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Nach zahlreichen Schiffsunglücken wurde erst 1709 als Schutz vor dem Steinriff des Kap Brüsterort im heutigen Rußland eine Warnleuchte angebracht. Bis dahin verließ man sich auf das Seezeichen des weithin sichtbaren Turms der Pfarrkirche in Sankt Lorenz, der etwa 20 Kilometer südöstlich und vier Kilometer im Landinnern stand. Ab 1804 gab es dann Feuerbaken und 1846 errichtete man endlich auf dem Kap einen 30 Meter hohen Leuchtturm mit einem Blinkfeuer, das 59 Meter über NN leuchtete und 21 Seemeilen weit sichtbar war. Dieser historische Roman handelt von diesem Leuchtfeuer.
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Seitenzahl: 225
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Das Blinkfeuer von Brüsterort
Johannes Richard zur Megede
Inhalt:
Schriftsteller, geb. 8. Sept. 1864 in Sagan, gest. 21. März 1906 in Bartenstein (damals Ostpreußen); studierte Jura, Ästhetik und Orientalistik, schrieb Romane und Novellen die hauptsächlich in seiner Heimat spielen.
Wichtige Werke:
· Kismet, 1897
· Unter Zigeunern, 1897
· Quitt!, 1898
· Von zarter Hand, 1899
· Félicie, 1900
· Das Blinkfeuer von Brüsterort, 1901
· Trianon und andere Novellen, 1903
· Der Überkater, 1904
· Josi, 1906
· Modeste, 1906
Das Blinkfeuer von Brüsterort, J. R. zur Megede
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN:9783849631451
www.jazzybee-verlag.de
www.facebook.com/jazzybeeverlag
»Bitte, die Billette nach Königsberg!«
In dem engen Korridor des Schlafwagens standen die Reisefiebernden bei ihren Kofferburgen. Die Kabinen weit geöffnet – der ekle Matratzengeruch, die wüste Unordnung nach einer Reisenacht. Hier und da hockten noch mißmutig Russen auf den Polstern, die ewige Zigarette mit dem Riesenmundstück in der schlaffen Mundecke; es waren breite, graue slawische oder matte, feiste orientalische Gesichter – die Charakterköpfe der östlichen Eilzüge. Der Trinkgeldschaffner turnte rasch und freundlich durch alle Hindernisse.
Am letzten Fenster lehnte ein Herr lässig, elegant. Es war ein Junimorgen. Seit dem grauenden Tag hatte er hier gestanden und die dämmernde Ebene an sich vorüberfliegen sehen – in den Roßgärten die weidenden Pferde oder die zum Wiederkäuen niedergetanen Rinder, die grauen Dörfer, die duftenden Ährenfelder und hüben und drüben den dunkeln Wald. Es war die Heimat, die er Jahre nicht gesehen. Er schaute und schaute, aber das Auge blieb verschleiert und kalt. Als der Schaffner zu ihm kam, sagte er nur über die Schulter weg: »Besorgen Sie mir in Königsberg einen Kofferträger!«
Der Mann blinzelte nach dem Kupee, wo elegante Gepäckstücke achtlos umherlagen, und sagte höflich: »Jawohl, Herr Baron!«
»Stimmt nicht ganz«, antwortete der Fremde kühl und wandte sich wieder nach draußen.
Zwischen Kiefernwald lugte das Frische Haff hervor, die bleifarbene Flut lustig gekräuselt, am Ufer ein wiegender Kahn, in dunstiger Ferne die gelben Dünenberge der Nehrung. Der Zug raste weiter. Dann tauchten aus weiter Ebene die Vorläufer einer großen Stadt auf: rote Fabrikschornsteine, trübselige Häusermassen, die häßliche Mietkaserne neben dem niedrigen, langgestreckten Landhaus. Am Horizont zwischen spärlichen Kirchen das düster mächtige Bollwerk des Ordensschlosses. Der Fremde schaute wie gebannt ... Das Schloß, die Ebene, der Kindertraum ... Sollte mit der Erinnerung wieder die Jugend sprossen? Seine Nasenflügel bebten. Es war, als ob er sehnsüchtig suchte – und nicht fand. Er atmete auf, lang und schwer ... Jetzt ein grasbedecktes Fort mit exerzierenden Soldaten, der finstere Festungswall. Die Zugräder knarrten unter der Bremse. Der Mann schaute flüchtig auf seinen Anzug. Er war ganz englisch gekleidet. Eine schlanke Figur, ein hartes Gesicht, aber weiche, dunkle Augen.
In Königsberg ließ er sein Gepäck auf der Bahn. Er schlenderte durch die Straßen, an den Speichern vorbei über die Brücken. An der letzten mußte er warten. Sie war aufgezogen. Ein Segelschiff glitt durch, und der trübe, gelbe Fluß murmelte. Die Brücke fiel.
»Dühling!« rief da ein Kavallerieoffizier von dem andern Trottoir herüber. Der Fremde zuckte nur mit dem Ohr und sah nach der entgegengesetzten Seite. Auch der Offizier merkte, daß er sich geirrt. Der Bekannte, den er meinte, konnte unmöglich schon graues Haar haben.
Der Fremde ging rascher. Er war ein wenig rot geworden. Nach dem Morgenbade frühstückte er in einem Hotel, aber allein, er liebte das. Bei der Suppe zog er einen Brief hervor, einen alten Brief von einer viel korrespondierenden Damenhand. Er las ihn, las ihn wieder. Ein Wort küßte er, er tat's flüchtig, verstohlen. Es war ja auch so töricht und paßte eigentlich gar nicht zu dem Mann. Dann sah er träumend durchs Fenster. Dicht vor ihm hob sich das alte Ordensschloß, aber er sah es kaum. Als der Kellner mit dem Fisch kam, winkte er nur nervös, er hatte keinen Appetit mehr. Er begann im Zimmer auf und ab zu wandeln, schnell, lautlos. Da war sie wieder, die Leere, die schreckliche Leere, die kein Wein, kein Weib mehr dauernd zu bannen vermochten! Sie kam an jedem Tage einmal über ihn; wie ein schleichend Fieber heut, wie ein Deliriumsfall morgen, aber sie kam. Seit Jahren scheuchte sie ihn von Ort zu Ort. Nicht Nerven! Das Leiden saß tiefer. Diese Leere hatte eine Frau in seinem Herzen zurückgelassen. Und im Gehen sprach er nach der Art Einsamer zu sich selbst: »Du bist doch ein Mann, Georg! Was nicht zu ändern ist, vergißt man... Du kannst nichts dafür, sie kann nichts dafür... Es war eben Verhängnis.«
Und wieder stand er auf dem Punkte, weit wegzufliegen, – die ewige, feige Flucht! Aber war es die Heimat, die ihn heimlich mit weichen Armen umfing, war es die Vernunft, die dem törichten Flüchtling doch einmal Halt gebot? Er sagte nur kurz und hart: »Also meinetwegen! Ich bleibe den Sommer hier... Das Dümmste ist ja immer das Beste.«
Er klingelte dem Kellner. »Geht die neue Bahn schon nach dem Samland?«
»Nein, erst nächsten Monat.«
»Na, dann telegraphieren Sie nach R. ans beste Hotel. Ich will ein gutes Zimmer, aber Seeseite. Kostenpunkt gleichgültig... Und um drei Uhr einen Wagen, anständige Pferde, nicht eure Droschkenschinder, die den Schloßberg kaum 'raufkommen.« Der Kellner lächelte. »Übrigens das Zimmer auf den Namen: Dühling.«
Am Nachmittage fuhr ein Jagdwagen mit zwei Füchsen durch das gotische Festungstor.
Es war ein schöner Tag, am hellen Himmel die warme Sonne, von der See her der fächelnde Wind. Die Pferde trabten scharf. Mählich versank die Stadt. Die Ebene dehnte sich, so lachend, so jugendfrisch! Das reifende Korn wogte weich, die Wiesen dufteten süß. Von den Bäumen an der Landstraße piepsten die Sperlinge frech. Georg von Dühling schaute hinaus. Es war ihm wohler ums Herz, freier. Die Heimat! Für Augenblicke bannte ihr Zauber doch... Zwar gerade hier hatte seine Wiege nicht gestanden: er kannte das Samland kaum, diese dürftige Bodenwelle zwischen Haff und Haff, wo die hohen Dünen stumm und weiß landeinwärts wandern, wo der feine Seesand mit dem Wind die Felder überrieselt. Er war aus der Niederungsnähe. Die dunkle Scholle glänzt da fettiger, schwerer, die Wiesen sprossen da saftiger. Aber es war doch dieselbe uferlose Ebene, derselbe lastende Himmel, auf den Weiden trotteten träge dieselben schwarzbunten Kühe, hoben dieselben seinen Fohlenköpfe sich wiehernd. Und die Luft so rein, das Licht so groß! Der Reisende bedauerte den jähen Entschluß nicht, er wunderte sich vielmehr, daß er so spät erst der Heimat gedacht. Aber er wußte auch, daß solche Eindrücke nicht dauern, daß dieselbe Leere sich wieder auf die lachende Ebene senken würde. Und weil er das genau wußte, genoß er hastig wie ein Kind. Die weiße Chaussee zog sich endlos Hügelauf, hügelab zwischen Feld und Wald, zwischen Heide und Sumpf. Spärliche Dörfer, auf der Straße wenig Fuhrwerke, nur magere Bauernklepper, die trotzig mit dem Kopfe schüttelten, wenn die Füchse sie überholten oder die schweren Strandjournalieren, wie Planwagen gedeckt und mit dem Hausrat von Badegästen beladen. Es war kein reiches Bild, aber es war doch eine einfache Poesie darin, und Georg von Dühling sah fast feindlich auf den frischgeschütteten Damm der Strandbahn, den sie kreuzten, auf einen zierlichen Bahnhof und das neue, häßliche Stadtwirtshaus, das sich an die alte, gemütliche Straße drängte. Das waren alles Eindringlinge... Nur einmal hielten die Füchse Rast. Es war ein behäbiges, altes Dorf und ein behäbiger alter Krug. Vorn die hölzernen Krippen und zwei gemächlich kauende Frachtpferde, im Bauerngarten die Geißblattlaube, der wackelige Tisch, die gackernden Hühner. Und über allem ein so altväterlicher, wohltuender Hauch: selbst der Postillion, der eben vorfuhr, blies sein Horn gefühlvoll wie in alten Zeiten. Georg von Dühling saß in der fliegenbesäten Gaststube und trank Warmbier, obgleich es gar nicht kühl war. Aber das Warmbier gehörte nun einmal zu dem Krug, und er fand es natürlich.
Das Dorf hatte in einer fruchtbaren Mulde gelegen. Jetzt ging's sanft bergauf. Oben wehte es schärfer, kühler, das Seesalz tränkte die Luft. Die Küste! Im hellen Licht blasse, dürftige Weiden, kümmernder Wald, das Blaugrün der Lupine und ärmliches, frühreifes Sommerkorn. Der Sand baute hier seine Dünenburgen, und die Ackerkrume erstickte langsam unter den weißen, rieselnden Atomen, die jeder Wind landeinwärts trug. Es war ein mühseliger Kampf, ein sterbend Leben, immer zaghafter, elender, bis zu den Küstenhängen selbst, wo das struppige Strandgras rauscht, der Wacholder wuchert und wie Inseln im Sandmeere Birkengestrüpp und krüppelige Kiefern über den weißen Dünenwellen sich heben. Dahinter blinkte das Meer, die Sonne lag darauf und malte weiße, gleißende Lichter. Der Kutscher knallte mit der Peitsche, die von langer Fahrt müden Tiere legten sich noch einmal zum vollen Trabe aus, sie witterten den Stall.
Ein kleiner Badeort, mehr Küstendorf, Fischerkaten und Bauernhäuser gemischt. Der Strand hier war schwierig, das Meer arm, und die Äcker nährten nur kümmerlich den Mann. Das alte Hotel stand im Garten, die Kurkapelle spielte, und um den Birnbaum drehte sich die Jugend im Tanz. Doch der Baum war alt und verdorrt, und nur die Tradition hielt ihn noch heilig. Liebespaare mußten unter ihm getanzt haben, das gab Glück in der Ehe. Georg von Dühling, der nur ein halbes Herz für Lämmerhüpfen sich bewahrt hatte, sah flüchtig hin und fragte gleich nach seinem Zimmer. Der alte Wirt grüßte mürrisch, und im Gastzimmer lagen noch unordentlich die Servietten vom Mittag umher. Verwundert sah Dühling das muffige Gemach nach dem Hof 'raus, in das man ihn wies. Das Stubenmädchen begriff nur schwer, daß man auch am Tage Waschwasser brauchen könne. Und höflich nach einem besseren Zimmer befragt, antwortete der Wirt recht großspurig: »Die Herrschaften, die bei mir logieren, sind immer mit ihren Zimmern zufrieden gewesen.« Aber Dühling maß den Dreisten von Kopf bis zu Fuß. »Habe ich Sie danach gefragt?« sagte er scharf. »Ich danke für Ihr ganzes Hotel! Und wenn Ihre Herrschaften mit so einem schmutzigen Loch zufrieden sind, dann sind's wohl auch die Herrschaften danach.« Der Wirt war ein starker, brutaler Kerl und der Gast nur schlank und mager, aber er hatte in Wort und Miene eine Art, die auch schon weit Stärkere eingeschüchtert hatte.
Erst ärgerte Dühling sich über den Zwischenfall, dann schlug er mit dem dünnen Spazierstock einen Lufthieb: »Ach was! Vielleicht liegt in dieser Lächerlichkeit wieder mal mein Schicksal... Ich gehe einfach nach K., da ist's noch einsamer, und sicher ärgert mich da kein bekanntes Gesicht...« Dem Namen nach kannte er die kleinen Seebäder an der Samlandküste längst. Ein Mann wies ihm auch bereitwillig den Weg: über Land eine knappe Stunde, am Ufer zwei gute, weil der Sand so tief sei. Und auf der Düne wohne man am besten.
»Also auf nach der Düne!« Den englischen Reisesack schickte er voran. Er selbst ging zum Strand. Die See schwappte träge. Barfüßige Kinder bauten sich Sandfestungen, im Kreise sitzende Mütter klatschten; der Strickstrumpf, die Häkelei, der unermüdliche Mund – das Kleinstadtidyll am Meeresstrand. Auch Georg von Dühling wühlte sich in den Sand und ließ die feinen Körner durch seine Finger rinnen. Zur Rechten und zur Linken die hohe Küste, freundlich, weiß und grün. Der Dünenwall schwang sich in anmutigem Bogen, mit sanften Buchten, rissigen Schluchten, stumpfen Kaps bis hinüber zum schlanken Leuchtturm von Brüsterort, der auf dunkler Landzunge wie auf einer Riesenmole in die Ostsee hinausragte. Es tat dem Auge so wohl und dem Herzen auch. Georg von Dühling blieb lange liegen. Ein funkelnder Strahlenmantel, breitete sich das Licht der untergehenden Sonne über die spielenden Wasser, das Gestirn selbst gelb, dunstig, schläfrig blinzelnd im halben Traum. Die Mütter hatten die Köpfe emporgereckt, ein paar rote Strandhüte leuchteten phantastisch, und dicht neben ihm sagte ein dicker Bürger im breitesten Dialekt: »So was Schönes gibt's nur an unserm samländischen Strand!« Der Reisende lächelte. Ihm, dem Vielgewanderten, schien der Ausruf etwas kühn, aber es lag doch eine so müde Schönheit über dem träumerisch flüsternden Meer, daß er schönere Sonnenuntergänge vergaß.
Schnell sank das Licht. Die weichen Dämmerungsschatten zuckten grau und gespenstisch, die Seebrise flackerte matt. Darauf begannen die Dünengräser geheimnisvoller zu rascheln, und das Ufergebüsch auf der Höhe sang. Der Wind war umgesprungen und wehte vom Land.
Es war hohe Zeit. Am äußersten Strand, da, wo die kleinen Wellen weiß zischend hinaufleckten, ging er. Dort war der Boden am festesten, weiter versank wieder der Fuß wie im losen Schnee. Dühling klopften die Pulse, und das Herz schlug schneller ob der ungewohnten Anstrengung, dennoch tat sie ihm wohl. Mählich erstarb der lichte Schimmer am Horizont, die Dünenberge starrten düsterer, gespenstischer leuchtete der Sand. Hier unten kein Mensch, kein Laut, kein Luftzug sonst, nur die graue, nebelige See mit ihrem verschleiert flüsternden Wellenschlag, ihren tückisch aufblinkenden Reflexen. Am Himmel unsicher flimmernde Sterne, und das Blinkfeuer von Brüsterort wie ein großes, rotzuckendes Raubtierauge. Zuweilen blieb der Wanderer stehen, zu horchen; es war so stumm, so köstlich einsam. Da – er war mehr als eine Stunde gegangen – plötzlich ein Schatten, eine Gestalt. Eine Frau im weißen Bademantel. Sie mußte im Augenblick aus dem Ufergebüsch getreten sein. Sie ging einen wiegenden, leichten Schritt. Wo die schwarzen Pfähle, die feuchten Taue des Bades sich über dem Wasserspiegel zeichneten, hielt sie. Der Wellengischt netzte ihren Fuß. Sie schaute auf die See, sie fürchtete keinen Lauscher; zu dieser Stunde war der Strand immer einsam, tot. Sie ließ langsam den Mantel von der Schulter gleiten. Keine zwanzig Schritte von ihr der Mann, der den Atem anhielt ... Eine Nixe? Fast schien's. Ein schlanker Körper, leuchtende Glieder, über dem feinen Nacken, hell schimmernd, das Haar im dicken Knoten. Das Gesicht war abgewandt, es schaute nach dem Leuchtfeuer von Brüsterort, das in diesem Augenblick heller flammte. Eine Welle schwappte gierig. Und plötzlich – knirschte ein verräterisches Sandkorn, durchzuckte mit dem kühlen Naß sie ein Grauen? – die Gestalt wandte sich jäh. Zwei große Augen starrten den Lauscher an, heiß zuerst, dann wie langsam erkaltend, zuletzt glanzlos, tot. Sie stand bewegungslos, die Scham mochte ihre schönen Glieder lähmend durchrieseln. Es war nur ein Moment. Dann warf sie den Kopf verächtlich zurück und schritt in die Wellen mit demselben gemessenen, leicht wiegenden Schritt, bis die Flut sie deckte, nur der weiße Nacken leuchtete noch und das helle Haar. Mit langen Stößen schwamm sie hinaus ins Meer.
Georg von Dühling zauderte noch, auch ihm rann das Blut heißer. Er war jedoch nicht mehr Knabe genug, um das seltsame Abenteuer voll zu genießen, und feiges Lauschen hatte er nie geliebt. Darum watete er wie beschämt durch den tiefen Sand, querüber nach dem nächsten Dünenberge. Er war steil, und mühsam klomm der Fuß auf der kümmerlichen Grasnarbe. Auf halber Höhe hielt er fast atemlos. Unwillkürlich wandte er sich um. Die nächtliche Schwimmerin war nur noch ein heller Punkt, der in der grauen See trieb.
»Schöner Körper und schöne Augen«, sagte er vor sich hin. »Ob ich sie wohl wiedererkennen würde? Vom Gesicht habe ich keine Idee, ich sah nur die Augen. Eigentümliche Augen, wie sie so langsam erloschen ... Solche Augen müßte man eigentlich immer wiedererkennen ...« Und während er weiter kletterte, fühlte er seine Sinne ganz erwachen, seine feinen Sinne – dieser untrügliche Instinkt für die Frau, dieser Durst nach ihr, dieses Suchen ... Er war nicht von der Menge. Einst war das sein Stolz, der längst gebrochene ... Einmal hatte eine Frau in sein Leben gewaltig gegriffen, die Wunde blutete noch. Sollte es noch eine Frau geben, diese Wunde zu schließen? Er schüttelte den Kopf. Den törichten Glauben an Wunder hatte er längst nicht mehr.
Oben auf der Höhe wehte es frisch. Auf einem Schmugglerpfad zwischen Wacholder und feuchtem Heidekraut schritt er rasch dahin. Weiterhin loser Sand, Gestrüpp, zuletzt ein elender Wald ohne Weg. Er verirrte sich fast. Doch bald blinkten freundliche Lichter, Tanzmusik tönte verschwommen, er stand vor einem einsamen Haus mitten im Grünen. Das Dünenhotel. Ein Zimmer bekam er auch noch, das letzte. Fast durch ein Wunder, wie der Kellner versicherte, weil das Haus stets überfüllt war und nur heute plötzlich einer hatte abreisen müssen. Georg von Dühling blieb in dem dunklen Garten und aß ein bescheidenes Abendbrot. Drinnen drehten sich die Paare, und unsichere Schatten wogten am beschlagenen Fenster. Es fiel feucht. Die Seenebel zogen tief, der bittere Duft junger Birken würzte die Nachtluft. Und der einsame Mann saß brütend. Er dachte an eine ferne, ferne Frau. Die Nixe war vergessen.
Am Morgen erwachte er früh. Ein lichtgebadeter Tag. Es war ein einfaches Mansardenzimmer, doch gemütlich und hell, auf dem Tische stand ein Feldblumenstrauß. Der Blick ging auf Wald. Im Morgenwind spielten die Birkenblätter, und die jungen Triebe der Kiefern leuchteten im zarten Graugrün. Dahinter das Meer silberglänzend, klar. Georg von Dühling öffnete das Fenster. Im Garten unten klirrten Kaffeetassen. Junge Stimmen, Lachen. Der schmale Weg nach dem Strand ging am Hause vorüber. Helle Kleider grüßten herauf, frische Mädchengesichter. Seine Toilette dauerte immer lange. Als er hinunterkam, war das Haus fast leer. Diese Frühaufsteher aus der Provinz nahmen den Tag voll und vergnügten sich bereits in der See oder im Wald. An der schwarzen Tafel im Korridor inspizierte er die Namen, gleichgültige Namen, kein einziger Bekannter darunter. Gott sei Dank! Auch »Georg von Dühling, Offizier«, schimmerte bereits in weißer Kreide. Er lächelte. Der Kellnerinstinkt hatte doch richtig geraten. Das a.D. malte er selbst ungeschickt dazu. Eine freundliche, ältere Dame überraschte ihn dabei, die Frau des Hauses. Sie erkundigte sich liebenswürdig, wie er die erste Nacht an der See geschlafen habe, und belehrte ihn, daß die Dünenvilla nicht etwa ein Hotel, sondern ein Pensionat sei, daß man fünf Mahlzeiten nehme, und daß sie in ihrer Jugend einen Herrn von Dühling auf Berten sehr wohl gekannt habe.
Der Gast kniff nur die Lippe und sagte: »So?« um dann etwas höflicher hinzuzufügen: »Fünf Mahlzeiten? Da kann ich nicht mit, gnädige Frau. Außer dem Kaffee zwei sind mir reichlich genug.«
Die Dame zuckte die Achseln: »Ja, die Herrschaften verlangen's nun einmal, namentlich das zweite Frühstück. Und Sie sollten mal sehen, wie heißhungrig die Jugend nach dem Bade darüber herstürzt. Aber es freut mich auch, ich freue mich überhaupt, wenn es den Gästen schmeckt, denn die Küche dirigiere ich. Und die Seeluft macht Appetit! Sie werden das noch an sich selbst erfahren. Und es sollte mich freuen, wenn Sie nach einigen Wochen etwas wohler aussehen als jetzt!« Sie sagte das in einer feinen, hausmütterlichen Art, die wohl tat.
»Ich hoffe auch, gnädige Frau«, antwortete er freundlich. Der Kellner Karl hatte sich dazugesellt; listig blinzelnd, die Hand in der Hosentasche spielte mit den Biermarken. Und als die Frau ging, erklärte er vertraulich:
»Aber Sie können alles kriegen bei uns, Herr Rittmeister, wie in einem Hotel, nur billiger. Wir haben nämlich meistens Damen hier, und die sind auf die Dittchens, herrjeh! Wenn nicht noch die Passanten wären, könnte unsereiner gar nicht bestehen!«
Im Garten wartete bereits der Kaffee, ein guter Kaffee, der überreichlich dem Messinghahn einer altmodischen Maschine entströmte. Die Schenkin war ein hübsches, junges Ding aus dem Dorf, mit etwas törichten Augen, – sie hatte noch niemals eine Eisenbahn gesehen. Nach all den Modebädern, den luxuriösen Winterkurorten mal etwas ganz anderes, etwas Ursprüngliches, ein Küstenort mit reiner Luft und einfachen Menschen. Die Villa, ein riesiges Schweizerhaus, turmgekrönt, mit großen Balkons und langer Glasveranda, ragte gar luftig und frei auf der Düne. Der gelbe Sand ringsum glänzte festlich in der Sonne, das zarte Birkengestrüpp ließ darauf seine zitternden Schatten spielen, und kleine Tannen zwischen duftendem Heidekraut kämpften zäh gegen die rieselnde Körnerflut, die sie immer wieder in weißen, heimtückischen Wellen begraben wollte.
Auch Staketlauben hoben sich aus Sand und Busch, ein schrecklich steifes Sommerhaus darunter mit farbigem Fenster und einem philiströsen Blumenbeet. Aber hinter der Villa, wo am Holzgalgen der Spielring auf dem Haken klirrte, hatten die Jungen ein tiefes Grab geschaufelt und waren bald ernsthafte Totengräber, bald trotzige Ritter im Verlies. Wenn nicht vor dem Haus um das wehmütige Rosenrundell die vielen Gartentische gestanden hätten mit den bunten, flatternden Decken und den Bieruntersetzern, und wenn nicht das weiße Schild am Eingang den Passanten allerlei Erfrischungen verheißen hätte, würde man vielmehr eine vornehme Privatvilla vermutet haben. Und jetzt noch starrten mißtrauische Fremde auf die Inschrift und sahen die bunten Illuminationslämpchen verwundert an ihrem Draht schwanken, ehe sie mutig eintraten oder schüchtern weitergingen.
Allmählich stellten sich die ersten Frühstückshungrigen ein. Junges Volk. Die Mädchen mit frischen Farben, das Haar aufgelöst, noch feucht vom Bad, und hoffnungsvolle Jünglinge mit schlakigem Gang und etwas ausgewachsenen Hosen. Sie lachten und sprachen laut, und die Mädchen schlenkerten die weißen Baderollen. Ab und zu äugte ein hübsches Kind nach dem Fremden. Denn ein Fremder war hier immer Ereignis. Dann stieß sie wohl die Nachbarin an, sie steckten die Köpfe zusammen und tuschelten und kicherten verschmitzt. An den Tischen bildeten sich Gruppen. Die Buttermilchkanne wanderte die Reihe herum, aus dem braunen Fell löste sich einladend das mattgelbe Fleisch der geräucherten Flunder, weiche Eier wurden beklopft, und mit kleinstädtischem Mißtrauen prüften die Hausfrauen, ob sie auch frisch seien. Die Mädchen aßen hastig, die sorglosen Mütter dazwischen mit Bedacht, ein paar alte Jungfern langsam oder zerstreut, von melancholischen Phantasien getragen. Aber die Gymnasiasten saßen stolz für sich, das Männerbier perlte, und der Kneifer wurde kühner gesetzt, wenn sie mit Siegerblick nach den kleinen Mädchen hinüberschauten. Jungens tobten bereits mit der Klappstulle durch den Garten, das Kriegsgeheul gellte, und am Holzgalgen schwang sich der Ring.
Es war wahrlich keine blasierte Gesellschaft, und Georg von Dühling fühlte sich unter diesen Provinzlern ein wenig fremd, und wiederum schienen ihm die Stimmen und die Gesichter vertraut. Auf dem Strandwege draußen flutete ein bescheidener Menschenstrom. Alle schauten nach der Villa, neugierig, vielleicht neidisch die einen, etwas verächtlich überlegen die andern. Seit vorigem Jahr bestand ein heimlicher Zwist: ob die lustige, elegante Dünenvilla auf der Höhe vorzuziehen sei oder die alten Gasthäuser im Dorf. Die Jugend plädierte leidenschaftlich für die Düne, weil der Strand so nahe und der Blick freier, aber die alten Familien erklärten im maßgebenden Ostpreußisch, daß der Teich und der Zauberwald unten im Dorf weit schöner seien, und daß eine dreißigjährige Badegasttreue Beweis genug dafür wäre. Doch Gefühle sind wandelbar und Menschen wankelmütig. Die Villa galt heute bereits als der aufgehende bessere Stern. Eine feste Fronde bildeten nur noch unfehlbare Gymnasialprofessoren und die Wirte.
Der Kellner Karl kam geschäftig: »Herr Rittmeister, soll ich Ihnen nicht auch ein bißchen Frühstück rausbringen? Ganz frische Flundern«, und er zwinkerte freundlich.
Dühling dankte lächelnd. Diese Provinzart wurde ihm nachgerade spaßig.
»Aber lieber Freund, bitte, nicht Rittmeister, ich liebe keine Chargen ...«
»Na, nehmen Sie's nur nicht übel, Herr Baron ... die Herrschaften wollen's hier gerade so. Da heißt's immer: Frau Doktorn und Frau Rätin ...«
Dühling stand auf. »Sie sind unverbesserlich, teurer Karl ... Der Ort ist doch nicht weit?«
»Nein, rechts und dann um die Ecke und dann links, und dann können Sie nicht fehlen.«
Der Gast nickte, der Kellner dienerte. In der Gartentür blieb Dühling noch einen Augenblick unschlüssig stehen. Auf einmal murmelte er verdrießlich: »Auch der noch, – ich danke!« und bog rasch nach links. Doch nach wenigen Schritten war er schon eingeholt, eine Herrenhand schlug ihm auf die Schulter. Es war der Offizier von gestern, diesmal in Reitzivil.
»Tag, Dühling! Wollen mich heut wohl wieder schneiden?«
Der Angeredete blieb stehen. »Ach so, Sie sind's«, antwortete er etwas gedehnt. »Tag ... Wieder schneiden? Wieso?«
»Na, gestern in Königsberg an der grünen Brücke. Sie waren aber immer so, Dühling.« Und ohne die Antwort abzuwarten, nahm er ihn unter den Arm: »Kommen Sie nach der Bank da! Da müssen Sie beichten, und hübsche Bälger flanieren da immer.«
Dühling ging geduldig mit. Es war ein lauschiger, grüner Platz am Strandweg.
Der Neue erwies sich als ein etwas derber, blonder Beau mit dickem Habyschnurrbart und Kommißteint. Er hieß Freiherr von Westrem. Die beiden hatten dieselbe Kriegsschule besucht, kurze Zeit im selben Regiment gestanden, irgendeine Sympathie verband sie nicht.
»Nett, daß man sich mal wiedersieht«, sagte Dühling endlich. »Sie sehen famos aus, Westrem, ungefähr zehn Jahre jünger als ich.« »Nur äußerlich!« erwiderte der andre, »Übrigens, der weiße Schnurrbart steht Ihnen nicht mal schlecht ... allerdings mit achtunddreißig Jahren ein bißchen reichlich früh. Zeigen Sie mal die Hand! Natürlich Schnee, Aristokrat, genre distingué wie immer.« Und er schlug dem Kameraden kräftig aufs Bein.
»Meinen Sie?«
»Das waren Sie mal wieder ganz, Dühling! – Meinen Sie? – Ich kenne niemand, der die zwei Worte so arrogant sagen kann ... Aber Scherz beiseite, wie ich Sie gestern in Königsberg sah, ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß man so schnell weiß werden kann.«
»Ich sehe aus wie mein eigner Vater, nicht wahr? Schadet nichts, ich bin auch nicht mehr eitel!«
»Aber blasiert sind Sie, Dühling, und das tüchtig!«
»Ach, Westrem, Sie reden nur nach, was mir schon seit meiner Fähnrichszeit nachgeredet wird.«
»Wir wollen uns nicht zanken«, meinte der andre gutmütig. »Die Zeit ist edel ... Sagen Sie mal, Dühling, warum haben Sie eigentlich Ihren Abschied so plötzlich genommen?«
»Es paßte mir nicht mehr.«
»Na, na, Dühling, das allein?«
Der andre aber fuhr ruhig fort: »Ich habe ja mein Gut, und wenn es auch klein ist –«
Westrem lachte hell auf. »Das glaubt Ihnen ja kein Mensch! Sie und sich in Litauen auf dem Lande begraben!«
»Und wenn ich es doch täte ...«
Der andre blinzelte schlau. »Wissen Sie, wer nach Ihnen Adjutant bei derselben Kavalleriebrigade gewesen ist?«
Georg von Dühling sah den Sprecher groß an: »Sie. Ich lese doch die Rangliste.«
Der andre blinzelte noch pfiffiger. »Und die reizende Kommandeuse?«
»Und was hat die Dame mit meinem Abschied zu tun?« fragte Dühling eisig.
Da setzte sich der andre ganz dicht heran und stieß ihn leicht in die Seite. »Schauspielern Sie doch nicht, Dühling! Die Spatzen pfiffen's ja von jedem Kirschbaum ... Und dann ist Ihnen die Sache über geworden, und merkwürdig wie Sie immer waren, pfiffen Sie sofort auf den ganzen königlichen Dienst, der Ihnen doch nichts getan hatte ... Aber eine Sünde, eine ganz große Sünde war die Frau schon wert ... Famoses Weib!«
Georg von Dühlings blasses Gesicht färbte sich leichenhaft. Er war aufgestanden, und die dunkeln Augen blitzten hart wie Stahl. »Lieber Westrem, wenn böse Zungen sich in der Gemeinheit üben, haben Sie wenigstens die Güte, nicht den Kolporteur zu spielen! Ich kann Ihnen nur sagen: die Frau, die Sie allein meinen können, ist eine vornehme Frau, für manchen Geschmack wohl unverständlich vornehm. Und gerade Sie, der Sie die Frau so gut kennen, sollten sich ...« Er sprach den Satz nicht zu Ende und wandte sich mit einem verächtlichen Achselzucken zum Gehen.