die Freiheit der Person ist unverletzlich. Vielleicht auch, weil es das Credo meiner Tante war. Wir fahren ständig mit seinen Freunden an den Strand von Alassio, und ich weiß nie, worüber ich mit ihnen reden soll. Jedes Mal, wenn ich versuche, ein Gespräch mit ihnen anzufangen, öffnet sich ein schwarzes Loch vor mir. Es sind alles junge Anwälte, Notare oder Zahnärzte. Über was sollten wir uns unterhalten? Über Seetang »Hot & Spicy«? Oder soll ich sie fragen, ob sie sich an die Schlussszene von Vom Winde verweht erinnern, in der Scarlett O’Hara die Treppe herunterkommt und dabei »Rhett! Rhett!« ruft? Ihr Schweigen, das unweigerlich nach jedem meiner Witze folgt, ist so peinlich, dass ich davon Herzrasen bekomme. Ich bleibe lieber zu Hause, löse Sudokus oder probiere ein neues Backrezept aus, auch wenn niemand es essen möchte. Mein Vater mag nichts Süßes, und die einzigen zusätzlichen Kalorien, die der Diätplan meiner Mutter zulässt, sind Gojibeeren vom Himalaja.

Alle warten darauf, dass ich etwas zu Bernardos Vorschlag sage. Ich merke, wie die verschwörerischen Blicke meiner Mutter immer penetranter werden. Man muss Opfer für die Menschen bringen, die man liebt, das hat sie mir schon mehrmals erklärt: Verantwortung ist die Basis des Glücks. Ich stelle das ja gar nicht infrage, sind eben die gesellschaftlichen Regeln, und wenn es gesellschaftliche Regeln gibt, dann hat das sicher einen Grund. Der da wäre, dafür zu sorgen, dass wir alle wissen, was uns erwartet. Dass uns die Stolpersteine aus dem Weg geräumt werden, damit das Leben möglichst reibungslos verläuft und die Realität keine Risse bekommt, die uns in Panik versetzen könnten. Das war schon immer so, und ich habe es sogar selbst erlebt: Es funktioniert. Besser ein endloser Moment der Heuchelei als eine Reihe von Sprüngen ins Ungewisse.

Deshalb bin ich die Erste, die überrascht von dem ist, was ich jetzt sage.

»Dieses Wochenende fahre ich nach Paris.«

Das Echo hallt noch eine Weile nach.

»Nach Paris?«, rufen sie alle gleichzeitig und erstarren auf der Stelle zu Salzsäulen. Ihre Gabeln hängen in der Luft, die Augen sind weit aufgerissen. Ein Anblick, der mich an das historische Bild von Dalí mit den fliegenden Katzen und Stühlen erinnert.

»Wie, nach Paris?«, stottert meine Mutter.

»Paris?«, wiederholt Bernardo.

»An diesem Wochenende?«, hakt Papa noch mal nach.

Ich sitze stocksteif da. Mein Herz rast so schnell, dass ich fürchte, es könnte augenblicklich aus der Brust schießen und auf dem Teller vor mir landen.

»Ja, Paris.«

»Und wieso?«, fragt meine Mutter schließlich, als hätte man sie endlich an ein Beatmungsgerät angeschlossen.

Auf diese Frage bin ich nicht vorbereitet, da ich ja gerade erst beschlossen habe, dass ich fahren werde. Auf keinen Fall kann ich zugeben, dass ich allein mit dem Nachtzug fahren möchte. Und Tante Vivienne zu erwähnen ist völlig ausgeschlossen. Andererseits will ich auch nicht lügen. Ich will nicht ständig Angst haben müssen, dass man mir auf die Schliche kommt.

»Oliva?«, drängt meine Mutter.

»Ich mache Urlaub.«

»Urlaub?«, wiederholt sie.

Da kommt mir eine Idee: »Sonntag ist Lindas Geburtstag. Wir fahren zusammen.«

Von meinen beiden Freundinnen mögen sie Linda am liebsten. Sie ist die zuverlässigere. Der Blick meines Vaters verändert sich. Hat er Verdacht geschöpft? Tatsächlich sehe ich Linda kaum noch, seit sie verheiratet ist.

»Habt ihr das im letzten Moment gebucht?«, fragt Bernardo noch immer fassungslos.

»Ja, ein Flug am Samstag ganz in der Früh«, sage ich, »deshalb übernachte ich morgen bei ihr. Es ist ihr Geburtstag«, wiederhole ich. Zumindest entspricht das der Wahrheit.

»Aber Linda … ist verheiratet«, stellt Mama fest.

»Ganz genau«, antworte ich. Einfach so. Es funktioniert. »Und ich bin jetzt dreißig und habe auch das Recht, in den Urlaub zu fahren.«

Genau, ich berufe mich am besten auf Artikel zwei der Verfassung, aus irgendeinem Grund müssen sie ihn ja verfasst haben. Jetzt, wo ich es gesagt habe, kann ich nicht mehr zurück.

»Also kein Alassio?«, fragt Bernardo enttäuscht.

Und das ist noch nicht alles. Da ich jetzt meinen Koffer packen muss, kann ich heute nicht einmal, wie sonst, bei ihm übernachten. Als ich seinen niedergeschlagenen Gesichtsausdruck sehe, bin ich kurz davor, meine Meinung zu ändern. Doch ich beiße fest die Zähne zusammen. Und widerstehe.

Ich nehme das von mir zubereitete Pannacotta mit Waldbeerenkompott aus dem Kühlschrank und bringe es an den Tisch. Nur Bernardo bedient sich.

Auch ich rühre es nicht an. »Ich habe mit der Biotypen-Diät begonnen«, erkläre ich stattdessen meiner Mutter.

Das Buch ist zwar noch gar nicht angekommen, aber die Nachricht hat sie reanimiert. Sie fängt wieder mit ihrer üblichen Leier an: Ich sei gar nicht dick, ich bräuchte gar nicht so viel abzunehmen, aber wenn ich ein paar Kilos abnehmen würde, würde ich mich bestimmt besser fühlen. Zucker sei ja das reinste Gift, er mache süchtig und so weiter und so fort. Ich lächle und nicke, während sie alle Kontraindikationen für Glukose aufzählt. Ich erkläre ihr, dass ich der Apfelbiotyp bin (den ich mir selbst anstelle des Birnenbiotyps zuschreibe, um mich nicht ganz so mies zu fühlen) und dass die neue Diät keine Süßigkeiten vorsieht. Ich werde in nächster Zeit also keine mehr essen. Sie stimmt mir zu. Sie hat Paris, Linda, Alassio und alles andere vergessen. Ich frage mich, ob es dieses Mal mit dem Abnehmen funktioniert. Vielleicht bringt es ja was, eine Diät zu machen, ohne zu wissen, was sie beinhaltet. Ich glaube, ich storniere das Buch.

Nach dem Abendessen begleite ich Bernardo noch hinaus bis zum Hoftor. Seine grünen Augen heben sich in der Dunkelheit von seinem Gesicht ab. Ich frage mich, mit was ich einen so gut aussehenden Mann verdient habe. Was macht es schon, wenn ich manchmal das Gefühl habe, dass wir uns nicht viel zu sagen haben oder dass er meine Witze nicht versteht? Schönheit hat etwas Beruhigendes. In gewisser Weise ist Schönheit alles: zumindest, solange sie andauert.

Während ich ihn zum Auto gehen sehe, atme ich die Luft von Cornaredo ein, meinem kleinen Ort, in dem ich mich mit geschlossenen Augen bewegen könnte. Ich kenne jede Unebenheit der wenigen Straßen, die es gibt, jeden Torbogen, jedes Schild. Ich habe diesen Ort immer geliebt. Inzwischen lebe ich hier mit einem gewissen Gefühl der Unumgänglichkeit. Ich lehne mich nach vorne, um einen Blick auf das Haus zu erhaschen, in dem wir einmal leben werden. Oben brennt Licht. Das wird unser Schlafzimmer sein. Ich sehe uns schon in einem Jahr abends auf dem Bett sitzen, am Kopfende an die Kissen gelehnt, die wir von der Aussteuer gekauft haben. Bernardo bereitet gerade seine Abschlusserklärung für die Anhörung am nächsten Tag vor, während ich das höchste Sudoku-Level löse. Werde ich danach unter dem Vorwand, mich eincremen zu wollen, ins Bad gehen und eine Schlaftablette einwerfen? Werde ich sie dann wohl noch brauchen?

4.

Ich reiße die Schranktüren weit auf und öffne meinen Koffer. Wenn es mir an etwas nicht mangelt, dann sind es Klamotten. Sie kommen alle aus der Boutique meiner Mutter in Busto Arsizio. Nach der achten Klasse hat sie mich dort am Gymnasium angemeldet und jeden Morgen mit dem Auto dorthin gefahren. Wegen mir waren wir immer zu spät dran. Auf dem Weg haben wir Musik von Leonard Cohen und De André gehört, meine Mutter hat mich vor dem Schultor abgesetzt und ist dann weitergefahren, um den Laden zu öffnen. Nach der Schule sind wir meistens zusammen zum Mittagessen in eine Bar in der Nähe gegangen. Besser gesagt, ich habe mich vollgestopft, und sie hat mir dabei zugeschaut, denn ihr war entweder übel, sie hatte Bauchschmerzen oder »bereits gegessen«. Nachmittags hat sie sich dann immer ein paar Nüsse aus dem Glas Trockenfrüchte geangelt, das sie in der Abstellkammer im hinteren Teil des Ladens aufbewahrte, wo wir im Winter unsere Regenschirme und Mäntel verstauten.

Nach dem Mittagessen habe ich mich an die Kasse gesetzt und meine Hausaufgaben gemacht und dabei versucht, nicht auf das ständige Geplapper der Stammkundinnen zu achten. Meine Mutter ist die Art von Verkäuferin, die einen nicht gleichgültig lässt. Entweder man liebt sie oder man hasst sie, ein bisschen wie Hühnchen süß-sauer. Sie ist der festen Überzeugung, dass gute Kleidung die Lebensqualität steigert und dass ein klassischer Stil jeder Frau steht (und sie jünger aussehen lässt). Sie glaubt nicht an schnelllebige Trends, an modische Übertreibungen, an knappe Miniröcke, hochhackige Absätze oder Übergrößen. Sie hält es für ausgeschlossen, dass mehr als drei Farben zusammenpassen, und lehnt Chemiefasern, Strass, florale Muster und Querstreifen ab. Sie verlässt sich blindlings auf Daskomplette Regelwerk der Farbkombination, einschließlich der zwei wichtigsten Punkte: Kombiniere niemals Primärfarben oder benachbarte Farben aus dem Farbkreis nach Itten und kleide dich nie in verschiedenen Abstufungen der gleichen Farbe.

Nur ein einziges Mal habe ich gewagt, mich ihrer Doktrin zu widersetzen, und war mit meinen Schulfreundinnen shoppen. Drei Monate lang hatte ich dafür mein Taschengeld gespart. Meine Beute bestand aus einer gelben, tief sitzenden Hose, einem engen pinkfarbenen T-Shirt und einer türkisen Tattoo-Kette. Zu Hause zog ich alles zusammen an und erschien damit zum Abendessen. Ich fühlte mich sehr erwachsen und überaus charismatisch. Als meine Mutter mich in dem Aufzug sah, hat es ihr die Sprache verschlagen. Sie warf mir während des ganzen Essens finstere Blicke zu und verlor kein einziges Wort. Am Ende explodierte sie. Warum ich mich so angezogen hätte? Was ich mit diesem billigen Outfit zum Ausdruck bringen wollte? Ich wusste es nicht. Ich wollte mir nur selbst gefallen, vielleicht wollte ich mich auch irgendwie begehrenswert fühlen. Sie könne sich nicht erklären, woher ich das wohl hätte, außer von meiner Tante, schrie meine Mutter schließlich melodramatisch. Nur meine Tante wäre dazu fähig, Lila mit Rot, Gelb mit Schwarz oder Blau mit Beige zu kombinieren und ausgebeulte und zerschlissene Kleidung zu tragen. Das wäre ein Zeichen von Schlamperei, Respektlosigkeit und schlechtem Geschmack. Sich gut zu kleiden wäre immerhin eine ernste Angelegenheit. Man würde damit den Respekt der anderen gewinnen und sich für die Zukunft wappnen. Sie hätte immer versucht, mir das zu vermitteln, damit ich ein erfülltes Leben haben könnte, das auf einer soliden Grundlage basiert und meinen Fähigkeiten gerecht wird.

Tante Vivienne meinte einmal, dass die Suche nach ästhetischer Harmonie auch eine Art der Verteidigung sei. Vielleicht hätte ich meiner Mutter einfach erklären sollen, wie gut es mir ab und zu täte, nicht immer wie aus dem Ei gepellt auszusehen. Aber sie war bereits in sintflutartige Tränen ausgebrochen und fragte verzweifelt, was sie falsch gemacht hätte. Ich drehte mich Hilfe suchend zu meinem Vater um, aber er schaute mich nur verbittert und müde an. Ich erinnerte ihn zu sehr an seine Schwester. Ich war sein einziges Kind, und ich hatte ihn enttäuscht.

»Du hast nichts falsch gemacht«, flüsterte ich meiner Mutter zu. »Es ist meine Schuld.«

Ich ging auf mein Zimmer, um mich umzuziehen. Was hatte ich mir eigentlich dabei gedacht, als ich diese blödsinnigen Klamotten gekauft habe? Ich warf sie alle in den Müll.

 

Das riesige Ausmaß der Unwägbarkeiten, die sich während meiner Reise ergeben könnten, erdrückt mich. Ich weiß, wie wichtig es ist, vorausschauend zu packen, aber ich weiß nicht, wie das geht. Bernardo hat da seine ganz eigene Methode: Er nimmt die Anzahl der Urlaubstage plus einen und packt die gleiche Anzahl an identischen Hemden ein, fügt zwei Paar Hosen hinzu und falls es ein kalter Ort ist, berechnet er die Anzahl der Pullover, indem er die Gesamtzahl der Tage durch eineinhalb teilt und einen mittelwarmen Pulli noch mit dazu nimmt.

Ich beschließe, mich auf meinen gesunden Menschenverstand zu verlassen. Der Wetterbericht sagt sechsundzwanzig Grad voraus, ohne Regen. Ich entscheide mich für eine Hose und, um auf Nummer sicher zu gehen, zwei Blusen. Dazu das geblümte Kleid, das ich einmal auf einem Flohmarkt gekauft habe. Seit Jahren liegt es in meinem Schrank. Nur um meine Mutter nicht zu verärgern, habe ich es noch nie getragen, obwohl ich es wunderschön finde. Wenn es in Paris heiß ist, muss ich das ausnutzen. Ich beschließe, auch die hübschen Flamenco-Ohrringe aus Plastik mitzunehmen, die ich mir für eine Karnevalsfeier, die in letzter Minute abgesagt wurde, gekauft hatte. Ich kann damit nicht ins Büro oder nach Alassio gehen, aber in Paris kann man so was tragen. Zusätzlich zu den Pumps, die ich auf der Reise anziehen möchte, packe ich ein Paar Turnschuhe und Ballerinas ein.

Schließlich lege ich ein mit Pailletten besetztes Kleid mit dazu, an dem noch das Preisschild hängt. Vielleicht möchte Vivienne am Samstagabend mit mir ausgehen, ins Theater, in ein Restaurant oder zu Freunden? Pailletten in Paris machen sich immer gut, denke ich. Dann packe ich noch eine Jacke und einen Regenschirm ein, man weiß ja nie. Ich nehme zwei Nachthemden mit, ein langes und ein kurzes. Ich kann nicht schlafen, wenn es mir zu heiß oder zu kalt ist. Dazu kommen mein Bademantel und meine Badeschlappen, um nach dem Duschen nicht auszurutschen, plus Hausschuhe.

Ich krame in meiner Unterwäsche, in der Hoffnung, einen sauberen BH und ein paar passende Slips zu finden, was sich als ein Ding der Unmöglichkeit herausstellt. Durch die verschiedenen Waschphasen ist die bunte Wäsche leicht verfärbt, und über der weißen liegt ein hässlicher Grauschleier.

Ganz unten in der Schublade finde ich einen Tronky-Schokoriegel mit Pistazien. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn dort versteckt zu haben. Ich will ihn gerade auspacken, schließlich habe ich mir das nach dem faden Hühnchen mehr als verdient, doch da klopft es an der Tür, und ich werfe ihn sofort wieder zurück in die Schublade.

Meine Mutter reicht mir eine viereckige, ausgebeulte kleine Tasche.

»Dieses Erste-Hilfe-Set habe ich mir mal am Flughafen gekauft«, erklärt sie und sieht mich bedrückt an. »Ich habe gelesen, dass einem sogar das Bein amputiert werden kann, wenn die Wunde nicht ausreichend desinfiziert wurde.«

»Ich zieh nicht in den Krieg, Mama«, sage ich, nehme es aber trotzdem.

Ein dummer Unfall. Manchmal reicht nur einer. Keiner weiß das so gut wie meine Eltern. Jetzt sehen sie überall Gefahren. Jetzt, wo es zu spät ist.

Meine Mutter reicht mir noch ein Breitbandantibiotikum, Kortisontabletten und das Thermometer. Nachdem sie sich vergewissert hat, dass ich alles im Koffer verstaut habe, und ich ihr hoch und heilig versprechen musste, auf der Reise vorsichtig zu sein, wünscht sie mir eine gute Nacht. Ich umarme sie, um sie zu beruhigen. Und mich auch.

Als sie das Zimmer wieder verlassen hat, stecke ich noch das Pfefferspray in die Handtasche, das mir mein Vater in der Oberstufe geschenkt hat. Ob es noch funktioniert? Es steht kein Verfallsdatum auf der Verpackung.

Ich ziehe den Tronky wieder aus der Schublade. Ich glaube, so etwas ist bei der Biotypen-Diät bestimmt nicht erlaubt. Dabei sorgt Schokolade für gute Laune, baut Stress ab, ist gut für die Haut und macht sogar schlauer. Das ist alles wissenschaftlich belegt. Natürlich sind schöne Haut und gute Laune keine Prioritäten, aber Intelligenz könnte ich gebrauchen. Und beiße ein Stück ab.

 

»Ist das die Tante, die dir für Karneval das Bacio-Perugina-Kostüm aus Alufolie gebastelt hat?«, fragt Linda. »Ja«, flüstere ich ins Telefon.

»Die mit den Flamingos?«

»Ja, ich hab nur eine.«

»Ich hoffe nur, dass ich nicht nach dir gefragt werde, Oliva. Du weißt, dass ich nicht lügen kann.«

Ich höre einen leichten Vorwurf in ihrer Stimme.

»Warum hast du ausgerechnet mich da reingezogen?«