Die Atlantis-Vernichtung - A. G. Riddle - E-Book

Die Atlantis-Vernichtung E-Book

A. G. Riddle

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Beschreibung

Die große Atlantis-Trilogie von A. G. Riddle - Das Blockbuster-Ereignis des Jahres

Die Atlantis-Seuche konnte beendet werden … Die Weltbevölkerung aber ist erheblich dezimiert … Zwei Fraktionen stehen sich gegenüber: Der mysteriöse Geheimbund Immari International, der den Ausbruch der Plage verantwortet, und die Orchid-Allianz ... Die Wissenschaftlerin Kate, Nachkomme einer atlantischen Priesterin, hält sich mit ihren Mitstreitern in dem atlantischen Raumschiff auf, das tief unter dem Meeresspiegel begraben liegt … Als ihr Kontrahent Dorian Sloane, der das andere Raumschiff besetzt hat, eine klimatische Katastrophe einleitet, scheint die Dämmerung der Menschheit gekommen ... Und während die Gruppe um Kate in ein gigantisches künstliches Regenwald-Biotop flieht, taucht ein neuer, mächtiger Feind auf …

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Seitenzahl: 429

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Das Buch

»In den letzten achtundvierzig Stunden hatte Dr. Mary Caldwell jede wache Sekunde damit verbracht, das vom Radioteleskop empfangene Signal zu untersuchen. Sie war erschöpft und aufgeregt. Eines stand fest: Es handelte sich um ein strukturiertes Signal, ein Zeichen intelligenten Lebens. Mary stand auf und ging zum Fenster, von dem aus man auf die üppig bewaldeten Berge Puerto Ricos blicken konnte. Das einzige Anzeichen der Zivilisation war die Satellitenschüssel, die sich in eine Ebene zwischen den Hügeln schmiegte. Das Teleskop des Arecibo-Observatoriums war die größte Einzelanlage der Welt, der Höhepunkt der menschlichen Schaffenskraft. Und jetzt hatte sie ihre Bestimmung erfüllt. Kontakt.«

Die Atlantis-Vernichtungist der dritte Band der großen Atlantis-Trilogie von A. G. Riddle.

Der Autor

A. G. Riddle wuchs in North Carolina auf. Zehn Jahre lang beschäftigte er sich damit, diverse Internetfirmen zu gründen und zu leiten, bevor er sich aus dem Geschäft zurückzog. Seitdem widmet Riddle sich seiner wahren Leidenschaft: dem Schreiben. Seine Atlantis-Trilogie ist in Amerika schon jetzt ein Phänomen. Riddle lebt in Parkland, Florida.

A. G.

RIDDLE

DIEATLANTIS-VERNICHTUNG

Roman

Aus dem Amerikanischen von Marcel Häußler

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

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Die Originalausgabe THE ATLANTIS WORLD (The Origin Mystery, Book Three) erschien 2014 bei Modern Mythology

Vollständige deutsche Erstausgabe 01/2016

Copyright © 2014 by A. G. Riddle

Published in agreement with the author, c/o Danny Baror

International Inc, Armonk, New York, USA

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Umschlagillustration: Johannes Wiebel/punchdesign, München,

unter Verwendung von © shutterstock.com

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-15410-3V001

www.heyne.de

Für meine Eltern, die mich ermutigt haben,

PROLOG

Arecibo-Observatorium

Arecibo, Puerto Rico

In den letzten achtundvierzig Stunden hatte Dr. Mary Caldwell jede wache Sekunde damit verbracht, das vom Radioteleskop empfangene Signal zu untersuchen. Sie war erschöpft und aufgeregt. Eines stand fest: Es handelte sich um ein strukturiertes Signal, ein Zeichen intelligenten Lebens.

Hinter ihr goss sich John Bishop, der andere Forscher am Observatorium, noch ein Glas ein. Er hatte sich durch den Scotch, den Bourbon, den Rum und all den anderen Schnaps, den die verstorbenen Wissenschaftler gehortet hatten, gearbeitet, bis er schließlich beim Pfirsichbrand gelandet war. Da es nichts gab, womit er ihn hätte mixen können, trank er ihn pur. Beim ersten Schluck schüttelte er sich.

Es war neun Uhr morgens, und sein Ekel würde in zwanzig Minuten vergehen, wenn er das dritte Glas intus hatte.

»Das bildest du dir nur ein, Mare«, sagte er, während er das leere Glas abstellte und sich aufs Nachschenken konzentrierte.

Mary hasste es, wenn er sie »Mare« nannte. Niemand hatte sie je so genannt. Es erinnerte sie an eine Mähre. Aber er war die einzige Gesellschaft, die sie hatte, und sie kamen einigermaßen miteinander aus.

Nach dem Ausbruch, als die Menschen überall in Puerto Rico zu Zehntausenden gestorben waren und sie sich im Observatorium verkrochen hatten, hatte John seinen ersten Annäherungsversuch gewagt. Sie hatte ihn abgeblockt. Der nächste war zwei Tage später gefolgt. Danach hatte er es jeden Tag versucht, von Mal zu Mal aggressiver, bis sie ihm das Knie zwischen die Beine gerammt hatte. Das hatte dazu geführt, dass er sich friedlicher verhielt und sich auf Alkohol und abfällige Bemerkungen beschränkte.

Mary stand auf und ging zum Fenster, von dem aus man auf die üppig bewaldeten Berge Puerto Ricos blicken konnte. Das einzige Anzeichen der Zivilisation war die Satellitenschüssel, die sich in eine Ebene zwischen den Hügeln schmiegte. Das Teleskop des Arecibo-Observatoriums war die größte Einzelanlage der Welt, ein Triumph der Ingenieurskunst. Diese interdisziplinäre Entwicklung repräsentierte den Höhepunkt der menschlichen Schaffenskraft, und sie lag eingebettet in eine urwüchsige Landschaft, die die Vergangenheit symbolisierte. Und jetzt hatte sie ihre Bestimmung erfüllt. Kontakt.

»Es ist eine Botschaft«, sagte Mary.

»Woher willst du das wissen?«

»Sie ist an uns adressiert.«

John setzte sein Glas ab und sah auf. »Wir sollten hier verschwinden, Mare. Zurück in die Zivilisation, unter Menschen. Das wird dir guttun …«

»Ich kann es beweisen.« Mary ging zurück zum Computer, drückte einige Tasten und rief das Signal auf. »Es besteht aus zwei Sequenzen. Ich weiß nicht, was die zweite bedeutet, das gebe ich zu. Sie ist zu komplex. Aber die erste Sequenz ist eine simple Aneinanderreihung. Ein-Aus. 1-0. Binärzeichen.«

»Bits.«

»Genau. Und es gibt ein drittes Zeichen – einen Schlusspunkt. Er erscheint nach jedem achten Bit.«

»Acht Bits. Ein Byte.« John stellte die Flasche zur Seite.

»Es ist ein Code.«

»Wofür?«

»Das weiß ich noch nicht.« Mary sah auf den Bildschirm. »Die Analyse dauert noch eine knappe Stunde.«

»Es könnte eine zufällige Anordnung sein.«

»Nein. Der erste Teil, der bereits dekodiert ist, beginnt mit unserer Adresse.«

John lachte laut auf und griff nach seinem Glas. »Beinahe hättest du mich reingelegt, Mare.«

»Wenn du ein Signal an einen anderen Planeten senden würdest, womit würdest du anfangen? Mit der Adresse.«

John nickte, während er sich Schnaps nachgoss. »Klar, und mit der Postleitzahl.«

»Die ersten Bytes stehen für zwei Zahlen: 27.624 und 0,00001496.«

John entgegnete nichts.

»Überleg mal«, sagte Mary. »Was ist die einzige Konstante im gesamten Universum?«

»Schwerkraft?«

»Schwerkraft ist eine Konstante, aber ihr Ausmaß hängt von der Krümmung der Raumzeit ab, davon, wie dicht sich ein Objekt an einem anderen befindet. Man braucht einen gemeinsamen Nenner, etwas, das jede Zivilisation auf jedem Planeten, unabhängig von seiner Masse oder seiner Position, kennt.«

John ließ den Blick durch den Raum schweifen.

»Die Lichtgeschwindigkeit. Das ist die universale Konstante. Sie verändert sich nie, egal, wo man ist.«

»Stimmt …«

»Die erste Zahl, 27.624, beziffert die Entfernung der Erde zum Mittelpunkt unserer Galaxie in Lichtjahren.«

»Das könnte auf ein Dutzend Planten passen.«

»Die zweite Zahl, 0,00001496, ist die genaue Entfernung von der Erde zur Sonne in Lichtjahren.«

John stierte eine Weile vor sich hin, dann schob er die Flasche und das halbvolle Glas aus seinem Blickfeld. »Das ist unsere Chance.«

Mary zog die Brauen hoch.

John lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Wir verkaufen es.«

»Wozu? Ich glaube, die Geschäfte sind alle geschlossen.«

»Aber der Tauschhandel funktioniert noch. Wir verlangen Schutz, anständiges Essen und was wir sonst noch wollen.«

»Das ist die größte Entdeckung in der Geschichte der Menschheit. Wir verkaufen sie nicht.«

»Es ist die größte Entdeckung in der Geschichte der Menschheit – im Augenblick der größten Verzweiflung. Das Signal bedeutet Hoffnung. Ablenkung. Sei nicht blöd, Mare.«

»Hör auf, mich Mare zu nennen.«

»Als die Seuche ausgebrochen ist, hast du dich hierher zurückgezogen, weil du etwas machen wolltest, das dir wichtig ist, bis deine Zeit abläuft. Ich bin gekommen, weil ich wusste, dass es hier den größten Schnapsvorrat in Fußweite gibt und dass du kommen würdest. Ja, ich bin in dich verliebt, seit ich in San Juan gelandet bin.« Er hob die Hände, ehe Mary etwas sagen konnte. »Darum geht es jetzt nicht. Ich wollte darauf hinaus, dass die Welt, so wie du sie kennst, nicht mehr existiert. Die Menschen sind verzweifelt. Sie handeln aus Eigennutz. In meinem Fall sind es Sex und Alkohol. Den Leuten, die du anrufen wirst, geht es darum, ihre Macht zu bewahren. Du gibst ihnen das Mittel dazu: Hoffnung. Sobald du es abgeliefert hast, brauchen sie dich nicht mehr. Die Welt hat sich verändert. Sie wird dich aussaugen und wegwerfen, Mare.«

»Wir verkaufen es nicht.«

»Du bist dumm. Idealisten leben nicht lange in dieser Welt.«

Hinter Mary piepste der Computer. Die Analyse war beendet.

Ehe sie die Ergebnisse ansehen konnte, hallte Lärm von der anderen Seite des Gebäudes durch den Gang vor dem Büro. Hämmerte jemand an der Tür? Mary und John sahen sich an. Sie warteten.

Das Hämmern wurde lauter, dann klirrte eine Scheibe, und Scherben fielen zu Boden.

Langsame Schritte näherten sich.

Mary trat auf die Bürotür zu, aber John hielt sie am Arm fest. »Bleib hier«, flüsterte er.

Er nahm den Baseballschläger, den er während des Ausbruchs mitgebracht hatte. »Schließ die Tür ab. Wenn sie hier sind, gehen der Insel die Nahrungsmittel aus.«

Mary griff zum Telefon. Sie wusste, wen sie jetzt anrufen musste. Ihre Hände zitterten, als sie die Nummer des einzigen Menschen wählte, der sie retten konnte. Ihr Exmann.

TEIL I: AUFSTIEG UND FALL

1

Alpha Lander

400 Meter unter dem Meeresspiegel

Vor der marokkanischen Nordküste

David Vale hatte es satt, in der kleinen Schlafkabine auf und ab zu gehen und sich zu fragen, ob oder wann Kate zurückkehren würde. Er warf einen Blick auf das blutige Kissen. Was vor zehn Tagen mit einigen Tropfen begonnen hatte, war mittlerweile ein Fluss, der sich von ihrem Kissen über das halbe Bett erstreckte.

»Mir geht es gut«, hatte Kate jeden Morgen gesagt.

»Wohin gehst du immer?«

»Ich brauche nur ein bisschen Zeit. Und Freiraum.«

»Wofür?«, hatte David gefragt.

»Um mich zu erholen.«

Aber sie hatte sich nicht erholt. Es wurde mit jedem Tag schlimmer. Von Nacht zu Nacht häuften sich die schrecklichen Albträume, die Schweißausbrüche und das nicht enden wollende Nasenbluten. Er hatte sie in den Armen gehalten, geduldig gewartet und gehofft, die Frau, die ihm das Leben gerettet hatte, nachdem er sie vor zwei Wochen vor dem sicheren Tod bewahrt hatte, würde die Kurve kriegen. Aber mit jedem Tag entglitt sie ihm ein wenig mehr. Und jetzt kam sie zu spät. Sie war noch nie zu spät gekommen.

Er sah auf die Uhr. Drei Stunden zu spät.

Sie konnte überall in dem gewaltigen Schiff der Atlanter sein, das sich über fast hundertfünfzig Quadratkilometer erstreckte und vor der bergigen Küste Marokkos, gleich gegenüber von Gibraltar, unter dem Meer lag.

In den letzten vierzehn Tagen hatte David, während Kate weg war, gelernt, einige Systeme des Schiffs zu bedienen. Kate hatte die Sprachsteuerung eingeschaltet, um ihm bei den Befehlen zu helfen, die er noch nicht kannte.

»Alpha, wo ist Dr. Warner?«, fragte David.

Die körperlose Computerstimme des Alpha Landers hallte durch den Raum. »Diese Information ist geheim.«

»Warum?«

»Sie gehören nicht zum Forscherstab.«

Das atlantische Computersystem schien nicht davor gefeit, das Offensichtliche auszusprechen. David setzte sich neben dem Blutfleck auf das Bett. Was ist das Wichtigste? Ich muss wissen, ob es ihr gut geht. Er hatte eine Idee.

»Alpha, kannst du mir Dr. Warners Vitalfunktionen zeigen?«

Gegenüber dem schmalen Bett leuchtete eine Anzeige auf, und David las schnell die Angaben, die er verstand.

Blutdruck: 92/47

Puls: 31

Sie ist verletzt. Oder schlimmer – sie stirbt. Was ist ihr zugestoßen?

»Alpha, warum sind die Vitalfunktionen anomal?«

»Die Information ist ge…«

»Geheim.« David sprang auf und trat den Stuhl gegen den Schreibtisch.

»Ist Ihre Anfrage damit beendet?«, erkundigte sich Alpha.

»Bei Weitem nicht.«

Als David vor die Doppeltür trat, öffnete sie sich zischend. Er zögerte kurz, dann nahm er seine Pistole. Nur für alle Fälle.

David war seit fast zehn Minuten durch die schwach beleuchteten Gänge marschiert, als er hörte, wie sich jemand im Schatten bewegte. Er blieb stehen und wartete darauf, dass seine Augen sich an das trübe Licht aus den Lämpchen an Decke und Boden anpassen würden. Vielleicht konnten die Atlanter bei weniger Licht sehen, oder das Schiff – beziehungsweise der Teil, den sie bewohnten – befand sich im Energiesparmodus. So oder so ließ es das außerirdische Schiff noch geheimnisvoller erscheinen.

Eine Gestalt trat aus dem Schatten.

Milo.

David war überrascht, den jungen Tibeter so tief im Inneren des Schiffs anzutreffen. Milo war der Einzige, der mit Kate und David im Schiff wohnte, aber er verbrachte die meiste Zeit draußen. Er schlief gleich neben dem Schacht, der aus dem eingegrabenen Schiff zum Berggipfel hinaufführte, wo die Berber ihnen Proviant hinterließen. Milo mochte es, unter den Sternen zu schlafen und bei Sonnenaufgang aufzustehen. David sah ihn oft im Schneidersitz meditieren, wenn er und Kate abends hinausgingen, um mit ihm gemeinsam zu essen. Milo war in den letzten beiden Wochen für die gute Stimmung zuständig gewesen, aber jetzt sah David im trüben Licht nur Sorge in seiner Miene.

»Ich habe sie nicht gesehen«, sagte Milo.

»Sag mir über den Schiffsfunk Bescheid, falls du ihr begegnest.« David schlug wieder sein scharfes Tempo ein.

Milo hatte Mühe, ihm zu folgen. Neben Davids muskulöser, einen Meter neunzig großer Gestalt wirkte der einen Kopf kleinere Tibeter fast zwergenhaft. Es sah aus, als stürmte ein Riese mit seinem jungen Handlanger durch ein dunkles Labyrinth.

»Das ist nicht nötig«, keuchte Milo.

David warf einen Blick nach hinten.

»Ich begleite Sie.«

»Du solltest wieder nach oben gehen.«

»Das kann ich nicht«, sagte Milo.

»Sie wird sauer sein.«

»Wenn es ihr gut geht, ist mir das egal.«

Geht mir genauso, dachte David. Sie gingen schweigend weiter; nur das rhythmische Klopfen von Davids Stiefeln auf dem Metallboden und Milos leisere Schritte waren zu hören.

David blieb vor einer großen Doppeltür stehen und aktivierte die Konsole an der Wand. Auf der Anzeige stand:

Medizinische Nebenstation 12

Es war die einzige medizinische Abteilung in ihrem Teil des Schiffs, und David hatte keine bessere Idee, wo Kate sonst jeden Tag hingehen könnte.

Er streckte die Hand weiter in die grüne Lichtwolke, die aus der Bedienkonsole auftauchte, und bewegte einige Sekunden die Finger, bis sich die Tür öffnete.

David durchquerte den Raum.

Es gab vier Untersuchungstische in der Mitte. Eine Längswand wurde von holografischen Anzeigen eingenommen. Der Raum war leer. War Kate schon gegangen?

»Alpha, kannst du mir sagen, wann diese Station zum letzten Mal benutzt wurde?«

»Diese Station wurde am 9.12.38.28 zuletzt verwendet. Das ist das lokale Datum der betreffenden Mission, umgerechnet ins Standartdatum am 12.39.12.47.29…«

David schüttelte den Kopf. »Wie viele Erdentage ist das her?«

»Neun Millionen einhundertachtundzwanzigtausend …«

»Okay, gut. Gibt es noch eine medizinische Station in unserem Bereich des Schiffs?«

»Negativ.«

Wo könnte sie sonst sein? Vielleicht gab es eine andere Methode, um sie aufzuspüren.

»Alpha, kannst du mir zeigen, welche Bereiche des Schiffs gerade die meiste Energie verbrauchen?«

Ein Bildschirm an der Wand flackerte auf, und ein holografisches Modell des Schiffs materialisierte sich. Drei Bereiche leuchteten: Ark 1701-D, Medizinische Nebenstation 12 und Flexibles Forschungslabor 47.

»Alpha, was ist das Flexible Forschungslabor 47?«

»Ein flexibles Forschungslabor kann für eine Vielzahl von biologischen und anderen Experimenten konfiguriert werden.«

»Und wie ist das Flexible Forschungslabor 47 im Moment konfiguriert?« David rüstete sich für die Antwort.

»Diese Information ist geheim …«

»Geheim«, murmelte David. »Natürlich.«

Milo streckte ihm einen Eiweißriegel entgegen. »Für den Weg.«

David trat, gefolgt von Milo, zurück in den Gang, riss die Verpackung auf, biss ein großes Stück des braunen Riegels ab und kaute schweigend. Immerhin schien es gegen die Frustration zu helfen.

David blieb mitten im Gang stehen, sodass Milo beinahe gegen seinen Rücken geprallt wäre.

Er bückte sich und untersuchte etwas am Boden.

»Was ist da?«, fragte Milo.

»Blut.«

Danach ging David schneller, und aus den wenigen Tropfen Blut wurden ganze Schlieren.

Vor der Doppeltür des Flexiblen Forschungslabors 47 bewegte David seine Finger in dem grünen Licht der Bedienkonsole. Sechsmal gab er den Befehl zum Öffnen ein, und jedes Mal leuchtete auf dem Display dieselbe Mitteilung auf:

Keine Zugangsberechtigung

»Alpha! Warum kann ich diese Tür nicht öffnen?«

»Sie haben keine Zugangsberechtigung.«

»Wie komme ich da rein?«

»Gar nicht«, hallte Alphas entschiedene Antwort durch den Gang.

David und Milo standen einen Moment lang einfach nur da, bis David schließlich leise sagte: »Alpha, zeig uns Dr. Warners Vitalfunktionen.«

Die Anzeige an der Wand veränderte sich:

Blutdruck: 87/43

Puls: 30

Milo wandte sich zu David.

»Fallend«, sagte David.

»Was jetzt?«

»Jetzt warten wir.«

Milo setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und schloss die Augen. David wusste, dass er die Stille in seinem Inneren suchte, und in diesem Moment wünschte er, er könnte dasselbe tun und alles beiseiteschieben. Angst vernebelte seine Gedanken. Er wollte unbedingt, dass sich die Tür öffnete, aber zugleich fürchtete er sich davor, fürchtete sich zu erfahren, was mit Kate geschah, welches Experiment sie durchführte, was sie sich selbst antat.

David war fast eingeschlafen, als der Alarm ertönte. Alphas Stimme dröhnte durch den engen Gang.

»Medizinischer Notfall. Zustand des Probanden kritisch. Zugangssperre aufgehoben.«

Die breite Doppeltür zum Forschungslabor glitt auf.

David stürmte hinein und rieb sich die Augen, während er zu verstehen versuchte, was er sah.

Hinter ihm sagte Milo ehrfurchtsvoll: »Wow.«

2

Alpha Lander

400 Meter unter dem Meeresspiegel

Vor der marokkanischen Nordküste

»Was ist das?«, fragte Milo.

David sah sich in dem Labor um. »Keine Ahnung.«

Der Raum war riesig, mindestens dreißig Meter lang und fünfzehn Meter breit, aber im Gegensatz zur medizinischen Station gab es hier keine Tische. Auf dem Boden standen nur zwei Glaskuppeln mit einem Durchmesser von gut drei Metern. Gelbes Licht glühte in ihnen, und funkelnde weiße Teilchen schwebten vom Boden empor. Die Kuppel auf der rechten Seite war leer. In der anderen stand Kate.

Mit zu den Seiten ausgestreckten Armen schwebte sie einen halben Meter über dem Boden. Sie trug dieselbe Zivilkleidung, in der sie am Morgen das Schlafzimmer verlassen hatte, aber etwas war neu: ein silberner Helm. Er bedeckte ihren gesamten Kopf, auch das Kinn. Das kürzlich gefärbte Haar hing ihr auf die Schultern herab. Ihre Augen konnten keinen Hinweis darauf geben, was mit ihr vorging, denn sie waren von einem schmalen schwarzen Visier bedeckt. Den einzigen Anhaltspunkt lieferte ein Blutrinnsal, das aus dem Helm über ihren Hals floss und das graue T-Shirt beschmutzte. Der Fleck schien mit jeder Sekunde zu wachsen.

»Alpha, was … ist hier los?«, fragte David.

»Bitte um Präzisierung.«

»Was ist das für ein … Experiment?«

»Simulation der Wiedergeburtserinnerungen.«

Was soll das bedeuten? Wird sie durch die Simulation verletzt?

»Wie kann ich das stoppen?«

»Gar nicht.«

»Warum nicht?«, fragte David mit wachsender Ungeduld.

»Die Unterbrechung der Wiedergeburtserinnerung würde das Leben des Probanden beenden.«

Milo warf David einen angsterfüllten Blick zu.

David sah sich in dem Raum um. Was sollte er tun? Er brauchte einen Anhaltspunkt, etwas, womit er beginnen könnte. Als er den Kopf in den Nacken legte, um nachzudenken, entdeckte er eine kleine schwarze Glashalbkugel, die von der Decke auf ihn hinabblickte.

»Alpha, hast du Videoaufzeichnungen aus diesem Labor?«

»Bestätige.«

»Spiel sie ab.«

»Definieren Sie den Zeitraum.«

»Fang an, wenn Dr. Warner heute in den Raum kommt.«

Licht strömte aus der linken Wand und bildete langsam ein Hologramm. Die Kuppeln waren leer. Die Doppeltür glitt auf, und Kate kam herein. Sie ging zur rechten Wand, auf deren Bildschirm Texte und Symbole aufleuchteten, die David nicht entziffern konnte. Kate stand da, bewegte die Augen von links nach rechts und nahm die Informationen auf, die jeweils weniger als eine Sekunde lang auf dem Monitor verblieben.

»Cool«, flüsterte Milo.

David trat unwillkürlich einen Schritt zurück. In diesem Moment verstand er ansatzweise, was mit Kate geschah, welch ein Abgrund sich zwischen seinen und ihren geistigen Fähigkeiten ausbreitete.

Vor zwei Wochen hatte Kate ein Mittel gegen die Atlantis-Seuche gefunden, die weltweite Pandemie, die bei ihrem ersten Ausbruch eine Milliarde Menschenleben und durch ihre Mutation zahllose weitere gefordert hatte. Die Seuche hatte die Welt zweigeteilt. Die Überlebensrate war niedrig, aber die Überlebenden veränderten sich auf genetischer Ebene. Manche der Überlebenden profitierten von der Seuche – sie wurden stärker und schlauer. Der Rest degenerierte und führte wieder ein primitives Dasein. Die Weltbevölkerung scharte sich um zwei Kontrahenten: die Orchid-Allianz, die die Seuche zu bremsen und zu heilen versuchte, und Immari International, das die Seuche ausgelöst hatte und dafür eintrat, den genetischen Transformationen freien Lauf zu lassen. Kate, David und eine Gruppe von Soldaten und Wissenschaftlern hatten die Seuche und den Immari-Plan aufgehalten, indem sie die Bausteine eines Gegenmittels isolierten: endogene Retroviren, die die Atlanter bei ihren Eingriffen in die menschliche Evolution hinterlassen hatten.

Als die Seuche schließlich jede Minute Millionen Todesopfer forderte, fand Kate eine Möglichkeit, all diese viralen Überbleibsel miteinander in Einklang zu bringen und die Krankheit zu heilen. Ihre Therapie schuf ein stabiles atlantisch-menschliches Genom, aber sie musste einen hohen Preis für diesen Erfolg zahlen.

Das Wissen kam aus unterdrückten Erinnerungen in Kates Unterbewusstsein – Erinnerungen einer atlantischen Forscherin, die das genetische Experiment im Laufe der Jahrtausende an den Menschen durchgeführt hatte. Diese Erinnerungen ermöglichten es Kate, die Seuche zu heilen, aber sie nahmen ihr auch viel von ihrer eigenen Persönlichkeit – den Teil, der Kate war und nicht die atlantische Wissenschaftlerin. Während die Uhr ablief und die Seuche die Welt im Griff hatte, beschloss Kate, das atlantische Wissen zu behalten und die Krankheit zu heilen, statt die Erinnerungen loszuwerden und ihre eigene Identität zu bewahren.

Sie sagte David, sie glaube, sie könne den Schaden reparieren, den die atlantischen Erinnerungen angerichtet hatten, aber im Laufe der Tage wurde David bewusst, dass ihre Experimente nicht funktionierten. Sie wurde immer kränker und weigerte sich, mit David darüber zu reden. Er hatte gespürt, wie sie sich von ihm entfernte, und jetzt, während er die Aufzeichnung ansah, in der Kate die Informationen auf dem Bildschirm augenblicklich aufnahm, wusste er, dass er das Ausmaß ihrer Verwandlung unterschätzt hatte.

»Kann sie das so schnell lesen?«, fragte Milo.

»Nicht nur das. Ich glaube, sie lernt es auswendig«, flüsterte David.

Er spürte, wie sich eine andere Angst in ihm ausbreitete. Lag es daran, dass Kate sich so sehr verändert hatte, oder daran, dass er begriff, wie weit das Ganze seinen Horizont überstieg?

Fang mit dem Einfachen an, dachte er.

»Alpha, wie kann Dr. Warner dich ohne Sprachbefehle oder manuelle Eingabe steuern?«

»Dr. Warner erhielt vor neun Erdentagen ein neurales Implantat.«

»Erhielt? Wie?«

»Dr. Warner hat mich so programmiert, dass ich die Operation durchgeführt habe.«

Noch etwas, das bei ihren abendlichen Was-gibt’s-Neues-auf-der-Arbeit-Gesprächen nicht erwähnt worden war.

Als Milo David ansah, zeichnete sich ein Grinsen auf seinen Lippen ab. »Ich will auch so eins.«

»Ohne mich.« David konzentrierte sich auf den Holofilm. »Alpha, erhöhe die Abspielgeschwindigkeit.«

»Welche Bildrate?«

»Fünf Minuten pro Sekunde.«

Die auf dem Bildschirm aufleuchtenden Texte verschwammen zu weißen Flächen, die in Wellen aus der Dunkelheit auftauchten. Kate rührte keinen Muskel.

Einige Sekunden verstrichen. Dann war der Bildschirm aus, und Kate schwebte in der gelben Kuppel.

»Halt«, sagte David. »Spiel die Aufzeichnung noch mal von der Stelle ab, an der Dr. Warner in das runde … Ding steigt.«

David sah mit angehaltenem Atem zu. Der Bildschirm erlosch, und Kate ging zur Wand hinter den Kuppeln. Eine Klappe glitt auf; Kate nahm einen silbernen Helm heraus und ging damit zu einer der Kuppeln, die sich sogleich öffnete. Sie trat hinein, setzte den Helm auf und wurde vom Boden gehoben, nachdem sich die Kuppel wieder geschlossen hatte.

»Alpha, spiel die Aufzeichnung wieder schneller ab.«

Es veränderte sich nichts, außer dass aus Kates Helm langsam Blut zu tropfen begann.

David und Milo betraten den Raum, dann leuchteten drei Worte auf dem Bildschirm auf.

Ende der Aufzeichnung.

Milo wandte sich zu David. »Was jetzt?«

David sah zwischen dem Bildschirm und der Kuppel, in der sich Kate befand, hin und her. Dann blickte er zu dem leeren Glasbehälter.

»Alpha, kann ich an Dr. Warners Experiment teilnehmen?«

Die Klappe an der Rückwand öffnete sich und präsentierte einen einzelnen silbernen Helm.

Milos Augen weiteten sich. »Das ist eine schlechte Idee, Mr. David.«

»Hast du irgendwelche guten Ideen?«

»Sie müssen das nicht tun.«

»Du weißt, dass ich es mache.«

Die Glaskuppel drehte sich und öffnete sich für ihn. David stieg hinein. Sobald er den Helm aufgesetzt hatte, verschwand das Forschungslabor um ihn herum.

3

Es dauerte einige Sekunden, bis sich Davids Augen an das helle Licht gewöhnten. Direkt vor ihm leuchtete auf einem dreieckigen Bildschirm ein Text auf, den er noch nicht lesen konnte. Der Ort erinnerte ihn an eine Bahnhofshalle mit ihrer Anzeigetafel für ankommende und abfahrende Züge, nur dass es keinen Eingang und keinen Ausgang zu geben schien, bloß einen weißen Boden und gebogene Säulen, zwischen denen das Licht hineinfiel.

Alphas Stimme dröhnte durch den Raum. »Willkommen im Wiedergeburtsarchiv. Erteilen Sie Ihren Auftrag.«

David trat dichter an die Anzeigetafel und begann zu lesen.

Erinnerungsdatum

(Zustand)

Wiedergabe

12.37.40.13

(beschädigt)

abgeschlossen

13.48.19.23

(intakt)

abgeschlossen

13.56.64.15

(beschädigt)

abgeschlossen

Ein Dutzend Einträge folgten – alle Vorgänge waren abgeschlossen. Die letzte Zeile lautete:

14.72.47.33

(beschädigt)

aktiv

»Alpha, welche Möglichkeiten gibt es?«

»Sie können eine archivierte Erinnerung öffnen oder sich in eine aktive einschalten.«

Aktiv. Kate würde dort sein. Wenn sie verletzt war … oder angegriffen wurde … David sah sich um. Er hatte keine Waffen, nichts, mit dem er sie verteidigen könnte. Es spielte keine Rolle.

»Ich schalte mich in die aktive Simulation ein.«

»Sollen die vorhandenen Teilnehmer benachrichtigt werden?«

»Nein«, sagte er instinktiv. Das Überraschungsmoment könnte ihm einen Vorteil verschaffen.

Der von Licht durchflutete Bahnhof löste sich auf, und ein viel kleinerer und dunklerer Ort nahm Gestalt an. Die Brücke eines Raumschiffs. David stand an der Rückwand. Texte, Tabellen und Bilder scrollten über die Wände des ovalen Raums und bedeckten sie vollständig. Weiter vorn standen zwei Gestalten vor einem breiten Beobachtungsmonitor und sahen auf einen Planeten, der in der Schwärze des Alls schwebte. David erkannte die beiden sofort.

Der Linke war Dr. Arthur Janus, das andere Mitglied des atlantischen Forscherteams. Er hatte David geholfen, Kate in den letzten Stunden der Atlantis-Seuche vor Dorian Sloane und Ares zu retten, aber David hegte trotzdem gemischte Gefühle für ihn. Der brillante Wissenschaftler hatte eine falsche Therapie gegen die Atlantis-Seuche entwickelt, die siebzigtausend Jahre Evolution auslöschen und die Menschheit an den Punkt zurückbefördern sollte, ehe das Atlantis-Gen verabreicht worden war. Janus hatte geschworen, die Rückabwicklung der Evolution sei die einzige Möglichkeit, die Menschheit vor einem unvorstellbar mächtigen Feind zu beschützen.

Für die Forscherin, die neben Janus stand, empfand David hingegen keine gemischten Gefühle. Er verspürte nichts als Liebe. In der Spiegelung auf den dunklen Bereichen des Monitors konnte er die feinen Züge ihres schönen Gesichts erkennen. Sie war ganz auf den Planeten konzentriert. David hatte diesen Ausdruck schon oft bei ihr gesehen. Beinahe hätte er sich darin verloren, aber eine scharfe Stimme von oben riss ihn in die Realität zurück.

»Sie befinden sich in militärischem Sperrgebiet. Sofort verlassen. Wiederhole: Sie befinden sich in militärischem Sperrgebiet.«

Eine andere Stimme meldete sich. Sie ähnelte der von Alpha. »Kursänderung berechnet. Ausführen?«

»Negativ«, sagte Kate. »Sigma, Benachrichtigungen von Militärbojen ausschalten und geostationäre Umlaufbahn beibehalten.«

»Das ist leichtsinnig«, sagte Janus.

»Ich muss es wissen.«

David trat dichter an den Monitor. Der Planet ähnelte der Erde, aber die Farben unterschieden sich. Die Ozeane waren zu grün, die Wolken zu gelb, das Land nur rot, braun und ockerfarben. Es gab keine Bäume. Lediglich runde schwarze Krater durchbrachen die karge Landschaft.

»Es könnte ein natürliches Ereignis gewesen sein«, sagte Janus. »Eine Reihe von Kometen oder ein Asteroidenfeld.«

»Nein.«

»Das kannst du nicht …«

»Es war kein natürliches Ereignis.« Der Monitor zoomte auf einen der Einschlagskrater. »Zu jedem Krater führen Straßen. Da standen mal Städte. Es war ein Angriff. Vielleicht haben sie ein Asteroidenfeld auseinandergerissen und für ein kinetisches Bombardement verwendet.« Das Bild auf dem Monitor veränderte sich erneut. In einer Wüstenlandschaft tauchte eine zerstörte Stadt auf, deren Wolkenkratzer zerfielen. »Sie haben es dem Fallout überlassen, diejenigen außerhalb der großen Städte zu erledigen. Es könnte da unten Antworten geben.« Kates Stimme duldete keinen Widerspruch. David kannte diesen Tonfall. Er hatte ihn mehrmals miterlebt.

Janus offenbar auch. Er senkte den Kopf. »Nimm den Beta Lander. Ohne die Arks bist du manövrierfähiger.«

Er wandte sich um und ging zur Tür im hinteren Bereich der Brücke.

David spannte sich an, aber Janus konnte ihn offenbar nicht sehen. Kann Kate mich sehen?

Kate folgte Janus, aber dann blieb sie stehen und blickte David an. »Du hättest nicht herkommen sollen.«

»Was geht hier vor, Kate? Etwas passiert mit dir draußen. Du stirbst.«

Kate trat zwei große Schritte auf die Tür zu. »Folge mir nicht.« Sie stürmte durch den Ausgang.

David lief ihr hinterher.

Er stand draußen. Auf dem Planeten. Er wirbelte herum und wollte …

Kate. Sie trug einen Raumanzug und war auf dem Weg zu der zerfallenden Stadt. Hinter ihnen landete ein kleines schwarzes Schiff auf dem roten steinigen Gelände.

»Kate!«, rief David und rannte ihr hinterher.

Sie blieb stehen.

Der Boden bebte einmal, zweimal, und David wurde umgeworfen. Ein rotes Objekt durchbrach den Himmel, blendete David und versengte ihn mit seiner Hitze. Es fühlte sich an, als sauste ein glühender Schürhaken von der Größe eines Asteroiden auf ihn herab.

Er versuchte aufzustehen, aber die bebende Erde warf ihn wieder zu Boden.

Während er davonkroch, spürte er, wie die Steine unter ihm zischend schmolzen.

Kate schien über dem wackelnden Boden zu schweben. Sie sprang in großen Sätzen auf ihn zu und stimmte ihre Landungen auf die Erschütterungen ab, die sie nach oben und nach vorn katapultierten.

Sie warf sich auf ihn, und David wünschte, er könnte ihr Gesicht durch das verspiegelte Visier erkennen.

Er spürte, wie er fiel. Seine Füße berührten einen kalten Boden, und der Kopf schlug gegen eine Glasscheibe. Die Kuppel. Das Forschungslabor.

Die Scheibe schwenkte zur Seite, und Milo stürmte mit hochgezogenen Brauen und offenem Mund auf ihn zu. »Mr. David …«

David blickte an sich hinab. Er war nicht verbrannt, aber schweißbedeckt. Blut floss aus seiner Nase.

Kate.

Davids Muskeln zitterten, als er aufstand und auf ihre Kuppel zutaumelte. Das Glas öffnete sich, und sie fiel heraus wie ein Mehlsack.

David fing sie auf, aber er war nicht stark genug, um sich auf den Beinen zu halten. Er fiel auf den kalten Boden, und sie landete auf seiner Brust.

Er betastete ihren Hals. Der Puls war schwach – aber spürbar.

»Alpha! Kannst du ihr helfen?«

»Unbekannt.«

»Warum?«, schrie David.

»Ich habe keine aktuelle Diagnose.«

»Was zum Teufel muss man machen, um eine zu bekommen?«

Eine runde Klappe öffnete sich, und ein flacher Tisch wurde in den Raum geschoben.

»Einen vollständigen Körperscan.«

Milo lief zu Kates Füßen, und David packte sie unter den Achseln und hob sie dank seiner Hilfe mit letzter Kraft auf den Tisch.

David hatte das Gefühl, der Tisch würde sich alle Zeit der Welt lassen, während er zurück in die Wand glitt. Eine getönte Glasscheibe verschloss die runde Öffnung. Er spähte auf den blauen Lichtstrahl, der sich von Kates Füßen allmählich zu ihrem Kopf bewegte.

Der Bildschirm an der Wand leuchtete auf und verkündete:

Diagnosescan läuft …

»Was ist passiert?«, fragte Milo.

»Ich … wir …« David schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«

Der Bildschirm veränderte sich.

Hauptdiagnose:

Neurodegeneration durch Wiedergeburtssyndrom

Prognose:

Unheilbar

Voraussichtliche Lebenszeit:

4–7 Erdentage

Dringende Probleme:

Subarachnoidalblutung

Sinusthrombose

Empfohlene Vorgehensweise:

Chirurgischer Eingriff

Voraussichtliche Erfolgsrate:

39%

Mit jedem Wort, das David las, verschwamm der Raum um ihn mehr. Er war wie betäubt. Mit einer Hand tastete er nach der Glaskuppel, um sich abzustützen. Er starrte auf den Bildschirm.

Alphas Worte versengten ihn wie die Hitze des Schüreisens auf dem zerstörten Planeten. »Empfohlene Operation ausführen?«

David hörte sich selbst zustimmen und war sich vage bewusst, dass Milo den Arm um ihn legte, obwohl er sich strecken musste, um seine Schulter zu erreichen.

4

Drei Kilometer unter der Antarktis

Die Schreie waren Dorians einziger Wegweiser in den dunklen Gängen des Schiffs. Seit Tagen suchte er nach ihrem Ursprung. Sie endeten jedes Mal, wenn er näher kam, und dann tauchte Ares auf und zwang Dorian, das atlantische Schiff, das sich unter dem Eisschild der Antarktis über sechshundertfünfzig Quadratkilometer erstreckte, zu verlassen, an die Oberfläche zurückzukehren und die Vorbereitungen für den letzten Angriff zu treffen.

Wenn Ares jede wache Stunde in dem Raum verbrachte, aus dem die Schreie drangen, dann spielten sich die wichtigen Dinge dort ab, davon war Dorian überzeugt.

Die Schreie endeten. Dorian blieb stehen.

Als ein weiteres Aufheulen ertönte, bog Dorian um eine, dann um noch eine Ecke. Die Schreie kamen aus dem Raum hinter der Doppeltür vor ihm.

Dorian lehnte sich gegen die Wand und wartete. Antworten. Ares hatte ihm Antworten auf seine Fragen versprochen, die Wahrheit über seine Vergangenheit. Wie Kate Warner war Dorian vor dem ersten Weltkrieg gezeugt und mit Hilfe einer atlantischen Röhre vor der Spanischen Grippe gerettet worden, ehe er 1978 mit den Erinnerungen eines Atlanters erwacht.

Dorian hatte Ares’ Erinnerungen, und diese hatten aus dem Unterbewusstsein sein ganzes Leben gesteuert. Dorian hatte nur wenige Einblicke bekommen: Schlachten zu Land, auf dem Meer, in der Luft und, die größte von allen, im All. Er konnte es kaum erwarten, zu erfahren, was Ares erlebt hatte, seine Vergangenheit, Dorians Vergangenheit, seinen Ursprung. Am meisten sehnte er sich danach, sich selbst zu verstehen, das Warum hinter seinem ganzen Leben.

Er wischte sich einige frische Tropfen Blut von der Nase. Das Nasenbluten wurde immer häufiger, genau wie die Kopfschmerzen und die Albträume. Etwas geschah mit ihm. Er verdrängte den Gedanken.

Die Türen öffneten sich, und Ares schritt heraus, ohne sich über Dorians Anwesenheit zu wundern.

Dorian versuchte, einen Blick in den Raum zu werfen. Ein Mann hing an der Wand. Von den Riemen, die in seine ausgestreckten Arme schnitten, und den Wunden an Brust und Beinen floss Blut herab. Die Türen schlossen sich, und Ares blieb vor ihm stehen. »Du enttäuschst mich, Dorian.«

»Du mich auch. Du hast mir Antworten versprochen.«

»Du wirst sie bekommen.«

»Wann?«

»Bald.«

Dorian trat einen Schritt auf Ares zu. »Sofort.«

Ares schickte Dorian mit einem Handkantenschlag gegen den Kehlkopf zu Boden, wo er keuchend liegen blieb.

»Der nächste Befehl, den du mir gibst, ist der letzte in deinem Leben. Verstanden? Wenn du jemand anders wärst, würde ich dir nicht mal dein Verhalten von eben durchgehen lassen. Aber du bist ich. Mehr als du ahnst. Und ich kenne dich besser, als du dich selbst kennst. Ich habe dir nichts von unserer Vergangenheit erzählt, weil das dein Urteilsvermögen trüben würde. Wir haben eine Aufgabe. Die ganze Wahrheit würde dich in Gefahr bringen. Ich bin auf dich angewiesen, Dorian. In wenigen Tagen werden wir diesen Planeten beherrschen. Die Überlebenden, die Überbleibsel der Menschheit – einer Rasse, bei deren Erschaffung und Errettung vor dem Aussterben ich geholfen habe – werden die Gründungsmitglieder unserer Armee sein.«

»Gegen wen kämpfen wir?«

»Gegen einen unvorstellbar mächtigen Feind.«

Dorian stand auf, achtete jedoch darauf, Ares nicht zu nah zu kommen. »Ich habe ein ziemlich ausgeprägtes Vorstellungsvermögen.«

Ares ging zügig los, und Dorian folgte ihm mit ein wenig Abstand. »Sie haben uns in einem Tag und einer Nacht besiegt, Dorian. Versuch dir das vorzustellen. Wir waren die fortschrittlichste Rasse im gesamten bekannten Universum – sogar weiter entwickelt als die untergegangenen Zivilisationen, die wir entdeckt haben.«

Sie erreichten die Kreuzung, an der die gewaltige Doppeltür zu der kilometerlangen Halle voller Glasröhren mit überlebenden Atlantern abging. »Das sind die Einzigen, die übrig geblieben sind.«

»Hast du nicht gesagt, sie könnten nie mehr aufwachen, weil sie das Trauma der Angriffe nicht überwinden können?«

»So ist es.«

»Aber du hast jemanden in dem Raum. Wer ist das?«

»Er ist keiner von ihnen. Von uns. Es geht dich nichts an. Kümmere dich um den bevorstehenden Krieg.«

»Der bevorstehende Krieg«, murmelte Dorian. »Wir sind nicht gerade viele.«

»Bleib auf Kurs, Dorian. Vertrau mir. In ein paar Tagen gehört uns diese Welt. Dann bereiten wir uns auf den großen Krieg vor, den Feldzug, um alle menschlichen Welten zu retten. Dieser Feind ist auch euer Feind. Die Menschen haben einen Teil unserer DNS. Früher oder später wird dieser Feind euch angreifen. Ihr könnt euch nicht verstecken. Wenn wir jetzt nicht unsere Armee aufstellen, solange uns Zeit bleibt, verlieren wir alles. Das Schicksal Tausender Welten liegt in unseren Händen.«

»Klar. Tausende Welten. Ich erzähl dir mal, was ich als wichtigste Herausforderungen ansehe. Persönlich. Es sind vielleicht ein paar Milliarden Menschen auf der Erde übrig. Sie sind schwach, krank und hungrig. Das ist der Grundstock für unsere Armee – vorausgesetzt, wir können den Planeten einnehmen, und da bin ich mir nicht so sicher. Dann haben wir ein paar Milliarden, die nicht gerade stark sind, in unserer ›Armee‹, falls man das so nennen kann. Gegen eine Macht, die die Galaxie beherrscht … Tut mir leid, aber ich finde, die Chancen stehen ziemlich schlecht.«

»Stell dich nicht dümmer, als du bist, Dorian. Glaubst du wirklich, dieser Krieg hat etwas mit euren primitiven Vorstellungen von einer Weltraumschlacht zu tun? Schiffe aus Metall und Plastik, die durch den Raum schweben und sich gegenseitig mit Lasern und Raketen beschießen? Wir müssen nicht in der Überzahl sein, um diesen Krieg zu gewinnen. Ich habe diesen Plan vor vierzigtausend Jahren geschmiedet. Du bist seit drei Monaten dabei. Vertrau mir, Dorian.«

»Gib mir einen Grund dazu.«

Ares lächelte. »Glaubst du wirklich, du könntest mich dazu anstacheln, dir all die Antworten zu geben, nach denen dein kleines Herz verlangt, Dorian? Ich soll dafür sorgen, dass du dich gut, sicher und eins mit dir selbst fühlst? Deshalb bist du doch ursprünglich in die Antarktis gekommen, oder? Um deinen Vater zu finden? Die Wahrheit über deine Vergangenheit zu erfahren?«

»Warum behandelst du mich so – nach allem, was ich für dich getan habe?«

»Du hast es für dich selbst getan, Dorian. Stell mir die Frage, die du wirklich stellen willst.«

Dorian schüttelte den Kopf.

»Los.«

»Was passiert mit mir?« Dorian sah Ares an. »Was hast du mit mir gemacht?«

»Jetzt kommen wir langsam zur Sache.«

»Etwas stimmt mit mir nicht, oder?«

»Natürlich. Du bist ein Mensch.«

»Das meinte ich nicht. Ich sterbe. Das spüre ich.«

»Wenn es Zeit ist, Dorian. Ich habe dein Volk gerettet. Ich habe einen Plan. Wir werden für dauerhaften Frieden im Universum sorgen. Du glaubst nicht, wie schwierig das ist.« Ares trat näher zu Dorian. »Es gibt Wahrheiten, in die ich dich nicht einweihen kann. Du bist noch nicht bereit. Gedulde dich. Du wirst deine Antworten bekommen. Es ist wichtig, dass ich dir helfe, die Vergangenheit zu verstehen. Deine Fehlinterpretation könnte unser Untergang sein. Du bist wichtig. Ich kann es auch ohne dich tun, aber ich will es nicht. Ich habe lang darauf gewartet, jemanden wie dich an meiner Seite zu haben. Wenn dein Vertrauen groß genug ist, sind uns keine Grenzen gesetzt.«

Ares wandte sich ab, entfernte sich von der Halle mit den Röhren und ging auf den Ausgang zu. Dorian folgte ihm schweigend, während er innerlich mit sich rang: blind gehorchen oder rebellieren? Sie zogen sich ohne ein weiteres Wort die Anzüge an und durchquerten die Eiskammer, in der die Glocke hing.

Dorian blieb stehen und sah zu der Senke, wo er seinen Vater gefunden hatte, in seinem Schutzanzug erfroren, von Eis bedeckt, ein Opfer der Glocke und des Immari-Lieutenants, der ihn verraten hatte.

Ares trat auf den Metallkorb zu. »Die Zukunft ist alles, was zählt, Dorian.«

Sie glitten durch den dunklen senkrechten Schacht, und der Korb hielt an der Oberfläche. Reihen von Wohncontainern erstreckten sich über die flache Eisdecke wie halb im Schnee vergrabene weiße Raupen.

Dorian war in Deutschland und dann in London aufgewachsen. Er hatte nur gedacht, zu wissen, was Kälte ist. Die Antarktis war eine Wildnis, die mit nichts zu vergleichen war.

Als er und Ares auf das Gebäude der Einsatzleitung zugingen, huschten Immari-Angestellte in dicken weißen Parkas zwischen den Containern hin und her. Manche grüßten, andere gingen mit gesenkten Köpfen weiter, um sich vor dem Wind zu schützen.

Hinter den Wohneinheiten, entlang des Zauns, errichteten Crews mit schwerem Gerät den Rest der »Antarktis-Festung«, wie sie mittlerweile genannt wurde. Zwei Dutzend Railguns waren nach Norden ausgerichtet und warteten auf den Angriff, mit dem Immari fest rechnete.

Keine Armee der Erde war vorbereitet, hier Krieg zu führen – auch vor der Seuche nicht. Und danach schon gar nicht. Luftangriffe stellten angesichts der Railguns keine Gefahr dar. Selbst eine groß angelegte Bodenoffensive mit Artillerieunterstützung vom Meer würde niemals Erfolg haben. Dorian musste an die Nationalsozialisten, die Nachfolger seines Vaters, und ihre dumme Winteroffensive in Russland denken. Die Orchid-Allianz erwartete dasselbe Schicksal, wenn sie hier landete.

In der Einsatzzentrale nahmen die Soldaten in den Gängen Haltung an, als die beiden Anführer vorbeigingen. Im Kontrollraum sprach Ares den Einsatzleiter an. »Sind wir bereit?«

»Ja, Sir. Wir haben die Ressourcen überall auf der Welt gesichert. Minimale Verluste.«

»Und die Suchteams?«

»Sind vor Ort. Sie haben allesamt die vorgegebene Bohrtiefe an der Grenzlinie erreicht. Einige hatten Probleme mit Einschlüssen im Eis, aber wir haben Nachschub geschickt.« Der Einsatzleiter zögerte. »Aber sie haben nichts gefunden.« Er drückte auf seine Tastatur, und eine Karte der Antarktis tauchte auf einem Bildschirm auf. Sie war mit roten Punkten übersät.

Was sucht er?, fragte sich Dorian. Ein weiteres Schiff? Nein. Das hätte Martin mit Sicherheit gewusst. Etwas anderes?

Ares erwiderte Dorians Blick, und in diesem Moment hatte Dorian eine Empfindung, von der er lange verschont geblieben war, sogar in dem Gang unten, als Ares ihn geschlagen hatte. Angst.

»Haben sie die Geräte heruntergelassen, die ich bereitgestellt habe?«, fragte Ares.

»Ja«, sagte der Einsatzleiter.

Ares ging zur Vorderseite des Raums. »Aktivieren Sie den Funkkanal für die gesamte Basis.« Der Einsatzleiter drückte einige Tasten und nickte.

»An die mutigen Männer und Frauen, die aufopferungsvoll für unsere Sache arbeiten: Der Tag, auf den wir uns vorbereitet haben, ist gekommen. In wenigen Minuten werden wir der Orchid-Allianz Frieden anbieten. Ich hoffe, sie akzeptiert. Wir streben nach Frieden auf der Erde, damit wir uns auf einen Kampf mit einem Feind, der keinen Frieden kennt, vorbereiten können. Diese Herausforderung liegt vor uns. Heute möchte ich Ihnen für Ihren Dienst danken und Sie um Vertrauen für die kommenden Stunden bitten.« Ares sah Dorian an. »Und wenn Ihr Vertrauen auf die Probe gestellt wird, sollten Sie Folgendes wissen: Wenn man eine neue Welt aufbauen will, muss man zuerst den Mut aufbringen, die alte zu zerstören.«

5

Atlanta, Georgia

Dr. Paul Brenner drehte sich um und sah auf die Uhr.

5:25 Uhr.

In fünf Minuten klingelte der Wecker. Dann würde er ihn ausschalten, aufstehen und sich fertig machen – für nichts. Es wartete keine Arbeit auf ihn, keine dringenden Angelegenheiten, um die er sich kümmern musste. Es gab nur eine kaputte Welt, die sich nach Führung sehnte, und seit vierzehn Tagen hatte er nichts mehr damit zu tun. Er hätte besser schlafen sollen als je zuvor, aber irgendetwas fehlte ihm. Er wachte immer kurz vor halb sechs auf, ehe der Wecker klingelte, bereit, erwartungsvoll, als würde sich an diesem Tag alles ändern.

Er schlug die Decke zurück, schlurfte ins Bad und wusch sich das Gesicht. Er duschte morgens nie – er wollte schnell ins Büro, um der Erste zu sein und einen Vorsprung vor seinen Untergebenen zu haben. Nach der Arbeit ging er immer ins Fitnessstudio. Das half ihm, sich zu Hause besser zu entspannen und Arbeit und Privatleben zu trennen. Was bei seiner Arbeit nicht so einfach war. Ständig gab es einen neuen Krankheitsausbruch, einen Verdacht auf einen Ausbruch oder ein bürokratisches Chaos, mit dem er sich auseinandersetzen musste. Als Direktor der Abteilung Weltweite Seuchenerkennung und Notfallmaßnahmen hatte er einen schwierigen Job. Ansteckende Krankheiten waren nur die eine Hälfte des Problems.

Und dann war da noch das Geheimnis, das Paul hütete. Seit zwanzig Jahren arbeitete er mit einem globalen Konsortium, das sich auf den schlimmsten Fall vorbereitete, eine Pandemie, die die Menschheit auslöschen konnte – und jene war in Form der Atlantis-Seuche aufgetaucht. Die jahrelange harte Arbeit hatte sich ausgezahlt. Die weltweite Einsatzgruppe, Continuity, hatte die Seuche eingedämmt und letztendlich ein Heilmittel gefunden – dank einer Wissenschaftlerin, der er noch nie persönlich begegnet war, Dr. Kate Warner. Vieles an der Atlantis-Seuche war Paul noch immer ein Rätsel, aber eins wusste er mit Sicherheit: Sie war vorbei. Er sollte eigentlich überglücklich sein. Aber er fühlte sich vor allem verloren.

Er fuhr sich mit der Hand durch das kurze schwarze drahtige Haar und strich es glatt. Als er im Spiegel das leere Doppelbett sah, überlegte er kurz, sich wieder schlafen zu legen.

Wofür machst du dich fertig? Die Seuche ist vorbei. Es gibt nichts mehr zu tun.

Nein. Das stimmte nicht ganz. Sie wartete auf ihn.

Sein Bett war leer, aber nicht das Haus. Er konnte schon das Frühstück riechen.

Er schlich die Treppe hinunter, um seinen zwölfjährigen Neffen Matthew nicht zu wecken.

In der Küche klirrte ein Topf.

»Guten Morgen«, flüsterte Paul, sobald er eingetreten war.

»Morgen«, sagte Natalie, die gerade Rührei aus der Pfanne auf einen Teller kippte. »Kaffee?«

Paul nickte und setzte sich an den kleinen runden Tisch vor dem Erkerfenster, durch das man in den steil abfallenden Garten blicken konnte.

Natalie stellte den Teller mit dem Ei neben einer großen Schüssel Grütze ab. Der gebratene Speck komplettierte das Büfett. Er war mit Folie abgedeckt, damit er warm blieb. Paul legte ihnen schweigend auf. Vor der Seuche hatte er meist ferngesehen, während er sein Frühstück hinunterschlang, aber so gefiel es ihm besser – in Gesellschaft. Er hatte schon lange keine Gesellschaft mehr gehabt.

Natalie gab eine Prise Pfeffer an ihre Grütze. »Matthew hatte wieder einen Albtraum.«

»Wirklich? Ich habe nichts gehört.«

»Ich habe ihn so gegen drei Uhr beruhigt.« Sie aß ein wenig von dem Ei mit der Grütze und salzte nach. »Du solltest mit ihm über seine Mutter reden.«

Davor hatte Paul sich gefürchtet. »Okay.«

»Was machst du heute?«

»Ich weiß nicht. Ich habe überlegt, ins Depot zu fahren.« Er zeigte auf die Speisekammer. »In ein paar Wochen geht uns das Essen aus. Besser jetzt Nachschub besorgen, bevor sich die Orchid-Distrikte leeren und es einen Ansturm gibt.«

»Gute Idee.« Sie zögerte und schien das Thema wechseln zu wollen. »Ich habe einen Freund namens Thomas. Er ist ungefähr in meinem Alter.«

Paul sah auf. In deinem Alter?

»Fünfunddreißig, nebenbei bemerkt«, beantwortete sie mit einem leichten Lächeln seine unausgesprochene Frage. Sie blickte auf ihr Essen, und das Lächeln verschwand. »Seine Frau ist vor zwei Jahren an Krebs gestorben. Er war am Boden zerstört. Im ganzen Haus ließ er ihre Fotos hängen. Es ging ihm nicht besser, bis er anfing, über sie zu reden. Das war für ihn der Schlüssel, um darüber hinwegzukommen.«

Ist ihr Mann gestorben? An der Atlantis-Seuche? Vorher? Will sie mir das mitteilen? Paul war ein Experte, wenn es darum ging, Retroviren zu entschlüsseln oder andere Analysen im Labor durchzuführen. Aber Menschen, vor allem Frauen, blieben ein ewiges Rätsel für ihn. »Ja, kann ich mir vorstellen. Wenn jemand … so einen Verlust erlitten hat, ist es bestimmt sehr heilsam, darüber zu reden.«

Natalie beugte sich vor, aber von der anderen Seite des Raums ertönte ein Alarm und zerstörte den Augenblick. Nein, kein Alarm. Pauls Telefon.

Paul stand auf und hob den Hörer ab.

»Paul Brenner.«

Er hörte zu, nickte mehrmals und versuchte, eine Frage zu stellen, aber die Leitung war tot, ehe er dazu kam.

»Wer war das?«

»Die Regierung«, sagte Paul. »Sie schicken mir einen Wagen. Es gibt ein Problem in den Orchid-Distrikten.«

»Glaubst du, der Erreger hat mutiert? Eine neue Infektionswelle?«

»Vielleicht.«

»Soll ich mitkommen?«

Natalie war das einzige verbliebene Mitglied der Continuity-Forschungsabteilung – des Teams, das die weltweiten Bemühungen im Kampf gegen die Atlantis-Seuche koordiniert hatte. Davor hatte sie in einem Labor am CDC gearbeitet. Wahrscheinlich konnte sie in wissenschaftlicher Hinsicht nichts beitragen, aber aus irgendeinem Grund hätte Paul sie gern dabeigehabt, wenn nicht etwas Wichtiges dagegengesprochen hätte. »Ich brauche jemanden, der sich um Matthew kümmert. Ich kann dich kaum darum bitten …«

»Brauchst du auch nicht. Wir sind hier, wenn du zurückkommst.«

Oben zog Paul sich schnell an. Er hätte sich gern weiter mit Natalie unterhalten, aber er musste zugeben, dass es sich gut anfühlte, sich für die Arbeit fertig zu machen, gebraucht zu werden, aus dem Haus zu gehen. Er hörte ein Hupen von draußen. Als er aus dem Fenster blickte, sah er eine schwarze Limousine mit getönten Scheiben im Leerlauf vor der Tür stehen und Abgaswolken in die kalte Luft des trüben Morgens ausstoßen.

An der Haustür zerrte er seinen Mantel aus dem Schrank. Auf der anderen Seite des Flurs stand ein kleiner Tisch mit einem Hochzeitsfoto von Paul und seiner Frau. Exfrau. Sie hatte ihn vor vier Jahren verlassen.

Meinte sie das vorhin? Glaubt sie, meine Frau wäre tot?

Natürlich. Überall hingen noch die Fotos im Haus.

Paul verspürte den unwiderstehlichen Drang, die Angelegenheit klarzustellen, bevor er das Haus verließ. »Natalie.«

»Moment«, rief sie aus der Küche.

Paul warf noch einen Blick auf das Hochzeitsfoto. Die letzte Unterhaltung mit seiner Frau ging ihm durch den Kopf.

»Du arbeitest zu viel, Paul. Du wirst immer zu viel arbeiten. So kann das nicht funktionieren.«

Paul hatte auf dem Sofa gesessen – drei Meter von dort, wo er jetzt stand – und zu Boden geblickt.

»Morgen holt das Umzugsunternehmen meine Sachen. Ich möchte nicht mit dir streiten.«

Und sie hatten sich nicht gestritten. Er war immer noch nicht wütend auf sie. Sie war nach New Mexico gezogen, und sie hatten Kontakt gehalten, aber er hatte die Fotos nicht abgehängt. Er war ihm einfach nicht in den Sinn gekommen. Zum ersten Mal bedauerte er es.

Natalies Stimme riss ihn aus seinen Erinnerungen. »Falls sie dir nichts zu essen geben.«

Paul nahm die braune Papiertüte. Er zeigte auf das Foto auf dem Tisch. »Wegen meiner Frau …«

Die Hupe ertönte, dieses Mal länger.

»Wir können darüber reden, wenn du zurückkommst. Pass auf dich auf.«

Paul wollte den Arm nach ihr ausstrecken, doch dann zögerte er und griff stattdessen zur Türklinke. Er ging hinaus zu dem Auto. Zwei Marines stiegen aus, und der auf seiner Seite öffnete ihm die Tür. Wenige Sekunden später fuhren sie los.

Paul drehte sich um, sah durch das Rückfenster auf sein zweigeschossiges Ziegelhaus und wünschte, er hätte dort mehr Zeit verbracht.

6

Orchid-Distrikt Beta

Atlanta, Georgia

Paul Brenner blickte aus dem Fenster des Konferenzraums im dritten Stock und versuchte zu begreifen. Menschen standen in den Straßen aufgereiht. Medizinisches Personal schritt die Schlangen ab, nahm Messungen vor und schickte die Leute in verschiedene Gebäude, aus denen sie erschöpft wieder herauskamen. Es sah aus, als würden alle einer Musterung unterzogen.

»Was denken Sie, Paul?«

Als Paul sich umdrehte, sah er Terrance North, den neuen Verteidigungsminister, in der Tür stehen. North war ein ehemaliger Marine, und obwohl er einen enganliegenden marineblauen Anzug trug, wirkte er immer noch wie ein Soldat. Sein Gesicht war hager, die Haltung steif. Paul hatte North während der Atlantis-Seuche mehrmals bei Videokonferenzen gesehen und stellte fest, dass er, wenn man ihm persönlich gegenüberstand, wesentlich beeindruckender wirkte.

Paul zeigte auf die Straße. »Ich verstehe nicht ganz, was da vorgeht.«

»Kriegsvorbereitungen.«

»Krieg gegen wen?«

»Die Immari.«

»Unmöglich. Die Europäer haben sie in Südspanien vernichtend geschlagen. Sie liegen am Boden, und die Seuche ist vorbei. Die Immari sind keine Bedrohung mehr.«

North schloss die Tür hinter sich und schaltete den großen Bildschirm an. »Sie reden von konventioneller Kriegsführung. Ein Krieg, wie wir ihn von früher kennen.«

»Was soll das bedeuten?«

»Es steht eine neue Art von Konflikt bevor.« North tippte auf seinem Laptop, und Videos erschienen auf dem Bildschirm. Bewaffnete Kräfte in schwarzer Kleidung ohne Abzeichen griffen eine Reihe von Industrieanlagen und Lagerhäusern an. Paul erkannte die Orte nicht. Es waren jedenfalls keine Armeebasen.

»Das sind Lebensmittellager«, sagte North. »Seit die Orchid-Regierungen zu Beginn des Ausbruchs die Nahrungsversorgung verstaatlicht haben, stehen sie unter leichter Bewachung. Das letzte Video ist von der Archer-Daniel-Midland-Anlage in Decatur, Illinois. Immari-Einheiten haben diese und andere wichtige Lebensmittelfabriken vor einer Woche besetzt.«

»Wollen sie uns aushungern?«

»Das ist nur ein Teil ihres Plans.«

»Können Sie die Anlagen nicht zurückerobern?«

»Natürlich. Aber die Immari werden sie zerstören, wenn wir angreifen. Deshalb stecken wir in der Klemme. Wir können nicht schnell genug neue Anlagen aufbauen.«

»Finden Sie Leute, die Lebensmittel herstellen …«

»Darum kümmern wir uns bereits. Deswegen sind Sie nicht hier.«

»Warum dann?«

»Ich möchte Ihnen alle Informationen geben, Paul. Damit Sie eine fundierte Entscheidung treffen können.«

Was für eine Entscheidung?, dachte Paul.