Das Brot mit der Feile - Christian Geissler - E-Book

Das Brot mit der Feile E-Book

Christian Geissler

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Beschreibung

Jan Ahlers ist 17. Er lebt bei seiner Großmutter in Hamburg, malocht auf dem Bau, ist nicht zufrieden mit sich und der Welt. "Alles bloß immer Hund!" ist einer seiner Lieblingssprüche. Die Handlung beginnt 1960, und ein breit angelegtes Milieu fächert sich auf: Bundeswehrsoldaten, ein Sozialarbeiter, ein Franzose, Kommunisten, ein Gangsterboss, ein Arzt, ein NDR-Journalist… In "Kalte Zeiten" (1965) erzählte Christian Geissler einen Tag im Leben von Jan Ahlers. Mit "Das Brot mit der Feile" (1973) ändern sich die Perspektiven und der Tonfall in Geisslers Prosa. Ahlers gerät mitten hinein in den politischen Aufbruch. Der Literaturwissenschaftler Ingo Meyer setzt in seinem Nachwort das literaturästhetische Profil des Romans in Bezug zu den Debatten um eine linke Ästhetik und arbeitet die Spezifik von Geisslers "Poetik des Widerstands" heraus. "Dieser Roman ist die erste komplexe erzählerische Realisation des Widerstands, des Protests, des Veränderungswillen, wie sie in den sechziger Jahren in der Bundesrepublik aufkamen." (Heinrich Vormweg)

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Christian Geissler

DAS BROT MIT DER FEILE

Mit einem Nachwort von Ingo Meyer

Inhaltsverzeichnis
Buchcover
Titel
TEIL 1 Alles Hund
1. Fahndungsversuch
2. Anrede
3. Eine aufreißen
4. Hass fressen
5. Fluchtwege
TEIL 2 Wessen Mann
1. Insel mit Sonne
2. Ossis Schwiegersohn
3. Ratjens Mann
4. Gemachter Mann
5. Auch auf Inseln
6. Rückstoß
7. Kein Traum
8. Nein, ich selbst
TEIL 3 Tage der Befreiung
1. Unrecht und Recht
2. Die fette Hand
3. Abschied ohne Netz
Christian Geissler: Nachwort 1986
Glossar
Das Brot mit der Feile. Zum Auftakt von Christian Geisslers Trilogie des Widerstands und ihrer Romanpoetik – Nachwort von Ingo Meyer
Impressum

– Unsere Friedensliebe hört beim Terror auf.

– Unsere auch.

TEIL 1 Alles Hund

1. Fahndungsversuch

Mit der aufkommenden Sonne, den Vogelstimmen im Elbgartendunst, dem Ticken in den noch leerstehenden Ampeln, dem Schlagen der Stechuhr, den Gesichtern der ersten Schicht kommen auch Hubschrauber auf. Vor der Stadt, im Nordosten, in Feldern und Mooren und Knicks, der Bahnhof Bad Oldesloe. Hier ist vor Jahren, zu spät, auf Mörder geschossen worden. Hier laufen jetzt neue Straßen nach Südsüdwest spitz auf den Stadtrand zu. Im Süden der Fluss, die Sonne auf Inseln, auf Tierkäfiggittern in Süderstraße, Tierheim für streunende Hunde und Katzen, dreißig Tage für jedes Tier, danach der Stich ins Genick für die Ordnung in dieser Stadt.

Das Morgenlicht ist schon weiß, fließt auf dem Wasser nah an die Stadt, Bugsier achtundzwanzig, Ellerholzhafen, Maakendamm, ein Deichstück mit Wohnbuden drauf, mit alten Leuten und Stachelbeerbüschen und immer leicht Wind von BP, vom Rattenwasser im Kümohafen.

Kümos sind kleine Motorschiffe, die in Küstennähe nach Holland fahren, nach Dänemark, Schweden und Finnland, nach Wismar, Rostock, Stralsund. Sie bringen und holen Holz, Futtermittel, Baumaterial, Ladegut, das billig transportiert werden soll. Kümos sind grau, die wenigen Aufbauten am Heck sind weiß, der Ladebaum vorn ist sandfarben gelb. Alle Farben an Bord sind ausgeblichen und alt. Nur an Waschtagen hängt bunte Wäsche über den Luken.

Kümos werden von einer Familie gefahren, von einem Mann, einer Frau und einem Jungen. Manchmal ist ein zweiter Junge an Bord. Solche Schiffe heißen nach der Frau des Kapitäns, Elfriede, Gesa, Sophie. Schiffe müssen Mädchennamen haben, alles andere sind bloß Maschinen, hat neulich Merkatt gesagt. Er weiß Bescheid. Er haust mit seinem Hund auf einem alten Rettungsboot, das er sich auf der Abwrackwerft besorgt hat. Das Boot heißt Alwine. Die Frau, die so hieß, ist seit zehn Jahren tot, Fettsucht. Seither wohnen Merkatt und der Hund draußen im Schlick.

Die Nachbarn im Holzbudenrasen sind angenehm, alte Leute, die sich freuen, wenn der Schnittlauch und die grünen Bohnen wachsen, die ihren Dackel fettfüttern und die, wenn die Postkarte aus Port Said rechtzeitig ankommt, nach einem bestimmten Schiff Ausschau halten. Die meisten von ihnen sind selbst mal gefahren und haben jetzt einen Sohn oder Schwiegersohn unterwegs und winken vom Gartenzaun aus, wenn er losfährt, und backen Kuchen, wenn er kommt. Denn auch die großen Überseeschiffe fahren hier unmittelbar am Gartenzaun vorbei.

Maakendamm, kaum sechzig Schritt breit, reckt sich wie ein leicht gekrümmter langer dünner Finger vom Rand des westlichen Hafenbeckens über knapp zwei Kilometer ins Flusswasser hinaus bis an den Rand der Fahrrinne, noch vor Köhlbrand, gleich hinter Athabaskahöft. Man erkennt vom Wohnzimmersessel, Bantumak von seiner Ochsenhaut aus, die Namen der Schiffe, die Flaggen, manchmal auch die Gesichter. Man hört das Dröhnen der Maschinen. Die großen Schiffe stoppen, um den Fahrrinnenboden nicht aufzureißen, auf der Höhe vom Maakendamm ab, werden von Schleppern übernommen und an den vorbestimmten Kai gebracht. Auf einem der Schlepper, auf Bugsier achtundzwanzig, fährt eines Tages Pit Vreese als Maschinist, die Waffe von Ahlers im Schaltkasten hinter den Druckmessgeräten. Kein Glück für Ossi und dessen Tochter, aber für Larry Tack.

Jetzt Aufschwung über den Fluss, das Steilufer hoch über Emkendorfstraße und Övelgönne, Dichterstuben und Kapitänsquartiere, Parkbäume mit Pirol, Schatten für Golf, Geldhäuserhochzeiten ganz in Weiß in Reedergärten bis oben nach Falkenstein, bis zum Bauunternehmersohn Karl Gustav Ratjen. Ratjen wird mal ein reicher Mann sein, jeder so gut er kann, aber vorher, als Junior, schießt er sich oben in Rahlstedt, als Hauptmann der Boehn-Kasernen, auf Ordnungsgegner ein für den Tag X, »ihr Herren, wir schwören euch Rache, für vergossenes Arbeiterblut, es kommen die Zeiten der Rache, dann bezahlt ihrs mit eigenem Blut«. Wer singt denn in Hamburg noch Leunalieder*?

Fiete im Erdbeergarten, im Bahngleisdreieck zwischen Bahrenfeld, Eidelstedt, Altona, im friedlichen Rauchdreck der Arbeitergärten, kann dir das Lied heut noch krächzend singen, hustend und lachend von Arbeiterkampfglück und zu wenig Sonne an der Werkzeugklappe bei Menck. Das hatte als Lehrling angefangen noch ein Jahr vor Verdun, und am Tag nach den Überfallbomben auf Nordvietnam, am Tag nach den Lügen vom Tongkinggolf*, kam er krummgepuckelt und grau da erst raus, Hohn in der Tasche von Oberstrolchen, Taschenuhr von der Anselmsau* für Treue durch all die Zeit.

Von oben her aus der Kanzel aus Glas sieht keiner, dass Fiete von unten her droht, Hustenfaust hinter Holunderbüschen, lachend ein winziger blaugrauer Mann. Die Sonne steht über ihm leuchtend hoch.

Auch über Bonnepark, Bauplatz für Ratjen, Autobahntunnelbau Richtung Nord, Baggerwüste und Grundwasserteiche, Schussfeld für Sonderkommandos, von oben her Einsicht frei. Für einen, der Deckung sucht, keine Chance. Für einen, der damit rechnen kann, dass nach ihm andere aufstehen, andere mit ihm lachen werden, mit ihm die Ziege braten und Lieder singen, zehn Jahre Knast. Wer recht hat, der freut sich. Trotz alledem.

Aber Liebknecht läuft durch das Silberhaus, durch den Sender in Lokstedt noch als Novemberverbrecher, die Aluplatten der Hochhauswände werfen das Sonnenlicht kalt zurück, Herrschaft hat keine Lieder, nur Gebrüll und Geschwätz und hohe Bezahlung für den, der ihnen gehorcht.

Henning Specht hat ihnen niemals gehorcht. Noch als er im Raakmoor in Dornen festsaß, hat er sich über die Frösche gefreut, die der Froschalten singend den Bauchspeck halten. Und als er mit Kasten, dem Sprengstoffrocker, im Irrenhausgarten in Ochsenzoll mal zugeguckt hat, wie sie den Schornstein da, leicht vierzig Meter über NN, von Amts wegen hatten wegpusten wollen, da hatte er klug gedacht: Sechs Kilo Stoff sind zu wenig. Und hatte auch recht gehabt. Erst beim zweiten Versuch ging der Scheiß in die Grütze, schön Staubwolke über Bullengesichter, Specht und Karl Kasten hatten gelacht: War wieder nett, bloß leider erlaubt.

Aber schwing dich mal hoch, zieh den Kreis um die Stadt mal eng, einmal sind wir schon rum.

In Eppendorf, in den Klinikbetten, hoffen Fiete und Robby auf Hilfe vom Arzt, der kommt aber nur für privat mal ans Bett, und bestimmt nicht für AOK, für Proleten nur dienstags, und auch, trotz Sonne und Amsel im Mai, bestimmt kein Balkonbett für die. Robby denkt, er hat Wasser im Herz, hat Angst und möchte nach Barmbek zurück, dort sind seine Frau, sein Bier, seine Dachschützenfenster von 23, sein Grammophon mit den Spanienliedern, Thälmannkolonne, Jaramafront*, »und einmal dann, wenn die Stunde kommt, da wir alle Gespenster verjagen, wird die ganze Welt zur Jaramafront, wie in den Februartagen«. Robby singt wie ein Stier. Das hat auch der Könner aus Kirchenallee* schon gesagt, der Theatermacher vom Schauspielhaus, den schleppt ihm Erni manchmal ans Bier, und Robby muss für den feinen Mann dann schön am Klavier in der Gästestube laut mal die alten Kampflieder singen, macht nichts, Robby singt gern. Deswegen will er nach Haus. Deswegen hat er jetzt Angst.

Robby ekelt sich vor dem Tod. Er denkt an die Kiste der Schwarzmänner von St. Anschar, an die Ofenmänner im Ohlsdorfer Friedhofskeller. Er sagt nicht Tod, sondern Dreck, Schweinerei, Gemeinheit, und Fiete hört wortlos zu. Aber Erni, der alte Genosse, lacht ihm das weg und sagt, als er bei ihm mal auf der Besuchskante sitzt: Der Tod, Robby, ist die einzige Schweinerei, die dich nichts angeht. Weil dagegen bist du machtlos. Sonst alles nie. Komm, steh auf!

Robby kommt bald noch mal hoch. Fiete nimmt er gleich mit.

Kreisflug jetzt eng über Dammtor und IGA bis Knast, schöner Abend mit Sonne im Mai, Schichtwechsel bei den Schließern vom Holstenglacis, tschüs auch, die Pflicht ist getan. Balthasar mit den Grübchenhänden freut sich auf seinen Hund, läuft beim Fernsehturm durch bis Grindelhof Ecke Rutschbahn, wirft seinen Blick gegen Lenin, gegens Schaufensterglas vom Buchladen Arbeiterbuch, gegen Kanzki und Antje Steen. Die möchte er fangen und schließen. Aber das Abendlicht ist noch mild.

Ossis Gesicht im Hinterhof in der Bleicherstraße schimmert für einen Moment schön rosa und goldig gelb, Feierabend nach acht Stunden Schicht mit Handhaken, Ellerholzhafen. Jetzt schnuppert er Abendbrotdüfte aus allerhand Küchenfenstern rings um den Hof. Er reckt seinen faltigen Hals, sieht sich die hellblauen Eier mal an. Die Amsel hat dies Jahr ihr Nest auf den Sims vorm Lokusfenster gebaut.

Warum gehn die Biester zum Brüten nicht raus nach Bresahn? Da sind Bäume und Ruhe und Hechtuferbüsche, so viel du willst.

Weil da Herrschaften sind, da draußen am See, Gutsherrschaftsflinten mit Zielfernrohr, und hier drinnen, im Dreck, hier sind wir. Wir auch bei Kantfisch im Röhrenkeller. Wir auch bei Atsche im Ledersofa. Wir auch bei Jürgen hinter Tapeten. Wir auch bei Reinhold und Schweinepest. Wir auch in Prag und Djakarta. Wer wir?

Diese Stadt ist im Westen und Osten von Kasernen umstellt, im Norden der Hubschrauberlandeplatz, im Süden der Fluss.

In dieser Stadt leben Menschen.

Sie sind ungeschützt.

2. Anrede

Erst mal mitkommen. Erst mal hingehen, wo der Typ wohnt. Wenn du nicht weißt, wo und wer und was und wie viel Treppen hoch und was die Alten sagen und ob da noch Geschwister sind oder Goldhamster vielleicht und möglichst Musik mit Sofa, nämlich ohne dass du da nicht mal eine von deinen Torten mit hochschleppen kannst, läuft sowieso nichts. Die nachmittags immer um vier von Montblanc, alles Weiber meistens, stellst dich drüben bei Imbiss vor die Tür, kannst du leicht eine haben, auch mal gleich zwei oder drei, bloß was soll das, und unten bei Kalli der Keller wird auch nicht fertig, die paar Matratzen, sagt er, aber das reicht, hab ich selber mit rübergeschleppt von uns vom Boden von meiner Mutter, bisschen alt für ne Mutter, weiß ich, ist auch gar keine Mutter, und dann einszehn für die Cola, ein Wahnsinn alles, Verrat, Wigine, Beschiss, Heuchelei, egal, erst mal Sternschanze raus oder den Hundertfünfzehner bis Ecke Amanda oder gleich Hochbahn Christuskirche oder, wenn du vom Kietz läufst, hinten beim Schlachthof durch, kennt jeder, und sowieso der Gestank immer, die pissen sich an, alles Angst, dufte Gegend, ist gut, kommst mal längs, sag ich den andern Bescheid, machen wir mal ein los, und Jürgen kommt auch und Oli und Dickmussmann, der dreht auch schon bald durch, original, guck dir den Scheiß doch an, und der Alte von Oli immer, der nervt dir vielleicht was rum, Splitter im Kopf noch von Adolf oder was hat der, echt, mein Freund, kein Flachs, mein Freund, kein Flachs, das war nämlich noch Kameradschaft, sagt er, beim Vormarsch damals, Moskau und das, einfach immer mit seinem Panzer in die Russen, kein Flachs, mein Freund, die warn gefangen, ehrlich, alles wie Neger, ein Wahnsinn, also bestimmt, überhaupt Waffen immer, verschärft.

Und dann manchmal, wenn du das siehst: Alles ganz schön kaputt.

Sicher, ist überall, und wenn du arbeitest und die sagen, du bist in Ordnung, reißt deine Stunden runter, klackklack, und die sind auch mit dir zufrieden, aber du selber, also mal ehrlich, nie richtig zufrieden bist du doch nie irgendwie, logo, siehst du, und das ist mir wichtiger. Weiß ich ja auch nicht. Alles bloß immer Hund. Ja, ist gut, kommst mal längs, weißt ja Bescheid, ist egal, läuft.

3. Eine aufreißen

Abends lief Ahlers los, eine aufreißen, eine abschießen, oder mal anders vielleicht: eine aufschießen, eine abreißen, erstmal losflitzen, verfroren und flott und hast ja sonst doch keine Böcke, und alles schön bunt in den Fenstern, und immer der Dreck von der Arbeit, und alles mal auf eine Karte setzen, und hast doch bis heute nie gute Karten in deiner Hand gehabt, und würde auch nie einer hier, das sagt dir jeder, oder er lügt, und das tun alle. Aber freitags mit zwanzig Mark in der Tasche, das war bei Charly und hinterm Hauptbahnhof eine Chance, da geht schon mal leicht eine mit, er wusste Bescheid, er hatte die Schlüssel, er kannte den Trick mit dem Lastenaufzug und ohne Lampen den ganzen Bau, nachts, und Merkatt hatte gesagt, er kommt mit dem Hund erst immer nach zwölf noch mal rum, und Ahlers wusste, wie man die Ecke da oben warm kriegen kann, damit sie sich auszieht, die beiden Schlafsäcke von Pulverteich Große Allee näh ich mir ganz leicht selber für zwei, geschenkt, und bisschen Benzin zum Anfeuern hatte er meistens bei sich, überhaupt Feuer, nur wenn du morgens dann hochkommst, war alles bloß geträumt, so was find ich nicht gut, weiß man ja nie, das Fläschchen trug zwar leicht auf, aber was solls, die Jacke bleibt offen, schließlich ist kein Sibirien, sechs Grad oder was, bisschen Regen, Hamburg, Dezember 60, zwanzig nach acht, da passt keiner auf, alles Kino und Fernsehn und Blöde, mal sehn, was sie ganz oben sagt, da war die bestimmt noch nie, bloß er und die paar Mann von der Arbeit, aber die kennt fast keiner.

Ahlers war damals siebzehn, Schlosserhelfer, Heizungsmontagebau, Stunde zweifünf, Bett bei der Großmutter in der Küche, acht Jahre Volksschule, einszweiundachtzig auf Socken, sehr kleine Augen, dunkles Haar, immer noch nicht richtig Bart, immer noch ganz schiefes linkes Ohr, irgendwie falsch gebügelt, der Kerl, und das konnten die andern noch besser sehen als er selbst, und das ärgerte ihn, und das machte ihn reizbar und frech.

Er war heute Abend losgelaufen, ohne noch was zu essen. Zwar hatte seine Großmutter zu ihm gesagt, dass er langsam schon gelb aussieht, aber er hatte was vor.

Jetzt hatte er Hunger, jetzt roch die Gegend nach Zuckerwatte, Lakritzen und Bratwurst, und eine aufgerissen hatte er auch schon.

»Wie heißt du?«

»Elvira.«

»Beknackter Name.«

»Die Alten immer.«

»Siehst aber sonst ganz flott aus.«

Kleine, lange Beine, feine Titten, ganz kleiner Bauch, und unterwärts in der Hose alles schön eng und immer so etwas nach vorn hingeschoben beim Gehn, Mann, die zieh ich doch aus wie nichts, und dann zittert sie, und dann dreh ich sie auf, und dann zieht sie ab, und dann. Bleibt sowieso immer alles wie immer. Und komische Hände, ganz rot.

»Und sonst?«

»Chemische Reinigung.«

»Los, mach, beiß noch mal ab.«

Das Mädchen war mit der Wurst schon fertig, war satt, aber Ahlers wollte nur eben noch sehn, wie das aussieht, beim Abbeißen, ihre Zunge. Auf der Arbeit sagt neulich einer: Erst immer mal aus der Hand fressen lassen, dann siehst du schon gleich, ob das läuft.

»Schön auch mal lecken, nachher.«

»Schwein«, sagte das Mädchen und kam mit der Zunge an seinen Hals.

»Wo ich dich hinbring, wetten, dass du da nie vorher warst?«

»Solche wie dich, die kenn ich.«

Ahlers freute sich bei dem Gedanken, dass sie Angst haben würde und er nicht.

*

Eigentlich hatte er heute gar nicht erst über den Dom laufen wollen, denn was sind zwanzig Mark, wenn die mit Buden und all dem Hund ihr Geschäft machen müssen, und du willst das ja auch, und die kriegen dich doch, und das stimmt: Neunsiebzig waren schon weg. Aber die hier jetzt neben ihm lief, da hatte er Glück gehabt. Glück haben, oder was ist das. Er sah den Rotor, vergaß, was einem in so einem Ding passieren kann nach der Arbeit und ohne Essen, und überhaupt: Ahlers sprang mit dem Kopf manchmal weiter, als seine Beine es halten konnten und erst recht sein Magen, ganz schön kaputt der alte Sack, aber was willst du machen, irgendwie vorwärts ist alles, sonst ist sowieso nur Hund, und auch mal erst mal noch sehn, ob die das bringt, und wenn sie kotzen muss, kriegt sie Schnaps, und dann legt sie sich hin, egal wo. Und so kannte man das, und so machte man das, und so meinte er das überhaupt nicht, das kann er ihr dann ja mal zeigen, nachher, und dann lach ich sie an und werf sie mir hoch und halt sie mir fest, und dass wir nicht einfach gleich durchstarten von da oben, das kommt bloß, weil wir nicht Flügel haben, und das weiß ich auch nicht, warum.

Im Rotor waren Arme und Beine wie Blei, hingen sie bald schon kaputt im Draht. Ahlers quälte sich weg zur Seite, bis er sie anfassen konnte, aber ihr war schon schlecht, und der Mund war klein und ganz grün und das dreht immer weiter, und Lichtermusik von oben und unten wie Hammer, zickzack-wulliwusch-bilbao, »das war wohl nichts« – »schade«, Ahlers tröstete sie, so gut er das konnte, »ich bring dich nachher wieder ganz schön hoch«. Aber sie wollte von so was jetzt gar nichts mehr wissen, wollte am liebsten in seine Tasche kriechen, nach Haus, aber kommt nicht in Frage: »Das mach ich, kein Flachs, so hoch, das bringt dir sonst keiner.«

»Nee, hör auf.«

»Guck mal, was ich hier habe.«

Ahlers grinste sie an wie ein ganz großer Könner. Aber was sollte das Mädchen von so einem Schlüsselbund halten. Zu Haus wenn Krach war, war das Schlüsselbund ihrer Mutter für Prügel, im Ganzen fünf Kinder.

»Lass mich man weg«, sagte das Mädchen, »dahinten, die kenn ich.« Aber Ahlers stellte sich quer: »Nee, Alte, komm, so nicht. Nicht mit Ahlers.« Er stieß sie vorsichtig hinter die Pissbuden bei den Selbstfahrern, schob ihre kalte Hand von oben runter in seine Hose, und dann wollte sie auch nicht mehr weg.

»Jetzt weiß ich ja doch, wie du heißt.«

»Glaub ich nicht.«

»Ahlers.«

»Kann jeder sagen.«

Ahlers murkste an seiner Hose, ärgerte sich, dass ihm das mit dem Namen passiert war, geht keinen was an, wie ich heiß, ihn fror.

*

Sie tranken Bier, die Schnäpse wollte sie nicht, musste sie aber, und dann mit der Hochbahn ohne viel reden ab bis Berliner Tor, Treppen rauf, Klapptüren treten, ziemlich finstere Gegend.

Es schien ihnen dort, noch mitten im Zentrum der Stadt, aber weit von Buden und Krach und Gedränge, alles dunkel und matt und allein.

Das Mädchen hielt sich an Ahlers, wollte nach Haus, und auch nicht, kauerte sich im Gehen unter den langen, krummgespannten Rücken von Ahlers, und der, auf den Bogenstelzen von Rio Grande, schob rasch auf sein Ziel los wie der Mann, der nach tollkühner Bootsfahrt über Schnellen und Stürze sein Mädchen in eine Höhle schleppt, irgendwo, niemand kennt die, nur er selbst, er, Ahlers. So was hatte er mal gesehn. So was kam immer vor der Tagesschau.

»Kannst doch auch mit nach Haus«, sagte das Mädchen.

»Zu Haus ist Hund.«

»Du und bloß immer Hunde. Hast du kein Auto?«

»Oben ist besser wie Liegesitze.«

»Wieso oben?«

»Pass auf, hier sind Löcher, ich trag dich, da kannst du mal sehn, komm her.«

Er kippte sie sich auf den Arm und schleppte sie über ein Loch und über noch eins und gleich noch mal. Mann, ist die leicht und klein, die stoß ich mir drauf und steh auf, und was dann?

»Ich will wieder runter.«

»Schon alles da, jetzt kommts, stell dich hin.«

Sie standen vor einer Bretterwand, Bauzaun über zwei Meter hoch. Ahlers kramte die Schlüssel raus und das Feuerzeug. Hinter der Wand ragte, halbfertig, der Hochhausbau, den er kannte.

»Jetzt zeig ich dir was, schon bald über vierzig Meter bis oben, und oben ist überhaupt kein Wind, und alles leer, bloß wir.« Er riss das Schloss auf, kippte den Riegel weg. »Geh durch, ich mach nur ganz bisschen auf, die quietscht sonst, los, mach!«

Er drückte das Mädchen hinter den Bauverschlag, kam lautlos nach. »Hier, auf die Bretter, kannst sehn?«

Das Laufholz wippte im Dreck, schmatzte unter den Tritten der beiden, führte an Hütten, Maschinen und Bauschutt vorbei bis hin vor die Eisentür unten im Sockel.

»Da wolln wir hoch?«

»Schon bald über zwanzig Stock. Alles für Polizei. Hast du Angst.«

»Ist hier denn Polizei?«

»Stimmt«, sagte Ahlers, »noch nicht.«

Er zog sie unbeholfen näher zu sich, suchte mit Mund und Händen, suchte unruhig und verloren und ohne zu reden, am Ende die Stirn an das Eisen der Tür gepresst.

*

Hinter der Tür, der Raum im Fuß des Sockels war groß wie ein Zimmer, größer als alle Wohnungen draußen für Ahlers und so ein Mädchen, aber schwarz nass.

»Oben ist Luft«, sagte er, und suchte im Flackerlicht seines Feuerzeugs den Hauptschalter für den Lastenaufzug, schnell vorher noch die Leitungen trennen, ruckzuck, damit bei der Fahrt, den Schacht hinauf, kein Licht brennt, wie sonst bei der Arbeit. »Ich will lieber gar nicht«, sagte das Mädchen und lief, als sei das ein Ausweg, an Ahlers vorbei in den Fahrkorb für Werkzeug, Bier und Leute. Ahlers sprang nach, und aufwärts, ganz leicht. Aber das war kein Ballon, leichter als Wind, sondern das waren, klirrend an Ketten, heimlich in einem Käfig, die Stadt verlassend, die beiden mit schwarzen Augen. Nimm mal an, du gehst gar nicht erst mit, und stoßen wolln sowieso alle, geht ja auch schnell vorbei, nämlich sonst würdest du irgendwann nie einen abkriegen, und dann stehst du da und keine Wohnung und nie mal was Eigenes. Hoffentlich nicht mit alles ausziehn. Das gibt solche. Mein Vater doch auch. Aber die weiß schon: Pass auf, Edu, mein Haar. Lass nach, Edu, bist doch kein Porno. Mach fix, Edu, gleich läuft Annette von Aretin. Liegt rum, die Alte, und jammert, und ich mach die Wohnung, und wird nie richtig ne Wohnung, und ohne Wohnung, was bist du, ich zieh mich bestimmt nicht aus bei der Kälte da oben. Und nachher noch wieder den ganzen Weg bis nach Haus. Aber irgendwie gehst du mit, geht sowieso jede, sonst wirst du nie was, gehst du arbeiten irgendwo in die Grütze, bis du alt und kaputt bist, also bestimmt nicht, ich nicht.

*

Vom Rohbau, ganz oben, sah die Stadt schön aus, weit weg unterm Schleier von feinem Regen, Bewegung und schwarzer Glanz, klargemacht, deine Sache in deinen zwei Händen, aber so siehst du aus.

Ahlers hatte alles gut vorbereitet, hinterm Rohrlager aus Perlonfolie ein Zelt, alles schön dicht, Plastikblase gegen Regen und Wind, und der Teddyschlafsack für zwei, den näh ich mir selber, geschenkt, lag auf Isolierzeug und Säcken, und drüber, an einem Rohrstumpf, zitternd die Lampe von einer Bauabsperrung.

Aber warum hier rauf? Gab diese riesige Stadt für Ahlers und die nichts her ohne Trick und Ärger und Schlüssel, die man dem Bauführer aus der Tasche klaut, wenn er dich abstellt zum Taunus polieren, und die man im Keller bei Kalli dann nachschleift, nachts, und wenn du hochgehst damit, was dann? Nein, nichts gab sie her, diese Stadt.

Eine aufreißen war nicht schwer, aber was dann, mach doch mal vor. Seine ersten Mädchen hatte Ahlers auf Gebrauchtwagenplätzen umgelegt, Liegesitz, Kapitän, oder auch mal V 8, Holstenstraße, aber wenn du das Türschloss kaputt hast, geht die nie wieder richtig zu, und dann klappert sie doof immer schön im Takt, wie du da drin liegst und stößt, klackklack, und außerdem, wenn du Pech hast, Fingerabdrücke, und dann hast du ne Lampe laufen und weg vom Fenster und Oli kann sonst was sagen: Vor Gericht glaubt dir keiner.

Und sonst immer Treppenhaus, alles ganz schnell, weil überall Omas sind, die passen auf, wenn Waldi so schief an der Tür sitzt, dann muss er pissen, und dann musst du raus, oder ich hol die Polizei, junger Mann, schämt euch wohl auch überhaupt nicht mehr, heute. Oder im Sommer im Park auf Bänken, aber sind schon zu viele.

Aber das alles war gar nicht der Grund. Ahlers hatte schon an verschiedenen Plätzen gearbeitet. Die Kollegen waren mit ihm zufrieden, die Meister und Bauführer schluckten runter, der Kerl war flink und hielt durch.

Was schluckten sie runter?

Ihnen war Ahlers unübersichtlich. Wenn sie ihn mit der Schaufel losschickten, was zuschütten, was aufschütten, Planierung, egal, dann sagte Ahlers, ich bau mir ne Höhle, aber die Arbeit war fertig, wann sie es wollten.

Oder beim Schweißen: Er sieht sich genau die Glut an, wie die fällt, beobachtet, wo die leuchtenden Tropfen hinspringen, sagt: Alles wie Muster, guck dir das an. Aber er holt dir das Material noch aus zusammengefrorenen Haufen bei unter Null ohne Handschuh, wo die andern längst von Gewerkschaft motzen und Pflicht des Betriebes. Oder Keller ausschachten: Ahlers lacht und spielt Krieg und Laufgraben und Panzerfalle und volle Deckung, Landserhefte hat er ja reichlich gelesen. Was willst du mit so einem machen? Wenn ich was muss, sagt Ahlers neulich zu einem, und irgendwie musst du ja immer, dann spiel ich das weg, weil alles nur unter Druck, da hab ich kein Bock, da müsste man mal was machen, bloß was.

*

Und jetzt hier oben: Ahlers spielt Kommandant. Einmal ist er schon über die Butze geklettert. Jetzt hat er Pause und guckt sich das Mädchen mal an. Er hat sie vorsichtig zugedeckt. Er hat gedacht: Was für glatte Haut. Er hat, obgleich er noch immer den kleinen Transistor nicht hatte kaufen können, jetzt Lust gehabt, hier oben mal schön Musik zu machen für die. Aber die kämmt sich schon wieder.

»Hättst du einfacher haben können«, sagt sie, »unten die Buden, viel wärmer, und auch nur ein Schlüssel.«

»Je mehr Schlüssel, je besser«, sagt Ahlers, »aber so was läuft bei dir nicht, seh ich schon, bloß eben hinlegen, selber schuld, spritzt er nämlich bloß ab. Viel zu schnell immer ohne alles.«

»Wie ohne alles?«

»Gehst so ziemlich mit jedem, was?«

Das Mädchen fand diesen Vorwurf unangebracht, schwieg, richtete sich schon auf, um die paar Sachen wieder anzuziehen und zuzumachen, die sie sich von Ahlers hatte aufmachen und ausziehen lassen, sagte dann aber, wohl mehr gedankenverloren als in der Absicht, noch was zu retten:

»Sonst ist doch überhaupt nichts. Nach der Arbeit –«

Das war ein Satzanfang, aber Ahlers zog sie schon wieder nach unten, zog ihr noch mal die Hose weg: »Allein kommst du doch nicht hier runter.«

»Bist noch mal spitz?«, fragte sie, »los, mach noch mal, komm.«

Ahlers stieß dumpf seine zweite Nummer, aber so hatte Elvira das gar nicht gemeint, sondern dass sie jetzt vielleicht Glück hat mit ihm, Glück in den Heftchen, »ich hab dich lieb«, aber er stieß das weg, tat ihr weh, sagte nur »wenigstens was«, ließ den Rotz kommen, wälzte sich weg.

»Lass uns nach Haus«, sagte das Mädchen.

»Ist doch egal.«

»Hast du ein Taschentuch?«

»Nee.«

»Macht Flecken.«

Ahlers lag plötzlich still und kalt. Kriegst auf die Finger, pass auf dein Zeug auf, Schmutzfink, Ferkel, Sauigelei, schämst dich denn nicht. Aber er sagte kein Wort, zog sich das Mädchen nur lustlos zwischen die Beine, friert ja vielleicht, so kaputt immer alles. Und bald sind hier überall Bullen, Bullensilo, Fahndungsleitstelle, Waffen, sicheres Auskommen und bei Rot in Gegenverkehr reinnageln, oder Vernehmung, nachts, den Kerl mit den Pfoten nach hinten und mit dem Kopf an die Wand, los, sag was, wir wissen Bescheid, komm, Kalli, fang ihn mal auf, reden Sie, Mann, die Pfoten nach hinten, die Nase zur Wand, mal den Tipp, den wir brauchen, mit deinem Rotz an die Wand, na bitte, ratschrunter, nein. Die würden bei ihm nie was rauskriegen. Nie.

Weit unten quer Richtung Billstedt ein Streifenwagen, Martinshorn, wahrscheinlich Blaulicht. Ahlers war viel zu faul, um sich aufzurichten. Aber er dachte, wie man das ganz gut machen könnte, nur so aus Bock: Nimmst dir zehn Mann, die kennst du, die gehn ganz leicht mit, hast sonst sowieso nie was vor, und dann immer zwei und zwei, nach Fuhlsbüttel, Lurup, Volksdorf, Stadtpark, Teufelsbrück, Waltershof, Moorfleth, Ohlsdorf, ist ja egal, Bildzeitung, Taximord, Triebschänder oder so, und alle ganz geil auf Todesstrafe und fünftausend Mark. Und dann die zehn Mann in Gruppen, überall Anruf, Straßenmelder, Durchsagen machen: Hier sind sie! Und überall Peterwagen nach allen Ecken, schön weit, und hier oben in der Zentrale bald alles Flattermänner und Sprechfunk und Hass, und dann: Überhaupt nichts, bloß du selber, ganz woanders, vielleicht Blankenese oder Alster, ganz still das lange Ding, oder gar nichts, bloß lachen, bloß so.

*

Im Schlafsack war es schön warm. Das Mädchen war eingeschlafen. Das passte ihm nicht.

»Guck mal genau da hoch!«

»Seh ich nichts.«

»Exzentrische Rohreinziehung.«

Er zog sein linkes Knie nach oben, das war zugepflastert mit dreckigem Mull. »Willst mal sehn?«

»Nee, warum.«

Aber er wollte ihr das mal zeigen, das war von der Arbeit, die hat keine Ahnung, er hob den Verband leicht an, alles schön grünbraun gekrustet und Salbe und kein roter Rand, aber das hatte ihn erst mal umgehaun, neulich, »da oben, das Stück, beim Ablängen rutscht mir das weg, aber hilft ja nicht, muss ja fertig, und wegen Lufteinschluss musst du exzentrisch einziehn, alles saubere Arbeit, erst den abgeklappten Teil, die wahre Länge, ganz klar, sonst weißt du nicht, wie du ablängen musst, ungefähr ein Sechstel mehr wie die Einziehlänge, und den Überstand, später, den musst du wegsägen, und ich sag noch: Halt weiter nach oben, sag ich, das rutscht, aber der hört ja nicht, und dann eben zack!, war mein Knie dazwischen, aber sitzt, guck dir das an.« Er kippte die Hängelampe so, dass der Rotschimmer auf das von ihm beschriebene Rohrteil fiel.

»Hast du schon ausgelernt?«

»Nee, wieso lernen, das nervt doch, und nie richtig Kohle, und sowieso: Wo du Böcke hast, lernst du auch so. Hier, fass mal an, schon gleich, wenn er was Interessantes hört, stellt er sich hin!«

»Der zittert richtig.«

»Los komm.«

Diesmal war alles schön zärtlich und lange Puste.

Später stand Ahlers auf und sagte: »Jetzt bin ich kaputt und jetzt stemm ich den ganzen Laden hier auseinander. Bloß wie macht man das?«

»Wieviel Uhr?« fragte das Mädchen und hatte schon wieder Angst wegen Flecken.

»Noch Zeit genug. Morgen ist Ausschlafen.«

»Ganz schöne Wohnung wär das hier oben, bloß alles Fenster, schlecht was zum Stellen, mehr japanisch vielleicht.«

Das war erst vor ein paar Wochen. Die Mädchen hatten mit dem Berufsschullehrer im Japanhaus Seidenfarbdrucke besichtigt, und alles ganz kleine Tische, und barfuß durch alle Zimmer, hier oben wär das zu kalt, alles Beton, aber da kann man Teppich reinlegen, und vor den Betten so Felle von Jugoslawien, schön billig, lauter Schafe da unten, und kleiner Plüschhocker und Kristallspiegel, dreiteilig, kennt man sich gar nicht, und wenn du rechtzeitig anfängst mit Sparen, dann hast du das stehen nach der Hochzeit, und gucken alle, und für Lampen besser die kleinen bei Karstadt zum Biegen aufm Nachttisch für jeden eine, ganz praktisch, bloß immer putzen alles, aber das mach ich, was sein muss, muss, und das mögen die Männer, auch wenn sie meckern, ficken ist nämlich immer bloß ganz zuerst, deswegen, sonst stehst du nachher allein da, schade, richtiger Schrank mit oben für Wäsche und lauter Türen, schön hellgrün, der würde hier gar nicht passen, oder einfach das eine Fenster, Ausblick, da kauf ich mir sowieso nicht viel für, »bei meiner Mutter, da könn wir im Ehebett, vor abends zehn kommt die nie raus von Philipps, und mein Vater, wenn der Schicht hat«.

»Nee«, Ahlers hockte sich neben das Mädchen, »Ehebett ist nicht, guck mal«, er fühlte sich leer und locker und lustig, ihm war sein Vetter eingefallen, Verkäufer für Schlafzimmer, Möbelzentrale, Mann, wenn du das so hörst, wie der immer alle dummreden muss, bloß für so blöde Betten, »musst du mal bei sein, wenn der erzählt, und alles immer ganz tierisch ernst«. Ahlers stand auf, irgendwo hingen noch Arbeitsklamotten von den Kollegen, ne Jacke vom Barras und der Hut aus Bayern vom letzten Urlaub von Herbst. Überhaupt Hüte: Ahlers hatte noch nie einen aufgehabt, unterwegs, er selber, aber wo er hinkam und fand einen, da probierte er das Ding kurz mal aus, nur so, Spielkram, auch gern mal von alten Weibern, Wartesaal Hauptbahnhof, Kaffee und Kuchen beim Schlump. Also los, Hose zuknöpfen, Hut auf, »Jacke, musst du dir selber denken, ist ja auch gleich mit Schlips und Frisur, und weißt schon Bescheid, Verkäufer, kennst ja den Typ, und dann sagt er: Ohne Bett und alles in Ordnung ist gar nichts, klar, sind ja auch meistens alle mal irgendwann in so ner Bettkiste in die Gegend hier reingefickt worden, also kannst du den Kopf hochhalten, stolzes Gefühl, so als Bettenverkäufer bist du für jeden, und so was hebt, sagt er, und wenn er morgens die Möge nicht hat, kann ja was schiefgehn, die kommen und grabbeln alle bloß immer an der Matratze und was das kostet und Garantie und morgen vielleicht und aber nee, weiß nicht: Einfach Gewöhnung.

Und nein sagen kommt nicht in Frage. Einfach nicht hinhörn. Oder: Ja, Sie haben ja recht, aber sehn Sie mal. Und dann: dass alles immer bloß teurer wird, und dass man besser immer gleich zuschlagen muss, und von Zuschlagen mögen die hörn, sogar wenn sie Betten kaufen, ganz komisch, und jeden Tag Betten und Schränke und Spiegel und alles vollstellen, und das bringt was für ihn, sagt er, sicher, bloß ich doch nicht, Wilfried, sag ich, stell dir mal vor, Garnitur für zweitausend, da steh ich ja tausend Stunden für in der Arbeit, oder die Alten, vier Mark vielleicht, fünfhundert Stunden, das sind bald drei Monat Maloche, und dann steht dir das in der Stube, und nie mal was richtig von deinem Lohn für was, wo du selber mal Trieb hast, nee, Quatsch alles, Möbel, alles für Hund, guck dir das hier doch mal an! Alles schön leer!«

Ahlers schaukelte redselig durch den Beton im zwanzigsten Stock, denkt, das Mädchen hört ihm mal zu, seilt den Hut weg durchs Fenster, raus in die Stadt, lacht klötrig und klettert im Dunkeln ne Leiter runter, ein Stockwerk tiefer, mal sehn, was sie sagt.

Ahlers hatte sich in den Bierpausen, und mittags, und abends bei Merkatt, ein Ding ausgedacht, gebogen, gezogen, geschweißt und hingefummelt, ein Spielzeug, ein kompliziertes, kniehohes Rohrgestänge, das die Kollegen ganz gut finden in den Anschlüssen und wie das versetzt ist, alles ganz sauber, aber sonst Blödsinn, so typisch Ahlers. Er zerrte das Ding die Leiter hoch, kam damit vor das Mädchen: »Los, wach mal auf. Warte, wo habe ich die Kugel?«

Ohne Kugel, so eine mittelkleine, spiegelglatte aus dem Achslager unten im Schrottdiesel, Kieler Straße, funktionierte nämlich das Ding nicht. Vielleicht aus der Tasche gerutscht beim Stoßen, vorhin, »geh mal weg, Alte, rutsch mal n Stück raus aus der Poofe, hier irgendwo muss die sein«. Er fand sie im Fußstück. Das Mädchen war wach geworden, kalt geworden, zog sich schon an. Er wollte jetzt aber die Vorführung machen, lauert auf ihr Gesicht, knallt ihr das Rohrspielzeug hin, zeigt ihr die Kugel. »Hier oben rechts fliegt sie rein. Wo kommt sie raus? Los, zeig!«

»Egal, irgendwo.«

»Wieso egal? Bück dich mal, guck dir das an: Hier kann sie raus, hier, hier, an fünf Stellen sind die Rohrenden offen, habe ich selber so hingebastelt, los, sag was, wo!«

»Irgendwo unten.«

Das hatte sie gut gemacht, die Mieze, genau das wollte er hören. Er stellte das Rohrgeflecht an einen Platz, den er früher schon einmal sorgfältig festgelegt hatte, Kreidekreuz, alles klar, ging dann zur Hängelampe am schräg runterragenden Rohrstück, warf dort oben die Kugel in eine Öffnung im Scheitel des Rohres. Die rollte los, sprang blitzend unter der Lampe heraus, übersprang den Abstand bis zum Bastelgestell und schoss dort in das längste, das steil aufwärts gestellte Fangrohr. Man hörte die Kugel klappernd Gefälle absausen und im Innern der Rohrkonstruktion Steigungen wieder hinaufreiben, jetzt kommt sie, jetzt, dort, hier, nein, hier ganz oben links außen schießt sie raus und einfach in Ahlers’ Hand.

»Hast du gesehen? Knallt bis ganz unten und kommt wieder, zack, hoch nach oben und fetzt nicht da raus, wo alle lauern, nämlich genau ganz woanders!«

»Ich will nach Haus«, sagte das Mädchen.

»Hast nicht gesehen?«

»Denkt man bei dir sonst gar nicht«, sagte das Mädchen.

»Soll ich noch mal?«

»Kinderkram.«

»Hab ich selber gebaut.«

»Ich will nach Haus.«

»Hab ich selber gebaut!«, schrie Ahlers sie an. Dann trat er erst mit dem einen, dann mit dem anderen Fuß in das Rohrgeflecht, blieb hängen, sprang darauf, warf den Schrott aus dem Fenster und horchte auf den Aufprall unten im Schutt.

»Spring man nicht gleich hinterher«, sagte das Mädchen, hatte aber schon Angst vor Ahlers. »Du bleibst jetzt hier oben«, sagte Ahlers, »das hast du davon.« Er sprang die zwei Schritte zum Fahrkorb und ab. Und oben, rasch leiser werdend, Geschrei und Betteln und Weinen. Die holt Merkatt nachher, und wenn Polizei kommt, sagt sie bestimmt nichts, schon wegen Bildzeitung, Nackte verlassen im Liebesnest, und alles mit Foto, das mag sie bestimmt nicht, die blöde Sau, und ich denk noch, die ist mal vielleicht für länger, schön frech auch, von wegen schön frech, bloß Liegesitze und ob ich ne Lehre mach. Geht nämlich keinen was an, wie ich heiß. Unten war Merkatt schon angekommen. Ahlers sah auf die Uhr, Tatsache, schon nach zwölf, umso besser, »hol sie man runter«.

»Ist irgendwas?«

Das hatte Merkatt mit Ahlers noch nicht erlebt, aber macht ja nichts, war ja auf alles gefasst, war rumgekommen, Java und Guatemala und POUM*, ein Schrank, noch größer als Ahlers, aber krumm und krank und versoffen.

»Ich komm vielleicht morgen mal längs«, sagte Ahlers, »hol sie man runter, hat Angst.« Der Hund von Merkatt riss an der Leine, schniefte und jibberte hoch an der Sockeltür.

»Und wenn Leute kommen?«

»Hau man ab. Hier kommt keiner mehr um die Zeit. Hast ja auch selber schuld.«

Ahlers stand schon am Hochbahnschalter, aber dann sah er im Schalterloch die Frau, Mitte fünfzig, dick eingepackt, kalt in dem Kasten, nee, lass man, lauf lieber zu Fuß, ne Stunde Weg tut ganz gut. Er rannte quer durch die Innenstadt und wollte keinen mehr sehn.

4. Hass fressen

Aber er hatte auch Glück. Die redete fast kein Wort. Hatte den Hausmeisterkeller, die Vizewohnung in einem Haus für Bessergestellte, meist alte Leute in großen Zimmern, schon alles reichlich verklappert, aber noch Ärger genug.

Die Wohnung von Oma Kantfisch, oder Vizefisch, wie die Leute im Haus sie zutraulich nannten, Souterrain Weidenallee, war ganz schön verquer und gemütlich und düster. Erst im Vorgarten ein paar Treppen runter, dann der Kellergang mit der Kinderkarre vom Zahnarzt und den Weinkisten, die nie einer abholt, dann die Wohnungstür, dunkelgrün, und das Messingschild noch von vor 14, die Alte war wirklich schon alt. Sie war schon damals, gleich 13, mit Willi hier unten eingezogen, der war bei der Post gewesen, man weiß ja nie, was mal kommt, und kam ja dann auch, war gefallen, der Dicke, Funkmaat in Kiel*, wegen Meuterei, keine Rente, alles immer ein Scheiß, und sie sagt noch zu ihm: das machst du nicht mit, aber macht er.

Seither machte die Witwe von Willi die Arbeit im Haus ganz allein, und ganz flott, Treppen, Heizung, Fenster im Treppenhaus, Schlösser aufbrechen, Tropfhähne dicht machen, Streusand bei Glatteis, Ascheimer wieder hinschieben, Tannenbäume einpassen, Bier für Handwerker anschleppen, und immer mal Stück Schokolade oder Bonbons für eins der Kinder, alles ganz praktisch, mietfrei, bloß jetzt war sie alt, mal sehn, wie lang das geht. Und wieso war Ahlers bei der? Meuterwilli hatte August 18 noch schnell mit Juchhei und Aurora bei ihr was hingestoßen, ne Tochter, und als er schon lange kalt war, lag die bei Vizefisch zwischen den Beinen und hatte was vor, wie alle am Anfang, Rita, die Mutter von Ahlers.

Wenn Merkatt besoffen ist, dann sagt er noch heute: Rita war meine. Aber Vizefisch weiß das besser. Sicher, damals war Kummer, und Merkatt war immer auf achtzig, schon damals, aber nicht hier im Keller, die schmeißen mich raus, alles Bessergestellte. Aber von Rita war, seit es Ahlers gab, nie die Rede gewesen, nur ein Foto im Küchenschrankfenster, Rotekreuzschwester, ziemlich streng, und immer im Herbst ein Tag, da fuhr die Alte mit Ahlers nach Bad Oldesloe, mehr wusste er nicht. Er hatte schon paarmal gefragt. Meistens war gutes Wetter, und auch wenn Regen war, kriegt er am Bahnhof Eis und Vizefisch Bier und paar Klare mit Blick auf die Gleise. Keine Ahnung. Er mochte sie nicht mehr fragen. »Deine Mutter, die war so wie du, pass bloß auf!«

Und abends dann immer Prügel, Vizefisch ganz kaputt, und Ahlers weiß nicht, warum.

Vom Vater, dem Mann von Rita, wusste man mehr. Der dicke Krüppelrektor vom zweiten Stock hatte das mal erzählt, das kam so: Als Ahlers noch in der Schule war, hatte er Angst vor dem Kerl, der konnte zuhauen, schon mit der Stimme, das konnte man hören, und manchmal macht Angst ja auch freundlich, oder höflich, sagt man wohl auch, jedenfalls Ahlers war nach der Schule die Treppen hochgelaufen, weil Vizefisch den Schlüssel für die Wohnung im Kittel hatte, und jetzt war sie gerade irgendwo oben beim Bohnern. Bevor er bei Vizefisch ankam, traf er den Rektor, das heißt, er wollte ihn auf der Treppe überholen, der kann ja nicht so schnell hoch, auf Stelzen. Aber irgendwie kam Ahlers das plötzlich unhöflich vor, so einfach vorbeizuspringen, vielleicht tut dem Alten das Hochklettern weh, jede Stufe mit kracks und knacks in den fetten Ellenbogen, die der Kerl in die Krücken drückt, wie wenn Oli an seinen Fingern reißt, na egal, vorbei musst du ja doch, also freundlich: »Tag«, und aufs leere Hosenbein hin: »Ziemlich schwierig wahrscheinlich, all die Treppen so immer.«

»Mal probieren?« brüllte der Dicke und hielt Ahlers drohend die Krücken hin.

Ahlers lachte, war irgendwie platt, aber lachen geht ja bei so was nun auch wieder nicht, also her mit den Dingern, der haut. Und dann war Ahlers unter den Turnlehreraugen des Rektors die Treppen hoch und wieder runter gejumpt, viel zu fix und elegant natürlich, das konnte den Alten ja eigentlich nur noch saurer machen, aber guck an: »Das möchte gehn«, knarzte der Typ. Den Testlauf hatte Ahlers bestanden. Jetzt sollte er sich ein Buch oben mitnehmen, »komm gleich mal mit, mein Lieber.«

Das Buch war vom Krieg noch, wie heute die Hefte so ähnlich, bloß dicker, und was für Ahlers ganz komisch war im Moment, das Buch war von seinem Vater, den kannte er überhaupt nicht, nicht mal Bilder, nur dass sie unten jeden Monat die Rente hatten für den, der war gefallen, na gut. Aber jetzt kam der Rektor. Er kannte die letzten Stunden des Vaters, als wär er dabei gewesen, »aber mein Bein, alles klar, war schon siebzehn bei Arras* ganz vorn, nichts mehr zu machen, was wollte ich sagen, richtig, dein Vater«. Der war auch Rohrschlosser gewesen, »aber noch mehr ein guter Soldat«, sagte der Rektor, »den ganzen Krieg trotz Hand ab unverzagt immer dabei, und April fünfundvierzig noch längst nicht klein bei, Russendurchbruch in Pommern, rechter Flügel schwenkt hoch zur Ostsee, Flüchtlinge totmachen, klar, aber Landsleute hoffen auf unsere Soldaten, und die gehn ihm nicht von dem Platz, auch nicht dein Vater, und dann ist der Kessel zu, und jetzt will er abkochen, Iwan, Kunststück, mit so viel Panzern. Der Kommandeur deines Vaters, unverantwortlich, entlässt die Truppe, wer in Gefangenschaft gehn will, der kann, wer nach Haus will, soll sich durchschlagen, Verbindung zur Truppe suchen, wird man ja sehn.

Dein Vater und noch paar andre wolln nicht zum Russen, da weiß man schon, was da kommt, also Ausbruch. Nun stell dir die Gegend mal vor, mein Junge: Felder und Wälder und Regen, und keine Ahnung, wohin, und überall in den Dörfern schon Mob. Und dann, nach paar Tagen, hatten sie Hunger und nichts mehr im Sack, und dein Vater sagt: Feuerschutz, Leute, ich pirsch mich mal ran, da drüben sind Häuser und Gänse. Die andern sind mit den Waffen am Waldrand liegen geblieben, und er ist los, bis kurz vor das erste Haus, und dann Feuerstoß, Heckenschützen. Sie konnten ihn nicht mal mehr holen. Verscharrt von Polacken irgendwo an der Rega. Aber ein Kerl. Jetzt weißt du Bescheid.«

»Alles für Essen. Find ich ganz gut.« Ahlers grinste den Dicken an, war unsicher, was er sonst sagen sollte, ging ihn ja alles nichts an. Aber da schickte der Rektor ihn aus der Tür, grüßte fortan auch nicht mehr.

Was der Mutter passiert war, noch vor dem Vater, war unklar geblieben. Vielleicht vorn Zug geschmissen. Aber das Kind. Das wär dann danach doch allein. Er schob das weit weg. Er wusste noch ein paar Bruchstücke. Merkatt hatte mal was erzählt. Die hat sich vielleicht gewehrt, die Frau. Das fand Ahlers gut. Aber er kannte die Wut von Vizefisch viel zu genau. Der konnte er nicht entkommen. So lange er denken konnte, war er unten bei der an der Hand. Und vor Oli und Jürgen und Mussmann war Vizefisch seine Mutter, egal wie alt, ne Mutter hat jeder.

*

Vizefisch hatte schon immer krank ausgesehen und war immer knistergesund. Hundertzwei Stufen fegen und wischen und bohnern, Koks schaufeln, Essen hinstellen, Prügel geben, das lief alles ohne Erschöpfung, und auch noch zum Beispiel die Nebenarbeiten, Putzen bei einem Arzt, dreimal die Woche, und Blaupapier legen.

Der Arzt war nicht der Zahnarzt, den mochte sie nicht, der Mann ist fuchsig. Der Arzt war ein dürrer Mensch, bisschen jünger als Rita jetzt wäre, aber immer, auch nachts, unterwegs zu jedem, wenn was kaputt war. Und wenn er grad in die Gegend kam, trank er bei Vizefisch Kaffee mit Rum und legte auch mal ein Stück Lego mit, ratlos, mit Fantasie. Er hieß Josef Bantámik, »rein deutschstämmig«, sagte er grinsend, »drum sind meine kopfkranken Alten mit uns ja auch heim ins Reich«. Aber die, die ihn mochten, nannten ihn Bantumak, so wie Eggerstedtstraße, die Leute, Soziallager, wenn er da abends noch kommt, »nur Kontrolle«, sagte er schlau, ob sie auch schön brav das Salbentuch nimmt und die Dämpfe, Monika, Birgitt, Yvonne, ist egal, alles Pickelzeug, eben erst fünfzehn, Ärger und Arbeit und Angst, wenn ich ein Kind hab, dann hör ich auf, das erste Jahr Arbeit ist immer das Schlimmste, und kümmert sich sonst doch kein Arzt wegen Pickeln auf Arbeitermädchenhaut. Bantumak kümmerte sich. Oft auch bloß so, dass das Pickelkind kurz mal den Kopf an ihn lehnt, »für Haut brauchst du Liebe, nicht Lotion«, und hört nebenbei noch dem Vater zu, Karl Kühn, kaputt und verraten, der schreibt am Roman über Elend und Freiheit, hier im Freiheitsknast Hamburg 50. Die sagten Bantu zu ihm. Die fanden ihn nett. Die sagten vielleicht auch bloß deshalb Bantu, weil seine Frau ganz schwarz war, regelrecht schwarz, aus New York, von den Austauschsemestern. Die Frau war da drüben Krankenschwester gewesen und machte bei Bantu jetzt Liebe und Kinder, Kassen und Spritzen und Scheinesammeln, und irgendwann muss da mal einer hin, Putzen und Kinderaufpassen, und das war dann Vizefisch. So schwarz alles, und das Zeug alles weiß, das war ja zuerst etwas komisch, da denkt man ja doch dann leicht. Aber Blödsinn, gebongt, die Frau war gut und hieß Polly. Ob sie wirklich so hieß, war nicht raus, aber Bantumak nannte sie so, und der wirds wohl wissen, der arme Mann.

Ahlers war von klein auf scharf auf die Frau gewesen, aber was sollte er machen, so was Schönes ist nur für oben, oder im Puff, muss mal sehn, vielleicht fahr ich demnächst auch mal nach Trinidad.

*

Außer Küche und Schlafzimmer gab es im Souterrain Weidenallee noch einen dritten Raum, früher mal Heizungskeller, aber jetzt, seit sie das Haus auf Fernheizung umgestellt hatten, für Vizefisch Arbeitsraum in dreifacher Hinsicht. Erst mal Schularbeiten von Ahlers, in der Küche war Radio, kommt nicht in Frage. Vizefisch hatte keine Ahnung von Schule, Intelligenzquotient und Chancengleichheit, aber sie hatte so eine Ahnung, dass man im Keller und ohne viel Reden schlecht dran ist gegenüber denen oben in den Etagen, und darum musste Ahlers immer ganz genau das machen, was die Lehrer aufgaben. Bis er das hatte, kam er da unten nicht raus. Fenster zum Wegflitzen war keins.

Mit sich selber machte Vize das auch. Von ohne Miete und das bisschen Kriegswaisenrente für Ahlers konnten die beiden nicht leben. Darum legte sie, für dreihundert Mark im Monat, für einen Papiergrossisten Blaupapier ein in Rechnungsblocks, fünfzig in der Minute, Kantfischs Fingermaschine ist für die noch immer das Billigste, Heimarbeit, richtig gemütlich. Und weil niemand zu so was Lust hat und weil im Heizungskeller die Luft trockener war als in der Küche, und das Papier muss ja glatt bleiben und schön flutschen, drum schloss sie sich zu bestimmten Zeiten des Tages weg wie Ahlers und machte das Tag für Tag, hilft ja nicht, muss ja fertig.

Und dann die dritte Arbeit, aber das war schon mehr was aus Lust und Liebe, gar nicht mal immer für Ahlers, aber für Vizefisch: Lego. Seit das Zeug auf dem Markt war, baute Vizefisch Hochhäuser, Brücken und Swimmingpools mit Sprungbrett und Brausebude, Vögel, Kinderwagen und Panzer, am liebsten Lampen mit Batterieanschluss, Bogenlampen, Baulampen, Bettlampen, einmal, zu Weihnachten, einen ganzen Tannenbaum, blau-weiß-rot, aber »der riecht nicht, das ist verkehrt, nächstes Jahr wieder Fichte im Topf«. Aber Lego blieb Trumpf, und manchmal, früher, als er für solchen Kinderkram noch nicht zu alt war, machte Ahlers auch ganz gern mit. Nur keine Vögel und keine Hubschrauber. Wenn die nicht fliegen, sind die fürn Arsch, und die fliegen ja nicht. Überhaupt fliegen: Der Heizungskeller war groß, so fünf mal fünf Meter und zwei Meter hoch, aber durchzogen, versperrt von lauter Rohren, dicken und dünnen, blanken und schwarzen, heißen und kalten, und überall Winkel und Kanten, fransige Isolierung und Dreck, ein Rohrdickicht für Gebückte, denn nur gebückt kamen Ahlers und Vizefisch bis an den Tisch, Schularbeit, Blaupapier, Lego, versteckt hinter Rohrgeflecht, hinter Messinstrumenten, Schraubverbindungen, Heizschlangen, und dann erst die Hand, der Kopf, dein Gesicht, dein Legopanzer. Und das jeden Tag.

Im Winter war es für beide manchmal echt schlimm. Was hier unten heiß durch die Röhren kam, sollte oben im vierten Stock alten Männern noch warme Füße machen. Kein Wunder, dass die Kellerwohnung in diesen Monaten, wenn sie nicht aufpassten, zu einem Brutloch wurde, und der Arbeitsraum, den sie ja brauchten, für beide zum Folterstübchen. Und klar, dass Vizefisch aufpasst. Sie hatte die Sache ja erst mal noch einigermaßen in ihrer Drehhand, bisschen mehr Dampf geben, bisschen weniger, »da soll erst mal einer kommen«. Aber die andern im Haus passten auch auf. Und einmal kam es deswegen zu einer kleinen Szene, die Ahlers nicht wieder vergessen hatte. Mitte der fünfziger Jahre, Lego war gerade im Kommen, Ahlers so zehn oder zwölf, und Vizefisch baut eine Brücke mit schwierigen Eingangsmasten und Stützpfeilern, kurz nach Weihnachten, Tannenbaum in der Küche schon wieder raus, also zwischen den Rohren. Anruf vom Zahnarzt: Wärmer machen, zu kalt. Ist gut, sagt Vizefisch. »Schon heiß genug hier unten«, sagt sie zu Ahlers, »wird man ja krank bei.«

»Und hat ja auch gar keine kalten Füße, geht bei dem gar nicht, bloß einen«, sagt Ahlers. »Der doch nicht, Blödsinn, dreh rüber, kleines Stück reicht.« Sie gehn mit dem Legozeug in die Küche, alles ganz eng, und wird nach zehn Minuten wie in Brasilien im Urwald. Das Foto von Rita rollt krumm, so hat die nie ausgesehen, stell wieder ab. Wieder Anruf: Mal flott! Dafür sind Sie doch da! Scheißtelefon, aber das zahlt der Hauswirt, damit sie nicht ihn anmeckern, sondern sie, Vizefisch. Na schön, das war nun mal so, alltags konnte man schummeln, aber sonntags saßen sie oben still in den Zimmern und warteten, brauchten Wärme.

Vizefisch hatte bei so einer Hitze ganz dicke Adern am Kopf, und Ahlers dachte, dass alle im Haus hier wohnen, bloß Vizefisch nicht, die war für was da, von der wurde flott was erwartet. Diesen Gedanken konnte man denken, dass er sich gut anhört. Und Ahlers lockte die Alte nach draußen, Rodeln, Sternschanze, damit sie ihm hier zwischen Küche und Rohrkeller nicht in die Kiste geht. Was soll er machen, wenn Vizefisch plötzlich platzt oder wegtrocknet? Im Heim war er schon mal gewesen, Winter 46/47, wegen Hunger oder was war das, in Österreich, neben dem Haus, weit unten, ein wilder Bach, aber alles immer mit Beten, und als er mal sagt, abends: Nee, heute nicht, oder ich spring in den Bach, da hatte die Heimmutter zu ihm gesagt: Dann spring. Oder Beten.

Nee, nicht beten.

Dann komm.

Und die Mutter hatte ihn auf den Arm genommen, durch einen schwarzen Flur getragen bis ans offene Fenster über dem Bach, das war im Winter, und rausgehalten. Ahlers war eben erst vier.

Dann doch lieber beten, du Sau.

Aber das war keine richtige Mutter.

Vizefisch kam mit zum Rodeln, und vor der Tür stand der Zahnarzt und sagte: »Sie da unten, Sie haben uns alle ganz schön in der Hand. Und auch noch mietfrei. Richtiges Hamsterloch. So gut möcht ichs auch mal haben. Haha!«

Die Frau des Zahnarztes hielt einen Goldhamster, Kinder hatten sie keine, und als der mal weggelaufen war und Ahlers ihn im Treppenhaus fand, nahm er ihn mit und holte eine lange Stopfnadel und stach ihn tot mit einem einfachen Stich ins Herz, gar keine Wunde außen und gar kein Blut, und warf ihn durch den Zahnarztbriefschlitz an Frauchen zurück.

Alles in Ordnung.

*

Überhaupt Ordnung: Mit zehn Tagen sechs kam Ahlers zur Schule, als er zehn Tage vierzehn war, kam er raus, Ostern 57, keine Konfirmation, aber Armbanduhr mit Metallband, Ernst des Lebens. Natürlich wollte er Autoschlosser werden, aber Merkatt sagte, er soll gleich fahren, und Vizefisch sagte, ihm wird so leicht schlecht, geh man gleich ins Büro, da kann man alles, nachher, und da will keiner was von dir. Und da trifft er, dachte sie, nicht so leicht einen, die ihn heiß machen wollen, wie die auf der Werft. Ich kenn bei Menck den Sohn von dem Vetter von Willi, im Lohnbüro sitzt der, ne Lebensstellung, gehn wir mal hin. Aber das war alles schon geregelt, festgemacht, zugeklappt, bis er die Armbanduhr hatte, und mit der ging ja alles, und wenn er um halb sieben hochkam, dann war er um Viertel vor acht am Lehrplatz. Er fuhr mit dem Rad, Amanda, Allee, Ottenser Hauptstraße, fertig. Auch bei Regen. Vierzig Stücke im Monat, das ist vom Hund, viel mehr ist das wirklich nicht.

Ahlers fand sich ganz gut zurecht, sagten die anderen. Zu lernen war ja nicht viel, und wenn die Männer und Mädchen aus den Büros ihn losschickten, »Süße, was naschen wir heute«, schob er ab, kaufte ein und ließ sie das auffressen, einschlecken, wegknabbern, jeden Tag. Ihm war schon nach wenigen Wochen fast alles egal. Er dachte nicht, dass sie das mit ihm machen könnten, aber er sah, dass sie das mit ihm machten. Das mach ich nicht mit, aber sieht man ja, mach ich. Ich nicht. Hier hau ich ab. Aber wohin? Alles dasselbe, das kotzte ihn an. Er saß überall nur herum, auf seinem Rad, im Keller, im Kino, in Vizefischs Küche, und seine Gedanken liefen ihm weg und banden ihn fest. Wenn er morgens vor das Verwaltungshaus der Fabrik kam, sah er sich um, ob jemand ihn sieht.

*

Das änderte sich bei Herrn Werner im Magazin, Materialausgabe, Fiete mit Husten, Alfred mit einem Arm und Herr Werner, der kleine Chef der Schrauben und Flanschen, immer fein rosaweiß jeden Morgen in seinem Blaumann, dünne Haut ohne Licht, aber sauber und weich wie der Finger vom Postschaffner in der Gummikappe, statt Lecken. Fiete war schon sehr alt und ganz lächerlich, alle mochten ihn gern und ließen ihn mittags, wenn er die Mampfe weghatte, poofen in einem der hintersten Borde, so klein war der Bursche, krumm lag er da im öligen Fach, aber lag schon so da seit immer. Wenn er an der Ausgabeklappe stand, kalter Wind aus der Montagehalle kam ihm ins Hemd, musste er husten und sagte mit pfeifendem Grinsen still vor sich hin: Ohlsdorf lacht.

Ob der inzwischen noch lebt, ist die Frage. Mann, Fiete! So schöne krumme Typen wie du gehn kaputt und wissen nicht mehr, dass der Dreck oben Angst hat. Einmal hinlangen, Fiete, einmal totlachen, all das Pack! Das hast du verpasst. Aber Erdbeeren sind was Schönes. Im Juni kam Fiete manchmal schon morgens von seinem Stück Land, kleiner Erdbeergarten unterm Rangierqualm zwischen Holstenstraße, Diebsteich und Altona. Er kam locker und einverstanden mit sich wie ein Strolch. Er hatte schon morgens vor sechs seiner Alten zehn Erdbeeren geklaut, »schon schön warm von ganz bisschen Sonne«.

Alfred war jünger, vierzig vielleicht, und geschickt mit dem linken Arm, als wenn einer vierhändig spielt. Musik war ihm teuer. Bei der Konfirmation seines einzigen Jungen, jetzt war der tot, Moped, hatte er, das erzählte er gern, einen Stimmungssänger und einen chromatischen Akkordeonspieler gemietet.

Alfred war mal ambulanter Händler gewesen, von Stade ins Land nach Nordwesten, Land Hadeln, Bederkesa, feine Gegend, einsame Bauersfrauen. Alfred war geil wie ein Kranker, und seit sein Junge tot war, hatte er keine Lust mehr, schwieg oder machte Witze, dass einem das Kotzen kam.

Hier saß und stand und lief nun auch Ahlers, sortierte Schrauben und Muttern, Kopfschrauben, Stiftschrauben, Senkschrauben, Schlossschrauben und Nippel und Bolzen, Quersplint und Nasenblech, Zahnscheibe, Stoppmutter, Doppel-T-Eisen, Muffen und Warnschilder: Der Aufenthalt im Schwenkbereich des Baggers ist verboten, Gelb auf Blau, Menck & Hambrock, Mercedes unter den Baggern und Kranen und Rammen. Die Arbeit war dreckig, der Magazinraum war zugig und dunkel und kalt, aber Ahlers fand das besser als oben. Oben waren Ordnung und Mief und Weiß, Missmut, Kriechen, Eierlikör und feine Anmache hinter der Hand. Hier unten waren Anschiss und Mettwurstbrot und Lärm und Gefahr, paar Tonnen Guss an der Kette, da musst du auf Draht sein.

Hier wollte er bleiben, hier stand er rum, oft in der Mittagspause Montagehof Bergiusstraße, die riesigen Löffelhochbagger 401 für Australien, Tagebau irgendwo in der Wüste, da fährst du schon beinah mit, wenn du das siehst, ein Löffelzahn schwerer als du, und acht davon an einem einzigen Löffel, die reißen ganz schön was weg. Überhaupt wegreißen. Aber wie kommst du da ran?

Die meisten am Ausgabeschalter reden nicht viel, Materialschein, »flitz ab«, »gib her den Scheiß«, Lieferfristen, das schlaucht. Ahlers war damals noch blass und dünn. Einmal blieb einer stehen, obgleich ihm Ahlers die beiden Lager schon längst auf die Theke geknallt hatte.

»Bist blass«, sagte er, »du fickst zu viel. Gibt noch was anderes auf der Welt. Warte nachher mal auf mich bei der Ramme für Togo.«

Der Pförtner sah sie abends zusammen weggehen und schrieb sich das auf.

Am nächsten Tag, nachdem sie auch mittags wieder zusammengesessen hatten, im Schatten, denn es war heiß geworden, kurz vor Feierabend, sagte Herr Werner zu Ahlers:

»Der ist verboten, den lass man, KP*.«

Fiete ging hinkend beiseite.

Aber was heißt verboten? Und was heißt für Ahlers KP? Das, was von Anfang an Leuten wie ihm verboten wurde, das hatte sehr oft, fand Ahlers, zu tun mit Glück, mit Sachen, auf die du Trieb hast, mit besten Plänen, heimlichen Wünschen, was solls. Und KP? Da fallen ihm, nach dem Gemeinschaftskundeunterricht in der letzten Klasse und auch jetzt, von der Berufsschule her, nur Spitzbart und Zone* ein und alles ein Krampf. Und davon hatte der Kumpel doch gar nicht geredet. Ahlers wusste noch nicht mal, dass die KP erst im Vorjahr verboten worden war. Für ihn war sie nie erlaubt, nie was, was geht, nur immer Stacheldraht und Gemeinheit, nichts für ihn oder sonst wen, hier. Und dass in der Nähe die Thälmannstraße jetzt Budapester hieß, logo, die hatten geschossen, da unten, die waren in Ordnung, die Ungarn. Hierüber wusste er mehr. Aber viel wichtiger war für ihn: Der Kumpel, der Beck, war der Erste gewesen, der mal was merkt. Und der dann auch redet, wenn er was merkt.

*

Sie hatten zusammen Bier getrunken, und Robert Beck, kleiner Bulle mit Speckfalten in der Stirnhaut und schon ganz wenig Haar, noch gar nicht alt, fünfundzwanzig vielleicht, Robert Beck hatte ihn gefragt.

»Was hast du?«

»Kein Bock auf Büro.«

Aber das war für Robert kein Deutsch auf eine vernünftige Frage, und deshalb zog er dem Bürschchen Ahlers jetzt nach und nach erst mal das aus der Nase, was der dufte und gut und geil fand, und da waren Sachen dabei, auf die Ahlers nur kam, weil hier endlich mal einer stur war und fragte.

Die großen Maschinen, das nimmt dich mit, da bist du auch nicht mehr bloß einfach Arsch.

Nicht alles bloß immer von oben. Sonst stehst du bloß blöde wie jeder. Und keiner, der mal was sagt. Und von irgendwo immer Befehl.

Ich will mal was machen, wo ich auch nachdenken muss, und vielleicht auch mal alle zusammen.

Mal in Ruhe auch denken über das alles, bloß wann? Bloß immer rumflitzen. Drehn alle durch.

Das bin ich doch alles nie richtig selber.