Die kleine Werkstatt der geretteten Dinge - Lorenza Gentile - E-Book

Die kleine Werkstatt der geretteten Dinge E-Book

Lorenza Gentile

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Beschreibung

Wenn du etwas rettest, kann es eines Tages auch dich retten Bezaubernd und optimistisch erzählt der Wohlfühlroman von einer jungen Italienerin, ihren wunderbaren Nachbarn, einem kleinen Antiquitätenladen und dem Glauben an die Zukunft. Die 27-jährige Gea kann praktisch alles reparieren – außer ihre eigene Einsamkeit und ihre Ängste. Dass dies von einer abgeschotteten Kindheit in einsamen Wäldern herrührt, verrät sie niemandem und versucht, ein normales Leben zu führen. Als ein Immobilienmakler den kleinen Antiquitätenladen »Neue Welt« neben der Wohnung ihrer geliebten, verstorbenen Großmutter meistbietend versteigert, erwacht Geas Kampfgeist: Sie verbindet liebevolle Erinnerungen mit dem Laden, an dessen Waren keine Preisschilder sondern Geschichten hängen. Und sie glaubt an zweite Chancen, für Menschen und für Dinge. Allein kann Gea die »Neue Welt« nicht retten, also schließt sie sich mit all den Menschen zusammen, denen sie als Handwerkerin und Nachbarin geholfen hat. Denn die Vergangenheit können wir nicht reparieren – aber wir können die Zukunft gestalten. Atmosphärisch und wunderschön: der Nummer-2-Bestseller aus Italien In Italien hat »Die kleine Werkstatt der geretteten Dinge« auf Anhieb Platz 2 der Bestseller-Liste erobert. Lorenza Gentile entführt mit ihrem herzerwärmenden Roman in ein zauberhaftes Viertel von Mailand und zu Menschen, in deren Gemeinschaft man gern noch länger verweilen würde. Entdecken Sie auch Lorenza Gentiles inspirierenden Sinnsuche-Roman »Das Antiquariat an der Seine« um eine Italienerin in Paris und die Kult-Buchhandlung »Shakespeare & Company«.

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Seitenzahl: 443

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Lorenza Gentile

Die kleine Werkstatt der geretteten Dinge

Roman

Aus dem Italienischen von Gabriela Schönberger

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Gea kann praktisch alles reparieren – außer ihre eigene Einsamkeit und ihre Ängste. Dass dies von einer abgeschotteten Kindheit in einsamen Wäldern herrührt, verrät sie niemandem und versucht, ein normales Leben zu führen. Als ein Immobilienmakler den kleinen Antiquitätenladen neben der Wohnung ihrer geliebten, verstorbenen Großmutter verkauft, erwacht Geas Kampfgeist: Sie verbindet liebevolle Erinnerungen mit dem Laden, an dessen Waren keine Preisschilder, sondern Geschichten hängen. Und sie glaubt an zweite Chancen, für Menschen und für Dinge. Also schließt Gea sich mit all den Nachbarn zusammen, denen sie als Handwerkerin geholfen hat. Denn die Vergangenheit können wir nicht reparieren – aber wir können die Zukunft gestalten.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

 

 

 

 

Für Martino

 

 

 

 

Das Leben ist ein unablässiges Sorglossein.

João Guimarães Rosa

 

 

Reparieren heißt, sich Gegenständen mit Liebe zu widmen.

Natalia Ginzburg

 

 

Gesegnet sind die Augenblicke, die Millimeter, die Schatten der kleinen Dinge.

Fernando Pessoa

1.

Wegwerfen heißt, eine Gelegenheit zu vergeuden – häufig die beste. Aber was soll man bloß anfangen mit einem wilden Mix aus Verbindungskabeln, zwei durchgebrannten Glühbirnen, einem Seekartenkompass, einer Trillerpfeife, einer Packung Latexhandschuhe, achtzehn Seifenresten, fünfunddreißig leeren Klopapierrollen, einem Rokokotischchen, von dem ich ein Bein repariert habe, einer wasserdichten Folie, einer Solartaschenlampe, einem geschnitzten Spazierstock, einem Lampenschirm ohne Lampe und einem Brieföffner mit eingravierter Blume?

Doch genau darum geht es: Alles kann früher oder später nützlich sein. Das, was du davor rettest, weggeworfen zu werden, kann eines Tages dich retten.

 

Manche Menschen gehen bis ans Ende der Welt, um ein neues Kapitel in ihrem Leben aufzuschlagen, ich bin nach Mailand gekommen. Vor fünf Jahren, um meine Großmutter um Rat zu fragen. Ich war mutterseelenallein auf der Welt, und sie war die Einzige, die mir helfen konnte, aber in der Nacht vor meiner Ankunft ging sie mit leichten Kopfschmerzen früh zu Bett und stand nicht mehr auf. Sie hinterließ mir nichts außer meiner Traurigkeit, einer Werkzeugtasche und der kleinen Keramikgans, die ich in meiner Tasche trug.

Das Viertel war genauso, wie ich es als Kind in Erinnerung hatte: die kleinen Läden, das Kopfsteinpflaster, die Straßenbahn, die kleine Brücke, die Kirche. Es war perfekt und hat mich mit offenen Armen aufgenommen. Deshalb überschreite ich nie seine Grenzen. Man weiß nie, was einem draußen so alles passieren kann.

Im Norden trennt uns die Umgehungsstraße vom Zentrum. Sie ist ringförmig angelegt, und auf ihr sind tagaus, tagein die unterschiedlichsten Gestalten unterwegs. Da hasten Leute mit Laptoprucksäcken ins Büro, die zuweilen aussehen, als wären sie lieber woanders oder als stellten sie sich gar die Frage: »Wer zwingt mich eigentlich dazu?« Keine Wahl zu haben, kann auch eine Erleichterung sein, denn sobald man glaubt, man sei der Schöpfer seines eigenen Schicksals, wird alles zum Kampf: Verliert man, hat man persönlich versagt. Menschen wie sie würde ich am liebsten in den Arm nehmen und zu ihnen sagen: Bei dem Thema kenne ich mich aus.

Dann sind da noch die, die sich den ganzen Tag auf der Ringstraße aufhalten und Tüten und Taschen aller Arten mit sich herumschleppen, in denen sich ihr ganzes Leben befindet, weil sie kein Zuhause mehr haben. Menschen, die erst hineingesaugt wurden in die Großstadt, um anschließend von ihr wieder ausgespuckt zu werden. Sie sind einsam und schemenhaft wie Gespenster und haben immer eine Geschichte zu erzählen. Das weiß ich von Angelina, denn sie nimmt sich die Zeit, ihnen zuzuhören, wenn sie im Il Nulla, ihrer Imbissbar, auftauchen. Zumindest eine Möglichkeit, ihnen ihre Existenz wiederzugeben. Ich habe Angelina einmal darauf angesprochen, und sie hat mir recht gegeben.

Manchmal, wenn mir einen ganzen Tag lang kein Mensch in die Augen schaut, frage ich mich, ob ich überhaupt noch auf der Welt bin. Wenn im Wald ein Baum umfällt und niemand das hört, macht er dann ein Geräusch? Ich glaube nicht: Die Welt kann nicht existieren, wenn es niemanden gibt, der sie wahrnimmt. Und auch wir existieren nur, wenn uns jemand ansieht, uns zuhört, erkennt, dass wir da sind. Nicht zuletzt aus diesem Grund schaue ich gern im Nulla vorbei, um Angelina zu helfen. Ich rede vielleicht nicht viel, aber ich höre zu und fühle mich so lebendig.

Auf der vom Verkehr verstopften Ringstraße bewegen sich auch viele Menschen, die weder Fisch noch Fleisch sind, Raupen, die noch nicht wissen, ob sie sich in Schmetterlinge verwandeln werden. Wird auch in ihrem Blick eines Tages die Frage liegen: »Wer zwingt mich eigentlich dazu?« Werden sie ein Wägelchen mit all ihren Habseligkeiten hinter sich herziehen? Oder werden sie die Abende mit Blick auf die Skyline in einer Penthousewohnung im Stadtzentrum verbringen? Werden sie dorthin zurückkehren, woher sie gekommen sind? Werde ich ihnen auf dem Treppenabsatz wiederbegegnen?

Es ist ein ruhiges Viertel, in dem ich wohne. Im Osten und Westen wird es von den zwei Navigli begrenzt, ein Umstand, den man nicht unterschätzen sollte. Das Wasser in den Kanälen erinnert einen daran, dass man jederzeit den Anker lichten und in See stechen kann. Dann bleibe ich stehen und schaue zu, wie es vorbeifließt. Das schenkt mir ein Gefühl von Leichtigkeit, von Freiheit, als könnte ich eines Tages von vorne beginnen, die Vergangenheit wie einen alten Schrank zerlegen und einen neuen daraus zusammenbauen.

Leute, die mich beim Angeln im Kanal antreffen, scheinen diesen Umstand seltsam zu finden. Aber ist es nicht viel abwegiger, eine Tiefkühlsuppe aus dem Supermarkt zu essen, für die acht verschiedene Fische und Krustentiere aus Indien, China, Peru, Griechenland, Argentinien und Indonesien importiert wurden, um dann ganz woanders mit Sulfiten und anderen Zusatzstoffen vermengt und haltbar gemacht zu werden? Vielleicht wäre es die Mühe wert, meinen Standpunkt darzulegen, aber ich traue mich nicht. Ich mag die Menschen. Ich will, dass sie mich mögen. Deswegen halte ich lieber den Mund, wenn sie mich schief ansehen, und lächle, als wollte ich mich dafür entschuldigen, eine so merkwürdige Type zu sein.

Ehrlich gesagt, auf meiner Arche Noah würde ich keinen Supermarkt haben wollen. Warum sollte man dort – zum Beispiel – ein Shampoo kaufen, in dem Paraffin steckt, das wiederum ein Erdölderivat ist, wenn man sich die Haare ebenso gut mit einem Brei aus Kichererbsenmehl und lauwarmem Wasser waschen kann? Und warum eine in Übersee hergestellte Blumenvase erwerben, wenn es eine leere Waschmittelflasche aus Plastik genauso tut? Und damit meine ich eine Plastikflasche, die ich auf der Straße gefunden habe, weil eigentlich auch kein Grund besteht, ein Waschmittel zu kaufen, wenn es schließlich Essig, Kernseife und Natron gibt.

Wir verbringen unsere Zeit damit, Berufe auszuüben, die uns nicht gefallen, um anschließend Dinge zu kaufen, die wir nicht benötigen. Letztlich braucht es nur ein wenig Einfallsreichtum, um gut zu leben. Weniger arbeiten und sich dafür mehr Gedanken machen, sagte mein Vater immer.

Arbeit gibt es genug auf dieser Welt, und ich bin in unserem Wohnblock quasi das Mädchen für alles. Aber die Leute trauen mir oft nichts zu. Handwerkerin gilt nicht als Frauenberuf. Handwerkliche Allrounder sind meistens muskelbepackte Männer in Overalls. Einen Overall trage ich auch, allerdings eine Latzhose aus Jeansstoff, auf deren Beine ich zwei Taschen genäht habe, und wer einmal die Erfahrung gemacht hat, wie viele Dinge ich reparieren, zusammenbauen, auseinandernehmen, reinigen und neu einstellen kann, der beauftragt mich normalerweise immer wieder.

Man bräuchte nicht viel, um gut zu leben. Außer besagtem Einfallsreichtum vielleicht noch ein bisschen gute Laune. Aber gute Laune lässt sich nicht so einfach herstellen, und viel davon ist nicht in Umlauf.

Manche sagen, allein zu leben sei traurig, vor allem wenn man erst siebenundzwanzig Jahre alt ist wie ich. Aber wenigstens ist niemand entsetzt, wenn ich mit Salat zwischen den Zähnen lächle oder zwei unterschiedliche Socken trage. Und allein bin ich letzten Endes auch nicht. In meinem Leben gibt es die Signora Dalia, die als eine Art Concierge für das ganze Haus fungiert; Trofeo, meinen fünfundsechzig Jahre alten Nachbarn, der nie den Mund aufmacht; Angelina, die Besitzerin der Imbissbar Il Nulla, und ihren Sohn Eugenio, der unbedingt Busfahrer werden will. Ganz zu schweigen von den Ladenbesitzern im Viertel und den vielen Leuten, die mir auf meinem täglichen Rundgang über den Weg laufen, mir zulächeln und mich manchmal sogar grüßen. Das sind wahre Wohltaten, Höhepunkte des Tages. In diesen Momenten fühle ich mich eins mit dem Leben, und die Zukunft macht mir etwas weniger Angst.

Denn manchmal wache ich mitten in der Nacht mit wild klopfendem Herzen auf und habe das Gefühl, wieder auf dem Land zu sein. Ich sehe meinen Vater mit seinem zauseligen Bart und dem karierten Hemd in der Tür stehen und höre ihn sagen, dass man sich Albträumen stellen muss, weil sie nun mal zum Leben gehören. Mein Vater stellte sich seit zwanzig Jahren seinen Albträumen. Zu gewissen Zeiten hatte auch ich täglich neue, die mir jedes Mal einen gehörigen Schrecken einjagten, aber das offenbarte ich nur meinem Bruder Andrea. Er hatte in einem Buch, das er auf der Straße gefunden hatte, gelesen, dass Albträume die Folgen von psychischem Stress seien. Wahrscheinlich leide ich unter diesem Stress, sagte er, und das war der Grund, weshalb ich ab einem bestimmen Zeitpunkt nicht mehr mit ihm darüber sprach. Hatte ich einen Albtraum, behielt ich ihn für mich und versuchte, ihn zu vergessen. Die Vorstellung, dass mit mir etwas nicht in Ordnung war, das nicht geheilt werden konnte, verursachte mir Herzrasen.

Albträume habe ich noch immer, manche wiederkehrend, und ich habe noch immer nicht gelernt, damit umzugehen. Der schlimmste zwingt mich, Nacht für Nacht etwas zu erleben, das wirklich passiert ist. Meinetwegen.

Ich wache schweißgebadet auf, und meine Hände zittern so stark, dass ich nicht einmal nach dem Glas Wasser greifen kann, das auf meinem Nachttisch steht. Ich muss mich aufsetzen und tief durchatmen, bis ich mich wieder beruhigt habe und meine Angst verschwindet. Oder zumindest weniger wird. Die Welt kann für jeden beängstigend sein, für manche sogar noch ein bisschen mehr.

Ich bekomme solche Panikattacken auch tagsüber in den unmöglichsten Momenten. Während ich Zucchini schneide, einen Spülkasten repariere oder einen Schatz nach Hause trage, den ich unterwegs gefunden habe. Das Blut schießt mir in Arme und Beine, mein Herz implodiert zu einem schwarzen Loch, meine Kehle wird trocken, im Kopf kommt es zu einem Kurzschluss, und ich weiß kaum noch, wer ich bin. Ich habe das Gefühl, auf der Stelle in ein Krankenhaus zu müssen. Die Vorstellung ist so schrecklich, dass ich mich sofort wieder beruhige.

Ich weiß nicht, ob die Leute um mich herum etwas davon mitbekommen: Ich sage nichts in dem Moment, konzentriere mich auf einen festen Punkt, male mir aus, dass ich in die Notaufnahme muss, und warte, bis die Attacke wieder vorbei ist. Was mir wie eine Ewigkeit vorkommt, dauert nur ein paar Minuten.

Irgendwo habe ich gelesen, dass man darauf achten sollte, was vor dem Anfall passiert. Ein Beispiel. Ich schneide Zucchini in Scheiben, schaue auf das Messer, die Klinge fängt einen Sonnenstrahl ein, und ich denke mir, wenn mir jetzt das Messer aus der Hand gleitet, könnte ich mir einen Finger abschneiden, und zack, schon ist sie da, die Panikattacke. Noch ein Beispiel. Der reparierte Spülkasten füllt sich, alles ist wieder normal, aber wenn immer weiter Wasser einläuft, es schließlich überläuft und das ganze Gebäude überschwemmt? Zack.

Das ist es, was zuvor passiert: Dieses Wenn. Eine Hypothese, ein mögliches Missgeschick. Wenn der Zug entgleist. Wenn der Regen nicht aufhört. Wenn ich keine neue Arbeit bekomme. Wenn die Nachbarn den Gashahn aufgedreht lassen. Wenn ich keine Liebe finde. Wenn mein ganzes Leben aus der Luft gegriffen ist?

»Wenn« – ein kleines Wörtchen, das mir die Seele aufisst, mich von mir selbst entfremdet und mich fragen lässt: Und wenn es mich gar nicht gibt? Und so existiere ich nur in meinem Kopf und hoffe, dass die Menschen um mich herum mein Verschwinden nicht bemerken.

Andererseits beginnt jedes Erdbeben mit einer kleinen Erschütterung. So wie damals, als ich in die Stadt kam, um meine Großmutter um Rat zu fragen, und sie nicht mehr da war.

»Wenn ich Ärger vermeiden will, darf ich auf keinen Fall auffallen«, nahm ich mir vor.

Unter dem Radar fliegen, um sich keine Probleme einzuhandeln, wie die Leute hier salopp sagen. Trotzdem hatte ich das Gefühl, genau am richtigen Ort zu sein. Und ich scheine mich nicht geirrt zu haben. Wenigstens nicht allzu sehr. Irgendwo muss auch ich Glück haben. Die Welt ist voller Gefahren, Katastrophen lauern an jeder Ecke, und Glück hilft.

2.

Im Falle eines Brandes befindet sich die Sammelstelle in der Mitte des Innenhofs.

Den Satz habe ich dick mit Rotstift auf allen laminierten Hinweisschildern unterstrichen, die im Haus aushängen. Nach einer Weile nimmt das Auge bestimmte Dinge nämlich nicht mehr wahr, wenn man sie zu oft sieht. Das ist wissenschaftlich erwiesen, und deshalb beschrifte ich die Schilder hin und wieder neu mit wechselnden Farben. Es ist wichtig zu wissen, wie man sich in einem Notfall verhält. Jeder muss informiert sein. Jeder.

Dazu habe ich ein Schild geschrieben und am Eingang aufgehängt:

 

SEID STETS AUF DER HUT, DIE GEFAHR LAUERT HINTER JEDER ECKE. ACHTET AUF DIE SIGNALE!

 

Irgendjemand hat daneben einen Pfeil und ein Wildschwein gemalt, und vor ein paar Tagen hat jemand das Schild ganz abgenommen. Im Ernst, darüber sollte man keine Witze machen: Es gibt Orte, wo man wirklich vor Wildschweinen auf der Hut sein muss, so wie dort, wo ich aufgewachsen bin. Wenn diese haarigen Säugetiere mit den dicken Hauern beschließen, aus den Wäldern auszubrechen, um ein Feld zu verwüsten, dann hält sie niemand auf. Und sie beschließen das oft, weil sie ständig Hunger haben. Sie können sehr aggressiv sein, deshalb ist es besser, so wenig wie möglich mit ihnen zu tun zu haben, falls man nicht darauf vorbereitet ist wie ich. Albträume, Wildschweine, Außerirdische … Papà hat uns darauf trainiert, mit allen Eventualitäten fertigzuwerden. Aber hier ist das anders. Wir sind uns einig, dass es ironisch gemeint ist, wenn man in Mailand von Wildschweinen spricht. Trotzdem denke ich, sag niemals nie! Wenn der Mensch fähig ist, auf dem Mond zu landen, dann können Wildschweine auch in die Navigli einfallen. Wir bleiben stets auf der Hut!

Auf jedem Stockwerk des Hauses hängt zusätzlich noch ein weiteres laminiertes Hinweisschild: Wenn Sie den Ausbruch eines Brandes bemerken, wählen Sie unverzüglich die Nummer 115. Drehen Sie das Gas in Ihrer Wohnung ab und schalten Sie den Hauptstromverteiler aus. Alarmieren Sie die anderen Bewohner. Benutzen Sie nicht den Aufzug. Beim Verlassen des Gebäudes rennen und schreien Sie nicht, verursachen Sie keine Panik. Wenn Sie dazu in der Lage sind, schalten Sie die Hauptschalter des Gebäudes aus. Bitte nicht die Notausgänge blockieren.

Auf jedem Schild habe ich mit Kugelschreiber hinzugefügt: Wenn Sie in Ihrer Wohnung festsitzen, schließen Sie die Fenster, um den Flammen keine Nahrung zu geben. Dichten Sie die Ritzen unter den Türen mit nassen Lappen ab. Suchen Sie Zuflucht im Badezimmer und füllen Sie Waschbecken, Bidet und Badewanne mit Wasser. Machen Sie den Boden nass, schließen Sie die Tür und kippen Sie Wasser darüber, damit sich das Feuer nicht weiter ausbreiten kann.

Ich glaube nicht, dass es einem automatisch in den Sinn kommt, die Fenster zu schließen, wenn es brennt, und sich in der Wohnung zu verbarrikadieren. Deswegen finde ich es wichtig, die Nachbarn zu informieren.

Es hängt auch ein Zettel in der Nische, wo die Abfalltonnen stehen, direkt über dem Biomüll. Ich überprüfe ihn jedes Mal, wenn ich den Müll für die Signora Dalia oder für Trofeo nach unten bringe. Vorsichtshalber ziehe ich dabei den Kopf ein, damit mir nicht das Trommelfell platzt, falls jemand gerade Flaschen oder Gläser einwirft.

Vielleicht wissen nicht alle, dass bei einem Brand Fenster zerbersten oder Heizkessel explodieren und einen Heidenlärm veranstalten können. In diesem Fall reicht es nicht, den Kopf einzuziehen, aber dann wäre ich ohnehin viel zu beschäftigt, um noch auf meine Trommelfelle zu achten.

Ich würde nämlich ganz schnell die Wohnungstür von Signora Dalia aufschließen müssen, um sie in Sicherheit zu bringen. Ihren Schlüssel würde ich unter dem Topf der Yuccapalme neben der Tür finden. Ich würde die Signora unterhaken und sie in die Mitte des Hofs begleiten. Dort würde sie auf Trofeo stoßen, dem ich in der Zwischenzeit über die Gegensprechanlage Bescheid gegeben hätte.

Anschließend würde ich zum Parkplatz laufen, um dort alle Autoalarmanlagen auszulösen, da es im ganzen Haus keine Sirene gibt. Mit dem Motorrad von unserem Querulanten würde ich anfangen. Ich nenne diesen speziellen Nachbarn deswegen so, weil er aussieht wie einer, der permanent auf Krawall gebürstet ist. Es würde mich wundern, wenn er keine Alarmanlage hätte, so eifersüchtig, wie er über seine Sachen wacht. Als lebte er unter lauter Dieben und Räubern, denen man nur mit Misstrauen und Verachtung begegnen kann. Gleich danach käme der Smart von Madame an die Reihe, in dem hoffentlich nicht wieder Zucchero, ihr Chihuahua, sitzt, den sie einmal auf dem Rücksitz vergessen hat. In diesem Fall wäre ich gezwungen, die Scheibe mit dem Hammer einzuschlagen, den ich immer an einer Schlaufe meiner Latzhose befestigt habe.

Trofeo ließ ich schwören, sich im Falle eines Brandes umgehend an die Haussprechanlage zu hängen und alle zu informieren, dass sie sofort in den Hof hinunterlaufen sollen. Sie dürften keine Minute verlieren und müssten unbedingt Nase und Mund bedecken. Und auf keinen Fall sollten sie die Aufzüge benutzen. Er hat mir versprochen, dass er das tun, dass er ausnahmsweise den Mund aufmachen würde, da es sich schließlich um einen Notfall handelt. Ich habe ihn das mehrmals wiederholen lassen. Besser gesagt, ich habe ihn mehrmals darum gebeten, und er hat mit immer größerer Überzeugungskraft genickt, bis er gesehen hat, dass ich zufrieden war.

 

Trofeo ist fünfundsechzig Jahre alt und Besitzer einer weißen Maus. Er läuft ständig in einem Trainingsanzug herum und spricht nie auch nur ein einziges Wort. Nicht einmal mit mir. Seine Wörter hat er offenbar alle aufgebraucht, und dem hat er nichts mehr hinzuzufügen. Aber man glaubt es kaum, wie viel man ausdrücken kann, ohne den Mund aufzumachen. Ihm genügen die Augen und seine spezielle Art, die Lippen zu kräuseln. Ich weiß, dass er die Morgendämmerung mag und den Sonnenuntergang fürchtet. Wütend machen ihn der Hausverwalter, Politiker, Fertigpackungen, plastische Chirurgen, Verfallsdaten.

Jeden Monatsersten stellt er sich bei der Post in die Schlange, um seine Invalidenrente abzuholen, was in ihm nach einem anfänglichen Gefühl der Erleichterung Trauer auslöst, da es ihn daran erinnert, dass er ein Champion hätte sein können, wenn er an diesem vermaledeiten Tag seine Mutter zum Orthopäden begleitet hätte, statt zum Training zu gehen. Wenn er etwas weniger ehrgeizig gewesen wäre, wenn er auf seinen Schutzengel gehört hätte, der ihm etwas ins Ohr flüsterte, worauf er jedoch nicht achtete. Und jetzt sitzt er da, ohne Trophäen auf dem Regal im Wohnzimmer, ohne glorreiche Vergangenheit. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere ältere Bewohner des Viertels noch an ihn, an diesen Jungen mit dem goldenen Fuß und der Zukunft, die bereits vorherbestimmt schien. Schade, dass die Lettern nur mit Bleistift geschrieben waren und dass ein unbeabsichtigtes Foul an einem verregneten Tag diese Zukunft ausradiert hatte.

Du bist für dich die wahre Trophäe, sage ich immer zu Trofeo. Und würde mich eigentlich selbst gerne darauf besinnen, während ich das sage. Woraufhin er nur mit den Schultern zuckt, eingehend seine Pantoffeln mustert, wobei sein Blick an der verblichenen Narbe hängen bleibt, die sich seinen Knöchel entlangzieht, seine Mundwinkel nach unten wandern und er den Fernseher anschaltet.

Früher schaute er nur Sportsendungen, aber in letzter Zeit hat er eine Vorliebe für Tierdokumentationen entwickelt, vor allem für Jagdszenen aus der Savanne. Er nimmt sie auf und sieht sie sich stundenlang an. Dank ihm habe ich herausgefunden, dass eine Boa eine ganze Gazelle verschlingen kann. Sie braucht einen Monat, um sie zu verdauen. Wir sind uns beide einig, dass dies eine bemerkenswerte Tatsache ist.

 

Auf der letzten Eigentümerversammlung schlugen einige der neuen Bewohner eine »Verbesserung der Gemeinschaftsflächen« vor, verwundert, dass wir uns im Innenhof mit schlichtem Beton hatten abspeisen lassen, obwohl wir eine gepflegte Grünfläche, Abfallkörbe, Designerleuchten und neu gestrichene Bänke hätten fordern können.

Trofeo ist vor Wut rot angelaufen. Ich verstehe seine Empörung. Diese Hausgemeinschaft existiert seit den Zwanzigerjahren und umfasst mehr als hundertfünfzig Wohneinheiten. Manche Bewohner sind hier geboren, und viele der Älteren sind hier aufgewachsen. Hier wohnten die Leute, die in den umliegenden Werkstätten beschäftigt waren, Menschen, die ihre heimatlichen Dörfer verlassen und viele Opfer gebracht hatten, um hier einen Alltag zu leben, der mehr Mühsal als Freude bot. In diesem Hof lernten ihre Kinder laufen, spielten Ball, rangelten miteinander, verliebten sich und trennten sich wieder. Damals waren die Wohnungen zwanzig Quadratmeter groß, und es gab ein Badezimmer pro Stockwerk, am Ende des Flurs.

In den letzten Jahren wurden viele der Wohnungen aufgekauft, zu geräumigeren Apartments zusammengelegt und von den neuen Bewohnern renoviert, von Typen wie unserem Querulanten, die sich nur für Sitzbänke, Designerleuchten und englischen Rasen interessieren.

Ich habe Trofeo die Hand auf den Arm gelegt, um ihn zu beruhigen. Geld ist nicht das Problem. Sollten die anderen die Mehrheit bekommen, werde ich seinen Anteil übernehmen. Ich werde ihm das Geld einfach in die Manteltasche stecken, ohne dass er es merkt, damit er nicht das Gefühl hat, mir etwas schuldig zu sein. Um das Geld zusammenzubekommen, werde ich eben ein paar Duschen mehr reparieren müssen, und vielleicht biete ich meine Arbeitskraft stundenweise als Haushaltshilfe an. Das habe ich eigentlich schon länger vor, aber bisher noch nicht den Mut gefunden, es in die Tat umzusetzen. Keine Ahnung, wer mir eine solche Aufgabe anvertrauen könnte, und eigentlich gefällt mir die Vorstellung nicht, Schubladen und Schränkchen in einer Wohnung zu öffnen, die nicht die meine ist, weil ich nicht weiß, was mich darin erwarten könnte.

Ich habe es Trofeo nicht verraten, aber in meiner Arche Noah hätte ich schon gerne ein paar Bänke. Sie vermitteln den Eindruck von Urlaub, Muße und Lebensart. Wenn man sie im Innenhof aufstellen würde, käme man sich vor wie in Shakespeares Wintermärchen. Ich hätte auch gerne einen Fischteich vorgeschlagen und vielleicht noch dekorative rote Bäume, unter denen sich im Herbst dann ein Teppich aus ockerfarbenen Blättern bilden könnte.

Wie es scheint, sind die Abfallkörbe im Innenhof bereits vor einiger Zeit entfernt worden, aus Angst, jemand könnte Knallkörper darin platzieren. Es waren die Siebzigerjahre und unser Viertel nicht unbedingt der idyllischste Ort der Welt. Da gab es noch nicht die Bars auf den Lastkähnen, die kleinen Märkte und den sonntäglichen Bummel.

Ich denke, es wäre besser, anstelle der Körbe solche durchsichtigen Antiterror-Plastiktüten in diesen speziellen Halterungen anzubringen. Schön sind sie nicht, aber sicher ist sicher. Obwohl trotzdem noch jemand hier drinnen einen Anschlag verüben könnte, auch wenn das eher unwahrscheinlich ist. Man muss nur die Zeitung aufschlagen, um das mitzukriegen. Ich hätte meine Meinung gerne den anderen Bewohnern mitgeteilt, aber bei der bloßen Aussicht … Zack! Herzklopfen, trockener Mund, Zittern und der übliche Rest. Ich habe die Idee aufgegeben, mich einzumischen.

Ich weiß ja, was die anderen über mich denken, sie zeigen es ziemlich offen. Laut geben sie ihre Kommentare ab, wenn ich an ihnen vorbeigehe, und ich ertappe sie dabei, dass sie mit dem Kopf in meine Richtung deuten. Ich versuche so zu tun, als ob nichts wäre. Wenn ich einen Fehler habe, dann sicher nicht den, dass ich eine Latzhose trage, Wasserhähne repariere oder Dinge aus dem Müll rette.

Signora Dalia weinte sich die Augen aus, als sie das erste Mal in dieses Haus kam; sie fühlte sich wie in einem Gefängnis. Sie kam vom Land, hatte noch nie eine Stadt gesehen. Enzo hatte ihr versprochen, dass es ihnen zusammen gut gehen würde in Mailand. Das sei alles eine Frage der Gewohnheit. Sie würden Reisen planen, die Wohnung sei schließlich nur ein Hafen.

Seit sechzig Jahren lebt Signora Dalia nun hier, nimmt die Pakete entgegen und unterschreibt für alle die Einschreiben, auch wenn niemand sie dafür bezahlt. Sie hat hennarotes Haar und lebhafte Augen, oft ist sie mürrisch, aber wenn man sie besser kennt, weiß man, dass das nur Fassade ist. Immer wieder erstaunlich, wie das Leben einen überraschen kann, wenn man es zulässt. Denn wer hätte je gedacht, dass eine Frau wie sie und ich so viel gemeinsam haben könnten?

Ich solle aufhören, mir ständig Sorgen zu machen, dass ein Feuer ausbrechen, dass es zu einer versehentlichen Explosion, zu einem Attentat kommen könnte, sagt sie. Mit einem Wort, vor allem Angst zu haben. Aber es geht nicht um Angst, es geht um das kleine Wörtchen Wenn.

Mein Vater sprach immer von Szenarien namens SHTF(Shit hit the fan) oder TEOTWAWKI(The end of the world as we know it) als Folgen von Ereignissen katastrophalen Ausmaßes, die jederzeit unser soziales, politisches und wirtschaftliches System auf den Kopf stellen und unsere Umwelt bedrohen könnten. Ob es sich dabei um ein Erdbeben, eine Feuersbrunst, eine Flutwelle, einen Sonnensturm, den Einschlag eines Asteroiden auf der Erde oder den Dritten Weltkrieg handelte, es galten immer dieselben Regeln: Vorausschauen, verhindern, sich entsprechend verhalten.

Keines dieser Ereignisse durfte auf die leichte Schulter genommen werden.

3.

Der Balkon meiner Küche befindet sich in einer strategisch äußerst günstigen Position. Damit keine Zugluft hereinströmt, habe ich die Balkontür mit einem System aus Magnetverschlüssen abgedichtet. So kann ich Heizkosten sparen, und im Sommer bleibt die Wohnung kühl. Okay, manchmal, wenn es mal wieder richtig heiß ist, weiß ich mir nicht anders zu helfen und flüchte zu Trofeo. Während er fernsieht, sitze ich auf dem Boden, genieße die Kühle seiner Klimaanlage und habe ein schlechtes Gewissen dem Planeten gegenüber.

Neben dem Schränkchen, in dem ich alles aufbewahre, was mir für die Gartenarbeit nützlich sein könnte, stehen auf meinem Balkon Töpfe mit Paprika, Tomaten und Heilkräutern, daneben eine kleine Liege; eine alte Plastiktischdecke habe ich zu einer Art Markise umfunktioniert, um vor Sonne oder Regen geschützt zu sein.

Der Balkon liegt deswegen strategisch so günstig, weil er auf die Seitenstraße hinausgeht und ich von dort aus den Rollladen gut im Blick habe. Meinen roten Rollladen zwischen dem Tabakladen und der Münzwäscherei. Ihm gilt seit fünf Jahren mein erster Blick am Morgen und der letzte, bevor ich schlafen gehe, nicht mitgezählt die unzähligen Male, die ich tagsüber hinunterschaue. Ich kann einfach nicht anders: Immer hoffe ich, dass der Rollladen dieses Mal hochgezogen ist, doch meine Hoffnung zerschellt regelmäßig an dem kalten, harten Metall. Seit fünf Jahren befindet sich dieser rote Rollladen nun in derselben Position, unbeweglich, unverändert, als gäbe es nichts mehr dahinter. Das handgeschriebene Schild Il Nuovo Mondo ist von der Witterung verblichen.

Fünf Jahre. Anfangs schien die Zeit stillzustehen, dann vergingen die Jahre wie im Flug, sodass ich mich in der Rückschau oft frage, wo sie abgeblieben sind, ob ich sie wirklich erlebt oder daran verschwendet habe, auf etwas zu warten, das nie eintreffen wird.

Wenn ich mich solchen Überlegungen hingebe, läuft es bei mir ab wie in einem defekten elektrischen System: Die Erdung liefert keine ausreichende Reaktion mehr, und in mir kommt es zu einem Kurzschluss. Wie von einem Strudel erfasst, grüble ich stundenlang, bis ich schließlich feststelle, dass der Tag vorbei ist und ich immer noch keinen Schritt vor die Tür gemacht habe. Dann versuche ich, mit meiner Mutter zu reden. Ich bitte sie um Verzeihung, weil ich nicht früher verstanden habe. Entschuldige mich dafür, die Signale nicht erkannt zu haben. Meine Angst war zu groß, sie wirklich zu sehen, und ich war zu klein, um ihre Hand zu halten.

Dann wende ich mich an meinen Bruder und frage ihn, ob er mich noch liebt. Ist es meine Schuld, dass unser Glück zerstört wurde? Konnte man bei uns überhaupt von Glück reden?

An diesem Punkt hole ich gewöhnlich den Brief an meinen Vater heraus, an dem ich seit fünf Jahren schreibe. Mit ihm kann ich nicht reden, versuche es nicht einmal. Ich nehme den Füllfederhalter in die Hand, füge einen Satz hinzu, streiche etwas, fange erneut an. Die Wörter drehen sich im Kreis wie ausgeleierte Schrauben, ohne mir zu helfen, etwas zu erklären. Am Ende frage ich mich, was ich eigentlich sagen will. Dann lege ich den Stift weg und verstaue das Blatt Papier umgehend wieder in der Schublade.

»Mein Leben hier ist anders, als ich es mir vorgestellt habe«, gebe ich kleinklaut zu. Wie der Klang eines Motors, der nach Jahren der Untätigkeit angeworfen wird, durchbricht meine Stimme heiser die Stille. »Aber es geht mir gut in der Stadt, wirklich.«

An diesem Punkt gieße ich mir normalerweise ein Glas ein und trete damit hinaus auf den Balkon. Dort stehe ich dann und starre ins Leere. Ich betrachte den Kirchturm in der Ferne, die Pflanzen, die sich auf die Dunkelheit vorbereiten und ihre Blüten schließen, manchmal auch mein Spiegelbild in der Balkontür: meine zu einem Dutt hochgesteckten Haare, die Latzhose, die Schnürstiefel, meinen verwirrten und überraschten Gesichtsausdruck, noch immer auf der Welt zu sein.

 

Jeden Montag gehe ich zu der Abfüllstelle am Ende des Naviglio, bringe zwei leere Flaschen zurück und nehme zwei frisch gefüllte Flaschen San Colombano mit. Ich laufe zu Fuß dorthin. Auf meinem Weg die Felder entlang pflücke ich Wegerich, Brennnesseln und Löwenzahn, manchmal finde ich auch Kleidungsstücke, Hausrat und Zeitschriften. Wenn die Sachen in gutem Zustand sind, stecke ich sie in meinen Rucksack: Die Welt ist voller Geschenke für diejenigen, die ein geschultes Auge haben. Ich hebe diese Dinge auf, repariere sie und warte auf den richtigen Empfänger.

»In deinem Arbeitszimmer sieht es ja aus wie in einer richtigen Werkstatt«, sagte Eugenio an einem Sonntagabend einmal zu mir. Es schien ihm zu gefallen. Er mag Werkstätten sehr.

In dem Zimmer steht ein stabiler Schreibtisch aus Metall, und mein gesamtes Werkzeug ist hier untergebracht. Es stapeln sich alle wiederverwertbaren Materialien und alle Objekte, die ich unterwegs finde und die darauf warten, von mir repariert zu werden. Licht spendet eine Industrielampe, die ich aus einer verlassenen Fabrik in der Nähe mitgenommen habe.

Schlafen tue ich in dem Zimmer, das meiner Großmutter gehörte, es ist ein wenig geräumiger, mit dem Queensizebett im Schrank und dem Kruzifix an der Wand.

Im Wohnzimmer stehen die Gegenstände, die ich bereits repariert habe: ein geblümter Sessel, ein handbemalter Lampenschirm, zwei Sonnenschirme aus Reispapier, ein antiker Bilderrahmen, ein Spazierstock mit Entenkopfgriff, ein alter Blechkreisel, ein Schaukelstuhl und vieles mehr. Wie die Kirschblütentapete im Flur und die Stiche, die ich auf dem Bürgersteig gefunden und im Eingang aufgehängt habe, leisten auch diese Dinge mir Gesellschaft. Umgib dich mit Schönheit, pflegte meine Mutter zu sagen, und du wirst nie allein sein.

Außer Eugenio hat noch nie jemand meine Wohnung betreten.

 

Heute Morgen habe ich jedoch keine Zeit für negative Gedanken. Heute Morgen ist ein Wunder geschehen. Der Rollladen ist hochgegangen! Ich bin so daran gewöhnt, ihn unten zu sehen, dass ich einen Moment lang völlig perplex bin. Mein Blick sucht das Ladenschild, das noch da ist, immer noch verblichen: Il Nuovo Mondo.

Der rote Rollladen ist offen! Das kann nicht sein. Ich schließe die Augen, öffne sie wieder, er ist immer noch oben. Wenn ich mich über das Balkongeländer beuge, kann ich einen Blick auf die abblätternde Farbe der ebenfalls roten Tür- und Fensterrahmen des Ladens erhaschen, auf das vor Staub schwarze Schaufenster. Ich spähe in jede Richtung, um mich zu vergewissern, dass es sich nicht um einen Traum handelt: Alles scheint der Realität zu entsprechen. Der Tabakladen ist da, dort an der Ecke, und sein Besitzer steht rauchend und schwadronierend auf der Türschwelle, wie immer. Die Tür des Waschsalons steht weit offen: Ich erblicke die Füße eines der vielen Besucher, die ihn als Nachtlager nutzen. Am Himmel weiße Wolken, ein langsames Flugzeug. In der Ferne höre ich das Geräusch der Straßenbahn. Am Horizont schneidet der Kirchturm ein Stückchen aus dem Blau des Himmels. Ich überprüfe die Sonnenuhr, die ich selbst gebaut habe, der Schatten fällt, wie er soll. Ich schaue auf meine Hände, rechts und links fünf Finger. Ich springe in die Höhe, um zu sehen, ob ich schweben kann: Schön wär’s.

Aus tiefster Seele habe ich mir gewünscht, dass dieser Rollladen eines Tages nach oben gehen würde. Nie habe ich aufgehört, mir das zu wünschen. Er musste es für mich tun, wenn aus sonst keinem anderen Grund. Und dann tat er es, völlig unerwartet, er tat es heute, an einem Samstag im Mai um halb acht Uhr morgens.

Ich versuche, mich noch weiter vorzubeugen, aber ich bin zu weit oben, um ins Innere des Ladens hineinsehen zu können. Ich überlege, ob ich vielleicht beim Querulanten klopfen soll, der unter mir wohnt. Ich könnte etwas auf seinen Balkon fallen lassen, um einen Vorwand zu haben, es wieder zurückzuholen, aber welcher Mensch hat schon den Mut, sich seinem durchdringenden Blick auszusetzen? Und außerdem würde er mich nie auf seinen Balkon lassen, er würde seine Frau hinschicken und mich so lange draußen vor der Tür warten lassen.

 

Letztes Jahr an Weihnachten, es war ihr erstes hier im Haus, hat mir seine Frau eine Flasche Strega-Likör und eine Schachtel Royal-Dansk-Butterkekse geschenkt: Für Gea, den nettesten Menschen im Haus, hatte sie dazu auf eine Karte geschrieben. Das hat mich sehr berührt, weil wir vorher noch nie auch nur ein einziges Wort gewechselt hatten. Wenn wir uns auf dem Hof trafen, lächelten wir einander bloß zaghaft zu.

Neulich bin ich ihr am Eingang begegnet. Sie verließ gerade das Haus, als ich zurückkam, und da war es schon zu spät, den Rückwärtsgang einzulegen. Seit sie mir das Geschenk gemacht hatte, ging ich ihr aus dem Weg, aus Angst, nicht den Mut aufzubringen, mich bei ihr zu bedanken, oder eventuell in ein Gespräch mit ihr verwickelt zu werden. Mit höflichem Small Talk habe ich es nicht so; ich fühle mich wohler bei konkreten Problemen wie der Reparatur eines Heizkessels oder dem Aufbau eines Schranks … Also hoffte ich, ihr war nicht aufgefallen, dass ich immer einen großen Bogen um sie machte, oder dass sie es wenigstens nicht persönlich nahm.

Als ich ihr dann vor dem Briefkasten begegnete, konnte ich nicht anders, als mich aufzuraffen, mich bei ihr für das Geschenk zu bedanken und das Beste zu hoffen.

»Wie ich sehe, liest du gern«, erwiderte sie und deutete auf das Buch, das aus der Brusttasche meiner Latzhose lugte. Stimmt, ich schleppe immer ein Buch mit mir herum. Man weiß nie, wie lange man bei der Arbeit oder generell im Leben warten muss. Was gibt es Besseres, als zehn Minuten irgendwo zu sitzen und die eigene Existenz zu vergessen?

»Wenn du Lust hast, wir haben eine gut sortierte Bibliothek«, fügte sie hinzu und sah sich dabei um, als wäre es ein Geheimnis.

Ich spürte, wie ich rot wurde. Es war genauso, wie ich es mir gedacht hatte; sie wollte sich unterhalten. Das hätte mir nicht einmal missfallen, hätte ich nur gewusst, was ich sagen sollte.

»Außer mir liest sie niemand, unsere Bücher«, fuhr sie fort. »Du kannst dir jedes ausleihen, das du haben willst.«

Ich bedankte mich bei ihr, aber dann flüchtete ich mich in die Ausrede, ich sei schon spät dran und müsse mich beeilen. Und das tat ich dann auch und machte mich davon.

 

Wenn ich ehrlich sein soll, ich würde mir gern ein paar Bücher von ihr ausleihen, wäre sie nicht mit dem Querulanten verheiratet. Aber er macht mir Angst: Man weiß nie, wie er reagieren wird. Allein die Vorstellung, er könnte auf die Idee kommen, ich würde seine Frau um irgendwelcher Gefälligkeiten willen manipulieren oder aufdringlich sein, wäre noch viel schlimmer, als dasselbe Buch zum dreihundertsten Mal zu lesen.

Ich weiß nicht, was eine so freundliche und empathische Frau wie sie dazu gebracht hat, einen bärbeißigen und arroganten Kerl wie den Querulanten zu heiraten, aber es lohnt sich nicht, mich um die Angelegenheiten anderer Leute zu kümmern. Ich habe schon genug eigene Probleme.

Ich ziehe es noch einmal in Betracht, etwas auf ihren Balkon hinunterfallen zu lassen, in der Hoffnung, dass er nicht zu Hause ist, aber es ist Samstag, er wird sicher da sein, samt Zigarre und Pantoffeln. Da ist es besser, wenn ich das Risiko eingehe, meine samstagmorgendlichen Gewohnheiten über den Haufen zu werfen und dem Laden persönlich einen Besuch abzustatten.

Gewohnheiten sind für mich dasselbe wie das Netz für einen Trapezkünstler. Sie erlauben mir, auf dem Drahtseil zu balancieren, ohne allzu sehr an die gähnende Leere darunter zu denken. Leitplanken, die als Orientierung dienen, nicht nur für mich, sondern auch für viele Menschen in der Nachbarschaft. Aber das Geschäft ist offen. Der Rollladen ist hochgezogen!

Ich werde erst meine übliche Runde drehen und dann nachschauen gehen. Wer nichts wagt, der nichts gewinnt, hat mein Vater immer gesagt und zur Bekräftigung einen lauten Pfiff ausgestoßen. Er pfiff immer, wenn er zufrieden war oder etwas erfolgreich erledigt hatte. Ein lauter, tiefer Pfiff, der mir einen Adrenalinstoß versetzte, weil ich dann mit Sicherheit wusste, dass er glücklich war.

Endlich.

4.

Rosa Mountbatten.«

Angelina hat ihre wohlgeformten Arme auf den metallenen Tresen des Nulla aufgestützt. Wie jedes Mal, wenn sie mir von einer neuen Farbe erzählt, wird sie dabei ganz ernst. »Das erste Mal wurde sie im Jahre neunzehnhundertvierzig von Lord Mountbatten, Admiral der britischen Marine, verwendet.«

Ich nicke, um mein Interesse zu bekunden. Sie fährt sich mit der Hand durch ihre kurzen Haare, wirkt müde. Morgens kocht sie das Mittagessen vor, und wenn sie um sieben Uhr in der Früh den Rollladen der Bar hochzieht, hat sie bereits zwei Stunden Arbeit hinter sich.

Sie holt ihr Handy heraus, legt es auf die Ablage und tippt kurz auf das Display: Schon färbt es sich Mountbatten-Rosa. Ich verrate nicht, dass ich die Farbe sehr gut kenne. Mein Vater hat uns alle militärischen Tarnfarben gezeigt, und dieses Rosa war auch auf seiner Farbpalette. Hätten wir uns in dem Wald, der unser Haus umgab, verstecken müssen, hätte uns dieses Wissen sehr nützlich sein können.

»Wie findest du die Farbe?«, will Angelina von mir wissen.

»Langweilig, um ehrlich zu sein«, erwidere ich mit einem schiefen Lächeln.

Sie wirft erneut einen Blick darauf. »Ja, stimmt. Aber sie ist quasi von einem Lord, von Lord Mountbatten, erfunden worden. Er war ein Onkel väterlicherseits des Herzogs von Edinburgh.«

»Ah, trotzdem.«

»Ein wirklich faszinierender Mann …« Eine rasche Bewegung mit dem Daumen auf dem Display, und schon erscheint das Foto eines Herrn mit verträumtem Blick und der Uniform der britischen Marine. »Nicht schlecht, musst du zugeben.«

»Ganz im Stil von Downton Abbey«, bemerke ich. Ich weiß doch, dass sie das gerne hört.

»Eine Farbe pro Tag,keine schlechte Lebensstrategie. Danke für die Empfehlung.«

Eigentlich habe ich ihr nur erzählt, dass ich als kleines Mädchen jeden Morgen mit meiner Mutter deren Farbwörterbuch aufschlug und wir gemeinsam einen neuen Farbton auswählten, den wir dann bewunderten und uns einprägten. Ein Rosa pur, das gab es nicht, hat sie mich gelehrt. Welches Rosa denn? Amarant-Rosa, Azaleen-Rosa oder Himbeer-Rosa? Und welches Grün? Spargelgrün, helles Oliv oder antike Bronze? Jede Nuance besaß ihre eigene Persönlichkeit, eine besondere Harmonie aus Licht und Schatten. Hinterher gingen meine Mutter und ich immer hinaus in die Natur, um die Farben dort zu identifizieren. Sie unterscheiden zu können, machte die Welt lebendiger, realer.

Angelina ist eine der ganz wenigen, mit denen ich über solche Dinge reden kann. Sie spricht immer freiheraus und kennt keine Zweideutigkeiten. Und irgendwann beschloss sie, bei jedem unserer Treffen eine neue Farbe mitzubringen. So haben wir in den vergangenen Tagen ein strahlendes Kobaltblau, das Orangegelb einer Rotkehlchenbrust und ein sattes Perlmuttgrau bewundert …

»Heute hast du wirklich einen Volltreffer gelandet – eine geradezu aristokratische Farbe«, bemerke ich anerkennend.

Angelina hat eine Schwäche für alles, das nach Adel riecht, für gute Manieren. Sie liebt es, wenn etwas anständig gemacht wird, wie sie sich ausdrückt. Ungefähr so, wie ich Erbsenpüree, Stanley-Schraubenzieher und das Aufhängen von Schildern liebe.

Ich schaue mich um: Zwei Stammgäste lassen sich einen Bianchino schmecken und spielen Karten, ein anderer, ein wenig jünger, liest die Zeitung.

»Jetzt sag schon, was ist passiert?«

»Die Mikrowelle streikt«, seufzt Angelina und klappt das Brett an der Theke nach oben, um mich nach hinten durchzulassen. »Die Platte dreht sich, das Licht ist an, der Timer funktioniert … aber sie heizt nicht.«

»Du böses kleines Öfchen«, sage ich und streichle über den Kasten, bevor ich mich darüberbeuge. »Jetzt halt mal kurz die Luft an. Ich werde dir nicht wehtun, du wirst nur ein bisschen schlafen.«

Dann ziehe ich den Stecker. Mithilfe meines Schraubendrehers mit dem 4×100-mm-Schlitz entferne ich die Abdeckung. Ich ziehe die Sicherung heraus, die mit dem Starkstromanschluss verbunden ist. Sie ist defekt, das sehe ich mit bloßem Auge, aber um sicherzugehen, nehme ich den Spannungsprüfer her: Da fließt kein Strom mehr.

»Da muss eine neue Prothese her«, kläre ich Angelina augenzwinkernd auf. »Aber das kostet dich nicht viel. Ich hole schnell eine neue Sicherung.«

»Du bist ein Schatz. Und du vollbringst wahre Wunder.« Nachdem sie mir das Geld gegeben hat, nimmt Angelina eine Brioche aus der Vitrine. »Hier, Herzchen. Mit Himbeerfüllung, wie du es magst.«

Ich nicke zum Dank. Dann packt sie noch zwei Brioches in eine Papiertüte, eine mit Vanillecreme, die andere mit Schokolade, weil heute Samstag ist.

»Hör mal, Herzchen«, fährt sie fort und verschränkt die Arme vor der Brust. »Wärst du so nett und würdest diese Lasagne für dich und Eugenio mitnehmen? Ich sage ihm, dass er Sonntagabend zu dir kommen soll. Er ist schon groß, ich weiß, aber es macht mich einfach traurig, dass er allein essen soll.«

»Klar doch, wir leisten uns gegenseitig Gesellschaft.«

Jedes Mal bittet sie mich um Erlaubnis, und dieses Ritual macht unser Zusammensein zu etwas Besonderem, sodass es weder selbstverständlich ist noch zur Gewohnheit wird. Angelina hat ständig Angst, anderen zur Last zu fallen, aber ihr erster Gedanke ist immer der, anderen eine Last abzunehmen.

Ich mag Eugenio sehr, auch wenn er nur ein Thema kennt: Autobusse. Sonntagabend, immer kurz vor neun, stelle ich mich ans Fenster und warte, dass er das Licht in ihrer Wohnung im ersten Stock auf der gegenüberliegenden Etage löscht und den Hof überquert, um zu mir zu kommen.

Angelina schenkt mir ein erschöpftes Lächeln, nimmt eine Tüte und verstaut darin zwei Aluschalen.

»Weil ich Sonntagabend nämlich erst spät heimkomme«, fügt sie hinzu, als wäre sie mir eine Erklärung schuldig.

Ich weiß doch, dass sie bis spät in die Nacht arbeitet, weil sie auch noch zum Putzen dableibt, während ihr Mann an einem der Tische sitzt, Poker spielt und sich bedienen lässt.

Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen. »Hast du schon gesehen, dass das Il Nuovo Mondo wieder offen hat?«, frage ich, bevor ich gehe.

In all diesen Jahren habe ich das Gespräch kein einziges Mal auf den Laden gebracht, weder bei ihr noch bei Signora Dalia, ganz zu schweigen von Trofeo. Eigentlich habe ich mit keinem Menschen darüber gesprochen. Hätte irgendjemand wissen wollen, warum mich das so interessiert, hätte ich keine Lust gehabt, es ihnen zu sagen. Das Versprechen, der Traum, die Schuld, die Enttäuschung, alles, was mich dazu gebracht hat, mich diesem Ort verbunden zu fühlen, sollte besser ein Geheimnis bleiben. Aber wenn in der Nachbarschaft etwas passiert, kann man sicher sein, dass Angelina zumindest schon etwas geahnt hat.

»Aber das ist doch ein uralter Laden«, erwidert sie achselzuckend. »Von wegen Nuovo Mondo – Neue Welt.«

»Wer weiß …«, sage ich, ein wenig enttäuscht.

Wie jedes Mal, bevor ich gehe, werfe ich noch einen Blick zurück über die Schulter auf das Schild der Imbissbar, die an dem mit Bäumen gesäumten Platz liegt: Neonrosa, Kursivschrift: Il Nulla – Das Nichts.

Als ich Angelina mal gefragt habe, warum ihre Bar so heißt, hat sie nur gemeint: »Wir waren erst kurz zuvor nach Mailand gekommen, und uns ist nichts Besseres eingefallen. Da wir quasi nichts hatten, schien uns das ein ehrlicher Name zu sein.«

»Und jetzt?«

»Jetzt haben wir unseren eigenen Laden, und das ist doch was. Aber das Schild zu ändern, das kommt jetzt nicht mehr infrage.« Und hat dazu ein kleines, feines Lachen ausgestoßen, wie wohl Königin Elisabeth gelacht hätte. Zumindest stelle ich mir das so vor.

 

»Samstagvormittag … Und jetzt rate mal, was es heute gibt! Brioche mit Schokoladenfüllung.«

Lächelnd greift Alì nach dem Gebäck. Er ist jemand, der ein wenig Ironie zu schätzen weiß. Gleich bei meinem ersten Besuch auf dem Markt habe ich mich für seinen Stand entschieden, weil er mir auf die Bitte, ob ich das Obst und das Gemüse bekommen könnte, das er sonst wegwerfen würde, wortlos eine volle Tüte überreicht und nichts dafür gewollt hat. »Dafür bringst du mir aber am nächsten Samstag was fürs Frühstück mit.«

Seit fünf Jahren bringe ich ihm nun jeden Samstag eine Schokoladenbrioche von Angelina vorbei, und er schenkt mir im Gegenzug das Gemüse, das für seine Kunden nicht mehr ansehnlich genug ist. Dabei schmeckt es köstlich.

Ich beobachte, wie er gerade eine Signora bedient, und versuche, den Mut aufzubringen, ihn noch mal anzusprechen. Wahrscheinlich glaubt er, dass ich, wie üblich, schon wieder weitergegangen bin, weil ich mich nicht mehr in seinem Blickfeld aufhalte. Trotz der Arroganz seiner Kundin bleibt er freundlich. Er lächelt, wiegt sorgfältig das Gemüse, rundet die Rechnung ab. Doch als die Signora geht, seufzt er erleichtert auf. Dann bemerkt er mich.

»Ist schon wieder Samstag?«

Er wirkt amüsiert, aber auch überrascht. Alì sieht eigentlich immer amüsiert aus, das ist das Schönste an ihm. Noch mehr als seine klaren Augen, die funkeln wie Bergseen.

»Kanntest du eigentlich Il Nuovo Mondo?«, stoße ich atemlos hervor. Und hoffe, dass ich nicht rot anlaufe.

Alì neigt den Kopf. »Die neue Welt? Wie meinst du das, Kleine?«

Seit wir uns kennen, haben wir noch nie einen so langen Dialog geführt.

»Der Trödelladen, gleich hier um die Ecke«, erkläre ich. Jetzt ist es zu spät, noch einen Rückzieher zu machen. »Sagt dir das was?«

»Ich kaufe grundsätzlich nur in der Via Monte Napoleone ein, Kleine.«

Schätzchen, Kleine, Herzchen … Manchmal wäre es mir lieber, bei meinem Namen genannt zu werden. Einfach Gea.

Aber Alì kennt meinen Namen nicht, er hat mich nie danach gefragt, ich kenne jedoch den seinen. Ein Kollege hat ihn einmal so genannt, und das habe ich mir gemerkt. Eine Person, die einen Namen hat, ist nicht mehr nur irgendwer. Zu wissen, wie andere heißen, bringt sie einem ein wenig näher. Das ist ein bisschen so wie mit den Farben. Es macht die Welt realer. Aber hinter mir hat sich jetzt eine Schlange gebildet, ich halte Alì nur unnötig auf.

»Hör mal, ich geh jetzt, und nächsten Samstag erzähle ich dir alles«, sage ich leise, mehr zu mir als zu ihm.

»Du findest mich wie immer hier, Kleine.«

 

»Ein paar Münzen für ein Liebesgedicht!«, ertönt die raue Stimme der Dichterin, die vor dem Markt auf dem Gehweg sitzt.

Ich beuge mich zu ihr hinunter und drücke ihr die letzte Brioche in die Hand. Mit der Zungenspitze leckt sie die Vanillecreme ab und überreicht mir ein Blatt Papier, auf dem ein mit Füller geschriebenes Gedicht steht. Sie fixiert mich mit dem wissenden Blick einer müden Prophetin, einer urbanen Sibylle, die trotzdem oder genau deswegen allein geblieben ist. Frauen, die mehr wissen als man selbst, machen Angst.

Mit ihren Versen schafft sie es, dass man sich beim Lesen selbst vergisst, meiner Meinung nach eine der großen Fähigkeiten von Literatur. Wir leben umgeben von begabten Menschen aller Art, auch wenn wir uns dessen oft nicht bewusst sind. Ich wäre gerne so mutig, ihr das zu sagen.

»Kanntest du eigentlich Il Nuovo Mondo?«, frage ich stattdessen.

Es ist das erste Mal, dass ich sie anspreche.

»Neue Welt? Es ist doch immer dieselbe alte Geschichte.«

Vielleicht macht sie einen Scherz, vielleicht hat ihre Bemerkung etwas mit dem Laden selbst zu tun, ich komme nicht ganz dahinter. Also schwenke ich das Blatt Papier mit ihrem Gedicht und deute eine kleine Verbeugung an, bevor ich mich rasch verabschiede.

 

Vor der kleinen Brücke, die den Kanal überquert und zu der chamoisfarbenen Kirche führt, muss ich nicht lange warten. Die Frau mit der Krücke kommt humpelnd näher, die Zeitung unter dem Arm, und starrt wie jeden Morgen mit leerem Blick vor sich hin. Plötzlich scheint sie sich heftig mit jemandem zu streiten, aber da ist niemand neben ihr. Auf der Brücke angekommen, zündet sie sich eine Zigarre an. Ich glaube, sie geht deswegen immer hier entlang, weil sie ihre Krücke ablegen und sich an das Geländer lehnen kann.

Kurz darauf stößt sie einen Fluch aus, löscht die Zigarre und nimmt das Blatt Papier mit dem Gedicht, das ich für sie auf die Brüstung gelegt habe. Die Zeitung lässt sie liegen, ehe sie weiterhumpelt. Ich warte, bis sie etwas weiter weg ist, bevor ich sie mir hole.

Sie kauft die Zeitung jeden Tag an dem Kiosk in der Nähe der Kirche und nimmt sie mit ins Café, wo sie frühstückt, aber ich habe noch nie gesehen, dass sie sie aufgeschlagen hätte. Ich weiß, dass die Frau mit der Krücke Friedensrichterin war. Vielleicht kauft sie die Zeitung, um nicht zu vergessen, wer sie einmal war, aber sie hat wohl genug von dieser Welt, um noch mehr Nachrichten aufnehmen zu wollen.

Ich lese die Zeitung jeden Tag. Informiert zu sein, ist die beste Voraussetzung, sich verteidigen zu können, pflegte mein Vater immer zu sagen. Man weiß nie, was passieren kann, aber man kann Hypothesen anstellen. Alles ist mit allem verbunden. Der Flügelschlag eines Schmetterlings kann auf der anderen Seite des Erdballs einen Orkan auslösen. Man muss zwischen den Zeilen lesen können.

So ist diese von der Friedensrichterin ererbte Zeitung, statt am Boden eines Abfallkorbes zu verrotten, nicht mehr anonym und unpersönlich, sondern ein Gegenstand, der mir etwas zu sagen hat, der mir das Gefühl gibt, Teil von etwas zu sein. Diese Zeitung birgt für mich das Versprechen, dass unter den vielen Nachrichten über das, was draußen passiert, früher oder später eine dabei ist, die mein Leben verändern wird. Obwohl ich es nicht will, warte ich doch mein ganzes Leben darauf.

Ich weiß, dass die Friedensrichterin die Gedichte liest, weil ich sie nachmittags immer im Nulla sehe, mit einem Glas Frizzantino und dem zerknitterten Blatt Papier vor sich auf dem Tisch.

Ein bisschen Gemüse für eine Brioche. Eine Brioche für ein Gedicht. Ein Gedicht für eine Zeitung. Das nenne ich »nachbarliche Kreislaufwirtschaft«.

Wenn ich die Zeitung lese, dann markiere ich die interessantesten Nachrichten mit Bleistift, schneide die Artikel aus und sammle sie in einer Klarsichthülle. Mit den restlichen Seiten putze ich die Fenster und falte daraus Origami, die ich im Hof verteile. Auf diese gefalteten Origami-Zettel schreibe ich immer irgendwelche Zitate. Erst kürzlich habe ich Folgendes geschrieben: »Wonach streben Sie in Ihrem Leben am meisten? Nach Unsterblichkeit. Unsterblich werden und dann sterben.« Godard, Außer Atem.

Ich weiß, dass die Kinder im Wohnblock meine Origami-Objekte toll finden. Vom Fenster aus kann ich sehen, wie sie sich darum balgen, und so tue ich mein Möglichstes, damit keines mit leeren Händen dasteht.

Mein Lieblingszitat stammt auch aus diesem Film: »Ich weiß nicht, ob ich unglücklich bin, weil ich nicht frei bin, oder ob ich nicht frei bin, weil ich unglücklich bin.« Das habe ich bisher allerdings noch auf keinem Origami verewigt. Warum die Kinder traurig machen? Es reicht schon, dass sie in der Stadt keine Wiesen und Felder zum Toben haben, um den Wirbelsturm an Gefühlen herauszulassen, der einen in diesem Alter erfasst, wenn man Dinge mitbekommt, die man noch nicht versteht. Wenn ich in halsbrecherischem Tempo über die Wiesen gerannt bin, habe ich mehr als ein Paar Schuhe verschlissen. Nicht, dass es mir eine große Hilfe dabei gewesen wäre, die Welt zu verstehen.

Aber wer hätte je die Welt verstanden? Mein Vater, mein Bruder? Oder vielleicht meine Großmutter? Das scheint ein Kampf zu sein, den man nicht gewinnen kann. Und wenn den jemand verloren hat, dann bin ich das.

Und trotzdem hat das Il Nuovo Mondo heute wieder seine Pforten geöffnet! Der Rollladen ist oben! Das Schicksal schickt mir die Chance, auf die ich gewartet habe, um den Versuch zu starten, meine Geschichte zu korrigieren, das Band der Zeit zurückzuspulen und vielleicht den Ereignissen einen anderen Verlauf zu geben. Wenn ich diese Gelegenheit nicht ergreife, könnte ich es für den Rest meines Lebens bereuen.



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