Das Atlantis-Virus - A. G. Riddle - E-Book

Das Atlantis-Virus E-Book

A. G. Riddle

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Beschreibung

Das tödliche Erbe von Atlantis

Einst starteten die Bewohner von Atlantis ein genetisches Evolutionsexperiment ... Heute ist unsere Welt eine andere ... Seit 78 Tagen breitet sich die pandemische Atlantis-Seuche mit rasender Geschwindigkeit aus, hervorgerufen durch den mysteriösen Immari-Geheimbund ... Millionen von Menschen sterben ... Die verdeckte Organisation Clocktower versucht im Kampf gegen Immari, das Geheimnis um Atlantis zu lüften ... Auf Malta wird ein Steinsarg aus uralter Vorzeit entdeckt ... Der Schatz von Atlantis kann die Menschheit retten – oder ihren Untergang beschwören ...

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Seitenzahl: 582

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Das Buch

Einst starteten die Bewohner von Atlantis ein genetisches Evolutionsexperiment ... Heute ist unsere Welt eine andere ... Seit 78 Tagen breitet sich die pandemische Atlantis-Seuche mit rasender Geschwindigkeit aus, hervorgerufen durch den mysteriösen Immari-Geheimbund ... Argentinien, Südafrika und etliche Länder der südlichen Hemisphäre stehen unter der Herrschaft von Immari ... Millionen von Menschen sterben ... Die verdeckte Organisation Clocktower versucht im Kampf gegen Immari, das Geheimnis um Atlantis zu lüften ... Auf Malta wird ein Steinsarg aus uralter Vorzeit entdeckt ... Der Schatz von Atlantis kann die Menschheit retten – oder ihren Untergang beschwören ...

Der Autor

A. G. Riddle wuchs in North Carolina auf. Zehn Jahre lang beschäftigte er sich damit, diverse Internetfirmen zu gründen und zu leiten, bevor er sich aus dem Geschäft zurückzog. Seitdem widmet Riddle sich seiner wahren Leidenschaft: dem Schreiben. Seine Atlantis-Trilogie ist in Amerika schon jetzt ein Phänomen. Riddle lebt in Parkland, Florida.

A. G. RIDDLE

DASATLANTIS- VIRUS

Roman

Aus dem Amerikanischen von Marcel Häußler

WILHELM HEYNE VERLAG

Die Originalausgabe THE ATLANTIS PLAGUE erschien 2013 bei Modern Mythology

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen. Vollständige deutsche Erstausgabe 09/2015

Copyright © 2013 by A. G. Riddle

Published in agreement with the author, c/o Danny Baror International Inc, Armonk, New York, USA

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Umschlagillustration: Johannes Wiebel/punchdesign, München, unter Verwendung von shutterstock.com (Kletr, McLaughlin, haraldmuc)

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-15409-7V002

www.heyne.de

Den unerschrockenen Seelen, die unbekannten Autoren eine Chance geben

PROLOG

70000 Jahre in der Vergangenheit

Auf dem Gebiet des heutigen Somalia

Die Forscherin schlug die Augen auf und schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden. Das Schiff hatte den Aufweckprozess beschleunigt. Warum? Normalerweise schritt er langsamer voran, es sei denn … Als der dichte Nebel in der Röhre sich ein wenig lichtete, sah sie das rote Blinklicht an der Wand – ein Alarm.

Die Röhre öffnete sich, und die hereinströmende kalte Luft brannte auf ihrer Haut und vertrieb die letzten Nebelfetzen. Die Forscherin trat auf den eisigen Metallboden hinaus und schwankte zum Steuerpult. Grün und weiß funkelnde Lichtbögen schossen aus der Konsole empor und umschlossen ihre Hand wie ein Glühwürmchenschwarm. Sie wackelte mit den Fingern, und die Anzeige an der Wand reagierte. Ja – der auf zehntausend Jahre programmierte Schlaf hatte fünfhundert Jahre zu früh geendet. Sie warf erst einen Blick auf die beiden leeren Röhren hinter sich, dann auf die letzte Röhre, in der sich ihr Partner befand. Der Aufweckprozess lief bereits. Sie bewegte schnell die Finger über die Konsole, um ihn aufzuhalten, aber es war zu spät.

Zischend öffnete sich die Röhre. »Was ist passiert?«

»Ich weiß nicht genau.«

Sie rief eine Weltkarte und eine Reihe von Tabellen auf. »Es gibt einen Bevölkerungsalarm. Vielleicht droht die Ausrottung.«

»Ursache?«

Sie scrollte die Karte zu einer kleinen Insel, die von einer gewaltigen schwarzen Rauchwolke umgeben war. »Ein Supervulkan in der Nähe des Äquators. Die Erdtemperatur ist rapide gesunken.«

»Betroffene Subspezies?«, fragte ihr Partner, während er aus der Röhre stieg und ungelenk zum Steuerpult kam.

»Nur eine. 8472. Auf dem Zentralkontinent.«

»Das ist eine Enttäuschung«, sagte er. »Sie war äußerst vielversprechend.«

»Ja, allerdings.« Die Forscherin ließ das Pult los und konnte sich jetzt allein auf den Beinen halten. »Das würde ich mir gern ansehen.«

Ihr Partner bedachte sie mit einem fragenden Blick.

»Nur, um ein paar Proben zu nehmen.«

Vier Stunden später hatten die Forscher das riesige Schiff halb um den kleinen Planeten gesteuert. In der Dekontaminationskammer schloss die Frau die letzten Schnallen ihres Raumanzugs, befestigte den Helm und wartete darauf, dass sich die Tür öffnete.

Sie schaltete den Lautsprecher im Helm ein. »Tonprobe.«

»Ton funktioniert«, sagte ihr Partner. »Videoübertragung auch. Bereit zum Aussteigen.«

Die Tür glitt auf und gab den Blick auf einen weißen Sandstrand frei. Zehn Meter oberhalb der Brandung begann eine dicke Ascheschicht, die sich bis zu einem felsigen Bergrücken erstreckte.

Die Forscherin blickte zu dem dunklen ascheverhüllten Himmel auf. Irgendwann würde die Asche herabsinken und das Sonnenlicht zurückkehren, aber dann wäre es zu spät für viele Bewohner des Planeten, auch für die Subspezies 8472.

Die Forscherin stapfte den Bergrücken hinauf und sah zurück zu dem schwarzen Schiff, das wie ein überdimensionierter gestrandeter Wal am Ufer lag. Die Welt war dunkel und still wie viele der noch unbewohnten Planeten, die sie erforscht hatte.

»Die letzten Lebenszeichen wurden gleich hinter dem Höhenzug erfasst, halte dich bei fünfundzwanzig Grad.«

»Verstanden.« Die Forscherin drehte sich ein wenig nach rechts und schlug ein schärferes Tempo an.

Vor sich sah sie eine große Höhle, deren felsige Umgebung unter einer noch dickeren Ascheschicht lag als der Strand. Sie ging langsamer weiter. Ihre Stiefel glitten auf den aschebedeckten Steinen aus.

Kurz bevor sie die Höhlenöffnung erreichte, spürte sie etwas anderes unter ihren Sohlen. Fleisch und Knochen. Ein Bein. Sie trat einen Schritt zurück und wartete, bis das Display in ihrem Helm sich scharf gestellt hatte.

»Siehst du das?«, fragte sie.

»Ja, ich schalte den optischen Verstärker an.«

Die Umgebung war jetzt klar zu erkennen. Dutzende von Leichen lagen übereinander, bis hinauf zum Eingang der Höhle. Die ausgemergelten schwarzen Körper schienen mit den darunter liegenden Steinen verschmolzen, und die Ascheschicht darüber bildete Höcker und Knoten, die an die überirdischen Wurzeln eines riesigen Baums erinnerten.

Zur Überraschung der Forscherin waren die Leichen unversehrt. »Bemerkenswert. Keine Anzeichen von Kannibalismus. Die Überlebenden kannten sich. Vielleicht gehörten sie zu einem Stamm mit einem gemeinsamen Moralkodex. Vermutlich sind sie zum Meer gezogen, um Schutz und Nahrung zu suchen.«

Ihr Kollege schaltete das Display auf Infrarot, damit sie sich vergewissern konnte, dass alle tot waren. Seine unausgesprochene Aufforderung war eindeutig: Halte dich nicht länger damit auf.

Sie bückte sich und holte einen kleinen Zylinder hervor. »Ich nehme eine Probe.« Sie hielt den Zylinder an die nächste Leiche und wartete, bis er eine DNS-Probe eingesammelt hatte, dann stand sie auf und sagte in formellem Tonfall: »Alpha Lander, Expeditions-Logbuch, offizieller Eintrag: Vorläufige Untersuchungen bestätigen, dass Subspezies 8472 vom Aussterben bedroht ist. Vermutete Ursache ist der Ausbruch eines Supervulkans und der daraus resultierende vulkanische Winter. Die Spezies entwickelte sich etwa 130000 hiesige Jahre vor diesem Eintrag. Versuche, Probe von letztem bekannten Überlebenden einzusammeln.«

Sie wandte sich um und ging in die Höhle. Die Lampen an beiden Seiten des Helms blitzten auf und beleuchteten das Innere. Körper lagen aneinandergeschmiegt an den Wänden. Das Infrarotdisplay zeigte keine Lebenszeichen. Die Forscherin schritt tiefer in die Höhle hinein. Nach einigen Metern gab es keine Toten mehr. Sie sah zu Boden. Spuren. Waren sie frisch? Sie ging weiter.

Auf ihrem Helmdisplay leuchtete ein schwacher, purpurroter Fleck vor der Steinwand auf. Lebenszeichen. Als sie um eine Biegung ging, vergrößerte sich der Fleck zu einem gelb, orange, blau und grün schimmerndem Bild. Ein Überlebender.

Die Forscherin tippte schnell auf die Bedienelemente an ihren Handflächen und schaltete auf die normale Ansicht. Es war ein weibliches Exemplar. Ihre dunkle Haut spannte sich über den unnatürlich vorstehenden Rippen, als würde sie beim nächsten flachen Atemzug zerreißen. Der Unterleib hingegen war nicht so eingesunken, wie die Forscherin es erwartet hätte. Sie schaltete wieder das Infrarotbild an, und ihr Verdacht bestätigte sich. Das Weibchen war schwanger.

Die Forscherin griff nach einem weiteren Probenzylinder, hielt jedoch abrupt inne. Hinter sich hörte sie ein Geräusch – schwere Schritte, als schlurfte jemand über den Fels.

Sie drehte gerade rechtzeitig den Kopf, um ein riesiges Männchen in die enge Höhle stapfen zu sehen. Das Exemplar war fast um zwanzig Prozent größer als die anderen Männchen, die sie gesehen hatte, und auch breitschultriger. Der Stammesführer? Seine Rippen standen grotesk hervor, noch schlimmer als bei dem Weibchen. Er hob einen Arm, um seine Augen vor dem Licht aus ihrem Helm abzuschirmen. Dann schwankte er auf sie zu. Er hielt etwas in der Hand. Sie griff nach ihrem Betäubungsstab und wich zurück, weg von dem Weibchen, aber das Männchen kam näher. Die Forscherin schaltete den Stab ein, doch kurz bevor das Männchen sie erreichte, drehte es ab und brach an der Wand neben dem Weibchen zusammen. Es reichte seiner Gefährtin den Gegenstand in seiner Hand – ein von Adern durchzogener, halb verrotteter Fleischklumpen. Sie biss gierig hinein, und das Männchen ließ den Kopf gegen die Wand sinken und schloss die Augen.

Die Forscherin versuchte, ruhig zu atmen.

Die Stimme ihres Partners erklang scharf und drängend in ihrem Helm. »Alpha Lander eins, ich registriere anormale Vitalfunktionen. Bist du in Gefahr?«

Sie tippte hektisch auf ihre Handfläche und schaltete die Sensoren und die Videoübertragung des Anzugs aus. »Negativ, Lander zwei.« Sie zögerte. »Wahrscheinlich eine Störung im Anzug. Fahre fort, Proben vom letzten bekannten Überlebenden der Subspezies 8472 einzuholen.«

Sie zog den Zylinder hervor, kniete sich neben das Männchen und drückte ihn in seine rechte Armbeuge. Als sie den Überlebenden berührte, hob er den anderen Arm. Er legte ihr die Hand auf den Unterarm und drückte ihn sanft; zu mehr schien der sterbende Mann nicht fähig. Neben ihm hatte die Frau ihre Mahlzeit aus verrottetem Fleisch beendet, vermutlich ihre letzte, und sah aus nahezu leblosen Augen zu.

Der Zylinder bestätigte mit einem Piepsen die erfolgreiche Probenentnahme, aber auch nach dem zweiten Ton zog die Forscherin ihn nicht zurück. Sie saß wie versteinert da. Etwas geschah mit ihr. Die Hand des Männchens glitt von ihrem Unterarm, und sein Kopf rollte nach hinten gegen die Wand. Ehe sie sich bewusst wurde, was sie tat, hatte sie ihn hochgehoben, sich über die eine und das Weibchen über die andere Schulter gelegt. Das Exoskelett trug das Gewicht leicht, aber sobald sie die Höhle verlassen hatte, war es schwierig, auf dem aschebedeckten Felshang das Gleichgewicht zu halten.

Zehn Minuten später überquerte sie den Strand, und die Türen des Schiffs öffneten sich. Im Inneren legte sie die beiden auf zwei Rollbahren, stieg schnell aus ihrem Anzug und schob die Überlebenden in einen Operationsraum. Sie warf einen Blick über die Schulter, dann konzentrierte sie sich auf den Computer. Nachdem sie einige Simulationen durchgeführt hatte, gab sie die Algorithmen ein.

Hinter ihr ertönte eine Stimme. »Was machst du da?«

Sie wirbelte erschrocken herum. Sie hatte nicht gehört, wie die Tür sich öffnete. Ihr Partner stand im Türrahmen und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Sein Gesicht spiegelte erst Verwirrung, dann Beunruhigung wider. »Du …«

»Ich …« Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie sagte das Einzige, was sie sagen konnte. »Ich führe ein Experiment durch.«

TEIL I: GEHEIMNISSE

1

Orchid-Distrikt

Marbella, Spain

Dr. Kate Warner beobachtete, wie die Frau sich verkrampfte und an den Gurten des provisorischen Operationstischs zerrte. Die Anfälle wurden heftiger, und Blut floss aus Mund und Nase.

Das Schlimmste war, dass Kate nichts mehr für sie tun konnte. Auch während ihres Medizinstudiums und der Assistenzzeit hatte sie sich nicht daran gewöhnen können, Patienten sterben zu sehen. Und sie hoffte, das würde nie geschehen.

Sie nahm die linke Hand der Frau und blieb neben ihr stehen, bis das Zittern abebbte. Die Frau stieß zum letzten Mal die Luft aus, während ihr Kopf zur Seite rollte.

Es wurde still, bis auf das Plätschern des Bluts, das vom Tisch rann und auf die dicke Plastikfolie tropfte, mit der der gesamte Raum ausgekleidet war. Von allen Zimmern der Ferienanlage kam dieses einem OP am nächsten – es war ein Massageraum im Wellnessbereich. Kate benutzte die Liege, auf der vor drei Monaten noch wohlhabende Touristen verwöhnt worden waren, um Experimente durchzuführen, die sie selbst nicht verstand.

Das Summen eines Elektromotors durchbrach die Stille, als die kleine Videokamera an der Decke von der Frau auf Kate schwenkte und sie damit aufforderte, Bericht zu erstatten.

Kate zog ihren Mundschutz herunter und legte die Hand der Frau sanft auf ihren Bauch. »Atlantis-Seuche, Versuch Alpha-493: Ergebnis negativ. Proband Marbella-2918.« Kate betrachtete die Frau und dachte über einen Namen nach. Sie weigerten sich, den Versuchspersonen Namen zu geben, aber Kate überlegte sich für jeden von ihnen einen. Das konnten sie ihr nicht verbieten. Vielleicht dachten sie, die Arbeit fiele ihr leichter, wenn die Probanden keine Namen hatten. Aber das stimmte nicht. Niemand verdiente es, eine Nummer zu sein oder ohne Namen zu sterben.

Kate räusperte sich. »Der Name der Probandin lautet Marie Romero. Todeszeitpunkt: 15:14 Ortszeit. Mutmaßliche Todesursache … Die Todesursache ist dieselbe wie bei den letzten dreißig Menschen auf diesem Tisch.«

Mit einem Knall riss sich Kate die Handschuhe herunter und warf sie neben der sich ausbreitenden Blutlache auf die Plastikfolie. Sie wandte sich um und ging zur Tür.

Die Lautsprecher an der Decke meldeten sich knisternd.

»Du musst eine Autopsie durchführen.«

Kate sah wütend in die Kamera. »Mach’s doch selbst.«

»Bitte, Kate.«

Sie hatten Kate fast völlig im Dunkeln gelassen, aber einer Sache war sie sich völlig sicher: Sie brauchten sie. Sie war immun gegen die Atlantis-Seuche und somit perfekt geeignet, um die Versuche durchzuführen. Wochenlang hatte sie mitgemacht, seit ihr Adoptivvater Martin Grey sie hergebracht hatte. Dann hatte sie allmählich angefangen, Fragen zu stellen. Aber es gab immer nur Versprechungen, niemals Antworten.

Sie holte Luft, und ihre Stimme klang jetzt entschlossener. »Ich bin fertig für heute.« Sie öffnete die Tür.

»Halt. Ich weiß, dass du Antworten willst. Nimm nur noch diese Probe, dann reden wir.«

Kate blickte auf den metallenen Rollwagen, der wie bei den dreißig Versuchen zuvor vor der Tür stand. Ein einziger Gedanke schoss ihr durch den Kopf: ein Druckmittel. Sie griff nach dem Blutentnahmeset, kehrte zu Marie zurück und schob ihr die Nadel in die Armbeuge. Wenn das Herz nicht mehr schlug, dauerte es länger.

Als das Röhrchen voll war, zog sie die Nadel heraus, ging zum Rollwagen und stellte es in die Zentrifuge. Einige Minuten lang wurde es herumgewirbelt. Hinter sich hörte sie eine Anordnung aus dem Lautsprecher. Sie wusste, was von ihr verlangt wurde. Als die Zentrifuge anhielt, betrachtete sie sie einen Moment. Dann schnappte sie sich das Röhrchen, steckte es in die Tasche und ging den Gang entlang.

Normalerweise sah sie nach den Jungen, wenn sie mit der Arbeit fertig war, aber heute musste sie erst etwas anderes tun. Sie betrat ihr winziges Zimmer und ließ sich auf das sogenannte Bett fallen. Der Raum ähnelte einer Gefängniszelle: keine Fenster, nackte Wände und ein stählernes Feldbett mit einer Matratze aus dem Mittelalter. Kate vermutete, dass hier früher eine Putzfrau untergebracht gewesen war. Es war nahezu menschenunwürdig.

Sie beugte sich vor und tastete in der Dunkelheit unter der Liege herum. Schließlich fand sie die Wodkaflasche und zog sie heraus. Sie nahm einen Pappbecher von dem Nachttisch, blies den Staub heraus, goss sich einen Doppelten ein und kippte ihn mit einem Schluck hinunter.

Sie stellte die Flasche ab und streckte sich auf dem Bett aus. Hinter ihrem Kopf stand ein altes Radio, das sie jetzt einschaltete. Es war ihre einzige Informationsquelle aus der Außenwelt, aber sie konnte kaum glauben, was sie hörte.

Die Berichte beschrieben eine Welt, die mithilfe eines Wundermittels vor der Atlantis-Seuche gerettet worden war: Orchid. Als Folge des weltweiten Ausbruchs hatten die Industriestaaten ihre Grenzen geschlossen und das Kriegsrecht verhängt. Sie hatte nicht erfahren, wie viele an der Pandemie gestorben waren. Die Überlebenden waren in Orchid-Distrikte getrieben worden – riesige Lager, in denen sich die Leute ans Leben klammerten und ihre tägliche Dosis Orchid nahmen, ein Medikament, das die Krankheit eindämmte, aber nicht völlig heilte.

Kate betrieb seit zehn Jahren klinische Forschung, die in letzter Zeit darauf abzielte, eine Therapie gegen Autismus zu finden. Medikamente wurden nicht über Nacht entwickelt, egal, wie viel Geld investiert wurde oder wie dringend es war. Orchid musste eine Lüge sein. Und wenn es so war, wie sah die Welt da draußen dann wirklich aus?

Sie hatte nicht viel davon mitbekommen. Vor drei Wochen hatte Martin sie und die beiden Jungen aus ihrer Autismusstudie vor dem sicheren Tod in einem riesigen Objekt unter der Bucht von Gibraltar gerettet, wohin sie aus einem ähnlichen Komplex drei Kilometer unter der Antarktis geflüchtet war – an den Ort, den sie nun für das untergegangene Atlantis hielt. Ihr leiblicher Vater, Patrick Pierce, hatte ihre Flucht abgesichert, indem er in Gibraltar zwei Atomsprengköpfe zündete, wodurch das uralte Bauwerk zerstört und die Meerenge durch die Trümmer beinahe versperrt wurde. Kurz vor der Explosion hatte Martin sie mit einem Tauchboot rausgebracht. Der Treibstoff reichte soeben aus, um durch die Trümmer zu navigieren und Marbella zu erreichen – einen beliebten Ferienort ungefähr siebzig Kilometer weiter die Küste hinauf. In einem Jachthafen verließen sie das Tauchboot und begaben sich im Schutz der Nacht in die Stadt. Martin sagte, es sei nur vorübergehend, und Kate schenkte ihrer Umgebung kaum Aufmerksamkeit. Sie gingen in eine bewachte Ferienanlage, in der sie und die beiden Jungen seitdem in dem Wellnessgebäude eingesperrt waren.

Martin hatte ihr gesagt, sie könne an dem Forschungsprojekt dort teilhaben und mithelfen, eine Therapie gegen die Atlantis-Seuche zu finden. Aber seit ihrer Ankunft hatte sie ihn kaum gesehen, und auch sonst niemanden, außer den Betreuern, die Essen und Arbeitsanweisungen brachten.

Sie drehte das Röhrchen in der Hand und fragte sich, warum es so wichtig für sie war und wann sie es holen würden. Und wer käme, um es zu holen.

Sie sah auf die Uhr. Bald würden die Abendnachrichten gesendet. Sie verpasste sie nie. Sie redete sich ein, dass sie wissen wollte, was dort draußen geschah, aber die Wahrheit war einfacher. Sie wollte wissen, was aus einem bestimmten Menschen geworden war: David Vale. Aber diese Meldung kam nicht und würde vermutlich auch nie kommen. Es gab zwei Wege aus dem Gebilde unter der Antarktis – durch den dortigen Eingang im Eis oder durch das Portal nach Gibraltar. Ihr Vater hatte das Tor für immer geschlossen, und die Immari-Armee wartete in der Antarktis. Sie würde David töten. Kate verdrängte den Gedanken, als die Stimme des Sprechers ertönte.

Sie hören BBC, die Stimme des menschlichen Triumphes am 78. Tag der Atlantis-Seuche. In der kommenden Stunde senden wir drei Reportagen. Die erste handelt von vier Arbeitern auf einer Bohrinsel, die drei Tage lang ohne Essen auf offener See ausgeharrt haben, um sich in die sichere Obhut des Orchid-Distrikts von Corpus Christi in Texas zu begeben. In der zweiten entkräftet Hugo Gordon, der die riesige Orchid-Produktionsstätte bei Dresden besucht hat, bösartige Gerüchte, die Herstellung des Medikaments sei ins Stocken geraten. Zum Abschluss übertragen wir eine Diskussionsrunde mit vier ausgezeichneten Mitgliedern der Royal Society, die prognostizieren, es sei eine Frage von Wochen, nicht von Monaten, bis ein Heilmittel gefunden werde.

Aber zunächst ein Bericht über den Mut und das Durchhaltevermögen der Freiheitskämpfer im Süden Brasiliens, die einen entscheidenden Sieg gegen die Guerillas aus dem unter Immari-Kontrolle stehenden Argentinien errungen haben…

2

Centers for Disease Control and Prevention (CDC)

Atlanta, Georgia

Dr. Paul Brenner rieb sich die Augen, als er sich an seinen Computer setzte. Er hatte seit vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen. Sein Gehirn war ausgelaugt, und das beeinträchtigte seine Arbeit. Er wusste, dass er Ruhe brauchte, aber er konnte sich nicht dazu durchringen. Der Monitor leuchtete auf, und er beschloss, nur seine E-Mails zu lesen und sich dann ein einstündiges Nickerchen zu gönnen – maximal.

1 neue Nachricht

Als er nach der Maus griff und daraufklickte, spürte er einen neuen Energieschub.

Von: Marbella (OD-108)

Betreff: Ergebnisse von Alpha-493 (Proband MB-2918)

Die E-Mail enthielt keinen Text, nur ein Video, das sofort wiedergegeben wurde. Dr. Kate Warner tauchte auf dem Bildschirm auf, und Paul fuhr sich durch das Haar. Sie war hinreißend. Aus irgendeinem Grund wurde er schon nervös, wenn er sie nur sah.

Atlantis-Seuche, Versuch Alpha-493: Ergebnis negativ.

Als das Video endete, griff Paul zum Telefon. »Bereiten Sie eine Konferenzschaltung vor. – Mit allen. – Ja, sofort.«

Fünfzehn Minuten später saß er am Kopfende eines Besprechungstischs und blickte auf zwölf Monitore, auf denen die Gesichter von Wissenschaftlern aus verschiedenen Einrichtungen überall auf der Welt zu sehen waren.

Paul stand auf. »Ich habe soeben die Ergebnisse des Versuchs Alpha-493 erhalten. Negativ. Ich …«

Die Wissenschaftler überhäuften sich gegenseitig mit Fragen und Anschuldigungen. Vor elf Wochen, kurz nach dem Ausbruch, war diese Gruppe nüchtern, höflich und konzentriert gewesen.

Jetzt war das vorherrschende Gefühl Angst. Und das war berechtigt.

3

Orchid-Distrikt

Marbella, Spanien

Es war der gleiche Traum, und das machte Kate glücklich. Sie hatte das Gefühl, ihn jetzt steuern zu können wie ein Video, das man zurückspulen und erneut ansehen kann. Es war das Einzige, was ihr noch Freude bereitete.

Sie lag in einem Bett im ersten Stock einer Villa in Gibraltar, nur wenige Schritte vom Meer entfernt. Eine kühle Brise wehte durch die offene Balkontür, drückte die dünnen weißen Leinenvorhänge ins Zimmer und ließ sie zurück gegen die Wand fallen. Der Wind schien im Rhythmus der Wellen und ihrer langen tiefen Atemzüge aufzufrischen und abzuflauen. Es war ein perfekter Augenblick, alles war in Harmonie, als hätte die ganze Welt einen gemeinsamen Herzschlag.

Sie lag auf dem Rücken, sah zur Decke und wagte nicht, die Augen zu schließen. David schlief neben ihr auf dem Bauch. Sein muskulöser Arm lag zufällig auf ihrem Unterleib, sodass er die Narbe dort größtenteils verdeckte. Sie hätte den Arm gern berührt, aber sie würde nichts riskieren, das den Traum beenden könnte.

Sie spürte, wie der Arm sich rührte. Die leichte Bewegung schien die Szene zu erschüttern wie ein Erdbeben, das mit einem Zittern beginnt und dann Wände und Decken zum Einsturz bringt. Das Zimmer wackelte ein letztes Mal, dann wurde es schwarz, und sie war in ihrer dunklen engen Zelle in Marbella. Das weiche Doppelbett war verschwunden, und sie lag auf der harten Matratze des schmalen Feldbetts. Aber … der Arm war noch da. Nicht Davids Arm. Ein anderer. Er bewegte sich, strich über ihren Bauch. Kate erstarrte. Eine Hand klopfte ihre Taschen ab, dann nestelte sie an ihrer eigenen geschlossenen Hand, um an das Röhrchen zu gelangen. Sie packte das Handgelenk des Diebs und verdrehte es mit aller Kraft.

Ein Mann stieß einen Schmerzensschrei aus, während Kate aufsprang, an der Schnur des Lichtschalters zog und nach unten sah …

Martin.

»Dich haben sie also geschickt.«

Ihr Stiefvater erhob sich mühsam. Er war weit über sechzig, und die letzten Monate hatten ihm körperlich zugesetzt. Er wirkte ausgezehrt, aber seine Stimme klang noch immer großväterlich. »Du neigst dazu, Dinge zu dramatisieren, Kate.«

»Ich bin nicht diejenige, die in Zimmer einbricht und Leute im Dunkeln abtastet.« Sie hielt das Röhrchen hoch. »Wozu brauchst du das? Was geht hier vor?«

Martin rieb sich das Handgelenk und sah sie aus zugekniffenen Augen an, als blendete ihn die nackte Glühbirne an der Decke. Er drehte sich um, nahm einen Sack von dem kleinen Tisch in der Ecke und reichte ihn ihr. »Zieh das an.«

Bei genauerer Betrachtung stellte Kate fest, dass es kein Sack, sondern ein schlaffer weißer Sonnenhut war. Martin musste ihn den Hinterlassenschaften eines der Touristen entnommen haben. »Warum?«, fragte Kate.

»Kannst du mir nicht einfach vertrauen?«

»Offenbar nicht.« Sie zeigte auf das Bett.

Martins Stimme klang kalt und sachlich. »Um dein Gesicht zu verbergen. Es sind Wachen vor dem Gebäude, und wenn sie dich sehen, nehmen sie dich gefangen oder erschießen dich an Ort und Stelle.« Er ging aus dem Zimmer.

Kate zögerte einen Moment, dann folgte sie ihm mit dem Hut unter dem Arm. »Warte. Warum sollten sich mich erschießen? Wo bringst du mich hin?«

»Willst du Antworten auf deine Fragen?«

»Ja.« Sie zögerte. »Aber bevor wir gehen, muss ich nach den Jungen sehen.«

Martin sah sie an und nickte.

Kate stieß die Tür zum kleinen Zimmer der Jungen auf und sah, dass sie das taten, womit sie sich neunundneunzig Prozent ihrer Zeit beschäftigten: Sie beschrieben die Wände. Die meisten sieben- und achtjährigen Jungen hätten Dinosaurier oder Soldaten gekritzelt, aber Adi und Surya hatten fast jede freie Stelle mit Gleichungen und mathematischen Symbolen bedeckt.

Die beiden indonesischen Kinder wiesen noch viele Symptome von Autismus auf. Sie waren völlig in ihre Arbeit versunken; keiner der beiden bemerkte, dass Kate eintrat. Adi balancierte auf einem Stuhl, den er auf einen der Schreibtische gestellt hatte, um eine der wenigen freien Stellen ganz oben an der Wand zu beschreiben.

Kate lief zu ihm und zog ihn herunter. Er schwenkte seinen Stift und protestierte in unverständlichen Worten. Sie stellte den Stuhl dorthin, wo er hingehörte: vor den Schreibtisch, nicht darauf.

Sie ging in die Hocke und fasste Adi bei den Schultern. »Adi, ich habe dir doch gesagt, du sollst keine Möbel stapeln und daraufklettern.«

»Wir haben keinen Platz mehr.«

Sie wandte sich an Martin. »Hol ihnen was zu schreiben.«

Er sah sie ungläubig an.

»Ich meine es ernst.«

Er ging, und Kate konzentrierte sich wieder auf die Jungen. »Habt ihr Hunger?«

»Wir haben vorhin Sandwichs bekommen.«

»Woran arbeitet ihr?«

»Dürfen wir nicht verraten, Kate.«

Kate nickt ernst. »Klar. Streng geheim.«

Martin kam zurück und gab ihr zwei gelbe Notizblöcke.

Kate griff nach Suryas Arm und vergewisserte sich, dass er ihr zuhörte. Sie hielt die Blöcke hoch. »Ab sofort schreibt ihr hier drauf, verstanden?«

Die Jungen nickten und nahmen die Blöcke. Sie blätterten sie Seite für Seite durch, um sicherzugehen, dass sie makellos waren. Als sie zufrieden waren, gingen sie zu ihren Schreibtischen, setzten sich und arbeiteten still weiter.

Kate und Martin verließen das Zimmer ohne ein weiteres Wort. Martin führte Kate den Flur entlang. »Findest du es klug, sie so weitermachen zu lassen?«, fragte Martin.

»Sie zeigen es nicht, aber sie haben Angst. Und sie sind durcheinander. Mathematik macht ihnen Spaß und lenkt sie ab.«

»Ja, aber ist es gesund, wenn sie sich da so reinsteigern? Geht es ihnen dann nicht schlechter?«

Kate blieb stehen. »Schlechter als was?«

»Also, Kate …«

»Die meisten erfolgreichen Menschen sind einfach von etwas besessen – von etwas, das die Welt braucht. Die Jungen haben etwas Produktives gefunden, das ihnen gefällt. Das tut ihnen gut.«

»Ich meinte nur … dass es sie verstören würde, wenn wir sie wegbringen müssen.«

»Müssen wir sie wegbringen?«

Martin seufzte und wandte den Blick ab. »Setz deinen Hut auf.« Er führte sie durch einen weiteren Flur und steckte eine Magnetkarte in die Tür am Ende. Als er die Tür öffnete, wurde Kate vom Sonnenlicht geblendet. Sie schirmte ihre Augen ab und versuchte, mit Martin Schritt zu halten.

Allmählich konnte sie ihre Umgebung erkennen. Sie hatten ein einstöckiges Gebäude verlassen, das am Rand der Ferienanlage gleich an der Küste stand. Zu ihrer Rechten ragten drei weißgetünchte Hoteltürme über die opulenten tropischen Bäume und das gepflegte Gelände auf. Die glamourösen Gebäude bildeten einen scharfen Kontrast zu dem drei Meter hohen Maschendrahtzaun mit Stacheldrahtkrone, der das Gelände umgab. Im Tageslicht sah es aus wie eine Ferienanlage, die in ein Gefängnis verwandelt worden war. Dienten die Zäune dazu, die Leute drinnen zu halten – oder draußen? Oder beides?

Mit jedem Schritt wurde der strenge Geruch, der in der Luft hing, intensiver. Was war das? Krankheit? Tod? Vielleicht, aber es roch auch nach etwas anderem. Kate blickte zum Fuß der Türme, um die Ursache auszumachen. Dort standen unter langen weißen Zeltdächern Menschen mit Messern an Tischen und verarbeiteten etwas. Fisch.

»Wo sind wir?«

»Im Orchid-Getto von Marbella.«

»Ein Orchid-Distrikt?«

»Die Leute darin nennen es Getto, aber ja.«

Kate musste laufen, um zu ihm aufzuschließen. Sie hielt den Sonnenhut auf ihrem Kopf fest. Der Anblick dieses Ortes und der Zäune verlieh Martins Worten mehr Gewicht.

Sie blickte zu dem Wellnessgebäude zurück. Die Wände und das Dach waren mit stumpfen grauen Platten abgedeckt. Blei, war ihr erster Gedanke. Im Schatten der glitzernden weißen Türme wirkte das kleine graue Gebäude an der Küste seltsam.

Während sie den Weg entlanggingen, bekam Kate mehr von dem Lager zu sehen. In jedem Gebäude standen in jedem Stockwerk mehrere Leute, die durch die gläsernen Schiebetüren nach draußen blickten, aber niemand war auf einem der Balkone. Dann erkannte sie den Grund dafür: Eine gezackte silberne Narbe zog sich über die Metallrahmen der Türen. Sie waren zugeschweißt.

»Wo bringst du mich hin?«

Martin zeigte auf ein einstöckiges Gebäude vor ihnen. »Zum Krankenhaus.« Das »Krankenhaus« war zweifellos ein großes Strandrestaurant auf dem Gelände der Ferienanlage gewesen.

Am anderen Ende des Lagers, hinter den weißen Türmen, hielt ein Lkw-Konvoi mit röhrenden Motoren vor dem Tor. Kate blieb stehen, um zuzusehen. Die Laster waren alt und verbargen ihre Fracht unter flatternden grünen Planen, die über die Ladeflächen gespannt waren. Der Fahrer des ersten Lasters rief den Wachen etwas zu, und das Tor wurde geöffnet, um den Konvoi einzulassen.

Kate bemerkte blaue Fahnen an den Wachtürmen zu beiden Seiten des Tors. Zuerst dachte sie, es wären UN-Flaggen – hellblau mit einem weißen Symbol in der Mitte. Doch es war keine von Olivenzweigen eingerahmte Weltkugel. Es war eine Orchidee. Die weißen Blätter waren symmetrisch, aber von der Mitte breitete sich ein ungleichmäßiges rotes Muster aus, wie die Strahlen, die während einer Sonnenfinsternis hinter dem dunklen Mond hervorspähten.

Die Laster hielten gleich hinter dem Tor, und Soldaten begannen, Menschen herauszuzerren – Männer, Frauen und auch einige Kinder. Allen waren die Hände gefesselt, und einige rangen mit den Wachen und schrien auf Spanisch.

»Sie treiben die Überlebenden zusammen«, flüsterte Martin, als könnten sie ihn aus dieser Entfernung hören. »Es ist verboten, sich draußen aufzuhalten.«

»Warum?« Ein anderer Gedanke ging Kate durch den Kopf. »Es gibt Überlebende, die kein Orchid nehmen?«

»Ja. Aber … sie sind anders, als wir erwartet haben. Das wirst du gleich sehen.« Er führte sie zum Restaurant, und nachdem er kurz mit der Wache geredet hatte, wurden sie eingelassen – in eine mit Plastikfolie ausgekleidete Dekontaminationskammer. Sprinklerdüsen an der Decke und an den Seiten öffneten sich und hüllten sie in einen beißenden Nebel. Zum zweiten Mal war Kate froh, dass sie den Hut hatte. Eine kleine Ampel in der Ecke sprang von Rot auf Grün, und Martin schob sich durch den Plastikvorhang. Gleich hinter der Schwelle blieb er stehen. »Du brauchst den Hut nicht mehr. Jeder hier weiß, wer du bist.«

Als Kate den Hut vom Kopf zog, konnte sie den großen Raum zum ersten Mal richtig sehen – es war ein ehemaliger Speisesaal. Sie konnte kaum glauben, was sich dort abspielte. »Was ist hier los?«

Martins Stimme war sanft. »Die Welt ist nicht so, wie sie im Radio beschrieben wird. Das ist das wahre Ausmaß der Atlantis-Seuche.«

4

3 Kilometer unter der Operationsbasis Prisma

Antarktis

David Vale konnte den Blick nicht von seinem eigenen Leichnam abwenden. Er lag dort mit offenen Augen in einer Blutlache im Gang und starrte die Decke an. Eine weitere Leiche lag quer über ihm – die seines Mörders, Dorian Sloane. Sloane war übel zugerichtet; Davids letzte Schüsse hatten ihn aus kurzer Distanz getroffen. Gelegentlich löste sich ein Stück Hirnmasse von der Decke und tropfte zu Boden.

David sah zur Seite. Die Glasröhre, in der er sich befand, hatte einen Durchmesser von weniger als einem Meter, und durch die umherschwebenden weißen Nebelfetzen fühlte sie sich noch enger an. Er blickte durch die Halle, in der kilometerweit Röhren vom Boden bis zur Decke gestapelt waren, so hoch, dass er kein Ende erkennen konnte. In den anderen Röhren war der Nebel dichter und verbarg die Insassen. Der einzige Mensch, den er sehen konnte, stand in der Röhre ihm gegenüber. Sloane. Im Gegensatz zu David blickte er sich nicht um. Sloane starrte David reglos und mit hasserfüllten Augen an, nur gelegentlich zuckte ein Kiefermuskel.

David sah ihm kurz in die Augen, dann untersuchte er zum hundertsten Mal seine Röhre. In seiner CIA-Ausbildung hatte er so etwas nicht gelernt: wie man sich aus einer Schlafröhre in einem zwei Millionen Jahre alten Bauwerk drei Kilometer unter der Antarktis befreit. Es hatte einen Kurs über die Flucht aus einer Röhre in einem eine Million Jahre alten Bauwerk gegeben, aber den hatte David verpasst. Er lächelte über seinen eigenen lahmen Witz. Was immer mit ihm geschehen war, er hatte nicht sein Gedächtnis verloren – oder seinen Sinn für Humor. Als dieser Gedanke verging, erinnerte sich David, dass Sloane ihn ununterbrochen anstarrte, und er verkniff sich das Lächeln und hoffte, der Nebel habe es vor seinem Feind verborgen.

David spürte, dass ein weiteres Augenpaar ihn ansah. Er blickte sich erneut in der Halle um. Er entdeckte niemanden, aber er war sich sicher, dass dort jemand gewesen war. Er beugte sich vor, um tiefer in den Gang mit den Leichen sehen zu können. Nichts. Als er sich umdrehte, beunruhigte ihn etwas – Sloane. Er sah David nicht mehr an. David folgte seinem Blick in die riesige Halle. Zwischen den Röhren stand ein Mann. Zumindest sah er aus wie ein Mann. War er von draußen gekommen oder aus dem Inneren des Objekts? War er ein Atlanter? Wie auch immer, er war jedenfalls groß, über einen Meter achtzig, und trug einen engen schwarzen Anzug, der aussah wie eine Militäruniform. Seine Haut war weiß, fast durchsichtig, und er war glatt rasiert. Sein einziges Haar bestand aus einem dichten weißen Schopf oben auf dem Kopf, der ein wenig zu groß für den Körper schien.

Der Mann stand einen Moment lang da und sah zwischen David und Sloane hin und her, als schaute er sich auf der Pferderennbahn zwei Vollblüter an und überlegte, auf welchen er wetten sollte.

Dann durchbrach ein rhythmisches Geräusch die Stille und hallte durch den Raum: nackte Füße auf dem Metallboden. David sah in die entsprechende Richtung. Sloane. Er war draußen. Er humpelte, so schnell er konnte, zu den Leichen – und den Pistolen auf dem Boden daneben. Als David wieder zu dem Atlanter sah, glitt seine eigene Röhre auf. Er sprang hinaus, geriet ins Taumeln, weil seine Beine ihm nicht recht gehorchten, und schleppte sich voran. Sloane hatte bereits die Hälfte des Wegs zu den Waffen zurückgelegt.

6

3 Kilometer unter der Operationsbasis Prisma

Antarktis

Dorian hatte die Leichen – und die Waffen – in dem Gang vor der gewaltigen Halle fast erreicht. Hinter sich hörte er Davids nackte Füße über den Boden stapfen. Dorian wollte gerade losspringen, als David ihn umklammerte und bäuchlings zu Boden warf. Mit einem schrillen Quietschen rutschte er über den kalten Boden.

Sie landeten in der trocknenden Blutlache um die Leichen – ihren Leichen. Dorian reagierte schneller als sein Verfolger. Er hob seinen blutverschmierten Oberkörper weit genug, um David den Ellbogen ins Gesicht zu rammen.

David wurde nach hinten gestoßen, und Dorian nutzte die Gelegenheit. Er drehte sich um, warf David ab und kroch auf die Pistole zu, die nur zwei Meter entfernt lag. Er musste sie erreichen; es war seine einzige Chance. Dorian hätte es zwar niemals zugegeben, aber David war einer der besten Nahkämpfer, denen er jemals begegnet war. Es war ein Kampf auf Leben und Tod, und Dorian wusste, dass er ihn ohne die Pistole verlieren würde.

Dorian spürte, wie David die Fingernägel in die Rückseite seiner Oberschenkel bohrte und ihm dann einen Faustschlag ins Kreuz versetzte. Der Schmerz breitete sich bis in den Unterleib und die Brust aus. Eine Welle von Übelkeit überspülte ihn. Dorian würgte, als der zweite Schlag ihn ein Stück höher genau am Rückgrat traf. Er verlor das Gefühl in den Beinen. Als er zu Boden sackte, kroch David auf ihn, um ihm mit einem Schlag gegen den Hinterkopf den Rest zu geben.

Dorian setzte die Handflächen auf den blutigen Boden, stieß sich mit aller Kraft nach oben und warf den Kopf in den Nacken. Sein Schädel traf David am Kinn, sodass dieser das Gleichgewicht verlor.

Dorian fiel auf den Bauch zurück, robbte auf den Ellbogen voran und schleifte seine Beine durch das Blut. Als er sich die Pistole schnappte und herumwirbelte, landete David auf ihm. Dorian hob die Waffe, aber David packte sein Handgelenk. Aus dem Augenwinkel bemerkte Dorian, wie der Atlanter näher kam. Er sah emotionslos zu, wie ein Zuschauer bei einem Hundekampf, auf den er nicht gewettet hatte.

Dorian dachte nach – er musste sich irgendwie einen Vorteil verschaffen. Er löste die Spannung in seinen Armen und ließ sie schnell zu Boden fallen. David sackte nach vorn, ließ aber nicht los. Dorian drehte die Pistole in der rechten Hand, richtete sie auf den Atlanter und drückte den Abzug.

David ließ Dorians Linke los, um mit seiner rechten Hand nach der Waffe zu greifen. Dorian versteifte die linke Hand und stieß David die Fingerknöchel in den Solarplexus. Nach Luft schnappend, schwankte David zurück. Dorian befreite sich aus seinem Griff, hob die Pistole und jagte ihm eine Kugel in den Kopf. Dann drehte er die Waffe und schoss auf den Atlanter, bis das Magazin leer war.

7

3 Kilometer unter der Operationsbasis Prisma

Antarktis

Der Atlanter sah Dorian milde lächelnd an. Dorians Geschosse waren einfach durch ihn hindurchgeflogen. Dorians Blick schweifte zu der anderen Pistole.

»Willst du noch eine Waffe ausprobieren, Dorian? Nur zu. Ich warte. Ich habe alle Zeit der Welt.«

Dorian erstarrte. Das Ding wusste, wie er hieß. Und es hatte keine Angst.

Der Atlanter kam näher. Er trat in die Blutlache, aber nicht ein Tropfen blieb an seinen Füßen haften. »Ich weiß, weshalb du gekommen bist, Dorian.« Er sah Dorian an, ohne zu blinzeln. »Du bist heruntergekommen, um deinen Vater zu retten und deinen Feind zu töten – damit eure Welt sicher ist. Du hast gerade deinen einzigen Feind hier unten getötet.«

Dorian riss seinen Blick von dem Monstrum los und suchte den Raum nach etwas Nützlichem ab. Das Gefühl war in seine Beine zurückgekehrt. Er stand auf und taumelte zurück, weg von dem Atlanter. Der Atlanter beobachtete ihn lächelnd, machte aber keine Anstalten, ihm zu folgen.

Ich muss hier raus, dachte Dorian. Seine Gedanken überschlugen sich. Was brauche ich? Einen Schutzanzug. Sein Vater hatte Dorians Anzug angezogen. Kates Anzug war kaputt, aber vielleicht könnte er ihn reparieren. Die Anzüge der Kinder waren zu klein, doch das Material könnte er nutzen, um Kates Anzug zu flicken. Er musste sich nur einige Minuten vor der Kälte schützen – lang genug, um nach oben zu kommen und den Angriff zu befehlen.

Er drehte sich um und rannte den Gang entlang, aber die Türen vor ihm und um ihn herum schlugen zu, sodass es keinen Ausweg mehr gab.

Der Atlanter materialisierte sich vor Dorian. »Du kannst gehen, wenn ich es dir sage, Dorian.«

Dorian sah ihn mit einer Mischung aus Trotz und Entsetzen an.

»Wie hättest du es gern, Dorian? Auf die einfache oder auf die harte Tour?« Der Atlanter wartete, und als Dorian nicht reagierte, nickte er leidenschaftslos. »Also gut.«

Dorian spürte, wie die Luft aus dem Raum gesaugt wurde. Alle Geräusche verklangen, und ein harter Schlag traf ihn an der Brust. Er öffnete den Mund und versuchte vergeblich, Luft zu holen. Er sank auf die Knie. Vor seinen Augen blitzten Sterne auf. Der Boden schoss auf ihn zu, als er in die Dunkelheit fiel.

8

Orchid-Distrikt

Marbella, Spanien

Kate rollte Martin von sich herunter und untersuchte kurz seine Verletzungen. Blut floss aus einem Schnitt an seinem Hinterkopf. Sie vermutete, dass er eine leichte Gehirnerschütterung hatte, aber zu ihrer Überraschung blinzelte er nur ein paarmal und sprang auf. Er sah sich in dem Zimmer um, und Kate folgte seinem Blick. Der Großteil der Computer und der Geräte auf dem Tisch war zerstört.

Martin ging zu einem Schrank und nahm ein Satellitenfoto und zwei Pistolen heraus. Eine der Waffen reichte er Kate.

»Die Immari werden versuchen, dass Lager zu schließen«, sagte er, während er einen Rucksack packte. Er inspizierte kurz das thermoskannenähnliche Gerät auf dem Schreibtisch und stopfte es zusammen mit mehreren Notizbüchern und einem Laptop in den Rucksack. »Sie haben ein paar Mittelmeerinseln erobert, um zu testen, ob die Orchid-Staaten sich wehren können.«

»Und, können sie?«

Die Erschütterungen hatten aufgehört, und Kate wollte Martins Kopfverletzung behandeln, aber er lief zu schnell umher.

»Nein. Die Orchid-Allianz steht kurz vor dem Zusammenbruch. Alle Ressourcen – auch die militärischen – werden für die Orchid-Produktion gebraucht. Es kommt keine Hilfe. Wir müssen verschwinden.« Er stellte ein eiförmiges Gerät auf den Tisch und drehte an der Oberseite. Es begann zu ticken.

Kate versuchte sich zu konzentrieren. Martin zerstörte das Büro. Sie würden nicht hierher zurückkommen. Sofort dachte sie an die Jungen in dem Wellness-Gebäude. »Wir müssen Adi und Surya holen.«

»Kate, wir haben keine Zeit. Wir kommen zurück und holen sie später – mit den SAS-Soldaten, die unterwegs sind.«

»Ich lasse sie nicht zurück. Auf keinen Fall«, sagte Kate mit einer Bestimmtheit, die Martin nicht entgehen konnte. Er hatte sie mit sechs Jahren adoptiert, gleich nachdem ihr leiblicher Vater verschwunden war, und kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie keinen Kompromiss eingehen würde.

Er schüttelte in einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Unglauben den Kopf. »Okay, aber mach dich darauf gefasst, die hier zu benutzen.« Er zeigte auf die Pistole. Dann gab er den Code ein, um die Bürotür zu öffnen, ließ Kate hinausgehen und verschloss die Tür wieder.

Der Flur war voller Rauch, und am Durchgang zur Küche tobte ein Feuer. Schreie drangen zu ihnen heraus. »Gibt es noch einen anderen Ausgang?«

»Nein. Die Dekontaminationskammer ist der einzige Ausgang«, sagte Martin, während er vor sie trat. Er hob seine Pistole. »Wir rennen. Erschieß jeden, wirklich jeden, der dich aufhalten will.«

Kate blickte auf ihre Pistole. Plötzlich hatte sie Angst. Sie hatte noch nie eine Waffe abgefeuert und war sich nicht sicher, ob sie auf jemanden schießen konnte. Martin griff nach der Pistole, zog den Schlitten zurück und ließ irgendetwas klicken. »Es ist nicht schwierig. Einfach zielen und abdrücken.« Er drehte sich um und stürzte in die in Rauch und Flammen gehüllte Küche.

9

3 Kilometer unter der Operationsbasis Prisma

Antarktis

Dorian versuchte die verschwommene Gestalt zu erkennen. Er konnte kaum atmen – nur flache, abgehackte Züge, die ihm das Gefühl gaben zu ertrinken. Alles tat ihm weh. Die Lunge brannte, wenn die Luft eindrang.

Dann sah er die Gestalt scharf vor sich. Der Atlanter stand über ihm, beobachtete ihn und wartete … worauf?

Dorian wollte etwas sagen, aber er brachte nur ein Krächzen hervor und schloss die Augen. Jetzt bekam er ein wenig mehr Luft. Er schlug die Augen wieder auf. »Was … was willst du?«

»Dasselbe wie du, Dorian. Ich will, dass du die Menschheit vor dem Untergang bewahrst.«

Dorian sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an.

»Wir sind nicht das, wofür du uns hältst, Dorian. Wir würden dir nie etwas tun, so wie Eltern ihren Kindern nichts Böses antun.« Er nickte. »Es ist wahr. Wir haben euch geschaffen.«

»Schwachsinn«, stieß Dorian hervor.

Der Atlanter schüttelte den Kopf. »Das menschliche Genom ist viel komplexer, als ihr bisher wisst. Wir hatten eine Menge Probleme mit eurer Sprachfunktion. Es gibt eindeutig noch einiges zu tun.«

Dorian konnte jetzt wieder normal atmen und setzte sich auf. Was wollte der Atlanter von ihm? Wozu das ganze Theater? Er kontrollierte offensichtlich das Schiff. Wozu braucht er mich?

Der Atlanter antwortete, als hätte Dorian es laut ausgesprochen. »Mach dir keine Gedanken darüber, was ich will.« Auf der anderen Seite des Raums glitt die schwere Tür auf. »Komm mit.«

Dorian stand auf und zögerte einen Moment. Was bleibt mir anderes übrig? Er kann mich jederzeit töten. Ich spiele mit und warte auf eine gute Gelegenheit.

Der Atlanter führte Dorian einen weiteren schwach beleuchteten Gang mit grauen Metallwänden entlang. »Es ist erstaunlich, Dorian. Obwohl du intelligent bist, lässt du dich von deinem Hass und deiner Angst lenken. Denk doch einmal logisch: Wir sind in einem Raumschiff hergekommen, das auf physikalischen Gesetzen beruht, die deine Rasse noch nicht mal entdeckt hat. Ihr tuckert in lackierten Blechbüchsen, die die flüssigen Überreste von urzeitlichen Lebewesen verbrennen, über diesen winzigen Planeten. Glaubst du wirklich, ihr könntet uns im Kampf besiegen?«

Dorian dachte an die dreihundert Atomsprengköpfe, die um das Schiff herum bereitstanden.

Der Atlanter drehte sich zu ihm. »Glaubst du, wir wissen nicht, was eine Atombombe ist? Wir haben Atome gespalten, bevor ihr Feuerholz gespalten habt. Das Schiff kann der Gewalt jedes Atomsprengkopfs auf diesem Planeten standhalten. Du würdest nur das Eis auf diesem Kontinent schmelzen, die Erde überfluten und eure Zivilisation beenden. Sei vernünftig, Dorian. Wenn wir euch hätten töten wollen, wärt ihr längst tot, schon seit Zehntausenden von Jahren. Aber wir haben euch gerettet und uns seitdem um euch gekümmert.«

Der Atlanter musste lügen. Wollte er Dorian von dem Angriff abbringen?

Der Atlanter grinste. »Du glaubst mir immer noch nicht. Eigentlich sollte mich das nicht überraschen. Schließlich haben wir euch so programmiert, dass ihr alles tut, um zu überleben, und jede Bedrohung angreift.«

Dorian ignorierte ihn. Er streckte den Arm aus, trat näher zu dem Atlanter und fuhr mit der Hand durch ihn hindurch. »Du bist gar nicht hier.«

»Was du siehst, ist mein Avatar.«

Dorian blickte sich um. Zum ersten Mal verspürte er einen Hoffnungsschimmer. »Wo bist du?«

»Dazu kommen wir später.«

Eine Tür glitt auf, und der Atlanter ging hindurch.

Dorian folgte ihm. Zwei Schutzanzüge hingen an der Wand, und auf der Bank darunter stand ein glänzender silberner Aktenkoffer. Dorian begann, Fluchtpläne zu schmieden. Er ist nicht hier. Er ist nur eine Projektion. Kann ich ihn ausschalten?

»Ich habe dir schon gesagt, dass wir es auf die leichte oder auf die harte Tour machen können, Dorian. Ich lasse dich gehen. Jetzt zieh den Anzug an.«

Dorian warf einen Blick auf den Anzug und sah sich hektisch nach etwas um, das ihm nützlich sein könnte. Die Tür schlug zu, und Dorian spürte, dass die Luft aus dem Raum gesaugt wurde. Während er den Anzug anzog, nahm in seinem Kopf ein Plan Gestalt an. Er klemmte den Helm unter den rechten Arm. Der Atlanter zeigte auf den silbernen Koffer.

»Nimm den Koffer.«

Dorian betrachtete ihn.

»Was …«

»Keine Diskussionen mehr, Dorian. Nimm den Koffer, aber öffne ihn nicht. Egal, was passiert, mach den Koffer nicht auf.«

Dorian nahm den Koffer und folgte dem Atlanter aus dem Raum und mehrere Gänge entlang bis zu der Stelle, wo die Leichen lagen. Die Schiebetüren standen nun wieder offen, und die riesige Halle erstreckte sich vor ihnen. Dorian blickte zu der geöffneten Röhre, aus der David gekommen war. Er und David waren nach ihrem Tod in den Röhren »wiedergeboren« worden. Würde David noch einmal zurückkehren? Falls ja, könnte das Ärger bedeuten. Dorian zeigte auf die leere Röhre. »Was ist mit …«

»Ich habe mich um ihn gekümmert. Er kommt nicht zurück.«

Ein anderer Gedanke schoss Dorian durch den Kopf: die Zeitdifferenz. Sein Vater hatte siebenundachtzig Jahre hier unten verbracht, aber im Schiff waren nur siebenundachtzig Tage vergangen. Die Glocke am Eingang bildete eine Blase, in der die Zeit gedehnt wurde. Ein Tag im Inneren war ein Jahr außerhalb. Welches Jahr war nun draußen? Wie lange war er in der Röhre gewesen? »Welches Jahr …«

»Ich habe das Gerät, das ihr ›die Glocke‹ nennt, abgeschaltet. Es sind nur ein paar Monate vergangen. Jetzt geh. Ich sage es dir nicht noch einmal.«

Ohne ein weiteres Wort ging Dorian den Gang entlang. Auf dem Boden war eine dünne Blutspur – von seinem Vater. Zu Dorians Erleichterung wurden die Tropfen mit jedem Schritt kleiner und hörten schließlich ganz auf. Bald sind wir wieder zusammen und bringen die Sache zu Ende. Das, wovon er sein ganzes Leben geträumt hatte, schien wieder in Reichweite.

In der langgestreckten Dekontaminationskammer sah er Kates zerrissenen Anzug und die beiden kleinen Anzüge, die die Kinder aus ihrem Labor getragen hatten.

Dorian ging zum Eingangstor und setzte den Helm auf. Er wartete mit dem Koffer unter dem rechten Arm.

Als sich die drei Dreiecke des Tors auseinanderschoben, schritt Dorian schnell darauf zu. Kurz bevor er über die Schwelle trat, warf er den Koffer weg.

Dorian prallte gegen ein unsichtbares Kraftfeld, das so hart war wie eine Stahlwand, und wurde zurück in die Kammer geworfen.

»Vergiss dein Gepäck nicht, Dorian«, sagte die Stimme des Atlanters in seinem Helm.

Dorian hob den silbernen Koffer auf. Was habe ich für eine Wahl? Ich lasse den Koffer vor dem Eingang. Es spielt keine Rolle. Er verließ das Schiff und blieb stehen, um sich umzusehen. Es hatte sich nicht viel verändert, seit er durch das Tor hineingegangen war: eine Eiskammer mit hoher Decke, ein Schneehaufen, auf dem ein verbeulter Metallkorb und die Schlingen eines Drahtseils lagen, und ein Schacht mit einem Durchmesser von ungefähr drei Metern, der drei Kilometer weit nach oben führte. Doch etwas Neues war dort. In der Mitte der Kammer, gleich unter dem Schacht, standen drei mit einem Kabelstrang verbundene Atomsprengköpfe auf einer Stahlplattform. Ein Lämpchen nach dem anderen leuchtete an den Sprengköpfen auf, als sie scharf geschaltet wurden.

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Orchid-Distrikt

Marbella, Spanien