Departure - A. G. Riddle - E-Book

Departure E-Book

A. G. Riddle

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Beschreibung

Ein Wettlauf gegen die Zeit

Flug 305, auf dem Weg von London nach New York. Plötzlich fallen alle Systeme aus, das Flugzeug stürzt ab. Für die Passagiere ist diese Katastrophe erst der Anfang – denn die Welt ist nicht mehr die, die sie kennen. Als die Überlebenden auf ein Hologramm von Stonehenge stoßen, wird ihnen klar, dass sie weit in die Zukunft geschleudert worden sind – auf eine anscheinend entvölkerte Erde. Doch fünf von ihnen sind auserwählt, die Menschheit zu retten – oder sie zu vernichten ...

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Das Buch

Flug 305, auf dem Weg von London nach New York. Plötzlich fallen alle Systeme aus, das Flugzeug stürzt ab. Für die Passagiere ist diese Katastrophe nur der Anfang – denn die Welt ist nicht mehr die, die sie kennen. Als die Überlebenden auf ein Hologramm von Stonehenge stoßen, wird ihnen klar, dass sie weit in die Zukunft geschleudert worden sind - auf eine anscheinend entvölkerte Erde. Doch fünf von ihnen sind auserwählt, die Menschheit zu retten - oder sie zu vernichten ...

Der Autor

A. G. Riddle wuchs in North Carolina auf. Zehn Jahre lang beschäftigte er sich damit, diverse Internetfirmen zu gründen und zu leiten, bevor er sich aus dem Geschäft zurückzog. Seitdem widmet Riddle sich seiner wahren Leidenschaft: dem Schreiben. Seine ebenfalls bei Heyne erschienene Atlantis-Trilogie ist in Amerika schon jetzt ein Phänomen. Riddle lebt in Parkland, Florida.

A. G. RIDDLE

DEPARTURE

Aus dem Amerikanischen von Marcel Häußler

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe DEPARTURE erschien 2015 bei HarperCollins, London

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag ­keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Vollständige deutsche Erstausgabe 06/2016

Copyright © 2015 by A. G. Riddle

Published in agreement with the author, c/o Danny Baror International Inc, Armonk, New York, USA

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

Umschlagabbildung: Johannes Wiebel unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com (Steve Shoup, Peter Gudella, andreiuc88, Zwiebackesser, Andrey Kucheruk, Quintanilla)

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-18211-3V002

www.heyne.de

Dieser Roman ist frei erfunden, abgesehen von den Passagen, die es nicht sind.

Für die, die störrisch genug sind, um zu träumen.

TEIL I

ÜBERLEBENDE

1

Harper

In einer Stunde wird das Flugzeug landen, und dann muss ich die Entscheidung treffen, einen Entschluss, den ich bis ans Ende meiner Tage bereuen könnte. Je nachdem, wie die Dinge laufen, könnte er zu Chaos und Armut führen. Oder zu größter Glückseligkeit. Die Chancen stehen fünfzig-fünfzig, würde ich sagen. Ich habe keine Angst davor. Manchmal denke ich sogar mehrere Sekunden lang nicht an die Entscheidung.

Wie die meisten Schriftsteller komme ich nicht viel herum. Mein Einkommen ist bescheiden. Ich fliege normalerweise Economy, und in neun von zehn Fällen sitze ich eingeklemmt zwischen einem Fieberkranken, der immer dann hustet, wenn ich nicht damit rechne, und einem verheirateten Mann, der früher oder später zwangsläufig fragt: »Wie kommt es, dass ein süßes kleines Ding wie Sie immer noch Single ist?« Ich hege den Verdacht, dass die Fluggesellschaften mich in ihrem System markiert haben: »Beschwert sich nicht, kann in die mieseste Reihe gesetzt werden.«

Aber nicht bei diesem Flug.

Vor ungefähr sechs Stunden habe ich eine magische Welt betreten, einen Ort, der nur für kurze Zeit zwölf Kilometer über der Erdoberfläche existiert: die erste Klasse eines Langstreckenflugs. Dieses paradiesische Land, das sich materialisiert und dematerialisiert wie ein Paralleluniversum, hat seine eigenen Gebräuche und Rituale. Ich habe alles verinnerlicht, weil ich weiß, dass dies wahrscheinlich mein letzter Blick darauf sein wird. Das Ticket kostet vermutlich so viel wie zwei Monatsmieten für meine mikroskopisch kleine Wohnung in London. Ich hätte lieber das Geld in bar bekommen, aber das Ticket ist ein Geschenk oder, genauer gesagt, ein Manipulationsversuch des Milliardärs, der mich bei unserem Meeting in New York vor die Entscheidung gestellt hat. Ich darf jetzt nicht darüber nachdenken.

Der Flug von New York nach London dauert knapp sieben Stunden. Alle fünfzehn Minuten schalte ich den Bildschirm um, um zu sehen, wo das Flugzeug ist. Ich wünschte, wir würden immer weiterfliegen, bis uns der Treibstoff ausgeht. Vielleicht stecke ich der Stewardess einen Zettel zu: »Wenn wir unter zwölftausend Meter sinken, geht die Bombe hoch!«

»Hey, muss man hier erst grob werden, damit man noch was zu trinken kriegt? Und was ist eigentlich mit dem Internet los?«

Ärger im Paradies. Soweit ich weiß, gibt es unter den zehn Einwohnern im Erste-Klasse-Land nur zwei Unzufriedene. Ich nenne diesen Unruheherd »die Reihe der schlechten Laune und der scharfen Bemerkungen«. Ihre Bewohner sind Mitte dreißig und veranstalten seit dem Start einen Trink- und Sarkasmuswettbewerb. Einen der beiden kenne ich, nämlich den Typen, der gerade seiner Bestellung Nachdruck verliehen hat, und ich weiß, was ihn quält, weil ich darin verwickelt bin. Er heißt Grayson Shaw, und ich habe mir größte Mühe gegeben, ihm aus dem Weg zu gehen.

»Hey, ich rede mit Ihnen«, brüllt Grayson.

Eine schlanke Stewardess, auf deren Namensschild »Jillian« steht, streckt den Kopf aus der Bordküche und lächelt müde. »Sir, der Kapitän hat die Anschnallzeichen eingeschaltet und den Service einstellen …«

»Mein Gott, werfen Sie mir einfach zwei Fläschchen rüber. Wir sind ungefähr zwei Meter auseinander.«

»Ignorieren Sie ihn, Jillian«, sagt der andere Schlechtgelaunte. »Zwei Fläschchen können sein Problem nicht lösen.«

»Danke, 2A. Sehr einfühlsam.«

Grayson springt auf, während eine neue Welle von Turbulenzen das Flugzeug erschüttert. Ich spüre, wie er an meiner Kopfstütze zieht, als er nach vorn taumelt. Sein langes blondes Haar fällt ihm ins Gesicht, sodass er mich nicht sehen kann, und ich bin froh darüber. Er bleibt vor meinem Sitz in der ersten Reihe am Eingang der Bordküche stehen.

»Okay, das ist doch nicht so schwierig. Sie sind eine Kellnerin über den Wolken. Geben Sie mir die Flaschen.«

Jillians aufgesetztes Lächeln verschwindet. Sie greift nach etwas, aber in diesem Moment klingelt das Bordtelefon, und sie nimmt stattdessen den Hörer ab.

Grayson massiert sich die Schläfen und dreht sich zur Seite. Er fängt meinen Blick auf. »Sie. Mein Gott, der Flug wird ja immer schlimmer.«

Er will sich gerade auf mich stürzen, als sich der andere Schlechtgelaunte unangenehm dicht vor Grayson aufbaut. Er ist ziemlich gut aussehend und hat kurzes schwarzes Haar, ein schmales Gesicht und unerschrockene Augen.

Grayson sieht ihn eine Sekunde lang an, dann neigt er den Kopf zur Seite. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Eigentlich bin ich gekommen, um Ihnen zu helfen.«

Normalerweise stehe ich nicht auf solche Macho-Auftritte, aber ich muss zugeben, ich mag den Helden von 2A.

Es gibt neue Turbulenzen, und dann geht es los. Der Donner ist ohrenbetäubend. Die Zeit scheint sich zu dehnen. Die beiden Schlechtgelaunten rollen vor mir auf dem Boden herum. Vielleicht kämpfen sie, ich kann es nicht sagen.

Chaos bricht aus. Die Stewardessen rennen durch das Flugzeug, verstauen Gegenstände und schreien die Passagiere an, dass sie sich wieder hinsetzen und anschnallen sollen. Eine Stimme dringt aus den Lautsprechern, aber ich verstehe nicht, was sie sagt.

An der Decke springen Klappen auf, und vor mir baumelt eine Sauerstoffmaske, eine runde gelbe Plastikschüssel mit flachem Boden. Sie hüpft an einem durchsichtigen Schlauch auf und ab wie eine herabhängende Piñata, knapp außer Reichweite.

Grayson ist verschwunden – ich weiß nicht, wohin, und es ist mir auch egal. Der andere Schlechtgelaunte steht auf, stützt sich an der Trennwand ab, späht mit zusammengekniffenen Augen durch das Flugzeug und sieht hin und her, als taxiere er die Lage.

Schließlich lässt er sich auf den Sitz neben mir fallen und schnallt sich an.

»Hallo.«

»Hallo.« Meine Lippen formen das Wort, aber ich bin nicht sicher, ob man mich durch den Tumult hören kann.

»Verstehen Sie mich?«

Aus irgendeinem Grund ist seine Stimme kristallklar. Er hat einen amerikanischen Akzent, und sein ruhiger Tonfall steht in scharfem Kontrast zu dem Chaos um ihn herum. Wir beide scheinen uns in einer Blase zu befinden, während draußen in schwindelerregendem Tempo die Welt auseinanderbricht.

»Ja.« Jetzt höre ich meine eigene Stimme wieder, aber so, als käme sie aus weiter Ferne.

»Schnallen Sie sich an, und legen Sie den Kopf zwischen die Knie. Verschränken Sie die Hände im Nacken. Gucken Sie nicht nach oben.«

»Warum?«

»Ich glaube, wir stürzen ab.«

2

Nick

Ich lebe, aber es ging mir schon besser.

Alles tut mir weh. Der leichte Schwips ist pochendem Kopfschmerz gewichen. Am schlimmsten fühlt sich mein Becken an. Ich habe den Gurt vor dem Aufprall nach unten gezogen, um meine inneren Organe zu schützen. Es hat funktioniert, zulasten meiner Hüfte. Ich will mich losschnallen, halte aber inne.

Es ist zu still.

Die Beleuchtung ist erloschen, nur schwaches Mondlicht sickert durch die Fenster. Hinter mir höre ich leises Stöhnen. In dieser 777 saßen ungefähr zweihundertfünfzig Leute, als sie auf dem JFK-Flughafen startete. Wenn auch nur ein Bruchteil überlebt hat, müsste die Kabine von Stimmengewirr oder Schreien erfüllt sein. Die relative Stille ist ein schlechtes Zeichen.

Mein Kopf ist klar, und ich glaube, ich kann laufen. Vielleicht bin ich einer von wenigen Überlebenden in vernünftiger Verfassung. Ich muss den anderen helfen. Zum ersten Mal, seit – hm, seit ich mich erinnern kann, fühle ich mich fast normal, voller Tatendrang und Energie. Ich fühle mich lebendig.

Die Frau neben mir hat sich noch nicht gerührt. Sie hat sich vorgebeugt, den Kopf zwischen die Beine geklemmt und die Hände im Nacken verschränkt, so wie ich es ihr geraten habe.

»Hey.« Meine Stimme krächzt.

Sie bewegt sich nicht.

Ich strecke die Hand aus und streiche ihr blondes Haar zurück. Sie dreht sich ein wenig, sieht aus einem blutunterlaufenen Auge zu mir auf und hebt langsam den Kopf, sodass ich ihr schmales Gesicht sehen kann. Das andere Auge ist ebenfalls blutunterlaufen. Ein Bluterguss zieht sich von der Schläfe bis zum Kinn.

»Alles in Ordnung?«

Sie nickt und schluckt. »Ja, ich glaub schon.«

Was jetzt? Soll ich ihren Geisteszustand überprüfen? »Wie heißen Sie?«

»Harper. Harper Lane.«

»Was ist Ihr Geburtsdatum?«

»Elfter Dezember.« Sie lächelt ein wenig und verrät mir nicht das Jahr.

Ja, es geht ihr gut. Sie scheint Ende zwanzig oder Anfang dreißig zu sein, und sie kommt aus England; das war mir noch nicht aufgefallen. Wahrscheinlich ist sie auf dem Heimweg nach London.

»Warten Sie, ich bin gleich zurück.«

Jetzt kommt der Test. Ich löse meinen Sicherheitsgurt, stehe auf und taumle sofort gegen die Wand. Das Flugzeug ist um ungefähr dreißig Grad nach vorn und leicht nach links geneigt. Ich lehne mich gegen die Zwischenwand und warte, bis der Schmerz nachlässt.

Als ich den Kopf drehe und zum ersten Mal einen Blick nach hinten in den Gang werfe, erstarre ich vor Schreck.

Das Flugzeug ist weg. Zumindest der größte Teil davon. Es sind nur noch die Kabinen der ersten und der Business-Klasse übrig. Gleich hinter der Business-Klasse ragen von allen Seiten Äste in die gezackte Öffnung. An den Rändern blitzen elektrische Funken vor dem dunklen Wald auf. Die große Mehrheit der Passagiere befand sich in der Economy-Klasse, und davon ist keine Spur zu sehen – nur Bäume und stiller Wald. Der Rest des Flugzeugs könnte hundert Kilometer entfernt sein. Oder in eine Million Teile zerbrochen. Ich bin überrascht, dass uns das nicht passiert ist.

Vor mir höre ich rhythmisches Klopfen. Leicht schwankend taste ich mich um die Wand herum, die die erste Klasse von der Bordküche trennt. Es ist Jillian, die Stewardess, die gegen die Cockpittür hämmert.

»Sie kommen nicht raus«, sagt sie, als sie mich sieht.

Bevor ich etwas entgegnen kann, tritt sie zur Wand zurück, greift nach dem Telefon, lauscht eine Sekunde und lässt dann den Hörer fallen. »Tot.«

Ich glaube, sie steht unter Schock. Was ist jetzt das Wichtigste? Ich blicke zurück zu den Funken, die aus dem verdrehten Metall sprühen. »Jillian, könnte ein Feuer ausbrechen?«

»Feuer?«

»Ja. Gibt es Treibstoff in diesem Teil?« Es kommt mir wie eine vernünftige Frage vor, aber wer weiß?

Jillian sieht verwirrt an mir vorbei. »Es sollte kein Feuer geben. Der Kapitän hat das Kerosin abgelassen. Oder ich dachte …«

Ein Mann mittleren Alters hebt in der ersten Klasse den Kopf. »Feuer?«

Die Leute um ihn herum beginnen, das Wort schnell zu wiederholen.

»Wo sind wir?« Das scheint die nächste logische Frage.

Jillian starrt nur vor sich hin, aber Harper sagt: »Wir waren über England.« Als ich ihr in die Augen sehe, fügt sie hinzu: »Ich habe … auf die Positionsanzeige auf dem Monitor geschaut.«

Das ist die erste gute Nachricht, aber ich habe keine Gelegenheit, lange darüber nachzudenken. Das Wort Feuer ist an die falschen Ohren gedrungen.

»Es brennt! Wir müssen hier raus!«, schreit jemand. Überall im Flugzeug klettern die Leute von ihren Sitzen. Eine panische Menge von ungefähr zwanzig Menschen versammelt sich in dem engen Raum. Einige Passagiere lösen sich daraus und stürmen nach hinten zu der gezackten Öffnung, machen jedoch kehrt, weil sie Angst haben, zu springen. Neben »Feuer!« wird jetzt auch »Wir sitzen in der Falle!« gerufen, und langsam gerät die Lage außer Kontrolle. Eine weißhaarige Frau in der Business-Klasse verliert das Gleichgewicht und stürzt. Leute treten auf sie, als sie nach vorn laufen, wo Jillian und ich stehen. Die Schreie der Frau können die Menge nicht aufhalten.

Sie stürmt weiter, direkt auf uns zu.

3

Nick

Die heranstürmende Menge zwingt Jillian, sich zu konzentrieren. Sie breitet die Arme aus, aber ihre Stimme lässt sie im Stich. Durch das Gebrüll kann ich sie kaum hören.

Ich trete vor sie in den Gang, und meine eigene Stimme ist lauter und klarer, als ich erwartet habe. »Stopp. Bleiben Sie stehen, Sie verletzen die Frau! Hören Sie zu: Es. Gibt. Kein. Feuer.« Ich spreche von Wort zu Wort langsamer und ruhiger, und die Ruhe überträgt sich auf die Menge. »Okay? Kein Feuer. Keine Gefahr. Bleiben Sie ruhig.«

Einige Leute schieben noch, aber die Menge bleibt stehen. Aller Augen richten sich auf mich.

»Wo sind wir?«, kreischt eine Frau.

»In England.«

Die Worte breiten sich im Flüsterton in der Menge aus, als wäre es ein Geheimnis.

Jillian kommt hinter mir hervor und stützt sich an einem Sitz ab.

Plötzlich beginnt die Menge, mir Fragen an den Kopf zu werfen, wie Journalisten in den letzten Sekunden einer Pressekonferenz im Weißen Haus.

»Hilfe ist unterwegs«, höre ich mich sagen. »Im Moment ist es das Wichtigste, Ruhe zu bewahren. Wenn Sie in Panik ausbrechen, kommen Menschen zu Schaden, und jeder, der dafür verantwortlich ist, wird strafrechtlich verfolgt.« Ich zögere und füge dann sicherheitshalber hinzu: »Die Medien werden rausfinden, wer nach dem Unglück Ärger gemacht hat, deshalb können Sie sich darauf einstellen, dass Ihr Gesicht in den Nachrichten auftaucht.« Die Drohung öffentlicher Demütigung – die größte Furcht der meisten Menschen – scheint Wirkung zu zeigen. Der Tumult legt sich. Die Leute werfen sich jetzt misstrauische Seitenblicke zu, als fragten sie sich, ob ihr Nachbar sie verpfeifen wird, weil sie rücksichtslos zum Ausgang gestürmt sind.

»Wenn Sie Schmerzen haben, bleiben Sie, wo Sie sind. Bei inneren Verletzungen ist Bewegung das Schlimmste, was man machen kann. Die Rettungskräfte werden Sie untersuchen, sobald sie eintreffen, und dann entscheiden, wann und wie Sie rausgeholt werden.« Klingt gut.

»Wo ist der Kapitän?«, fragt ein übergewichtiger Mann mittleren Alters.

Glücklicherweise (oder unglücklicherweise) gehen mir die Lügen weiter leicht über die Lippen: »Er koordiniert gerade die Rettungsarbeiten.«

Jillian wirft mir einen verwirrten Blick zu. Sie scheint zu überlegen, ob das eine gute Nachricht oder eine Lüge ist. Ich frage mich, wie hilfreich sie sein wird.

»Wer sind Sie?«, schreit ein anderer Reisender.

»Er ist nur ein Passagier, genau wie wir.« Anscheinend hat der betrunkene Idiot von 2D überlebt, leider. Er starrt mich aus glasigen Augen an. »Ignorieren Sie den Spinner.«

Ich zucke die Achseln. »Natürlich bin ich ein Passagier – was denn sonst? Und jetzt hören Sie mir zu. Jeder, der laufen kann, wird das Flugzeug auf gesittete Weise verlassen. Setzen Sie sich alle auf den nächsten Platz, und warten Sie, bis Sie aufgerufen werden. Diese junge Frau« – ich nicke Jillian zu – »öffnet gleich den Notausgang, und wenn sie Ihre Reihe aufruft, tun Sie, was sie sagt. Falls ein Arzt an Bord ist, soll er sofort zu mir kommen.«

Jillian öffnet die linke Tür im Bug, und ich höre, wie die Notrutsche sich aufbläst. Ich stehe neben ihr und sehe hinaus. Die Rutsche verhakt sich in den Bäumen, aber sie wird die Passagiere sicher auf den ungefähr zwei Meter unter uns liegenden Boden bringen. Die Nase befindet sich immer noch knapp über der Erde. Der gesamte Flugzeugteil wird von Bäumen in der Luft gehalten, aber er fühlt sich einigermaßen stabil an.

»Was jetzt?«, fragt Jillian leise.

»Lassen Sie erst die hinteren Reihen aussteigen.« Ich vermute, dass sich das Flugzeug so am wenigsten verschiebt.

Fünf Minuten später bildet sich eine Schlange vor der Rutsche, und die Lage wird übersichtlicher. Es sieht aus, als hätten in der ersten Klasse alle überlebt, aber in der Business-Klasse bewegen sich viele – vielleicht die Hälfte der zwanzig Passagiere – nicht.

Eine Frau Anfang vierzig mit schulterlangem schwarzen Haar bleibt neben mir an der Türschwelle stehen. »Sie haben nach einem Arzt gefragt?« Sie hat einen leichten Akzent – deutsch, glaube ich.

»Ja.«

»Ich bin Dr. med., aber ich praktiziere nicht als Ärztin.«

»Tja, heute schon.«

»Okay«, sagt sie immer noch zögerlich.

»Jillian gibt Ihnen einen Erste-Hilfe-Koffer. Ich möchte, dass Sie die verbliebenen Passagiere untersuchen und nach Dringlichkeit behandeln. Zuerst alle, die in Lebensgefahr schweben, dann die Kinder, dann die Frauen, dann die Männer.«

Wortlos begibt sich die Ärztin mit Jillian an ihrer Seite zurück in die Kabine. Ich beziehe am Ausgang Stellung, um sicherzugehen, dass die Leute genug Abstand halten, damit sie auf der Rutsche nicht zusammenprallen. Schließlich sehe ich zu, wie die letzte Passagierin nach unten gelangt: die ältere Frau, die beinahe niedergetrampelt worden wäre. Ihre Füße erreichen den Boden, und ein älterer Mann, vermutlich ihr Ehemann, nimmt ihre Hand und hilft ihr auf. Er nickt mir langsam zu, und ich nicke zurück.

Aus der Bordküche zwischen der ersten und der Business-Klasse hören ich das Klirren von Flaschen und eine wütende Stimme: 2D streitet mit jemandem.

Ich gehe zurück und sehe 2D vor Harper stehen, die ihn gequält ansieht. Er hat ein Dutzend Fläschchen auf dem schrägen Tisch aufgereiht. Die Hälfte ist leer, und 2D schraubt gerade den Deckel von einem Tanqueray-Gin.

»Hören Sie auf, das Zeug zu trinken«, fahre ich ihn an. »Es könnte sein, dass wir es für medizinische Zwecke brauchen.« Vielleicht gehen uns die Antiseptika aus, bevor Hilfe kommt, dann ist Schnaps besser als gar nichts.

»Ich brauche es jetzt schon für meine eigenen medizinischen Zwecke.«

»Das ist mein Ernst. Lassen Sie die Flaschen stehen, und steigen Sie aus.«

Er greift theatralisch nach dem Bordtelefon. »Eine Runde Applaus für Captain Crash, den Minibar-Nazi.« Er ahmt das Tosen der Menge nach, kippt den Gin hinunter und wischt sich über den Mund. »Ich sage Ihnen was. Schließen wir einen Kompromiss. Sie können die Flaschen haben, sobald ich damit fertig bin.«

Ich trete auf ihn zu. Harper schiebt sich zwischen uns. Eine Hand legt sich fest auf meine Schulter und hält mich auf.

Es ist die Ärztin.

»Ich bin fertig«, sagt sie. »Sie müssen sich das ansehen.«

Ihr Tonfall bringt mich ein wenig aus dem Konzept. Ich werfe 2D einen scharfen Blick zu, ehe ich mich umdrehe und mit Harper an meiner Seite der Ärztin folge.

Sie bleibt bei dem Sitz eines farbigen Passagiers mittleren Alters im Geschäftsanzug stehen. Er lehnt reglos an der Wand, und sein Gesicht ist mit getrocknetem Blut bedeckt.

»Der Mann ist durch stumpfe Gewalteinwirkung auf den Kopf gestorben«, sagt die Ärztin. »Er ist gegen die Rückenlehne vor ihm und die Seitenwand geprallt. Er war angeschnallt, aber die Sitze in der Business-Klasse stehen nicht so weit auseinander wie in der ersten Klasse. Die peitschende Bewegung durch den Sturzflug und den Aufprall war tödlich für die schwächeren und größeren Passagiere, deren Kopf gegen den Sitz vor ihnen schlagen konnte. Er ist einer von drei Toten.« Sie zeigt auf die sieben Leute, die noch in der Business-Klasse sitzen. »Vier leben noch, sind aber bewusstlos. Ich bin nicht optimistisch, was sie angeht. Einen würde ich lieber nicht bewegen. Drei sind ziemlich mitgenommen, aber sie könnten durchkommen, wenn wir sie ins Krankenhaus schaffen.«

»Okay. Danke, Doktor.«

»Sabrina.«

»Nick Stone.« Wir reichen uns die Hände, und Jillian und Harper stellen sich ebenfalls vor.

»Ich wollte Ihnen das zeigen«, sagt Sabrina, »weil wir wahrscheinlich alle ein Kopftrauma erlitten haben. Sämtliche Überlebenden müssen unbedingt ihren Blutdruck im normalen Bereich halten. Jeder von uns könnte ein asymptomatisches Kopftrauma haben, das zu einem Schlaganfall oder einer Hirnblutung führen kann, wenn wir uns aufregen oder überanstrengen.«

»Gut zu wissen.« Was jetzt? Die drei Frauen sehen mich gespannt an und warten auf Anleitung.

Mein erster Gedanke gilt dem Hauptteil des Flugzeugs. Wenn es den Passagieren in der Business-Klasse schon so übel ergangen ist, dann mag ich mir nicht vorstellen, wie es in der Economy aussieht, wo die Sitze enger zusammenstehen und der Peitscheneffekt während des Auseinanderbrechens und des Aufpralls noch verheerender gewesen sein muss. Falls es in der hinteren Hälfte des Flugzeugs Überlebende gibt, brauchen sie dringend Hilfe.

»Wir müssen den Rest des Flugzeugs finden.«

Leere Blicke.

Ich konzentriere mich auf Jillian. »Gibt es eine Möglichkeit, die Leute dort zu kontaktieren?«

Sie schüttelt den Kopf und wirkt verwirrt. »Das Telefon ist tot.«

Telefon. »Was ist mit ihren Handys? Kennen Sie die Stewardessen aus dem hinteren Teil? Haben Sie ihre Nummern?«

»Ja.« Jillian holt ihr Handy hervor und schaltet es an. »Kein Signal.«

Bei meinem Telefon sieht es auch nicht besser aus.

»Ich wohne in Heidelberg«, sagt Sabrina. »Vielleicht … nein, ich habe auch keinen Empfang.«

»Ich bin bei EE«, sagt Harper, aber sie hat ebenfalls keinen Empfang.

»Okay«, sage ich. »Ich suche nach ihnen.«

»Ich komme mit«, sagt Harper.

Jillian erklärt sich ebenfalls bereit, aber wir beschließen, dass sie bei den übrigen Passagieren bleiben soll, bis Hilfe eintrifft. Während Harper Vorräte einsammelt, bemerke ich einen Asiaten, vielleicht Ende zwanzig, der sich in der Business-Klasse über einen Laptop beugt, dessen Bildschirm die ansonsten dunkle Kabine erhellt.

»Hey.«

Er blickt auf, mustert mich kurz und tippt dann weiter.

»Sie müssen aussteigen.«

»Warum?« Er macht sich nicht die Mühe, noch einmal den Kopf zu heben.

Ich senke meine Stimme und gehe in die Hocke, um ihm in die Augen zu sehen. »Es ist sicherer am Boden. Das Flugzeug fühlt sich stabil an, aber es wird nur von Bäumen gestützt, die jederzeit nachgeben können. Wir könnten uns bald drehen oder runterfallen.« Ich zeige auf das zerrissene Metall hinter ihm, wo immer noch gelegentlich Funken sprühen. »Und es könnte ein Feuer ausbrechen. Wir wissen es nicht genau.«

»Es bricht kein Feuer aus.« Er tippt weiter, und seine Augen bewegen sich schnell hin und her. »Ich muss das fertig machen.«

Ich glaube, dass seine Excel-Tabelle noch ein bisschen warten kann, aber Harper kommt zu mir und reicht mir eine Flasche Wasser, deshalb beschließe ich, mich auf die Schlachten zu konzentrieren, die ich gewinnen kann.

»Vergessen Sie nicht«, sagt Sabrina, »jede übermäßige Anstrengung kann tödlich sein. Auch wenn Sie keine Schmerzen haben, könnte Ihr Leben auf dem Spiel stehen.«

»Kapiert.«

Sobald wir gehen, begibt sich Sabrina zu dem jungen Asiaten und fängt an, leise mit ihm zu reden. Als wir den Ausgang erreicht haben, schreien sich die beiden nahezu an. Keine Arzt-Patienten-Beziehung. Sie kennen sich. Irgendwas an der Szene kommt mir seltsam vor, aber ich kann jetzt nicht darüber nachdenken.

Am Fuß der Rutsche liegen drei Passagiere gekrümmt auf dem Boden oder lehnen an Bäumen und halten sich den Kopf. Aber ich habe über zwanzig Leute aussteigen sehen. Wo sind sie alle? Ich starre in den Wald.

Nach einer Weile kann ich Lichter zwischen den Bäumen umherschweifen sehen. Sie entfernen sich vom Flugzeug, manche rennend – ein Strom von Menschen, der sich durch die Dunkelheit erstreckt. Das Licht muss von den Taschenlampen-Apps ihrer Handys kommen.

»Wo wollen die hin?«, frage ich in die Runde.

»Hören Sie es nicht?«, sagt eine Frau, die gleich neben der Rutsche am Boden sitzt, ohne den Kopf von den Knien zu heben.

Ich stehe still da und lausche. Dann höre ich es. Schreie aus der Ferne. Menschen, die um Hilfe rufen.

4

Harper

Nur das Licht der Mondsichel und der schwache Schein der Handys vor uns durchdringen den dichten englischen Wald. Die hellen Punkte schwingen in den Händen der rennenden Passagiere hin und her und blitzen im Rhythmus des Knackens der Äste unter ihren Schuhen auf.

Meine Beine brennen, und der Unterleib und das Becken schicken bei jedem Schritt Schmerzwellen durch den ganzen Körper. Die Worte Schlaganfall und Hirnblutung schießen mir zusammen mit der Warnung der Ärztin durch den Kopf: Jede übermäßige Anstrengung kann tödlich sein.

Ich muss eine Pause einlegen. Ich halte Nick auf, das weiß ich. Ohne etwas zu sagen, bleibe ich stehen, stütze die Hände auf die Knie und ringe verzweifelt um Atem.

Nick rutscht über den Waldboden, als er abrupt neben mir anhält. »Alles in Ordnung?«

»Ja«, sage ich keuchend. »Ich bin nur außer Atem. Laufen Sie weiter. Ich komme nach.«

»Die Ärztin hat gesagt …«

»Ich weiß. Mir geht’s gut.«

»Ist Ihnen schwindelig?«

»Nein. Alles in Ordnung.« Ich sehe zu ihm auf. »Wenn ich das hier überlebe, melde ich mich im Fitnessstudio an und gehe jeden Tag trainieren. Und ich trinke nicht mehr, bis ich einen Fünfkilometerlauf schaffe.«

»Wenn wir das überleben, steht bei mir ein ordentlicher Drink ganz oben auf der Tagesordnung.«

»Guter Einwand. Aber nach dem besagten Drink gehe ich sofort ins Fitnessstudio.«

Er blickt auf die Lichter, die sich wie ein Schwarm Glühwürmchen um etwas jenseits der Bäume versammeln, etwas, das ich noch nicht erkennen kann. Nicks Miene spiegelt absolute Konzentration wider. Ich frage mich, womit er sein Geld verdient. Ist es etwas in dieser Art? Krisenmanagement? Er ist gut darin; es liegt ihm, den Leuten Anweisungen zu geben. Mir nicht. Ich frage mich, worin wir uns sonst noch unterscheiden und ob wir überhaupt etwas gemeinsam haben.

»Ich bin wieder so weit«, sage ich, und wir laufen weiter, ein wenig langsamer als vorher. Nach einigen Minuten haben wir den Waldrand erreicht.

Nichts hätte mich auf diesen Anblick vorbereiten können.

Ungefähr zwanzig Leute stehen dicht beieinander gleich hinter den Bäumen am Ufer eines Sees, der sich bis zum Horizont erstreckt. Aber was mich in Angst und Schrecken versetzt, ist das Ding, das ungefähr fünfzehn Meter hoch aus dem Wasser ragt – das offene Ende des Hauptteils des Flugzeugs, der kurz vor dem Flügel abgebrochen ist. Das gezackte dunkle Loch sieht aus wie das Maul eines riesigen Fischs. Ich kann die erste Sitzreihe in der Kabine erkennen, aber sie ist leer.

Das Heck des Flugzeugs muss auf dem Grund des Sees liegen. Was hält den Mittelteil oben und lässt die Öffnung aus dem Wasser ragen? Das Fahrwerk? Die Turbinen? Was auch immer es ist, es gibt nach. Der untere Rand des zerrissenen Rumpfs schwebt sechs Meter über der Wasseroberfläche, aber er sinkt alle paar Sekunden ein wenig ab.

Es ist kalt für Mitte November. Mein Atem bildet weiße Wölkchen in der Nacht. Das Wasser muss eisig sein.

Im Flugzeug bewegt sich etwas. Ein Mann mit Halbglatze rennt den Gang hoch, bleibt aber vor dem Abgrund stehen. Er klammert sich an eine Rückenlehne, als er hinausspäht, und sein Gesicht ist weiß vor Angst, während er versucht, den Mut zu springen aufzubringen. Die Entscheidung wird ihm abgenommen. Ein stämmiger jüngerer Mann rammt ihn von hinten, und sie taumeln gemeinsam über die Kante, wobei der zweite Mann mit dem Bein kurz an einem verbogenen Metallstück hängen bleibt. Er dreht sich in der Luft und prallt in ungünstigem Winkel auf die Wasseroberfläche, verfehlt jedoch den ersten Mann. Meine Augen folgen der Bewegung, und ich stelle fest, dass zwei andere Passagiere dort unten strampeln und aufs Ufer zuschwimmen. Weitere, die es schon geschafft haben, drängen sich durchnässt und zitternd am Rand des Sees zusammen. Ich gehe näher heran, um aus den aufgeregten Gesprächsfetzen zu erfahren, was geschehen ist.

Wir sind rückwärts ins Wasser gefallen.

Die Wucht– ich dachte, ich würde durch meinen Sitz gedrückt.

Ich bin über drei Leute gekrochen. Alle tot, glaub ich. Ich weiß es nicht. Sie haben sich nicht bewegt. Was sollte ich denn machen?

Ich frage mich, wie kalt das Wasser ist, wie lange es dauert, bis man darin an Unterkühlung stirbt.

Ein Mann in marineblauem Blazer taucht in der Öffnung auf. Er geht an der Kante in die Hocke und rüstet sich für den Sprung, als Nicks dröhnende Stimme über den See hallt.

»Stopp! Wenn Sie springen, haben Sie alle auf dem Gewissen, die noch drin sind.«

Es ist verdammt dramatisch, aber er hat die Aufmerksamkeit des Mannes erregt, und meine und die aller anderen am Ufer auch.

Nick tritt nah ans Wasser. »Hören Sie«, ruft er dem Mann zu, »wir helfen Ihnen, aber Sie müssen alle Überlebenden zur Öffnung bringen.«

Der Mann im Flugzeug – ungefähr fünfzig, würde ich schätzen, und ziemlich beleibt – steht nur verwirrt da. »Was?«

»Konzentrieren Sie sich. Das Flugzeug sinkt. Wenn das Wasser erst in den Frachtraum läuft, wird es schnell untergehen. Sie müssen mit allen anderen, die bei Bewusstsein sind, zusammenarbeiten. Wecken Sie so viele wie möglich auf, dann finden Sie die Überlebenden, die sich nicht bewegen können, und bringen sie zur Öffnung. Wenn Sie das machen, kümmern wir uns um den Rest. Verstanden?«

Der Mann nickt langsam, aber ich sehe, dass er unter Schock steht. Er kann es nicht verarbeiten. Nick scheint es ebenfalls zu bemerken. Er fährt ruhiger und langsamer fort.

»Wie heißen Sie?«

»Bill Murphy.«

»Okay, Bill. Sie bringen alle Überlebenden zur Öffnung, und dann warten Sie. Alle zur Öffnung und warten. Verstanden?« Nick legt eine Pause ein, um seine Worte wirken zu lassen. »Bill, ist da noch jemand, der bei Bewusstsein ist?«

»Ich glaube schon … ja.«

»Wie viele?«

»Weiß ich nicht. Fünf. Zehn. Keine Ahnung. Es ist dunkel.«

»Okay. Gehen Sie jetzt, und sprechen Sie mit den anderen. Sagen Sie ihnen, dass sie helfen sollen, alle zur Öffnung zu bringen. Alle zur Öffnung und dann warten.«

Bill wendet sich ab und verschwindet in der Dunkelheit der Kabine. Ich gehe zu Nick. »Wie ist der Plan?«

»Ich arbeite noch daran«, sagte er leise mit einem Blick zu der Menge. Mittlerweile sind ungefähr dreißig Menschen am Ufer, blutbefleckte Passagiere aus dem vorderen Teil und nasse, zitternde Überlebende, die es aus dem See geschafft haben. Er dreht sich zu ihnen und erhebt die Stimme. »Kann jemand von Ihnen Herz-Lungen-Wiederbelebung?«

Zwei Hände werden gehoben, eine davon zögerlich.

»Gut. Ich möchte, dass Sie sich hier hinstellen. Manche der Leute, die rausgebracht werden, atmen möglicherweise nicht mehr. Sie müssen alles für sie tun, was Sie können. Aber wenn sie auf den ersten Versuch nicht ansprechen, sollten Sie mit dem nächsten weitermachen.« Er blickt zurück zu der Gruppe. »Falls jemand von Ihnen nicht schwimmen kann, soll er herkommen.«

Wieder ein raffinierter Schachzug. Er lässt die Verweigerer sich melden – wenn man nicht mitmachen will, muss man vortreten. Sechs Leute schlurfen zu ihm. Ich frage mich, wie viele von ihnen wirklich nicht schwimmen können.

Eine Frau, die zitternd am Ufer steht, meldet sich mit einer Stimme, in der zu gleichen Teilen Angst und Entschlossenheit mitschwingen. »Ich kann nicht wieder ins Wasser gehen. Sonst sterbe ich.«

»Ich auch nicht«, sagt ein rothaariger Mann neben ihr.

»Sie müssen – bitte, mein Mann ist noch da drin«, fleht eine ältere Frau in gelbem Pullover mit brechender Stimme.

»Das ist Selbstmord«, sagt ein langhaariger Jugendlicher mit Sex-Pistols-T-Shirt.

Nick tritt zwischen die Gruppe aus dem vorderen Flugzeugteil und die nassen Überlebenden. »Sie müssen nicht alle zurück ins Wasser gehen«, sagt er zu den Schwimmern. »Sie können den Nichtschwimmern helfen, die Leute am Ufer abzutrocknen.« Er fährt schnell fort, um die Proteste im Keim zu ersticken. »Aber zuerst müssen Sie zum vorderen Flugzeugteil zurücklaufen und alle Decken und Schwimmwesten einsammeln. Wir brauchen beides, um die Leute zu retten, die rauskommen.«

Es ist eine gute Idee. In der ersten und der Business-Klasse gibt es für jeden reichlich Decken. Aber was hat er vor?

»Beim Laufen wird Ihnen warm, und der Kreislauf kommt in Schwung.« Nick klatscht in die Hände. »Los. Jetzt sofort. Und bringen Sie die dunkelhaarige Frau namens Sabrina und Jillian, die Stewardess, mit. Suchen Sie Sabrina und Jillian, und sagen Sie ihnen, dass sie den Erste-Hilfe-Koffer mitnehmen sollen. Nicht vergessen, Decken und Schwimmwesten – alle.«

Widerwillig führen die Nichtschwimmer die nassen Überlebenden in den Wald. Wir Übrigen – dreiundzwanzig Passagiere, Nick und ich eingeschlossen – stehen da und sehen ihnen nach. Von rechts höre ich das Flugzeug knacken. Die untere Kante ist nur noch drei Meter über dem Wasser. Ich bin mir sicher, dass es immer schneller sinkt.

Am Ufer sagt ein übergewichtiger Mann mit einem üblen Schnitt im Gesicht: »Wir schaffen es nicht, hin- und herzuschwimmen und dabei auch noch jemanden zu ziehen. Es ist zu kalt. Sie haben ja kaum eine Strecke geschafft, allein.«

»Das stimmt«, sagt Nick. »Aber wir werden nicht so lange im Wasser sein. Und Sie müssen nicht zum Flugzeug und zurück schwimmen.«

Ein protestierendes Gemurmel erhebt sich und wird von Sekunde zu Sekunde lauter, als sich weitere Stimmen hinzugesellen.

Wir werden ertrinken.

Warten wir auf professionelle…

Das ist nicht mein Job.

»Sie müssen mitmachen!«, brüllt Nick und bringt die Menge zum Schweigen. »Sie müssen mitmachen, okay? Wir alle. Wir haben keine Wahl. Hören Sie mir zu. Jeder Einzelne da drin wird von jemandem geliebt. Es sind Söhne. Es sind Töchter. Mütter und Väter, genau wie manche von Ihnen. Es könnte Ihr Sohn oder Ihre Tochter sein, Ihre Mutter oder Ihr Vater, der bewusstlos und hilflos da drinliegt. Jetzt gerade sieht eine Mutter zu Hause auf ihr Telefon und fragt sich, wann sie etwas von ihrem Sohn hören wird. In einer Stunde fängt sie an, sich Sorgen zu machen, und wenn wir diese Leute nicht rausholen, wird sie ihn nie wiedersehen oder mit ihm reden, nur weil wir Angst hatten, ins Wasser zu waten und ihn zu retten. Wollen Sie das der Mutter sagen? Ich kann es nicht. Ich kann nicht damit leben, das auf dem Gewissen zu haben, und ich weiß, dass es Ihnen genauso geht. Es könnte auch einer von uns sein, der bewusstlos in dem Flugzeug sitzt und darauf wartet zu ertrinken. Und sie werden ertrinken ohne uns. Wenn wir ihnen nicht sofort helfen, sterben sie. Niemand sonst holt sie raus. Entweder machen wir es jetzt, oder sie sterben. So sieht es aus. Was würden Sie wollen, wenn Sie im Flugzeug wären und die anderen hier am Ufer? Es ist nicht unser Job, aber es ist sonst niemand hier. Niemand wird sie retten, wenn wir es nicht tun. In jeder Sekunde, die wir verschwenden, stirbt ein weiterer Mensch. Es sind vermutlich zweihundert Leute in diesem Teil des Flugzeugs, und ihr Leben liegt in unseren Händen. Ich habe einen Plan, und ich brauche Ihre Hilfe. Wer am Ufer sitzen bleiben und ihnen beim Ertrinken zusehen will, soll vortreten.«

Niemand rührt sich. Bis auf die entfernte Unruhe im Flugzeug ist es totenstill.

»Gut. Als Erstes zünden wir ein Feuer an. Wer hat ein Feuerzeug?«

»Ich.« Ein Mann mittleren Alters in einem New-York-Giants-T-Shirt tritt vor und streckt es ihm entgegen.

»Danke.« Nick nimmt es mit einem Nicken entgegen. »Okay, alle laufen in den Wald und bringen so viel Holz mit, wie sie tragen können. Dreißig Sekunden. Halten Sie sich nicht mit Ästen auf, die nicht schon am Boden liegen. Los. Beeilen Sie sich.«

Er dreht sich zu mir. »Sammeln Sie ein paar Zweige, und zerkleinern Sie sie.«

Wir folgen den anderen in den Wald und kehren mit den Armen voller Kleinholz zurück. Nick legt seine Ladung ab und beugt sich über den Haufen. Wenige Sekunden später flackern die ersten zaghaften Flammen. Ich lege meine Zweige dazu, und als die anderen mit ihren Ästen aus dem Wald zurückkommen, entwickelt sich schnell ein kleines Lagerfeuer. Mein Gott, die Hitze fühlt sich gut an. Und das ist nicht alles. Mittlerweile müssen Rettungsmannschaften auf der Suche nach uns sein. Das Feuer sollte sie direkt zu uns führen. Vielleicht ist es nachts ihre einzige Chance. Wahrscheinlich wissen sie, wo das Cockpit liegt, aber sobald das Flugzeug im See versinkt, wird es schwer zu finden sein.

»Okay. Gut gemacht«, sagt Nick. »Der Plan sieht so aus: Wir haben genug Leute, um zwei Reihen bis zum Flugzeug zu bilden. Wir stellen uns eine Armlänge voneinander entfernt auf. Sobald das Flugzeug auf Höhe des Wasserspiegels ist, waten wir schnell in den See, schwimmen zu unseren Positionen und reichen die Überlebenden bis zum Ufer weiter. Geschwindigkeit ist das Entscheidende. Die Leute, die rauskommen, werden Schwimmwesten tragen, sodass diejenigen von euch, die im tiefen Wasser sind, sie zum Nächsten in der Reihe schieben können. Jeder, dem das Wasser bis über die Hüfte reicht, bekommt ebenfalls eine Schwimmweste, damit er nicht wassertreten muss. Wichtig ist: Bleiben Sie nicht länger im Wasser, als Sie aushalten. Wenn Ihnen kalt wird und Sie Ihre Glieder nicht mehr spüren, kommen Sie raus, und gehen Sie zum Feuer. Sobald Sie sich aufgewärmt haben, können Sie wieder rein. Wenn die Leute aus dem Flugzeug sich aufgewärmt haben, können sie sich ebenfalls in die Reihe einordnen. Okay, noch eine Sache. Wenn Sie ein guter Schwimmer sind, wenn Sie schon mal als Rettungsschwimmer gearbeitet haben oder regelmäßig schwimmen oder einfach in guter Form sind und eine Weile die Luft anhalten können, kommen Sie jetzt zu mir.«

Drei Passagiere traten vor, alles Männer zwischen zwanzig und Anfang dreißig.

Nick wendet sich an mich. »Was ist mit Ihnen?«

»Ja.« Ich nicke mit trockenem Mund. »Ich bin fit. Ich bin eine gute Schwimmerin.« Das ist vielleicht ein bisschen übertrieben.

Er führt uns vier von der Gruppe fort und redet leise mit uns. »Ich schlage vor, dass wir uns duzen. Wir gehen als Erste rein. Zieht keine Schwimmweste an, die bremst euch nur. Es gibt zwei Gänge. Wir teilen uns auf, zwei und drei.« Er zeigt auf den jüngsten Mann und mich. »Ihr beide bleibt bei mir. Das Heck des Flugzeugs ist wahrscheinlich schon geflutet – ich kann mir nicht vorstellen, dass es wasserdicht ist. Wenn das stimmt, ist die Wasserlinie unser Startpunkt. Wir können niemanden weiter unten retten; sie sind alle schon ertrunken. Wir laufen den Gang hinunter und überprüfen bei den Leuten in der ersten trockenen Reihe den Puls.«

Er legt mir die Hand an den Hals. »Drückt fest zu und wartet. Wenn kein Pulsschlag da ist, geht zum Nächsten. Falls der Puls spürbar ist, verpasst ihr demjenigen eine ordentliche Ohrfeige, um ihn aufzuwecken. Wenn er nicht reagiert, schnallt ihr ihn los, legt ihn euch über die Schulter und tragt ihn zum Nächsten in der Reihe – wir versuchen, die Leute, die noch im Flugzeug sind, dazu zu bringen, uns zu helfen. Fangt bei den Kindern an – aus offensichtlichem Grund und weil sie leichter sind und es wahrscheinlicher ist, dass die Schwimmweste ihren Kopf über Wasser hält. Wenn ihr fünf Reihen durchgegangen seid, ohne ein Kind zu finden, geht ihr zurück und untersucht die Erwachsenen.« Er teilt uns auf, sodass jeder für die ungefähr gleiche Anzahl Sitze zuständig ist.

Die Leute kommen jetzt mit Decken zurück, legen sie neben dem Feuer ab und wärmen sich. Nick geht geradewegs zu Jillian und der Ärztin und winkt die beiden, die sich für die Herz-Lungen-Wiederbelebung gemeldet haben, herbei.

»Die beiden helfen euch mit den Leuten, die wir aus dem Flugzeug holen«, erklärt er Sabrina, ehe er sich an Jillian wendet. »Kannst du Herz-Lungen-Wiederbelebung?«

»Ich … hatte einen Kurs, aber ich habe nie wirklich …«

»Für alles gibt es ein erstes Mal. Du schaffst das schon.«

»Das gefällt mir nicht.« Sabrina sieht stirnrunzelnd zu den Überlebenden aus unserem Teil. »Die Anstrengung – jeder von ihnen könnte ein ernsthaftes Schädel-Hirn-Trauma haben.«

»Wir haben keine Wahl. So wird es gemacht.« Nicks Stimme ist fest, aber nicht herablassend oder unhöflich. Ich mag sie sehr.

Nick dreht sich zum Ufer und ruft nach Bill. Der dicke Mann taucht erst beim zweiten Mal auf. Er wirkt mitgenommen und nervös. Die Unterkante des Flugzeugs schwebt jetzt nur noch einen Meter über dem Wasser, und dieser Anblick erschüttert ihn zusätzlich. Er späht ängstlich zu uns hinüber.

»Es sind zu viele. Wir können sie nicht alle holen.«

»Schon gut. Wir helfen Ihnen, Bill. Sie müssen jetzt die Schwimmwesten unter den Sitzen rausholen und sie den Leuten, die Sie zur Öffnung gebracht haben, anziehen. Verstanden?«

Bill sieht sich um. »Und dann?«

»Dann lassen wir sie aus dem Flugzeug zu den Rettungsteams hinunter. Sie und alle anderen, die helfen können, müssen unbedingt dortbleiben. Haben Sie das verstanden?«

Bill nickt.

»Wir bilden eine Reihe zu Ihnen. Wir kommen gleich, okay? Halten Sie sich bereit.«

Nick richtet seine Aufmerksamkeit auf die Gruppe am Ufer. Er organisiert die Reihen, indem er die Stärksten nach vorn schickt, am nächsten zum Flugzeug, die Schwächsten in die Mitte und die Übrigen zum Uferbereich. Ich kann seiner Logik folgen, aber ich hätte es mir nicht ausdenken können, nicht hier in der Kälte, unter Druck und mit dem Wissen, dass wir Dutzende von Menschen sterben sehen werden.

Er lässt jeden in der Reihe eine Schwimmweste anziehen, falls sie die Positionen tauschen müssen – eine gute Änderung seines ursprünglichen Plans.

Die Stimmung beginnt sich zu verändern. Die Leute engagieren sich. Die Nichtschwimmer laufen immer wieder in den Wald, um weiteres Feuerholz zu horten. Einer von ihnen, ein riesiger Mann Mitte zwanzig in einem abgetragenen Wollmantel, greift nach einer Schwimmweste. »Ich kann mich einreihen, wenn ich dicht am Ufer bleibe.«

Zwei weitere Passagiere treten vor und sagen das Gleiche, während sie sich gelbe Schwimmwesten über den Kopf ziehen.

Trotz der Geschäftigkeit spüre ich, wie die Anspannung bei mir steigt. Die Männer neben mir, die anderen guten Schwimmer, stellen sich vor. Meine Hand ist feucht, als ich sie ihnen reiche. Ich kann kaum den Blick von dem sinkenden Flugzeug wenden, während wir die Sekunden herunterzählen. Ich bin eine gute Schwimmerin, sage ich mir. Heute Nacht muss ich es sein. Aber unwillkürlich frage ich mich, wie schnell das Flugzeug sinken wird, wenn das Wasser in die Öffnung läuft. Und was wird mit den Leichen und den Trümmern im Inneren passieren? Bin ich stark genug, um mich zurück an die Oberfläche zu kämpfen? Das Wasser ist bestimmt so kalt, dass es mich lähmt. Wenn das Flugzeug vollläuft und ich noch drin bin, habe ich keine Chance. Aber ich darf nicht länger darüber nachdenken, aus einem einfachen Grund: Ich muss diesen Menschen helfen. Die Vorstellung, es nicht zu tun, ist unerträglich.

Nick sieht mir in die Augen. »Los geht’s.«

5

Harper

Ein Moment der Stille und Ruhe tritt ein und scheint sich eine Ewigkeit hinzuziehen. Wir blicken alle auf die dunklen Umrisse des Flugzeugs, die aus dem glatten See ragen. Dann senkt sich die Maschine abrupt zum Wasser, und der Zauber ist gebrochen. Aller Augen richten sich auf Nick und uns, die Schwimmer, die sich freiwillig gemeldet haben. Der Schmerz in meinem Unterleib und meinen Schultern und das Pochen an der Seite des Gesichts dringen nicht mehr in mein Bewusstsein vor. Ich spüre nichts als die ängstlichen Blicke der fast vierzig Menschen am Ufer, die von hinten vom knisternden Feuer beleuchtet werden. Ihr Atem bildet weiße Wolken in der Luft und verbirgt ihre Nasen und Münder. Die kleinen Lichter an ihren gelben Schwimmwesten leuchten im dichter werdenden Nebel wie Laternen in einer Londoner Winternacht.

Und dann renne ich los und folge Nick durch das Wasser auf das Flugzeug zu, das jetzt gleichmäßig zur Oberfläche sinkt. Drei Männer und eine Frau stehen in den Gängen dort, blicken heraus und warten auf uns.

Das Wasser betäubt meine Beine. Mit jedem Schritt in den See verliere ich ein wenig Gefühl. Nach drei Metern stehe ich bis zur Brust im Wasser. Ich beiße die Zähne zusammen, stapfe weiter und beginne, mit den Armen zu rudern. Eisiges Wasser spritzt mir ins Gesicht und aufs Haar. Von hier aus scheint das Flugzeug meilenweit entfernt, obwohl es höchstens noch fünfzehn Meter sind. Nick und die anderen Männer schwimmen mir davon, und ich strenge mich an, um zu ihnen aufzuschließen.

Einer der jungen Männer erreicht das Flugzeug zuerst. Vorsichtig weicht er den verdrehten Metallsträngen aus, die ins Wasser ragen, und klettert in die untere Hälfte des Rumpfs, wo das aufgegebene Gepäck verstaut ist. Er dreht sich um und hilft den nachfolgenden Schwimmern, bis alle vier Männer im dunklen Schlund des Flugzeugs hocken, der sich jetzt fast auf Höhe der Wasseroberfläche befindet.

Ich erreiche die Öffnung als Letzte, und Nick erwartet mich mit ausgestreckter Hand. Seine Finger schließen sich um meinen Unterarm. »Pack mit der anderen Hand meinen Arm.«

Zwei Sekunden später hocke ich völlig durchnässt neben ihnen in der unteren Hälfte des Flugzeugs. Noch nie im Leben war mir so kalt, und jedes unkontrollierte Zittern schickt eine Welle von Schmerzen durch meinen Bauch und meine Schultern. Es fühlt sich an, als fräße die Kälte mich von innen auf.

Ich spüre Hände, die sich an mir auf und ab bewegen. Mike, der junge Mann, der meinem Gang zugeteilt ist, reibt mir über die Schultern und den Rücken, um mich aufzuwärmen. Ich kann ihn nicht ansehen. Ich starre nur auf sein grünes Boston-Celtics-T-Shirt. Wieso erfriert er nicht?

Nick ruft den Leuten am Ufer zu, dass sie Reihen bilden sollen. Sie stürmen sich an den Händen haltend ins Wasser. Die weißen Lichtpunkte ihrer Schwimmwesten driften auseinander, während sie tiefer in den See waten. Als sie sich vom Feuer entfernen, verschwinden ihre Gesichter in der Dunkelheit, und die Lämpchen sind der einzige Hinweis auf ihre Anwesenheit. Die beiden Lichterreihen erinnern mich an eine Landebahn bei Nacht, die dieses Flugzeugwrack zum Feuer leitet, der Rettung entgegen. Wir schaffen das, sage ich mir.

Die Männer in dem Passagierabteil über uns strecken die Arme herab, und ich spüre, wie ich gepackt und hochgehoben werde. Mit weit aufgerissenen Augen beobachte ich, wie ich ein wenig zu dicht an den rasiermesserscharfen Metallteilen vorbeigezogen werde, die aus dem Kabinenboden ragen.

Der Schock und der Schmerz durch das Wasser sind jetzt verschwunden, und ich frage mich, ob das ein gutes Zeichen ist. Aber ich kann meinen Körper spüren. Ich habe ihn unter Kontrolle.

Ich bleibe einen Moment lang stehen, bis meine Augen sich angepasst haben. Es ist dunkel hier, noch dunkler, als ich erwartet habe. Ich weiß nicht, ob es an all den Menschen liegt, aber es fühlt sich beengt an, stickig, wie in einem Bergwerksschacht. Schwaches Mondlicht dringt durch die ovalen Fenster, die uns wie Laternen in den nassen Abgrund am Ende der Gänge leiten. Das Heck ist bereits vollgelaufen, wie Nick vermutet hat.

Diese Leute sind tot. Wir können ihnen nicht helfen, aber wir können die anderen retten.

Trotz der Schmerzen und der Kälte spüre ich, wie ich wieder Mut fasse. Ich schaffe das. Ich muss. Ich versuche mich an Nicks Rede zu erinnern, mir die Schlüsselsätze ins Gedächtnis zu rufen, um mich aufzubauen.

Wenn wir diese Leute nicht rausholen, werden sie nie wieder ihre Familie sehen oder mit ihren Liebsten reden.

Niemand sonst holt sie raus. Entweder machen wir es jetzt, oder sie sterben.

Der Boden unter unseren Füßen sinkt weiter und wird dadurch ebener, aber er fällt immer noch ein wenig ab, eine Rampe, die geradewegs in die Dunkelheit führt.

Vor uns liegen die Menschen bis tief in die Gänge hinein zu zweit oder zu dritt nebeneinander. Frauen, Kinder und einige Männer, die meisten schlank. Vielleicht die Hälfte von ihnen hat Schwimmwesten an. Nicht gut. Es sind bestimmt dreißig Leute. Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt, und ich kann jetzt mehr von dem Flugzeug erkennen. Es gibt eine Reihe Business-Klasse, alle Sitze leer, dann folgen eine Trennwand und zwei Abteile Economy mit drei Sitzblöcken – zwei Sitze auf jeder Seite und fünf in der Mitte. Ich lasse den Blick über die Reihen vor mir schweifen. Mein Gott. Überall Leute. Über hundert. Das ist unmöglich. Wie lange haben wir Zeit? Eine Minute? Zwei? Wenn das Wasser erst einmal in die untere Hälfte des Rumpfs strömt, wird er sich schnell füllen und den Punkt erreichen, an dem das Wasser ihn auf den Grund zieht. Wir können nicht alle retten. Vielleicht …

Nicks Stimme reißt mich zurück in die Gegenwart. Sein Gesicht ist ausdruckslos – keine Spur von Sorge oder gar Panik. Er klingt wie ein Vater bei einem Campingausflug, ruhig und präzise. Schnell teilt er Bill und den sieben anderen Helfern im Flugzeug ihre Aufgaben zu. Zwei Männer sollen am Ende jedes Gangs bleiben und die Passagiere mit den Schwimmwesten zu den Reihen im Wasser hinablassen. Die anderen vier wachen Überlebenden werden Schwimmwesten einsammeln und sie den Leuten umhängen, bevor sie hinausgebracht werden.

»Auf keinen Fall dürfen Sie das Flugzeug verlassen. Wir brauchen Ihre Hilfe.« Nick zeigt auf die Bewusstlosen in den Gängen. »Sie brauchen Sie. Sie sterben ohne Sie. Verstanden?«

Allgemeines Nicken. »Los. Beeilung.«

Mike läuft voraus, springt über reglose Körper, tritt auf sie, bricht ihnen die Knochen. Ich mache einen zögerlichen Schritt, verliere den Halt und klammere mich an den nächsten Sitz.

»Los, Harper! Du kannst keine Rücksicht auf sie nehmen«, ruft Nick, und ich renne los, obwohl ich bei jedem Schritt innerlich zusammenschrecke. Schließlich landen meine Füße auf dem Teppich im Gang, und ich stürme weiter. Mike kümmert sich um die drei Sitze auf der Innenseite, ich bin für die auf der Fensterseite zuständig. Er läuft mit jemandem über der Schulter an mir vorbei, bevor ich überhaupt meine erste Sitzreihe erreiche.

Wasser an meinen Füßen. Ich renne weiter und könnte schwören, dass das Wasser hier noch kälter ist. Ich dachte, dass der Winkel anders wäre und sich das Wasser nur ganz hinten sammeln würde, aber es ist, als watete man in ein allmählich abfallendes Schwimmbecken; bei jedem Schritt kriecht das Wasser ein paar Zentimeter an meinen Beinen hoch. Wo soll ich anfangen? Ich stehe jetzt bis zur Taille im Wasser. Nur die Köpfe der Passagiere ragen noch heraus. Können sie noch am Leben sein? Erneut hallen mir Nicks Worte durch den Kopf: Alle unter Wasser sind schon ertrunken. Aber ihre Köpfe sind über Wasser. Ich laufe weiter bis zu der Reihe, in der ihnen das Wasser bis zum Kinn steht.

Zuerst erreiche ich einen Jugendlichen mit geschwollenen blauen Augen und aufgedunsenem, mit dunklem Blut verschmiertem Gesicht. Ich strecke meine zitternde Hand aus und schrecke zurück, als ich das kalte harte Fleisch berühre. Einen Moment lang stehe ich vom Schock überwältigt da und stoße weiße Atemwolken aus.

»Sie sind tot, Harper!«, brüllt Mike, während er mit einem weiteren Passagier über der Schulter an mir vorbei den Gang hochgeht. »Das Wasser ist zu kalt. Geh drei Reihen weiter hoch.«

Das Licht von der Öffnung blendet mich jetzt. Nick schreit und zeigt auf etwas. Ein Bewusstloser nach dem anderen wird über die Kante geschafft und platscht ins Wasser. Es funktioniert. Ich muss mich konzentrieren. Sie zählen auf mich. Konzentriere dich.

Wärme. Wärme bedeutet Leben. Schnell drücke ich dem nächsten Passagier meine Hand auf den Hals. Kalt.

Zur nächsten Reihe. Ich kann sie nicht auslassen. Ich kann einfach nicht. Vier Reihen weiter oben, wo mir das Wasser noch knapp bis zu den Knien reicht, legen sich meine Finger um einen Hals, der warm ist, viel wärmer als die anderen. Ich drücke, spüre einen schwachen Puls und sehe eine Sekunde lang in das weiße Gesicht eines Jungen mit einem Manchester-United-T-Shirt. Ich rüttle an seinen Schultern, schreie ihn an und überwinde mich schließlich, ihn ins Gesicht zu schlagen. Nichts. Ich schnalle ihn los, ziehe an seinem Arm und hebe ihn vom Sitz. Die Steigung und das zusätzliche Gewicht sind die Hölle für meinen mitgenommenen Körper, aber ich quäle mich Schritt für Schritt weiter. Schließlich erreiche ich die Schlange und übergebe den Jungen einer Frau und einem älteren Mann. Sie stülpen ihm eine Schwimmweste über den Kopf und ziehen die Schnur, damit sie sich aufbläst.

Ich habe dem Jungen das Leben gerettet. Er wird durchkommen.

Die Bewusstlosen werden jetzt schneller herausgeschafft, alle paar Sekunden einer. Nick sieht zu mir und nickt. Ich drehe mich um, renne wieder den Gang hinunter und halte nur an, um mich auf einen leeren Sitz zu quetschen, als mir Mike entgegenkommt.

Als ich wieder in den Gang trete, spüre ich etwas Neues: fließendes Wasser, das an meinen Turnschuhen zerrt und meine Knöchel bespritzt. Wie viel Zeit haben wir noch?

Ich laufe zur nächsten Reihe, aber sie sind alle tot. Das kalte Fleisch, die Hälse rasen jetzt nur so an mir vorbei. Ich bewege mich rhythmisch, wie ferngesteuert, strecke die Hand aus, taste, gehe weiter. Ein paar Sekunden später löse ich den Gurt eines indischen Mädchens in einem Disney-World-T-Shirt. Dann ist ein blonder Junge mit einem schwarzen Pullover an der Reihe. Ich muss seine Hand aus der der Frau neben ihm – wahrscheinlich seine Mutter – befreien. Drei weitere Kinder trage ich nach oben, und meine Arme und Beine brennen bei jedem Schritt. Ich bin erledigt. Ich frage mich, wie lange ich noch weitermachen kann. Ich muss.

Mike greift nach meinem Unterarm. »Das waren alle Kinder. Jetzt die Erwachsenen. Du suchst sie, ich trage sie. Okay?«

Einen, zwei, drei Menschen schafft Mike auf der Schulter nach oben.

Jedes Mal, wenn ich einen Blick in den hinteren Teil der Kabine werfe, ragen andere Köpfe aus dem Wasser – eine weitere Reihe wurde von den steigenden Fluten verschluckt. Wir sinken, und zwar schnell.

Mike watet zu mir. »Es geht unter. Schnall jeden los, der noch lebt, und leg ihm eine Schwimmweste um. Es ist ihre einzige Chance.«

Ich eile von Reihe zu Reihe, taste, löse Gurte. Um die Schwimmwesten unter den Sitzen hervorzuholen, muss ich untertauchen, und der Schock beim ersten Mal ist schlimmer als vorhin, als ich in den See gewatet bin. Beim vierten Sitz spüre ich, wie das Flugzeug wackelt und sich dreht. Das Geräusch von reißendem Metall dröhnt durch die Kabine, und eiskaltes Wasser überspült mich. Die Flügel. Etwas passiert. Konzentriere dich. Ich strecke mich, um einen Sicherheitsgurt zu lösen, kann ihn aber nicht erreichen. Ich tauche unter, und ja, jetzt habe ich ihn. Als ich wieder hochkomme, bricht mein Kopf nicht durch die Wasseroberfläche.

Panik. Ich strecke die Arme nach oben und zu den Seiten und suche verzweifelt nach Luft, aber es ist keine da.

Durch das dunkle Wasser sehe ich ein schwaches Licht: die Öffnung. Ich bewege die Arme und stoße mich ab, um zum Licht zu schwimmen, aber mein Fuß bleibt irgendwo hängen. Ich sitze in der Falle. Ich greife nach unten, aber meine Finger sind taub und nutzlos, als hätte ich darauf geschlafen. Ich versuche, meinen Fuß loszureißen, ohne Erfolg. Ich drehe mich wieder zur Öffnung und wedle in der Hoffnung, dass mich jemand sieht, mit meinen gefühllosen Armen. Ein Bewusstloser mit einer gelben Schwimmweste treibt an mir vorbei und versperrt die Sicht auf mich. Ich beobachte, wie er auf das Licht der Öffnung zuschwebt, das von Sekunde zu Sekunde kleiner und schwächer wird.

6

Nick

Jetzt, da es fast vorbei ist, verstehe ich allmählich, was mit diesem Teil des Flugzeugs passiert sein könnte. Nachdem die Nase abgebrochen ist, hat es sich um hundertachtzig Grad gedreht, während es zu Boden raste. Die Baumwipfel um den See bremsten es, bevor es aufschlug. Es knallte mit dem Heck voran auf das Wasser, und das rettete vermutlich vielen Passagieren das Leben: Sie wurden in ihren Sitzen nach hinten geschleudert statt nach vorn, wo ihnen die Rückenlehnen der Sitze vor ihnen das Genick gebrochen hätten. Das Heck sank vermutlich Sekunden nach dem Aufprall auf den Grund und liegt seitdem dort, während das abgerissene Ende aus dem Wasser aufragt, wie bei einer Wippe, deren Mittelpunkt die beiden Turbinen unter den Flügeln bilden. Das ist jedenfalls meine Vermutung. Aber die Turbinen – oder vielleicht die Flügel oder das Fahrgestell oder was auch immer die Mitte hochgehalten hat – sind abgebrochen, und jetzt ist die Hölle los. Das Wasser im Rumpf, schwer wie Beton, zieht die Mitte nach unten. In wenigen Sekunden wird das Flugzeug auf dem Grund liegen.

»Alle raus! Sofort!«, brülle ich.

Der letzte Überlebende, der uns geholfen hat, die Passagiere hinauszuschaffen, klettert aus dem Gang in die Schlange, die sich bis zum Ufer erstreckt, wo die Bewusstlosen in ungleichmäßigen Reihen bis zum Feuer hinauf liegen. Ein Durcheinander aus blutigen geschwollenen Gesichtern in gelben Schwimmwesten bedeckt den See. Manche Menschen treiben auf dem Wasser, andere stehen bis zur Hüfte darin, und alle arbeiten mit letzter Kraft. Sie sehen kaum wie Menschen aus, aber heute Nacht sind sie Heilige.

Der Typ in dem grünen Celtics-T-Shirt – Mike heißt er, glaube ich – läuft zitternd und mit gesenktem Kopf an mir vorbei. Ich packe seinen Arm und sehe mich in dem Chaos um uns herum um. »Wo ist Harper?«

Mike hustet und sieht über die Schulter. »Ich dachte, sie wäre schon draußen.« Er nickt. »Ja, ich glaube schon.«

»Okay. Ich sehe nach. Geh.« Ich schiebe ihn weiter, und er geht zur Kante und stürzt sich in das kalte Wasser.

Als ich in den Abgrund spähe, sehe ich nur leblose Körper mit gelben Schwimmwesten um den Hals nach oben treiben. Ich mache kehrt, gehe den Gang hoch und mustere die Gesichter bis ganz hinten zum Feuer, aber ich entdecke keine schlanke blonde Frau ohne Schwimmweste. Sie ist nicht dabei. Sie hat es nicht hinaus geschafft.

Etwas platzt unter mir – eine Schwimmweste, vermute ich. Die Gischt trifft mich im Gesicht wie ein Eimer Eiswasser. Ich schüttle den Kopf, konzentriere mich und blicke in den dunklen Gang. Eine weitere Leiche treibt vorbei, dann sehe ich eine Gestalt, schlanke Arme, die hinter einem Sitz auftauchen. Dann sind sie weg, verschluckt von der Dunkelheit.

Das muss sie sein.

Ich springe in den gefluteten Gang, ziehe mich an den Rückenlehnen tiefer hinein, vorbei an Leichen und treibenden Gegenständen, die ich nicht zuordnen kann.

Sie ist es. Ich erkenne ihr geschwollenes Gesicht. Ich greife nach ihrer ausgestreckten Hand, aber ihre Finger schließen sich nicht um meine. Sie fühlt sich leblos an, und das lässt mich erstarren. Einen Moment lang treibe ich mit leerem Kopf im Wasser.

Aber ihr Arm bewegt sich vor und zurück und versucht, nach mir zu greifen. Ich ziehe daran, doch sie löst sich nicht. Ich überwinde den letzten Meter zu ihr, schlinge die Arme um ihren Leib, stemme die Füße gegen den Sitz und drücke. Es fühlt sich an, als wäre sie festgebunden. Das Herz hämmert in meiner Brust, entweder wegen des Sauerstoffmangels oder vor Furcht.