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Oscar Wilde ist auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, er wird verehrt und gefeiert – bis seine Beziehung zu Lord Alfred Douglas publik wird ...
Zwei junge Männer schreiten die Freitreppe des Londoner St. James's Theaters hinab. Applaus brandet auf: Er gilt Oscar Wilde, der auf dem Weg ist, der erfolgreichste Autor Großbritanniens zu werden – seine Theaterstücke werden gefeiert; sein Roman Das Bildnis des Dorian Gray ist ein verruchter Bestseller. Er wird verehrt, doch auch kritisch beäugt. Denn den klatschsüchtigen Londonern entgeht nicht, dass der verheiratete Familienvater enge Beziehungen zu jungen Männern pflegt.
An diesem Abend begleitet ihn ›Bosie‹, Lord Alfred Douglas, der Sohn des Marquess of Queensberry. Ihr Glück wird bald ein Ende finden: Homosexuelle Liebesbeziehungen sind im viktorianischen England verboten, und als Bosies Vater Oscar Wilde öffentlich der Sodomie bezichtigt, ist die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten …
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Seitenzahl: 248
Veröffentlichungsjahr: 2025
Stephen Alexander
Das Bildnis des Oscar Wilde
Roman
Insel Verlag
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Meinen Dank an Joel aus Vermont
eBook Insel Verlag Berlin 2025
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© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2025
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Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagillustration: Mona Eing und Michael Meissner, Kassel
eISBN 978-3-458-78287-2
www.insel-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
1
20. Februar 1892
2
Im Morgengrauen
3
Tite Street, Chelsea, drei Wochen später
Branson Court, zwei Wochen später
4
The Café Royale, drei Monate später
Tite Street, derselbe Abend
5
The Athenaeum Club, einige Wochen danach
The Royal Opera House, abends darauf
6
Tite Street, der folgende Abend
Der nächste Vormittag
7
Brighton Beach im Nebel
8
London im Frühling
The Athenaeum Club, zwei Wochen später
9
The Wild Ox
10
St James’s Theatre im Frühling
St James’s Theatre, vier Monate später
11
Immer noch St James’s Theatre
12
Im Theaterfoyer
13
In der Anwaltskanzlei Clarke
14
The Royal Courts of Justice
15
The Royal Courts of Justice, zwei Uhr nachmittags
16
Tite Street, derselbe Abend
Im Untersuchungsgefängnis
17
The Royal Courts of Justice
18
Im Untersuchungsgefängnis, eine Woche später
Das Café Royale, am darauffolgenden Abend
Im Haus von Lady Wilde
19
The Royal Courts of Justice
Nürnberg, Deutschland, zwei Monate später
20
Her Majesty’s Prison Reading
21
Her Majesty’s Prison Reading, drei Monate später
22
HMP
Reading
HMP
Reading, 19. Mai 1897
23
Auf der Fähre Dover-Dieppe
24
Paris, Café Élysée, vier Monate später
25
Café Élysée
26
Der Bahnhof von Rouen, an einem klaren Oktobertag
27
Der Küstenort Bogliasco nahe Genua, April 1898
The Athenaeum Club, London, 31. Januar 1900
28
Café Élysée, Sommer 1900
Informationen zum Buch
Das Bildnis des Oscar Wilde
Die Welt war seine Bühne, er beherrschte und erfüllte sie mit seinem Genius. Lächelnd und ein wenig spöttisch betrachtete er sein Publikum. Sie liebten ihn, er war ihr Dichter, ihr Oscar Wilde. Er gehörte ihnen. Gerade noch hatten sie den letzten Worten seines neuesten Theaterstücks gelauscht. War es eine Komödie, eine Gesellschaftssatire, war es zum Lachen oder todtraurig, abgrundtief oder leicht wie ein Wimpernschlag? Sie bestaunten das Bühnenbild eines nächtlichen Gartens und das Kleid Lady Windermeres, grüne Seide, von Diamanten durchwirkt, die bei jeder Bewegung glitzerten.
Lady Windermere sprach: »Dieselbe Welt ist uns gemeinsam, Arthur. Gutes und Böses, Sünde und Unschuld schreiten in ihr nebeneinander. Verschlössen wir die Augen gegen die eine Hälfte des Daseins, vermöchten wir nicht unbeschadet zwischen Abgründen und Klüften zu wandeln.«
»Warum sprichst du von solchen Dingen?«, erwiderte Lord Windermere.
»Weil ich an den Rand eines Abgrunds geraten war, Arthur. Lass uns nach Selby gehen. Dort im Rosengarten blühen die Rosen weiß und rot.«
Hand in Hand standen sie da, die schöne Schauspielerin Lily Hanbury und der wohlgefällige Mr Alexander. In ihrem Blick lag alle Liebe dieser Welt, und der Vorhang fiel.
Es war still im St James’s Theatre, so still, als sei ein Schiff auf Fahrt gegangen, um nie wiederzukehren. Es war still wie nach einer Todesnachricht oder so, wie größtes Glück manchmal andächtige Stille mit sich brachte. Hinter der Bühne hoben die Darstellerinnen und Darsteller, bereit für den Applaus, erstaunt die Köpfe, unter ihnen Ben Webster, Liebhaber mit spitzer Zunge, und die blutjunge Alice de Winton. Sie horchten, warteten, lauschten, ob nicht wenigstens die geringste Reaktion des Publikums Anlass gab, sich zu verneigen. Geheimnisvoll schleppten sich die Sekunden dahin.
Nur einem war nicht bange, was den Ausgang der Premiere betraf, ihm, ohne den es das Drama nicht gegeben hätte. Seine mit heißem Eisen eingedrehten Locken fielen ihm auf die Schultern, er trug einen Samtanzug in gewagtem Bordeauxrot; die Krawatte changierte in Lila und wurde von der unvermeidlichen grünen Nelke im Knopfloch komplettiert. Oscar Wilde lehnte an einer Marmorsäule, die doch nur Pappmaché war. Er allein verstand die Stille im Saal. Er hatte den Stückschluss so geschrieben, dass sie verstummen mussten, bewegt, überwältigt, ungläubig, dass eine fiktive Handlung von Liebe und Leben so unter die Haut gehen konnte. Er war der Meister, ein Jongleur mit Worten, die tief ins Herz der Zuschauer drangen.
Oscar Wilde warf die Zigarette zu Boden, die er, alle Theatergesetze missachtend, auf der Seitenbühne rauchte, und trat die Glut aus. Noch drei … zwei … eine Sekunde – dann würde ihr Schweigen enden, durchbrochen werden von einem Aufschrei aus über tausend Kehlen.
Auf dem zweiten Rang begann ein Gentleman zaghaft zu applaudieren. Die Schläge seiner Hände verdoppelten, vervielfachten sich, bis der Applaus gleich einer Woge über dem riesigen Saal zusammenschlug und zur Bühne hinflog, wo sich der Vorhang hob.
Die Herren erhoben klatschend die Hände über die Köpfe, die Damen schämten sich ihrer Tränen nicht, während sie von den Sitzen aufsprangen. »Jaa! Jaaa!«, und das lange Jaaaaa! wurde zur Oberstimme des kaskadenartigen Tumults, mit dem die Londoner sich für das Theatererlebnis bedankten. Keinen hielt es mehr auf den Stühlen, in Wellen sprangen sie auf, applaudierten und jubilierten.
Zunächst verbeugten sich Lord und Lady Windermere allein auf den Brettern, doch schon drängten die anderen Darsteller hinzu und stellten sich in langer Reihe auf. Sie verneigten sich gemeinsam, hielten einander an den Händen, kamen an die Rampe, wo jeder, vortretend, seinen Einzelapplaus entgegennahm. Das Publikum bedachte sie mit höflicher Begeisterung, doch dies war nur ein Vorspiel. Alle, die auf der Bühne und jene unten, wussten: Der wahre Stern des Abends hatte sich noch nicht gezeigt.
Als die Leute fanden, sie hätten den Akteuren genug Dank und Ehre erwiesen, erklangen Rufe, die bei jeder Premiere Oscar Wildes zu hören waren: »Dichter!«, riefen sie. »Dichter! Dichter!« Immer mehr, immer lauter, bis schließlich der ganze Saal skandierte: »Dichter! Dichter! Dichter!«
Auf der Seitenbühne lächelte Oscar Wilde der alten Ankleiderin zu, die er von früheren Aufführungen kannte. Sie stand stets bereit, um die Mäntel der Damen entgegenzunehmen.
»Oh, Sir«, sagte sie. »Was für ein Erfolg.«
»Ich werde jetzt wohl hinausgehen müssen.« Seelenruhig zündete er sich die nächste Zigarette an. Am Portal hob der Feuerwehrmann wachsam den Kopf.
Oscar Wilde spazierte gelassen auf die Bühne und wurde mit einem Orkan der Zuneigung belohnt. Kein Schreibender, kein Künstler, überhaupt kein lebender Mensch im Königreich löste solche Verzückung aus. Er nahm ihre Liebe nicht etwa eitel triumphierend entgegen, sondern demütig. Oscar Wilde senkte das Haupt, legte die Hand aufs Herz und schüttelte bewegt den Kopf. Die Menschen in den vorderen Reihen meinten zu erkennen, dass er weinte. Doch Oscar weinte nicht, er verstand es lediglich, mit Gesten und Tränen Wirkung zu erzeugen.
Schließlich reihte er sich unter die Schauspieler und verbeugte sich mit ihnen. Man ging ab, kam wieder. Siebenundzwanzig Mal forderte das Publikum Oscar Wildes Auftritt, fünfunddreißig Minuten lang dauerten die Ovationen bereits, die der Bühneninspizient als nie erreichten Rekord in das Aufführungsbuch eintragen würde.
Nach dem siebenundzwanzigsten Vorhang drängte sich der Geschäftsführer des St James’s Theatre an Oscar heran. »Sie müssen sprechen, Sir«, rief er. »Man erwartet es. Sonst gehen die Leute nie nach Hause.«
»Wurde heute Abend nicht schon genug Oscar Wilde gesprochen?« Er war sich seiner Koketterie bewusst.
Auch die Schauspieler bestürmten ihn, eine Rede zu halten, doch erst Alice de Wintons Argument ließ ihn einlenken: »Ich verpasse sonst meinen Bus, Mr Wilde, Sir.«
»Dann wollen wir die guten Menschen erlösen«, seufzte er, ließ sich vom Geschäftsführer Feuer geben, trat erneut hinaus in den Jubel, bedankte sich und hob die Hand im weißen Handschuh. Wie einem Dompteur gehorchten sie ihm, verstummten und sanken auf ihre Sitze.
Oscar hob den Blick zur royalen Loge. »Königliche Hoheiten, gnädigste Prinzessin, Lord Oberrichter, Lord Gewandmeister, Ladys und Gentlemen. Ich möchte Ihnen nicht verschweigen, dass ich den heutigen Abend besonders exquisit fand und ihn daher, so wie Sie, enorm genossen habe.«
Es dauerte einen Moment, bis sie sein Eigenlob als Witz verstanden und gutmütig, doch verhalten lachten.
»Die Schauspieler haben uns, wie ich finde, eine hübsche Version meines Stückes geboten.« Oscar zog an der Zigarette. »Ihre Anerkennung jedoch, meine Damen und Herren, weist Sie als ungemein intelligente, feinnervige Theaterbesucher aus. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem vorzüglichen Geschmack. Daran erkenne ich, dass Sie von meinem Stück ebenso begeistert sind wie ich. Denn wovon handelt mein Stück im Kern? Von Männern, die heiraten, weil sie müde vom Umherstreifen sind, und von Frauen, die heiraten, weil sie neugierig sind. Wie wir gesehen haben, werden beide Parteien enttäuscht.«
Die Zuschauer lachten und klatschten, doch ihr Applaus hatte an Feuer verloren. Dass sie seine Rede geistreich fanden, bestätigte ihnen zwar, dass sie selbst geistreich waren, doch ein Instinkt sagte ihnen, dass sie auch verspottet wurden – von einem irischen Emporkömmling.
Die Elogen setzten sich im Theaterfoyer fort.
»Brillant, einfach brillant, Mr Wilde.« Lord Salisbury schüttelte ihm die Hand.
»Ich erlaube mir, Ihrer Meinung zu sein, Mylord.« Im Weitergehen stieß Oscar auf einen Schriftsteller etwa gleichen Alters, ein gewisser George Bernard Shaw, der mehrfach seine Bekanntschaft gesucht hatte, was Oscar jedoch vermied. Er genoss den Status als alleiniger und hellster Stern am Londoner Literatenhimmel.
Shaw trat ihm in den Weg. »Ich bin ein großer Bewunderer Ihres Werks, Mr Wilde.«
»Ich war immer schon ein großer Bewunderer meines Werks«, konterte Oscar kollegial.
Ada Leverson, seine langjährige Freundin, kam hinzu und gratulierte ihm.
»Ada, was wirst du in deinem Frauenmagazin über mein Stück schreiben?«
»Ich werde es so hoch in den Himmel heben, wie du selbst es tun würdest.«
»Du warst immer meine beste Kritikerin.« Er umarmte sie.
»Ich habe dich nie kritisiert, Oscar.«
»Eben deshalb!«
Im Begriff, sich anderen Gratulanten zuzuwenden, entdeckte er eine Frau, die sich im Schatten einer Säule verbarg.
»Oscar –« Indem sie auf ihn zutrat, bemerkte sie erschrocken die neugierigen Blicke der Umstehenden.
Constance Wilde war anmutig, gebildet, vierundzwanzig Jahre alt und entstammte einer wohlhabenden Juristenfamilie. Es herrschte die allgemeine Ansicht, Oscar könne sich glücklich schätzen, dass sie ihn unter zahlreichen Bewerbern auserwählt hatte. Constance lebte ein behütetes, achtbares und vor allem anonymes Leben, was generell als Maxime der englischen Oberschicht galt. Nichts war den Briten suspekter als auffälliges Verhalten und die Nähe zu jedwedem Skandal.
Constance, geborene Lloyd, hatte Oscar aus Liebe geheiratet. Oscar hatte Constance zur Frau genommen, weil seine Mutter die Verbindung sorgfältig geplant und eingefädelt hatte. Jane Wilde, mit dem Spitznamen ›Speranza‹, besaß eine präzise Vorstellung von der Zukunft ihres Sohnes, die auf einen Parlamentssitz, ein repräsentatives Eigenheim und ein geordnetes Leben mit Kindern abzielte. Speranza hatte Constance auch deshalb als ideale Schwiegertochter befunden, weil sie von ihrem Großvater eine beträchtliche Erbschaft erwarten durfte. Umso enttäuschter war Mrs Wilde gewesen, als der hinfällige Großvater nach Constance’ Heirat aufblühte und ewig leben zu wollen schien.
Constance war eine mitfühlende, kluge und zurückhaltende Frau. Das empfand Oscar als Vorteil, denn was er am dringendsten im Leben brauchte, war ein Publikum. Mittlerweile war er überzeugt, Constance wirklich zu lieben. Als sie in diesem Moment den Schutz der Säule verließ und zu ihrem berühmten Mann im Augenblick seines Triumphs trat, vergaß er ihren Wunsch nach Anonymität, schloss sie in die Arme und gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss auf den Mund.
»Oscar, die Leute …« Sie entzog sich.
Robbie Ross, sein ältester Freund, hatte die Szene beobachtet. »Constance, Sie wissen doch, Ihr Gatte ist ein Mann, der sich über sein Benehmen in der Öffentlichkeit keinerlei Gedanken macht.«
»Wie hat dir das Stück gefallen, Robbie?«, fiel Wilde ihm ins Wort.
»Ich liebe dein Werk, Oscar«, antwortete Robbie, worauf der Dichter auch ihm einen Kuss gab. Amüsiertes Raunen.
Der kommende Moment konnte heikel werden. Mit einem freundlichen Schulterklopfen wandte sich Oscar an Constance. »Meine Liebe, die Premierenfeier dürfte dir zu anstrengend werden. Du weißt, wie das gewöhnlich abläuft. Ich werde mich mit Leuten unterhalten müssen, die sich selbst schrecklich ernst nehmen, ohne ernstzunehmend zu sein.«
Da rund um ihn gelauscht wurde, ob man eine geistreiche Bemerkung aufschnappen konnte, befriedigte er diese Neugier. »Die Menschheit nimmt sich generell zu ernst. Das ist die Erbsünde der Welt. Hätte der Höhlenmensch lachen können, wäre die Menschheitsgeschichte anders verlaufen.«
»Herrlich! Wie originell!« – »Haben Sie das gehört?« – »Wie wahr! Wie wahr!«
Von seiner Frau unbemerkt, winkte Wilde seine Mutter näher. »Mummy begleitet dich nach Hause, Constance, ich komme nach, so bald ich kann.«
»Das ist dein Abend, Oscar«, entgegnete sie. »Genieße ihn und nimm keine Rücksicht auf mich. Ich schlafe längst, wenn du nach Hause kommst.«
»Danke, meine Liebe.« Zart küsste er sie auf die Stirn und manövrierte seine Mutter an Constance’ Seite. »Mummy, wärst du wohl so nett …?«
»Geh nur, Oscar. Constance und ich trinken noch einen Sherry zusammen. Nicht wahr?«
»Gerne, Mutter.«
Ein junger Bewunderer drängte sich heran. »Auf Ihrer Amerikatournee habe ich Ihre Lesung viermal besucht, Mr Wilde!«
Oscar musterte das gut geschnittene Gesicht, die blonde Locke über der Stirn, die straffe Brust, das schmale Bein. »Woher stammen Sie, junger Mann?«
»Michigan, Sir.«
»I wish again, I was in Michigan«, scherzte Oscar. »Ich erinnere mich noch gut daran, dort aufgetreten zu sein.«
»Wir gehen jetzt, Oscar«, sagte Constance leise neben ihm.
»Ich beneide euch«, log er und bemerkte, dass seine Frau den jungen Mann aufmerksam musterte.
»Das ist ein junger Amerikaner aus Michigan. Er hat meine Lesung viermal besucht.«
»Schon recht, Oscar«, antwortete sie leise. »Gute Nacht.«
Beide durchlebten den quälenden Augenblick zweier Menschen, die einander von Herzen liebten, aber trotzdem nicht vollkommen zusammengehören konnten. Oscar verachtete sich dafür, Constance das anzutun, zugleich kannte er sich gut genug, um den Verlauf der Nacht vorauszusehen. Wie so oft verdrängte er sein schlechtes Gewissen mit einem Bonmot.
»Die Amerikaner sind das einzige Volk der Welt, das ohne Zivilisation von der Barbarei zur Dekadenz übergegangen ist.«
Emporgehoben durch das Gelächter verließ Oscar Wilde das St James’s Theatre. Zu seiner üblichen Entourage gesellte sich der junge Mann aus Michigan.
Es war die Stunde, zu der alle, die noch einigermaßen gehen konnten, längst gegangen waren, die Stunde, wenn Worte gelallt, Meinungen verwechselt wurden, wenn niemand wusste, weshalb er eigentlich nicht längst im Bett war.
Oscar Wilde und sein Gefolge hatten zweimal das Lokal gewechselt. Die offizielle Premierenfeier war steif und langweilig verlaufen. Später hatten die Damen der Gesellschaft zwar noch mitgehalten, das Prickeln der Verruchtheit genossen und den Dichter zu weiteren Beweisen seiner spitzen Zunge angestachelt. Doch als man gegen drei Uhr früh abermals aufbrach, folgten Oscar nur noch solche, die wussten, wohin es ihn zog.
Niemand, dem an seiner Reputation auch nur das Mindeste lag, hätte das Pin Head aufgesucht, jenes Nadelköpfchen, das erst um Mitternacht seine Pforten öffnete und schloss, wenn draußen längst die Sonne schien. Die Spelunke bot gutbürgerliche Stimmungsmusik, Gesang und künstlerischen Ausdruckstanz, nichts, was die Sittenpolizei auf den Plan rufen würde.
»Komm nur, mein kleiner gelber Spatz,
komm, setz dich auf mein Knie.
Sei heute Nacht mein liebster Schatz,
und ich vergess’ dich nie – wenigstens bis morgen früh!«
Die kapriziöse Sibyl sang wie jede Nacht ihr Lied, Sibyl mit dem Vogelhut und dem tief ausgeschnittenen Abendkleid, Sibyl mit den ausladenden Hüften. Neue Besucher im Pin Head fielen auf Sibyls Schönheit und ihre glockenhelle Stimme herein. Doch manche kamen, um mit Sibyl nach ihrem Auftritt in die Katakomben des Nadelköpfchens hinabzusteigen. Wie zu Shakespeares Zeiten, als Frauen noch keine Bühne betreten durften, war Sibyl ein Mann in Frauenkleidern.
Oscar applaudierte Sibyls Darbietung und gestattete ihr, sich auf sein Knie zu setzen, wenigstens so lange, bis der robuste Kerl ihm zu schwer wurde und er ihn mit einem Verehrer in die Katakombe entließ.
Der junge Amerikaner – hieß er Jim oder Jack? – hatte Oscar um eine Lesung gebeten, und er wollte ihm den Wunsch erfüllen. »Aber nur einen winzigen Ausschnitt.«
»Jeden, den Sie wollen, Mr Wilde.«
»Solltest du mich nicht allmählich Oscar nennen, Jack?«
»Ich heiße Jim.«
»Natürlich, Jimmy.« Wilde nahm das Buch zur Hand, das der Junge in seiner Tasche mitgebracht hatte. »Wofür wollen wir uns entscheiden?«
»Die Stelle mit der ägyptischen Katze vielleicht?«, schlug Jim vor. »Wenn Dorian Gray den Fluch herbeiruft und Lord Wotton ihn warnt, die Geister des alten Ägyptens nicht leichtfertig zu versuchen …«
»Ausgerechnet diese Gespensterpistole, die jeder Glaubwürdigkeit entbehrt?«, winkte Oscar ab. »Leider brauchte ich sie, um die Geschichte in Gang zu bringen.«
»Aber es ist das Zentrum Ihres Romans, Sir«, entgegnete Jim. »Ohne die Verwandlung des Bildes wäre doch …«
»Das Zentrum des Romans ist das Faustische«, ging Oscar dazwischen. »Genau wie Faust strebt Dorian nach dem Übermenschlichen. Bei Faust ist es der Drang nach Erkenntnis, bei Dorian nach Jugend und Schönheit.«
»Demzufolge wäre Lord Wotton also Mephisto?«
»Gut kombiniert! Der Lord führt meinen Helden in die Unterwelt und lässt ihn erkennen, dass es genussreichere Vergnügungen gibt als die Ehe mit ihrer unvermeidlichen Voraussicht des Welkens und Alterns. Dorian altert nicht und wird dadurch zum Halbgott, doch leider auch zum halben Menschen, unfähig, so etwas wie Liebe, Freude oder Mitgefühl zu empfinden.«
Während Wildes kleiner Rede war es still geworden. Robbie starrte seinen Freund an. »Dann ist Dorian ein Abbild deiner selbst, Oscar?«
»Ich vergebe dir, Robbie, so etwas Fürchterliches in den Raum zu stellen. Ich hoffe nämlich, Liebe, Freude und Mitgefühl noch in meinem Handwerkskasten zu finden. Sie sind das Rüstzeug jedes Schriftstellers.«
»In letzter Zeit verschleierst du diese menschlichen Tugenden aber hinter Ironie und Herablassung.«
Oscar schlug das Buch zu. »Da wir einen derart scharfen Kritiker im Raum haben, ist es wohl besser, wir verschieben die Lesung auf ein andermal, zum Beispiel, wenn wir unter uns sind, Jimmy.«
»Nein, bitte, Oscar«, flehte der Amerikaner. »Übermorgen geht mein Schiff, ich muss reisen.«
»Wenn das so ist … Die Flut wartet auf niemanden, heißt es, nicht wahr?« Er schlug den Roman wieder auf. »Ihr Wunsch soll erfüllt werden, Jim.« Er blätterte an eine bestimmte Stelle und begann.
»Ihre Frau ist reizend«, rief Dorian Gray.
Lord Wotton entgegnete nach einer Pause: »Das war sie, mein Junge, doch mittlerweile benötigt sie teure Hilfsmittel, um noch für eine Schönheit gehalten zu werden. Die Rechnungen, die ich bezahle, zeugen davon.«
Kopfschüttelnd folgte Dorian dem Lord. »Ich hasse es, wenn Sie so über Ihr Eheleben sprechen, Henry.«
»Wie sentimental Sie doch sind, Dorian.«
»Ich liebe das Sentiment!«, antwortete der junge Mann.
»Sentiment ist nur ein anderes Wort für Selbsttäuschung und damit das Gegenteil von Realität«, hielt Wotton dagegen. »Die Welt unterwirft sich der Realität, dem Hier und Jetzt, Dorian, und das Hier und Jetzt gehört Ihnen. Warum? Weil Sie jung sind. Jugend ist das Einzige, was zählt.«
»So sehe ich das nicht, Henry.«
»Natürlich sehen Sie es jetzt nicht, Dorian, aber die Jugend ist ein kapriziöser Vogel. Sobald sie fortfliegt, fliegt die Schönheit mit ihr davon. Sie werden es am eigenen Leib erleben, sobald das Leben keine Triumphe mehr für Sie bereithält. Bisher waren die Götter gut zu Ihnen, doch was die Götter geben, das können sie genauso schnell wieder nehmen.«
Oscar ließ das Buch auf das Knie sinken und sah Jimmy freundlich an. Irgendwo begann ein Teekessel zu pfeifen. Sibyl, die Sängerin, tauchte wieder auf. Während ihres Gesangs war sie bis ins letzte Fingerglied von einem Zauber umweht gewesen. Inzwischen hatte sie die Perücke abgenommen, ihre Schminke war zerlaufen. Das gelöste Kleid legte behaarte Schultern und Arme frei. Runzeln umgaben Mund und Augen, das matte Karmesin ihrer Wangen nichts als Schminke. Während ihres Auftritts hatte Sibyl märchenhaft geglüht. Jetzt zeigte das Glühwürmchen seine wahre Gestalt.
»Wünscht einer der Gentlemen Tee?«, rief Sibyl mit tiefer Stimme.
Nachdem Oscar seinen Söhnen das Märchen vom selbstsüchtigen Riesen zum ungezählten Mal erzählt hatte, brachte Constance die Jungen ins Bett, während er an den Schreibtisch zurückkehrte und notierte, was ihn seit den Ereignissen im Nadelköpfchen nicht mehr losließ. Es ging um das immerwährende Thema der Verknüpfung von dichterischem Werk und dem Leben des Dichters. Nur einem einzigen Menschen wagte sich Oscar in diesem Punkt zu öffnen.
Meine liebe Freundin Ada,
wem soll ich mich anvertrauen, ohne fürchten zu müssen, er oder sie würden sich als Richter über mich erheben? Bei Dir spüre ich Verständnis und die nötige Künstlerschaft. Ich erbitte beides von Dir und demgemäß Deinen Rat.
Die ›Salomé‹ will sich mir einfach nicht fügen! Das junge, dumme, hübsche Ding entzieht sich meinem Zugriff, dem Zugriff desjenigen, der sie doch erst zum Leben erwecken will! Als blühende Jungfrau möchte ich Salomé darstellen, deren erotisches Verlangen durch die Stimme des Propheten erstmals geweckt wird. Eine große Tragödie schwebt mir vor, aber erst wenige dünne Dialogzeilen spuken über das Papier:
»Ich werde deinen Mund küssen, Jochanaan«, spricht Salomé. »Er ist wie ein Granatapfel, zerschnitten mit einem Messer aus Elfenbein. Lass mich deinen Mund küssen!« –
Darauf erwidert Jochanaan: »Nie, Tochter Babylons!«
Ich will Salomés sinnliche Leidenschaft auf die Askese des Täufers prallen lassen. Da sie ihn nicht verführen kann, tanzt sie vor ihrem Stiefvater den anrüchigsten Tanz, der je gesehen wurde, und fordert ihren blutrünstigen Lohn dafür, die Enthauptung des Täufers. Was für ein Stoff!
Wenn es dem langweiligsten aller Evangelisten, Markus, gelungen ist, diese Geschichte in leuchtende Farben zu tauchen, wieso dann nicht mir, frage ich mich. Ich kann Dir den Grund nennen, Ada, und mir graut vor dieser Wahrheit. Ich beginne an meiner Fähigkeit zur Liebe zu zweifeln. Hat Robbie, mein einfältiger Freund, etwa recht, wenn er in Dorian Gray ein Abbild meiner selbst sieht? Dorian empfindet kein Mitgefühl für die um ihn dahinwelkende Menschheit, der er seine unwandelbare Schönheit gegenüberstellt.
Die Schönheit Dorians habe ich niemals besessen und brauche ihr also nicht nachzutrauern. Aber mein Genie stellt mich auf die gleiche Stufe mit ihm! Höher noch, denn die Welt erhöht mich auf einem Piedestal nie gesehenen Ruhms. Ist es da verwunderlich, wenn mich die Krankheit der Hoffart, der Hybris befällt? Dabei möchte ich lieben, Ada! Ich möchte umarmen und in den Arm genommen werden, will, dass jene, die meinem Herzen nahe sind, zu mir sagen: »Du armer, armer, genialer Junge!«
Meine liebe Constance könnte dieser Mensch sein, denn sie ist die Güte, die Milde, die Liebe selbst. Warum erlaube ich ihr solche Zuwendung nicht in dem Maß, das wir beide ersehnen? Verzeih, Ada, falls ich Dich mit so viel Offenheit belästige, doch fragen muss ich: Warum können Constance und ich uns dem, was gemeinhin »die ehelichen Pflichten« heißt und was Romantiker »das Glück körperlicher Vereinigung« nennen, weshalb können wir uns dieser harmlosen Verrichtung nicht ungezwungen hingeben?
Zufällig habe ich neulich in Constance’ Haushaltskalender Einträge in Form kleiner Herzen gefunden, deren Sinn ich nicht verstand, bis ich zurückrechnete, dass dies jeweils die Nächte gewesen sein mussten, an denen wir nicht in getrennten Zimmern schliefen, sondern beisammenlagen wie Mann und Frau. Beschämt erkannte ich, wie selten, wie viel zu selten ich das Glück meiner Ehe wahrnehme.
Der Grund dafür führt mich zurück zu Salomé. Indem ich das Drama aus der Vorstellungwelt meiner Prinzessin gebäre, sehe ich sozusagen durch Salomés Augen. Und was sehe ich da? Nicht etwa die Prinzessin selbst, deren hübsche, runde Siebensachen den Männern in Judäa die Sinne vernebeln, sobald sie ihre Schleier abwirft. Durch Salomés Augen sehe ich das Standbild der Schönheit, Meisterstück der Schöpfung, Jochanaan! Er ist kein Vollmann mit Bart, die Brust voller Wolle, nein, ich sehe den jungen Propheten im halbzerfetzten Kerkerkleid, das seine Brust in weicher, klarer Strenge freilegt, den starken Arm, die holden Rippen und die schlanken Beine. Indem ich also scheinbar über die verhängnisvolle Leidenschaft Salomés schreibe, gebe ich mich meiner eigenen Leidenschaft hin. Ist das nicht im höchsten Grad verabscheuungswürdig?
Meine Hoffnung geht dahin, dass es hilfreich für mich sein wird, Salomé nicht in meiner Muttersprache zu verfassen, sondern auf Französisch. Die Begriffe, die in Salomé am engsten beisammenliegen – die Liebe und der Tod –, gehen im Französischen eine suggestiv musikalische Verbindung ein: l’amour und la mort.
Der Geburt nach bin ich Ire, Ada, im Herzen aber, ich fühle es, Franzose, der dazu verurteilt ist, die Sprache Shakespeares zu sprechen. Nun lege ich meine Beichte demütig in Deine Hände und freue mich, Dir auf dem Ball von Alice, der Fürstin von Monaco, wiederzubegegnen, der uns ja schon in ein paar Tagen zusammenführen wird.
Dein Dir ergebener Freund,
Oscar
Branson Court Manor war der Sitz der monegassischen Fürstenfamilie in London, unweit von Kensington Palace gelegen, weshalb zu den Bällen und Soireen von Fürstin Alice auch Mitglieder des englischen Königshauses erschienen. Der Anlass des heutigen Fests war das Ende einer Odyssee, die Rückkehr eines kostbaren Diadems ins Fürstenhaus Grimaldi. Während der Napoleonischen Kriege war der Schmuck verschollen gewesen, später in London aufgetaucht, und heute wurde das Diadem Fürstin Alice in einer Zeremonie von Seiner Königlichen Hoheit, Prinz Arthur Albert, Herzog von Connaught and Strathearn, überreicht.
»Und so schließe ich denn mit den Worten, Ihre allergnädigste Majestät, unsere allerhöchste Regentin Queen Victoria, sie lebe hoch, hoch …« Hier blätterte der Prinz sein Manuskript sinnloserweise um. »Hoch.«
»Hurra!«, kam es wie aus einer Kehle aus dem vollbesetzten Saal.
Lächelnd nickte der Prinz in die Runde. »Persönlich möchte ich hinzufügen, dass ich der Meinung bin, die wahre Bedeutung von Schmuck ist es, uns auszuzeichnen, denn nichts trägt der Mensch so eng am Körper wie Schmuck.«
Während des zustimmenden Gemurmels raunte Oscar Wilde Ada zu: »Was für ein Unsinn. Ich pflege meine Unterwäsche auch am Körper zu tragen, aber ich finde nicht, dass sie mich auszeichnet.«
Sie schmunzelte. »Mit dem Königshaus solltest Du Dich nicht anlegen, Oscar.«
»Prinz Arthur Albert ist einer meiner glühendsten Verehrer.« Er ließ den Blick in die Runde gehen. In unmittelbarer Nähe zum Prinzen hatten sich die Adelsfamilien versammelt. Die Mitglieder des Unterhauses standen in der Ecke gegenüber, aber Oscar interessierte die dritte Gruppe, diejenigen, die gern für bedeutend gehalten wurden, ohne es zu sein. Sein Blick fiel auf Dichter, Schauspielerinnen und Maler am anderen Ende des Saales. Unter ihnen waren kommende Größen, aber auch solche, deren Stern bereits am Verglühen war. In der Loge des Saales empfing Fürstin Alice Vertreter des Hochadels. Durch seine häufigen Parisaufenthalte war Oscar mit Alice befreundet und rechnete damit, zu ihr hochgebeten zu werden.
Der offizielle Teil des Festes war abgeschlossen, nun begann ein Orchester zu spielen, vorwiegend Offenbach, Strauß und Sullivan. Oscar beobachtete juwelenbehangene ältere Damen, die sich abschätzig über freizügig dekolletierte jüngere unterhielten. Dort bekleckerte der Erste Lord der Admiralität seine Ordensschärpe mit Hummersauce, am Tisch daneben winkte der Schatzkanzler einer Dame in der darüberliegenden Loge zu, seine Gattin bemerkte nichts davon. An der Bar scharte ein prominenter Chefredakteur junge Künstlerinnen um sich, die darum wetteiferten, in seiner Kolumne Erwähnung zu finden.
»Wollen wir tanzen?« Ada reichte Oscar den Arm.
»Wenn es einen Tanz gäbe, bei dem ein Gentleman einen überlegenen Gesichtsausdruck annehmen und nicht angestrengt bemüht sein müsste, der Dame nicht auf die Füße zu treten, wäre ich durchaus geneigt, auch …« Oscar Wilde brach mitten im Satz ab.
»Wozu wärest du geneigt?«, fragte Ada.
»Hm?« Er fuhr sich hastig durchs Haar.
Ada folgte seinem Blick und verstand. »Ich sehe, in welche Richtung deine Neigung geht, und darf mich daher entschuldigen, Oscar.«
»Bitte … natürlich …«, murmelte er, ohne richtig hingehört zu haben. Er sah den jungen Mann, der vor einem tiefroten Vorhang stand, nicht zum ersten Mal. Sie waren einander allerdings noch nicht vorgestellt worden. Er war schlank, von mittlerer Statur, das hellblonde Haar fiel ihm in die Stirn. Oscar hatte noch nie in derart kalte, siegessichere Augen geblickt. Mit vorsichtigen Schritten, als könnte er auf einer Eisfläche einbrechen, ging er auf ihn zu.
»Lord Alfred Douglas, wenn ich nicht irre?«
»Wir sind uns schon einmal begegnet, Mr Wilde«, erwiderte der junge Mann und drehte das Spielbein lässig auswärts. »Anlässlich einer Opernpremiere.«
»Wie konnte ich das vergessen?«
»Es war eine langweilige französische Oper. Ich habe mir die Zeit damit vertrieben, Sie in Ihrer Loge zu beobachten, Sir.«
»Mich? Ach, du lieber Himmel. Ihre Langeweile muss sich noch gesteigert haben.«
»Im Gegenteil, es war ein Genuss, Ihre sprechende Miene zu studieren.«
In diesem Moment fand Oscar Wilde Lord Douglas schöner, als es sich sagen ließ. Sein Lachen war sprechend, liebreizend, unverhohlen, mit Lippen, die sich beim Lächeln erst öffneten. Es war kokett, neugierig, leise gequält – es war das Lächeln des Narziss. Dieser Ausdruck durchschauerte Oscar. Er machte ihm auch Angst, denn er ahnte, dieses Lächeln versprach kein Glück. Wenn er diesem lächelnden Mund erlaubte, bis in sein Herz vorzudringen, war Oscar verloren.
»Du darfst so nicht lächeln«, flüsterte er kaum hörbar. »Man darf so niemanden anlächeln.«
»Was meinen Sie, Mr Wilde?« Lord Douglas trat näher.
Ich liebe dich. – Oscar hätte nicht sagen können, ob er die Worte wirklich gesprochen oder nur den Gedanken ausgeschickt hatte.