Das Avery Shaw Experiment - Kelly Oram - E-Book
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Das Avery Shaw Experiment E-Book

Kelly Oram

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Beschreibung

Avery Shaw ist schon ewig in ihren besten Freund Aiden verliebt - bis er ihr das Herz bricht. Doch sie weiß, wie sie über ihn hinwegkommen wird: Mit Hilfe der Wissenschaft! Für einen Wettbewerb will sie die sieben Schritte der Trauer bewältigen. Nur ein Projektpartner fehlt ihr. Bis sich Aidens Bruder Grayson anbietet, der auf einmal die Lösung ihres Problems zu sein scheint. Er benötigt dringend Nachhilfe in Physik, wenn er weiter in seinem Basketballteam bleiben will. Die beiden gehen einen Deal ein - und auf einmal klopft Averys Herz schneller ...

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Seitenzahl: 271

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Widmung

Prolog

1 Schock und Fassungslosigkeit

Prolog Nr. 2

2 Ein Experiment ist geboren

3 Leugnen

4 Soziale Integration

5 Sozialwissenschaft

6 Das Leben nach Aiden

7 Schuld

8 Wissenschaftsnerds

9 Fehlgeschlagenes Experiment

10 Wissenschaftliche Methoden

11 Wut

12 Depression

13 Akzeptanz

14 Hoffnung

Epilog

Epilog Nr. 2

Danksagungen

Weitere Titel der Autorin

Cinder & Ella

Cinder & Ella – Happy End. Und Dann?

V is for Virgin

A is for Abstinence

Girl at heart

Kelly Oram

Das Avery Shaw Experiment

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Stephanie Pannen

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The Avery Shaw Experiment«

Für die Originalausgabe:Copyright ® 2019 by Kelly Oram

Published by arrangement with Bookcase Literary Agency

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright ® 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München unter Verwendung von Motiven von © Ron Dale / shutterstock.com; Mila_ls / shutterstock.com

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-0436-6

www.one-verlag.de

www.luebbe.de

Für Mom, meinen Lieblingswissenschaftsnerd.

   Prolog

Avery

Das folgende Tagebuch ist eine wissenschaftliche Studie zur Überwindung eines gebrochenen Herzens und mein offizieller Beitrag für die Utah State Science Fair.

Meine Theorie lautet, dass Liebeskummer dem Tod eines geliebten Menschen sehr ähnelt. Daher liegt es nahe, dass man die verheerenden Auswirkungen eines gebrochenen Herzens durch Anwendung der allgemein akzeptierten sieben Trauerphasen (Schock/Fassungslosigkeit, Nicht-Wahrhaben-Wollen, Verhandeln, Schuld, Wut, Depression und Akzeptanz/Hoffnung) überwinden kann.

In diesem Experiment werde ich meine Theorie anhand meines eigenen gebrochenen Herzens belegen. Ich gehe davon aus, dass mein Herz nach dem Durchleben aller sieben dieser Schritte von sämtlichen Rissen und jeglicher Trauer geheilt sein wird und ich in der Lage sein werde, mich neu zu verlieben.

Da ich, Avery Shaw – eine durchschnittliche sechzehnjährige Schülerin in Spanish Fork, Utah, – offensichtlich nicht unvoreingenommen bin, was dieses Thema angeht, und nicht immer in der Lage sein werde, unbefangene Beobachtungen durchzuführen, habe ich mir die Hilfe meines Mitschülers Grayson Kennedy gesichert, der mich während dieser Studie als unbeteiligter Beobachter unterstützen wird. Anders als ich hat der achtzehnjährige Basketballstar und beliebte Frauenheld absolut kein persönliches Interesse am Ergebnis dieses Experiments. (Er beteiligt sich ausschließlich wegen der zusätzlichen Leistungspunkte.)

Wir nennen dieses Projekt das »Avery-Shaw-Experiment«.

1Schock und Fassungslosigkeit

Avery

Um das volle Ausmaß meines Schocks zu begreifen, den ich erlitt, als mir Aiden Kennedy das Herz brach, muss man die ungewöhnlichen Umstände unserer Beziehung bis zu diesem Punkt verstehen.

Aiden und ich kennen einander schon unser ganzes Leben. Unsere Mütter lernten sich in einem Geburtsvorbereitungskurs kennen und wurden sofort zu besten Freundinnen. Sie hatten den gleichen ausgerechneten Geburtstermin und mussten sich beide während des Kurses ständig übergeben, was sie noch enger zusammenschweißte.

Aiden und ich wurden am gleichen kalten Wintertag geboren: am 11. Februar 1997. Als Babys gingen wir in die gleichen Krabbelgruppen und Spieltreffen. Als wir ein bisschen älter waren, wurde es der gleiche Kindergarten und dann die gleiche Grundschule und schließlich dieselbe Highschool. Wir haben den gleichen Freundeskreis, nehmen an den gleichen außerschulischen Aktivitäten teil und haben sogar jeden einzelnen unserer Geburtstage zusammen gefeiert.

Ich bin schon seit Jahren hoffnungslos in Aiden verliebt, aber trotz meiner geheimen unsterblichen Zuneigung waren wir nie etwas anderes als beste Freunde. Da mir klar war, dass sich Jungs in Sachen Liebe und Romantik langsamer entwickeln, habe ich geduldig darauf gewartet, dass mich Aiden gefühlstechnisch einholen würde. Ich hatte nie einen Zweifel daran, dass er mich eines Tages als das Mädchen sehen würde, das ich bin, und mir meinen ersten Kuss schenkt. Dann würden wir zusammen zum Abschlussball gehen und schließlich zu Mr und Mrs Aiden und Avery Kennedy werden. Selbst unsere Namen passen perfekt zusammen.

Doch letztes Silvester hat Aiden die Bombe platzen lassen, die mein Leben für immer verändert hat. Meine Mutter und ich verbrachten die Weihnachtsferien wie jedes Jahr in der unglaublich schicken Wohnung der Familie Kennedy in Park City. Es war kurz vorm Abendessen, und Aiden und ich schauten uns eine faszinierende Dokumentation über die Auswirkungen von Steroiden auf den menschlichen Körper an.

»Wo in aller Welt steckt dein Bruder?« Aidens Mutter Cheryl stand in der Küche und betrachtete stirnrunzelnd den Stapel schmutzigen Geschirrs im Spülbecken.

Genau genommen war Grayson Kennedy zwar nicht mein Bruder, aber ich zuckte nicht mal mit der Wimper, bevor ich die Frage seiner Mutter beantwortete. »Er ist vor ungefähr einer Stunde ins Fitnessstudio runtergegangen.«

»Mit nacktem Oberkörper«, fügte Aiden schnaubend hinzu. »Die neuen Nachbarn in der 7B haben wohl eine extrem gut aussehende Tochter. Offensichtlich ist sie ein ... was hat er noch mal für ein Wort benutzt?«

»Whooty«, antwortete ich lachend.

»Ein Whooty?«, wiederholte Cheryl fragend.

»Kannten wir auch noch nicht. Aber wir haben es nachgeschlagen.«

Fröhlich zitierte Aiden die Definition, die wir auf urbandictionary.com gefunden hatten. »›Ein weißes Mädchen mit hübschem Gesicht, einer schlanken Taille und einem üppig geformten Hintern.‹«

Cheryl stieß ein langes, erschöpftes Seufzen aus, aber dennoch lag eine Spur Belustigung in ihrer Stimme, als sie sagte: »Wie kommt er bloß immer auf dieses Zeug?«

Wie aufs Stichwort stürmte genau in diesem Moment Grayson durch die Wohnungstür und beantwortete die Frage seiner Mutter. »Manche Menschen haben eben ein besonderes Talent.« Er schlenderte in die Küche – immer noch mit nacktem Oberkörper, inzwischen aber schweißgebadet –, nahm seine Mutter in die Arme und gab ihr einen feuchten Schmatzer auf die Wange. »Hab dich lieb, Mom! Was gibt's zum Abendessen? Ich bin am Verhungern.«

»Igitt!«, kreischte Cheryl und wedelte ihn beiseite. »Das ist ja widerlich, Grayson! Ich dachte, ich hätte dich besser erzogen!«

Grayson runzelte die Stirn. »Seit wann ist es unhöflich, seine Mutter zu umarmen und ihr zu sagen, dass man sie lieb hat?«

Wieder seufzte Cheryl, musste aber schmunzeln. Als sie den Schmollmund im Gesicht ihres Ältesten sah, schob sie ihm schnell einen Cookie mit Schokoladenstückchen in den Mund.

Und wie manche Leute ein besonderes Talent haben. Grayson Kennedy konnte jedes Mädchen um den kleinen Finger wickeln. Und das tat er auch, wenn man dem, was in der Schule über ihn erzählt wurde, Glauben schenken konnte. Und das konnte man.

»Ich hab dich auch lieb, mein Schatz«, sagte Cheryl. »Aber du stinkst. Geh bitte duschen, und dann kommst du wieder und spülst das Geschirr.«

»Ich soll spülen?«, jammerte Grayson und ging in Richtung Kühlschrank.

Glücklicherweise konnte ihm Cheryl noch ein Glas in die Hand drücken, bevor er direkt aus der Milchpackung trank. »Ja. Du sollst spülen. Du warst an der Reihe, dich nach dem Mittagessen um das Geschirr zu kümmern. Wenn das nicht gleich erledigt ist, wirst du dich auch noch um das Geschirr vom Abendessen kümmern, und Avery ist aus dem Schneider.«

»Großartig!«, rief ich über meine Schulter hinweg aus dem Wohnzimmer. »Bitte, Grayson, schiebe es noch ein bisschen länger hinaus.«

Erst jetzt bemerkte Grayson seinen Bruder und mich auf dem Sofa. »Was treibt ihr zwei Trottel denn da?«

»Wir lernen alles über Steroide«, antwortete ich fröhlich. »Du solltest wissen, dass sie Akne, Hodenatrophie, verringerte Spermienzahl, Prostatavergrößerung und Gynäkomastie verursachen können.«

Grayson wirkte angemessen entsetzt. »Gynäkowas bitte?«

»Vergrößerte Brüste bei Männern«, übersetzte Aiden. »Du solltest also besser damit aufhören, bevor du dir Averys BHs leihen musst.«

Bei der Erwähnung meiner Unterwäsche musste ich nach Luft schnappen und schlug Aiden gegen die Schulter.

Hinter mir lachte Grayson. Ich wusste, dass gleich sein Konter kommen würde, aber ich weigerte mich, ihn anzusehen. Sekunden später spürte ich seinen warmen Atem in meinem Nacken. Er flüsterte gerade leise genug, dass seine Mutter ihn nicht hören konnte. »Ich mag meine BHs bunt und aus Spitze, Aves. Ich denke nicht, dass deine Sammlung meinen Geschmack treffen würde.«

Am liebsten wäre ich im Boden versunken. Grayson gehörte zwar praktisch zur Familie, aber er war immer noch einer der attraktivsten und beliebtesten Jungs unserer Schule. Wie er jetzt mit dieser leisen, sexy Stimme über meine Unterwäsche redete, verschlug mir irgendwie den Atem. Außerdem hatte er natürlich recht. Meine Unterwäsche bestand aus schlichter weißer Baumwolle.

»Mom! Grayson hackt wieder auf Avery herum!«

Aidens Ruf riss mich aus meiner kleinen Panikattacke. Grayson hatte seinen Blick noch immer auf mich gerichtet, und ein teuflisches Lächeln umspielte seine Lippen, also tat ich das Einzige, was mir in diesem Moment einfiel: Ich schnüffelte und tat dann so, als müsste ich würgen. »Igitt. Deine Mom hat recht. Du stinkst wirklich. Bitte geh woanders deinen Schweiß verteilen.«

Lachend kehrte Grayson auf der Suche nach weiteren Cookies in die Küche zurück.

»Warum ist dein Bruder eigentlich so ein wandelndes Hormon?«, fragte ich Aiden. »Denkst du, es ist das ganze Training? Ich meine, mit dem Kraftsport, dem Snowboarding und dem Basketball muss er doch so ungefähr fünfundachtzig Prozent der Zeit auf Endorphinen sein. Denkst du, dass da ein Zusammenhang besteht? Je aktiver der Sportler, desto größer die Sucht nach Sex?«

Aiden zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich. Denk nur mal an den Ruf von manchen Profisportlern.«

»Ha! Vielleicht sollten wir das zum diesjährigen Thema unseres Experiments für den Wissenschaftsclub machen.«

Aiden sah mich skeptisch an. »Wie genau würdest du diese Theorie denn untersuchen?«

Ich dachte an die praktische Anwendung, die für ein solches Experiment nötig sein würde, und lief sofort wieder rot an.

»Meinetwegen«, gab ich nach, auch wenn die Vorstellung, wie Aiden und ich zusammen trainierten, um anschließend wild herumzuknutschen, ziemlich reizvoll war. »Aber wir müssen uns bald etwas einfallen lassen. Der Wettbewerb ist dieses Jahr schon im März. Das gibt uns nicht viel Zeit.«

Aidens Körper versteifte sich auf einmal. Ich sah ihn gerade noch rechtzeitig an, um zu bemerken, wie er ein bisschen grün um die Nase wurde.

»Was ist los mit dir?« Ich wollte schon scherzen, dass er zu viele Steroide genommen hatte, aber er wirkte zu erschrocken, um Witze zu machen. Er hatte etwas auf dem Herzen, also stellte ich den Fernseher leise, setzte mich auf und schenkte ihm meine volle Aufmerksamkeit.

»Alles okay?«

»Ja.« Aiden schluckte. »Es ist nur ... ich wollte eh mal mit dir darüber reden.«

»Worüber?«

Er atmete tief durch. »Ich werde dieses Jahr nicht an der Science Fair teilnehmen.«

Ich brauchte einen Moment, um diese Neuigkeit sacken zu lassen. Seit der sechsten Klasse hatten wir immer zusammen an der Utah State Science Fair teilgenommen. Jedes Jahr.

»Was?«

»Ähm ... na ja ... weißt du ... Miles Fuller ist weggezogen, also braucht der Debattierclub jemand Neues, sonst können sie nicht mehr an ihren Wettbewerben teilnehmen. Mindy Perez und ich hatten letztes Schuljahr zusammen diesen Rhetorikkurs ... und sie hat mich gebeten, für Miles einzuspringen. Sie hat gesagt, ich habe Charisma und ein Talent dafür, Leute von Dingen zu überzeugen.«

Für eine komplette Minute lang fehlten mir die Worte. Aiden sprach zwar meine Sprache, dennoch ergaben seine Worte für mich keinen Sinn. »Du bist dem Debattierclub beigetreten?«

Er nickte.

»Aber die treffen sich zur gleichen Zeit wie unser Wissenschaftsclub.«

»Ich weiß.« Aiden schaute auf seinen Schoß, als könnte er mir nicht mehr in die Augen sehen. »Ich bin aus dem Wissenschaftsclub ausgetreten. Ich habe Mr Walden deshalb schon eine Mail geschrieben.«

»Du bist ausgetreten?« Meine Stimme hüpfte so viele Oktaven nach oben, dass sie mitten im letzten Wort brach. Das hatte den unangenehmen Nebeneffekt, mich wie eine Maus klingen zu lassen. »Aber du bist mein Co-Präsident!«

»Du bist doch eh viel besser mit all dem Wissenschaftskram.«

»Ja, aber ich bin keine Anführerin. Darum haben uns die anderen ja beide gewählt. Zusammen. Ich brauche dich.«

Aiden verzog sein Gesicht und schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Tust du nicht.«

»Gut«, sagte ich, obwohl in Wirklichkeit gar nichts gut war. »Aber selbst, wenn du nicht mehr offiziell Teil von uns bist, könntest du den Wettbewerb doch noch mit mir zusammen machen. Die anderen haben alle schon ihre Partner. Ich müsste allein teilnehmen.«

Endlich sah mir Aiden in die Augen. Sein Blick war jetzt noch schuldbewusster. »Dafür werde ich keine Zeit haben. Mindy sagt, die Debatten werden ziemlich intensiv. Und dann sind da ja auch noch die ganzen Leistungskurse dieses Jahr. Die Science Fair ist super viel Arbeit.«

»Ich weiß! Und wir haben bereits bis Januar gewartet, um loszulegen. Allein schaffe ich das nicht. Dann muss ich auch aussteigen.«

»Nein, du schaffst das«, sagte Aiden. »Du bist so großartig, Avery. Du findest einen Weg. Das tust du immer. Und hey, ohne mich, der dich sowieso nur runterzieht, wirst du zur Abwechslung wahrscheinlich endlich mal den ersten Platz belegen.«

»Halt die Klappe! Das werde ich nicht! Ohne dich falle ich auseinander!«

Aiden seufzte und griff nach meiner Hand. »Aves«, sagte er langsam. »Das ist noch so ein Grund, warum ich Mindy zugesagt habe. Ich glaube, ich brauche mal ein bisschen Zeit für mich.«

Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Wie ein Herz, das einen Schlag aussetzte. Und als es wieder anfing zu schlagen, hatte sich mein Leben für immer verändert.

»Zeit für dich? Was meinst du damit?« Ich wusste, was er damit meinte. Ich hoffte nur inständig, dass ich mich irrte, denn ansonsten riss er mir gerade das Herz aus der Brust, und das würde ich nicht ertragen können. »Willst du damit sagen, dass du nicht mehr mit mir befreundet sein willst?«

Schnell schüttelte Aiden den Kopf. »Natürlich nicht. Wir werden immer Freunde sein. Das weißt du doch. Aber, Aves, wir verbringen mehr Zeit zusammen als siamesische Zwillinge. Ich denke, es würde uns guttun, vielleicht auch mal mit anderen abzuhängen, weißt du? Getrennt voneinander. Und ...« Ein weiteres Schulterzucken und Schlucken. »Ich will unsere Geburtstage dieses Jahr nicht zusammen feiern. Ich will mein eigenes Ding machen.«

Jemand schnappte überrascht nach Luft, und in der Küche fiel etwas klirrend zu Boden. Ich war dankbar für die Ablenkung, bis ich sah, wie uns Cheryl entsetzt anstarrte. In ihren Augen standen Tränen, und sie hatte die Hand vor den Mund gepresst. Das Glas, das sie in der Hand gehalten hatte, war um ihre nackten Füße herum in ebenso viele Teile zersprungen wie mein Herz.

»Mom!« Aiden sprang auf und begann, die größeren Glasscherben einzusammeln.

Ich ging ein Geschirrtuch und den Besen holen, aber meine Bewegungen glichen denen eines Roboters. Mein Körper hatte auf Autopilot geschaltet, weil sich mein Gehirn in Schockstarre befand.

Ich konnte nicht verstehen, was passiert war. Hatte sich plötzlich die Erdachse verschoben? Verschmolzen die Grenzen von Raum und Zeit, sodass die Realität in alternative Universen aufgesplittet wurde? War Park City insgeheim das Tor zur Hölle, und ich war hineingefallen, ohne es zu merken?

Ich reichte Aiden stumm das Geschirrtuch und fegte die restlichen Splitter zusammen, doch als ich zum Mülleimer ging, rannte ich versehentlich gegen eine Mauer aus harten, noch immer verschwitzten Muskeln. »Tschuldigung«, murmelte ich Grayson zu.

Er stand da, sah zwischen seinem Bruder und mir hin und her, und ein unzerkautes Stück Cookie drohte aus seinem weit offenstehenden Mund zu fallen.

»Kannst du mal aus dem Weg gehen? Du blockierst den Mülleimer.«

Das versetzte ihn in Bewegung. »Oh, na klar. Tut mir leid.« Er trat beiseite und floh aus der Küche. Dabei murmelte er etwas von duschen.

Ich schaute ihm nach, weil das leichter war, als seinen Bruder anzusehen.

Aidens Finger schoben sich von hinten sanft über meine. »Aves.«

Seine leise Stimme ließ mir Tränen in die Augen schießen. Er zog leicht an meiner Hand, doch ich konnte mich noch nicht zu ihm umdrehen. Ich stand kurz davor loszuheulen, und das würde ich ihn auf keinen Fall sehen lassen.

»Avery.«

Nach einem tiefen Atemzug ließ das Brennen in meinen Augen nach. Ich drehte mich zu ihm um und zwang mich zu einem Lächeln. Ich glaube, es war allein mein verletzter Stolz, der die Tränen in Schach hielt.

»Bist du okay?«, fragte Aiden.

Die Antwort war ein eindeutiges Nein, aber ich nickte trotzdem. »Natürlich. Klar bin ich okay. Warum auch nicht? Ist ja nur ein Wissenschaftsprojekt. Ich schaffe das schon, genau wie du gesagt hast. Was das andere angeht, verstehe ich dich. Alles cool. Wenn es das ist, was du willst. Es macht bestimmt Spaß, die Dinge mal ein bisschen aufzumischen.«

Lügen! Das waren nichts als Lügen!

Die Lügen waren so groß, dass sie mir bis tief in der Seele wehtaten, aber was noch mehr schmerzte, war die Tatsache, dass Aiden sie glaubte. Er atmete erleichtert auf und umarmte mich. »Ich bin so froh, dass du es verstehst. Ich hatte Angst, dass du mich dafür hasst und nie mehr mit mir sprichst.«

»So was könnte ich niemals tun«, murmelte ich.

Seine Umarmung wurde noch inniger, war voller Dankbarkeit, aber stattdessen hätte er mir auch gleich in die Brust greifen und das letzte bisschen Leben aus meinem Herzen quetschen können.

Ich kniff die Augen zusammen. Gleich würde es losgehen. Die Tränen würden sich nicht ewig zurückhalten lassen. Mir blieben noch Minuten, vielleicht sogar nur Sekunden, bevor ich einfach auseinanderfallen würde.

»Schon gut«, sagte ich, während ich mich aus Aidens Umarmung befreite. »Du weißt, dass ich dich niemals hassen könnte.«

Aiden schenkte mir ein breites Lächeln. »Danke, Aves.« Er gab mir einen Kuss auf die Wange und flüsterte: »Du bist die Beste.«

In diesem Moment konnte ich nicht sprechen, ohne mich zu verraten, also nickte ich nur.

Cheryl musste meinen wahren emotionalen Zustand erkannt haben, denn sie räusperte sich und fragte Aiden, ob es ihm etwas ausmachen würde, den Müllbeutel mit den Glasscherben zum Container zu bringen.

Sobald er fort war, schlang sie ihre Arme um mich. »Avery, es tut mir so leid! So, so leid! Ich verstehe nicht ...« Ihre Stimme verlor sich. Sie war genauso perplex wie ich.

»Schon gut, Cheryl. Ist in Ordnung. Wirklich.« Ich löste mich von ihr und rannte praktisch aus dem Raum. Ich schaffte es gerade noch in den oberen Flur, bevor ich auf dem Boden zusammenbrach und losheulte.

Ein paar Minuten später hörte ich die Wohnungstür ins Schloss fallen. Ich atmete tief ein, denn ich wusste, dass ich es in mein Zimmer schaffen musste, bevor Aiden um die Ecke kam und mich sah. Doch es war die Stimme meiner Mutter, die ertönte, und nicht Aidens.

Ihr fröhliches »Grayson! Avery! Kommt und helft Aiden bei den Einkäufen!« wurde nicht wie sonst üblich wiederholt, als keiner von uns antwortete. Stattdessen konnte ich gedämpftes Flüstern hören, gefolgt von einem sehr lauten erschrockenen Keuchen. Cheryl hatte meine Mutter wohl gerade auf den neuesten Stand gebracht, und jetzt redeten sie wahrscheinlich darüber, wie am Boden zerstört ich war.

Ich rappelte mich gerade wieder hoch, als ich meine Mutter sagen hörte: »Ich werde mit ihr reden. Vielleicht feiere ich Silvester heute Abend lieber mit ihr allein.«

Das wollte ich auf keinen Fall. Ich hatte meine Mom lieb, aber ich war noch nicht bereit, mich der Wahrheit zu stellen. Dafür stand ich viel zu sehr unter Schock. Phase eins des Trauerprozesses? Bereits in vollem Gange.

Außerdem wollte ich mich nicht im Selbstmitleid suhlen, während die Familie Kennedy so tat, als würde sie nicht wissen, warum meine Mom und ich den Silvesterabend nicht mit ihnen verbrachten.

Panisch stürmte ich durch die erste Tür, die ich finden konnte, und lehnte mich von innen dagegen. Es war nicht das erste Mal, dass ich eine Panikattacke bekam, aber noch nie war es so schlimm wie jetzt gewesen. Mir war schwindlig, alles schmerzte, ich konnte nicht atmen und auch nicht klar denken.

Ich war so neben der Spur, dass ich im Badezimmer gelandet war, während Grayson unter der Dusche stand. Und ich hatte es nicht mal bemerkt, bis er mit einem äußerst überraschten Gesichtsausdruck hinter dem Vorhang hervorlugte. »Aves, Süße, ich bin hier gerade ein bisschen beschäftigt.« Er zog eine Augenbraue hoch und grinste mich an. »Außer du hast vor, dich mir anzuschließen ...«

In diesem Moment ertönte ein lautes Klopfen an der Tür, und die besorgte Stimme meiner Mutter rief nach mir. Ich sah zu Grayson, und in diesem Moment nackter Panik dachte ich nicht nach, sondern sprang einfach zu ihm hinter den Vorhang. Mein Gehirn setzte einfach aus.

»Whoa! Avery! Das war nur ein Witz!«

Ich konnte Grayson zwar hören, aber reagierte nicht. Ich lehnte mich gegen die kalte Fliesenwand und schloss die Augen, während heißes Wasser auf mich herunterprasselte.

Ein weiteres Klopfen, diesmal lauter, dann wurde die Tür geöffnet. »Avery? Bist du das hier drin, Süße?«

Ich schüttelte panisch den Kopf und hoffte inständig, dass mich Grayson nicht verraten würde.

»Tut mir leid, Kaitlin. Ich bin's nur.«

»Oh. Entschuldige, Grayson. Ich dachte, du wärst vielleicht Avery.«

»Das passiert mir ständig«, scherzte er.

Meine Mom lachte auf, dann seufzte sie schwer. »Wenn du hier fertig bist und sie sehen solltest, sag ihr, dass ich sie suche.«

»Mach ich.«

Die Tür fiel ins Schloss, und es wurde wieder ruhig. Ich hatte so lange unter dem heißen Wasser gestanden, dass ich Kopfschmerzen bekam und mir richtig schwindlig wurde. Meine Knie gaben nach.

Geistesgegenwärtig fing Grayson mich auf. »Avery, du musst atmen.«

Ich holte tief Luft. Während Sauerstoff meine Lunge flutete, wurde mir klar, dass dies wahrscheinlich mein erster Atemzug seit Minuten war. Wortwörtlich.

»Aves«, sagte eine tiefe, beruhigende Stimme. Ich spürte Hände, die sich auf meine Wangen legten.

Als ich die Lider aufschlug, sah ich in Graysons wunderschöne stechend blaue Augen, die mich nur Zentimeter entfernt anblickten und mein gesamtes Sichtfeld einnahmen. »Bist du wieder okay?«, fragte er.

Meine Atmung hatte sich zwar irgendwie beruhigt, aber ich würde nie wieder okay sein. Ich schlang meine Arme um ihn und schluchzte gegen seine Brust.

Ich habe keine Ahnung, wie lange ich mich so an Grayson klammerte, während ich innerlich zerbrochen war. Wie lang es auch andauerte, Grayson versuchte zu keinem Zeitpunkt, sich von mir zu lösen. Stattdessen wiegte er mich unter dem heißen Wasser, während er mir tröstende Worte zuflüsterte und über meine Haare strich.

Schließlich ließ die Panikattacke nach, und ich hatte mich wieder einigermaßen unter Kontrolle. Da wurde mir plötzlich klar, dass ich angezogen unter der Dusche stand und mich an einen sehr nackten Grayson Kennedy klammerte. Und bestimmte Körperteile von ihm schienen gegen diese Situation absolut nichts einzuwenden zu haben.

Ich keuchte erschrocken und versuchte mich von ihm zu befreien, doch er hielt mich fest und lachte leise. »So ist das nun mal, Aves. Ich bin ein Kerl, der nackt unter einer Dusche steht und ein Mädchen im Arm hält, dessen klitschnasses T-Shirt sich ziemlich reizvoll an ihren überraschend beeindruckenden Körper schmiegt.«

Als ich daraufhin erneut nach Luft schnappte, ließ Grayson mich los. Noch lange nachdem ich aus der Dusche geflohen war, lachte er weiter vor sich hin. Deshalb hatte ich auch keinerlei Gewissensbisse, als ich ihm sein Handtuch stahl. Sollte er doch sehen, wo er blieb, wenn er mit seiner Dusche fertig war.

   Prolog Nr. 2

(Ja, ihr habt richtig gelesen. Wenn Avery eines von diesen schicken Prolog-Dingern bekommt, um sich zu erklären, dann will ich auch eines. Sie ist hier nicht die Einzige, die eine Geschichte zu erzählen hat!)

Grayson

Also erstens ist Protokoll führen zu müssen, total ätzend. Wahrscheinlich bekomme ich allein schon dafür dieses Gynäkodingsbums.

Zweitens – und das ist der viel wichtigere Punkt, den ich in meinem einzigartigen, total brillanten zusätzlichen Prolog festhalten muss – ist Averys Experiment völliger Quatsch.

Avery Shaw hat eigentlich gar kein gebrochenes Herz. Klar, sie ist gekränkt. Mein dämlicher kleiner Bruder hat ihr auf jeden Fall wehgetan, und dafür wird er von mir irgendwann auch noch eine Abreibung bekommen, das verspreche ich euch. Aber Avery war nicht wirklich in Aiden verliebt und leidet daher auch nicht wirklich an einem gebrochenen Herzen.

Woran Avery wirklich leidet, ist eine große Portion Zurückweisung und eine schädliche Dosis Co-Abhängigkeit.

Avery und Aiden sind ein vollkommen durchgeknallter Fall. Unsere Mütter haben ihnen schon lange vor ihrer Geburt jede Chance auf Normalität verbockt. Natürlich liebt Avery Aiden, aber sie hat nicht die geringste Ahnung, was es bedeutet, in jemanden verliebt zu sein. Sie denkt nur, sie wüsste es. Ihre Perspektive ist völlig Banane.

Für Avery ist Aiden vertraut und ungefährlich. Sie setzt diese Gefühle der Sicherheit damit gleich, in ihn verliebt zu sein, weil es leichter ist, als sie als das zu sehen, was sie wirklich sind – eine Stütze, die sie benutzt, um mit ihrer Schüchternheit und sozialen Angst umzugehen.

Ihre Theorie, dass sie sich auf magische Weise selbst heilen wird, indem sie die sieben Phasen der Trauer durchlebt, ist absoluter Schwachsinn. Glücklicherweise hat sie bei diesem Projekt einen Partner, der nicht so dumm ist, wie alle denken. Ich werde sie mit meinem eigenen Experiment wieder in Ordnung bringen.

Während sich Avery in ihrem eigenen Protokoll vormacht, sie würde über meinen Bruder hinwegkommen – wobei ich sie natürlich absolut unterstützen werde –, werde ich es sein, der hinter dem Avery-Shaw-Experiment die richtige Arbeit erledigt.

Wenn ich mit ihr fertig bin, wird Avery Shaw eine wundervolle, selbstbewusste, emotional stabile junge Frau sein, die bereit ist, echte Liebe zu erfahren, mit oder ohne ihre ach so kostbaren sieben Trauerphasen.

Außerdem wird mein kleiner Bruder es für immer bereuen, den dümmsten Fehler seines Lebens gemacht zu haben – da bin ich mir sicher.

2Ein Experiment ist geboren

Grayson

Wo soll man nur anfangen, wenn man von Avery Shaw redet? Ich kenne sie schon ihr ganzes Leben lang – und doch habe ich sie nie wirklich gekannt.

Ihre Mutter und sie sind inoffizielle Mitglieder meiner Familie, seit sich unsere Mütter in einem Geburtsvorbereitungskurs gegenseitig angekotzt haben, als ich vierzehn Monate alt war. Nachdem Averys Vater die Familie verlassen hat, da war ich vier Jahre alt, sind die beiden nur noch unzertrennlicher geworden. Meine Familie hat sie praktisch adoptiert, und mein Vater hat den Platz als einziges männliches Rollenvorbild in Averys Leben eingenommen.

Für mich war sie immer so was wie eine nervige kleine Schwester, doch das alles änderte sich an dem Tag, als mein Bruder sie abgeschossen hat. Ihr fragt euch warum? Ich will es mal so ausdrücken: Wenn sich ein Mädchen von euch halten und trösten lässt, während ihre ganze Welt zusammenbricht, obwohl ihr splitterfasernackt seid, ändert das die Art, wie ihr sie seht.

Das klatschnasse durchsichtige T-Shirt hat dabei aber auch nicht geschadet.

Es dauerte eine Weile, um aus der Dusche zu kommen, nachdem Avery schließlich gegangen war. Zuerst musste ich kaltes Wasser laufen lassen, weil ... na ja, ich musste eben. Außerdem brauchte ich Zeit, um das eben Erlebte zu verarbeiten. Avery Shaw war in so viel mehr hineingeplatzt als nur in meine Dusche. Sondern auch in meinen Kopf, auf eine Art und Weise, die ich niemals für möglich gehalten hatte. Und vielleicht hatte sie sich sogar ein bisschen in mein Herz gestohlen. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich damit umgehen, und noch viel weniger, was ich deswegen unternehmen sollte. Aber irgendwas musste ich tun. Avery war am Boden zerstört und vollkommen unfähig, selbst darüber hinwegzukommen.

Das war der Moment, in dem das Avery-Shaw-Experiment für mich begann. Es war noch nicht genau definiert, und ich hatte keine Ahnung, dass ich dafür Leistungspunkte bekommen würde – das war nur ein zusätzlicher Bonus –, aber mir wurde zum ersten Mal klar, dass Avery Shaw das Potential hatte, so viel mehr zu sein, als sie im Moment war. Alles, was sie brauchte, war ein bisschen Hilfe von jemandem, der entspannt und cool war und ihr zeigen konnte, wie das Leben eigentlich gelebt werden sollte.

Während ich mich unter der Dusche abkühlte, entschied ich mich, Avery Shaw wieder in Ordnung zu bringen. Ich würde ihr dabei helfen, über ihre Abhängigkeit von meinem Bruder hinwegzukommen, und sie damit vertraut machen, wie die Welt wirklich funktionierte – abseits ihrer kleinen Blase, in der sie derzeit lebte. Den Anfang wollte ich damit machen, ihr zu zeigen, wie man Silvester richtig feiert – auf einer richtigen Party, auf einem richtigen Date, mit einem richtigen Kuss um Mitternacht. Ich war schon ganz aufgeregt. Kein Witz, als ich mich an diesem Abend zurechtmachte, schaute ich in den Spiegel und dachte: »Aufgepasst, Avery Shaw. Grayson Kennedy wird dein Leben verändern.«

Irgendjemand musste es ja tun.

Nicht weiter überraschend, fand ich sie schließlich in ihrem Bett. Ich setzte mich neben das herzförmige Ende des Knäuels unter der Decke, und ihre verheulte Stimme krächzte: »Bitte geh weg, Mom. Ich will jetzt nicht darüber reden.«

Ich weiß nicht warum, aber das brachte mich zum Lächeln. »Gut, denn Zuhören ist keine meiner Stärken.«

Ich konnte ihr Entsetzen praktisch spüren, als ihr klar wurde, dass ich es war. »Hau ab, Grayson!«, kreischte sie. »Hab ich für einen Abend nicht schon genug von dir gesehen?«

Es war immer leicht, sie aufzuziehen, weil sie so schnell verlegen war. Aber war sie schon immer so unglaublich süß gewesen?

»Du hattest deine Augen die ganze Zeit über geschlossen«, scherzte ich. »Du hast überhaupt nichts Interessantes gesehen.«

»Gefühlt hab ich auf jeden Fall etwas!«

Wieder musste ich lachen. Ich wusste, dass ich es wahrscheinlich besser sein lassen sollte, aber ich konnte nicht anders. »Ich bin mir genau darüber bewusst, was du gefühlt hast, Aves. Ich hab da nämlich auch eine Menge gefühlt. Offensichtlich. Also, war es für dich so gut wie für mich?«

»Igitt! Du bestehst wirklich zu hundert Prozent aus Hormonen! Hau einfach ab, und lass mich sterben!«

Ich zog mich zurück, bevor sie völlig ausrastete. »Geht leider nicht. Drüben im Resort steigt eine wilde Silvesterparty mit unseren Namen auf der Gästeliste.«

Ich wusste, dass sie nichts sagen würde, dennoch machte ich eine Pause, um ihr die Gelegenheit zu geben, bevor ich weitersprach. »Außer du willst den Abend lieber mit den Eltern und meinem dämlichen kleinen Bruder verbringen. Ihr werdet euch die ganze Zeit anschweigen und Blickkontakt vermeiden. Und du weißt, dass unsere Mütter auf keinen Fall zulassen werden, dass du dich den ganzen Abend in deinem Zimmer verkriechst. Ich habe gerade noch gehört, wie sie sich darüber unterhalten haben, wie sie dich hier rausbekommen.«

Das hatte ich zwar nicht, aber ich war mir trotzdem sicher, dass sie das gerade taten.

Avery wusste ebenfalls, dass es stimmte, denn sie schlug die Decke zurück und sah mich böse an.

»Komm schon, Aves. Lass uns gehen, bevor sie uns zwingen, den Abwasch zu machen.«

Ihr böser Blick wurde langsam unsicher. »Für eine Party habe ich gar nichts Richtiges anzuziehen.«

Ich hatte Avery schon in allem gesehen, von Jeans über Pyjamas und Kleidern bis hin zu Badeanzügen, doch als ich in diesem Moment meinen Blick über sie wandern ließ, war es, als würde ich sie zum ersten Mal sehen.

Avery würde nie einen Preis als das heißeste Mädchen der Schule gewinnen, aber sie war wirklich süß. Verglichen mit meinen eins fünfundneunzig Körpergröße und dreiundachtzig Kilo Gewicht wirkte sie winzig. Ich glaube, nebeneinanderstehend hatten wir den gleichen Effekt wie ein großer alter Golden Retriever und ein Kätzchen. Irgendwie funktionierte es einfach. Ihre Haare waren hübsch – hellbraun und glatt. Sie passten gut zu ihrer hellen Haut und den Sommersprossen. Außerdem hatte sie eine niedliche kleine Stupsnase, doch ihr attraktivstes Merkmal waren auf jeden Fall ihre großen, ausdrucksvollen Augen. Sie waren strahlend blau, ganz ähnlich wie meine. Doch durch ihre konnte man immer direkt in ihre Seele blicken. Das war die eine Sache, die mir immer schon an ihr aufgefallen war. Sie war immer so ehrlich. Man musste sie nur ansehen, und ihre Augen sagten einem alles, was man wissen wollte. Das ist selten bei Mädchen. Zumindest war es das bei den Mädchen, mit denen ich bisher ausgegangen bin.

»Zieh einfach was Warmes an«, sagte ich.

Ich wollte gerade das Zimmer verlassen, als sie mich aufhielt. »Grayson?« Ihr Tonfall berührte etwas in mir. »Und du würdest dich wirklich heute Abend mit mir abgeben?«

Sie klang so unsicher. Genauso klang sie immer in der Schule und gegenüber Fremden, aber nie, wenn sie bei uns zu Hause war. Mein Bruder hatte sie wohl wirklich verletzt. Ich würde ihm demnächst auf jeden Fall eine Abreibung verpassen müssen.

»Du musst nicht, wenn du nicht willst. Ich weiß, dass ich vorhin ziemlich ausgerastet bin, aber ich verspreche, dass ich in Ordnung bin. Aiden hat recht.« Sie schien einen Kloß im Hals herunterschlucken zu müssen. »Irgendwie schaffe ich es auch ohne ihn.«

»Aiden ist ein Idiot. Mit diesem Es-allein-schaffen kannst du morgen anfangen. Heute ist Silvester, und zum ersten Mal in deinem Leben wirst du diesen Abend ohne Aiden oder den Discovery Channel verbringen.«

Ich wusste, dass ich Fortschritte machte, als sie schmunzelte und fragte: »Was ist mit Whootylicious in 7B?«

Ich dachte an die tolle Frau, mit der ich heute Abend eigentlich hatte ausgehen wollen, und seufzte. »Ein bedauerlicher Verlust, aber genau wie du werde ich irgendwie damit fertig werden müssen.«

Ich zwinkerte ihr zu und entschied, ihr zehn Minuten zu geben, bevor ich zurückkommen und sie aus diesem Bett zerren würde.