Schlachtvieh / Kalte Zeiten - Christian Geissler - E-Book

Schlachtvieh / Kalte Zeiten E-Book

Christian Geissler

0,0

Beschreibung

Reisende in einem Zug. Einige Abteile sind versperrt, die Fenster lassen sich nicht öffnen, dann ist die Fernsprechverbindung unterbrochen, und die Fahrgäste hören unheimliche Durchsagen. Einige fragen sich, was los ist, diskutieren und wollen der Sache auf den Grund gehen. Das Schreibabteilmädchen versucht sogar, die Notbremse zu ziehen und wird festgesetzt. Die Mehrheit aber will die Reise einfach fortsetzen, mit dem Segen eines Kirchenmannes - das ist das Drehbuch "Schlachtvieh". Freitag in Hamburg-Wilhelmsburg: Der junge Bauarbeiter Jan Ahlers bekommt seine Lohntüte, legt eine Sonderschicht ein und träumt von einem größeren Auto. Seine Frau Renate kümmert sich währenddessen um den Haushalt, später verliert sie sich beim Stadtbummel in den Kaufangeboten. Ein Kind wäre schön, aber das kostet. Beide sind gefangen in Konsumwünschen und verraten dabei ihre Liebe und sich selbst - das ist der Roman "Kalte Zeiten". Als der Brecht-Schüler Egon Monk 1960 Leiter der NDR-Fernsehspielabteilung wurde, begann er mit einer Umsetzung von Christian Geisslers erstem Roman "Anfrage". Darauf folgten bis Mitte der 70er-Jahre weitere Fernseharbeiten Geisslers, die großen Einfluss auf seine spätere Prosa hatten. Unter dem Eindruck der Wiederbewaffnung Deutschlands schrieb Geissler 1963 das Drehbuch "Schlachtvieh", ein Lehrstück. Warum wehrt sich kaum jemand, wenn die eigenen Interessen mit Füßen getreten werden? Auf der Suche nach einer Antwort entstand das Fernsehspiel "Wilhelmsburger Freitag" (1964), die Vorlage für den Roman "Kalte Zeiten".

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 267

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christian Geissler

SCHLACHTVIEH KALTE ZEITEN

Mit einem Nachwort von Michael Töteberg

SCHLACHTVIEH

Ein Fernsehspiel

Innentitel der Originalausgabe, Claassen Verlag 1963. Weil Regisseur Egon Monk in den Text eingegriffen hat, notiert Christian Geissler in seinem persönlichen Exemplar handschriftlich: »(die originalfassung nur im band ›ende der anfrage‹ im aufbau-verlag, ddr.)«.

Rindviehweide

Sonne, dicke Sommerwolken am Himmel, fettes Gras, manierliche Kühe: Milchschokoladen-Niveau.

Eine weidende Kuh. So nah, dass immer nur Teile der Kuh zu sehen sind. Zum Beispiel der fette Hals mit schöner Glocke dran. Die Glocke schlägt hin und her.

SPRECHERINin strengem WerbetonEs ist geschafft.

SPRECHERWir leben nicht mehr unter Trümmern.

SPRECHERINWir haben Sorgen, dass wir zu dick werden könnten.

SPRECHERDie erste Etappe liegt hinter uns.

SPRECHERINEs ist geschafft.

BEIDEDie Lebensform freier Menschen!

Eine Kuh schreitet ins Bild. Hebt schwer den Kopf und schaut uns traurig an.

SPRECHERGut.

SPRECHERINAber was nun?

SPRECHERMal was Neues probieren?

BEIDENein!

Die Kuh setzt sich wieder in Bewegung, gliedert sich ein in eine Gruppe von zielstrebig-müde schreitendem Vieh.

SPRECHERINWir bauen weiter!

SPRECHERStein auf Stein.

SPRECHERINStein auf Stein.

SPRECHERStein auf Stein.

Eine Kuh bleibt stehen, geht langsam in die Knie, legt sich umständlich hin, um zu schlafen.

SPRECHERINEs schützen schon ganz kleine Mauervorsprünge!

SPRECHERJeder hat eine Chance!

SPRECHERINVor allem: Ruhe bewahren!

SPRECHEREs kann schlimmstenfalls immer nur vierzehn Tage ­dauern.

Die Kuh schläft unruhig, schlägt wegen der Fliegen mit Kopf und Schwanz und Ohren.

SPRECHERINAngst?

SPRECHERNicht schlafen können?

BEIDEDenke dran – schaff Vorrat an!

SPRECHEREntspannen auch Sie sich!

SPRECHERINLiegen bleiben, bis der Druck nachlässt.

SPRECHERDann erst den Schutzraum aufsuchen.

Eine Gruppe alter schlafender Kühe.

SPRECHERINAußerdem: seien wir doch ehrlich, wer von uns kennt nicht die Frage …

SPRECHER… bin ich wirklich schon verbraucht?

SPRECHERINSo ist heute nun einmal das Leben.

SPRECHERMensch und Maschine in der Zerreißprobe!

SPRECHERINAber:

SPRECHERMan schafft es!

Spielende, springende Kälbchen.

SPRECHERINImmer mehr Menschen finden heute zu einem echten, schöpferischen Hobby.

SPRECHERModerne Menschen.

SPRECHERINAus kleinen Freuden bauen sie eine glückliche Welt!

Boxendes Rindvieh. Schädel an Schädel.

SPRECHERDo it doch einfach yourself!

SPRECHERINMit Schwung, aktiv, intelligent und fix!

SPRECHERStufe für Stufe weiter nach oben!

SPRECHERINEndlich geschafft!

SPRECHERSechzehn Mann unter mir und hundertsechzig Mark Mehrverdienst!

BEIDEDie Lebensform freier Menschen!

Plötzlich die blitzend-aggressive Physiognomie einerLKW-Schnauze auf uns zu.

SPRECHEREine alte Geschichte: Vertrauen verlangt eben Leistung.

DerLKWhält. Drei Metzger springen ab. Alle drei in Haltung, Bewegung und Kleidung zum Verwechseln einander ähnlich. Kleidung quasi militärisch. Gummischaftstiefel, Gürtel über der gestreiften Bluse, am Gurt jeder einen Holzknüppel. Die Metzger ordnen sich der Größe nach, halten gute Seitenrichtung und gehen im Gleichschritt. Aber nie sind ihre Gesichter zu sehen.

SPRECHERINWer schafft …

SPRECHER… braucht Kraft!

SPRECHERINNicht mehr müde sein!

SPRECHERIm Rennen bleiben!

SPRECHERINMehr Schwung!

SPRECHERDer Wahlspruch freier Menschen einer freien Welt!

Drei Metzgerarme, die Knüppel schwingen über Rindervieh­rücken.

SPRECHERINDen Freunden guter Körperpflege sind unsere Mittel natürlich längst vertraut.

Rindviehsteiß, auf den mit einem Knüppel geschlagen wird.

SPRECHERMittel der Tradition – im Stil unserer Zeit!

SPRECHERINVor allem: Ruhe bewahren!

Jemand wirft einen Sack über einen Rindviehschädel.

SPRECHERUnd gegen die Strahlungen einfach ein nasses Kleid über den Kopf.

SPRECHERINMal was Neues probieren?

SPRECHERNein!

SPRECHERINMachen Sie doch mit!

SPRECHERMachen Sie ihn einfach mit, den Schritt zur nächsten Etappe!

SPRECHERINJeder hat eine Chance!

SPRECHERHelfen auch Sie sich von innen heraus!

Die erste Kuh ist im Wagen festgebunden, reckt den Kopf über die Rampe und schaut mit verdrehtem Blick zurück.

SPRECHERINJa, das Glück lacht ihr zu. Und warum?

SPRECHERWeil ihr Alter ein Geheimnis bleibt.

BEIDEEs ist geschafft!

Die große Plane fällt herunter und verdeckt die Kühe auf dem Wagen.

Großstadtstraße

Die Straße ist hell erleuchtet und leer. Außer demLKWmit den Kühen kein anderes Fahrzeug weit und breit. Ampel mit Rotlicht. DerLKWmit den Kühen hält vor der Ampel. Die Kühe recken die Hälse. Dann Schaufensterauslagen eines Metzger­ladens.

Sich nähernd das Motorgeräusch desLKW.

SPRECHERIhr Lebensstandard hat sich erhöht.

SPRECHERINUnd was heißt das?

SPRECHERNichts anderes, als dass alle Chancen genutzt wurden, um im freien Leistungswettbewerb Positionen zu verbessern und zu sichern.

BEIDESicherheit und Geborgenheit.

In der Ampel fällt das Licht auf Grün.

SPRECHERINAber wohin geht denn die Reise?

Verladerampe im Güterbahnhof

DerLKWfährt auf die Rampe. Das Rindvieh wird rüde ver­laden.

SPRECHERunverändert gleichmäßig, ruhig, optimistisch Besser leben!

SPRECHERINJeder hat eine Chance!

SPRECHERKeine Experimente!

SPRECHERINSicherheit für alle!

SPRECHERNichts aufs Spiel setzen!

BEIDEDie Lebensform freier Menschen!

Bahnhofshalle

Großstadtbahnhof in vollem Betrieb. Viele Bahnsteige, viele Menschen, viel Lärm, Signallampen und Signalarme, Anzeige­tafeln, Lokomotiven, Uhren, Kioske, Elektrokarren und Dampf und trübe Beleuchtung. Auf dem Bahnsteig 8 die Gruppe der Reisenden. Hartmann, Huber, Köhler, Hansen, Fuchs, Engel, Steinhoff, Frau Steinhoff und Herr und Frau von Aasenstein. Man hört die Durchsage.

LAUTSPRECHERAchtung! Reisende für den FernschnelltriebwagenFT402, planmäßige Abfahrt 19 Uhr 10, Bahnsteig 8; Gleis 16. – Das Einlaufen des Zuges verzögert sich voraussichtlich um zehn Minuten.

Bahnpersonal-Kantine

LAUTSPRECHERAchtung! LokführerFT402 zum Zug! – Achtung! PersonalFT402. Einlaufen 402 ausnahmsweise abwarten an Gleis 16. Ende.

Der Lokführer verlässt die Kantine. Die anderen, die schon halb aufgestanden waren, setzen sich wieder hin. Ein bisschen ratlos.

SCHREIBABTEILMÄDCHENAn der Bahnsteigkante warten wie’n Passagier – das haben wir gerne. Ist schließlich unser Zug.

KELLNER»Unser Zug« – klingt ja fast wie drüben.

KOCHNa, etwa nicht unser Zug?

Der Koch beugt sich zum Schaffner, der die Zeitung liest.

KOCHVerstehst du denn auch, was du da liest?

SCHAFFNERweiterlesendVersteh’ ich was von Fußball oder nich’?

KOCHMachen sie Krieg – machen sie keinen Krieg?

Bahnhofshalle

Hansen taucht hinterm Zeitungswagen auf.

ZEITUNGSVERKÄUFERNa, Soldat, wohin geht denn die Reise?

HANSENHaben Sie was Spannendes? – Nein, keine Zeitung.

ZEITUNGSVERKÄUFERAber spannender geht’s doch nicht, Junge.

Der Zeitungsverkäufer zieht einen Krimi mit Mordstitel.

ZEITUNGSVERKÄUFERSo was vielleicht? – So’n Krimi ist auch nur spannend, solange sie den Mord noch aushecken. Wenn’s knallt, denn ist der Spaß vorbei. Kannste mir glauben – einsneunzig …

Hansen geht. An seinem Platz erscheinen nun Engel, Steinhoff und Frau Steinhoff. Steinhoff macht hinter dem davongehenden Hansen eine abfällige Kopfbewegung.

LAUTSPRECHERAchtung! Der FernschnelltriebwagenFT402, planmäßige Abfahrt 19 Uhr 10, hat in wenigen Minuten Einfahrt auf Gleis 16. Reisende bitte nur den vorderen Teil des Zuges benutzen, die hinteren Abteile sind für den Reiseverkehr gesperrt.

Bahngelände

Auf dem weitläufigen, von den hoch hängenden Bogenlampen nur schwach erhellten Bahngelände steht derFT402. Schattenhaft undeutlich, sodass weder Kleidung noch Gesichter zu erkennen sind, steigen in die hinteren Abteile acht Leute ein. Die Tür schließt sich hinter ihnen. Am Zugkopf erscheinen der Lokführer, der Zugführer und der Zivil tragende X. Auch sie steigen ein.

Führerstand und Maschinenraum des FT 402

Nur die Maschinen, die Instrumente, die Schalttafeln und alle ­anderen technischen Einrichtungen sind zu sehen, nie die Sprechenden.

XTrennschaltung Lautsprechanlage.

LOKFÜHRERTrennschaltung durchgeführt.

XTrennschaltung Fernsprechanlage.

LOKFÜHRERTrennschaltung durchgeführt.

XBefehlsgeber ist bekannt?

LOKFÜHRERBefehlsgeber ist nicht bekannt. – Befehlsgeber ist bekannt?

XNicht bekannt. – Kennen Sie die Sache, um die es geht?

LOKFÜHRERKeine Kenntnis. – Kennen Sie die Sache, um die es geht?

XKeine Kenntnis. In Ordnung. Sie übernehmen den Zug.

LOKFÜHRERIch übernehme den Zug.

Die Hand des Lokführers betätigt den Anlasser. Die Diesel­maschinen springen an. Der Zug setzt sich in Bewegung. Die Räder fassen, drehen sich, immer schneller. Vorbei an Stellwerken, über Weichen, auf die Bahnhofshalle zu. Der Zug fährt in die Bahnhofshalle ein. Vom einfahrenden Zug aus sieht man die Gruppe der Reisenden. Dabei jetzt auch das Zugpersonal. Schaffner, Koch, Barmädchen, Schreibabteilmädchen, Zugstewardessen, Kellner etc. Der Zug hält. Die Leute nehmen Koffer und ­Taschen und steigen ein.

LAUTSPRECHERTüren schließen und zurückbleiben! – Zurück­bleiben, bitte!

Der Vorsteher hebt die Kelle. Der Zug fährt ab und verlässt, immer schneller fahrend, das Bahnhofsgelände.

Fahrgastraum im Barwagen

Die Reisenden suchen ihre Plätze, verstauen Koffer und Taschen, hängen die Mäntel an die Haken und machen es sich bequem. Der Schaffner kontrolliert die Fahrkarten Köhlers, der sich auffallend weit abseits einen Platz gesucht hat.

SCHAFFNERDas ist aber nicht Ihr Platz, mein Herr?

KÖHLERIst dieser Platz reserviert?

SCHAFFNERDas nicht. Aber Ihr Platz ist da drüben.

Er zeigt auf einen der Plätze in der Mitte des Wagens. Eine Notbremse ist darüber. Köhlers Blick ist der Geste des Schaffners ­gefolgt.

KÖHLERAber da könnte ich plötzlich Lust haben, die Notbremse zu ziehen.

SCHAFFNERDas ist verboten.

KÖHLEREben. Lassen Sie mich lieber hier.

Engel, Steinhoff und Frau Steinhoff belegen zwei Bänke in der Mitte des Wagens, Engel setzt sich ans Fenster, Steinhoff ihm gegen­über. Erst, wenn er schon sitzt, fragt er seine Frau:

STEINHOFFOder möchtest du lieber am Fenster …

FRAU STEINHOFFNein, nein, bleib nur.

Der Schaffner steht vor Herrn und Frau von Aasenstein.

SCHAFFNERAber ich kann nicht überall eine Ausnahme machen, meine Herrschaften.

Er zeigt auf zwei freie Plätze gegenüber.

SCHAFFNERBitte sehr.

HERR VON AASENSTEINDas ist keine Ausnahme, guter Mann.

FRAU VON AASENSTEINholt eine Siamkatze aus einem komfortablen ReisekorbWir fahren immer rückwärts.

HERR VON AASENSTEINVorwärts strengt uns an.

Bei Steinhoffs und Engel. Alle drei lesen den Spiegel.

FRAU STEINHOFFWir sitzen hier genau auf den Achsen!

STEINHOFFhinter der ZeitschriftWird dir schlecht?

FRAU STEINHOFFEs geht.

ENGELmit einem Seitenblick auf den weiterlesenden SteinhoffNa, los, zieh’n wir um. Ich guck’ mal nach hinten.

HARTMANNGuten Abend. – Ist hier frei?

KÖHLERDie Plätze sind nummeriert, Herr Pfarrer. – Guten Abend.

HARTMANNsetzt sich unentschlossen auf die Sitzkante, Köhler gegen­überWir kennen uns, nicht wahr? Sie waren heute Abend in der Andacht.

KÖHLERGibt’s hier drüben an allen Bahnhöfen Pfarrer?

HARTMANNWir fangen erst an. – Sie waren früher drüben?

KÖHLERMerkt man das?

HARTMANNWeil sie eben »hier drüben« gesagt haben. Außerdem bekommt man in meinem Beruf einen Blick für Menschen.

KÖHLERnachlässig die Schultern hebendSo?

HARTMANNSie sitzen so abseits.

KÖHLER Die Bar ist gleich nebenan. Und vielleicht wollte ich auch schlafen.

Vor der versperrten Tür

Engel steht vor der Durchgangstür, die nach hinten führt. Er tippt erst auf die Griffe, um den Mechanismus in Gang zu setzen. Aber die Tür öffnet sich nicht. Dann will Engel die Tür mit Kraft aufziehen und bemerkt, dass sie verriegelt ist. Er versucht, durch die Glasfenster nach hinten zu sehen. Aber dort ist es dunkel. Der Schaffner steht indessen vor den Steinhoffs.

Fahrgastraum

STEINHOFFWir brauchen noch drei Zuschläge für diesen Superzug, wenn Sie die Güte hätten.

Hartmann kommt, grüßt, vergleicht die Nummer des Sitzes gegenüber Frau Steinhoff mit der Nummer auf seiner Platzkarte und legt sein Köfferchen ins Netz. Er dreht sich schüchtern nach Frau Steinhoff um, sieht den Spiegel, nimmt seinen Koffer wieder herunter und geht zu Hansen. Engel kommt zurück und setzt sich wieder an seinen Platz.

ENGELHinten is’ nich’. Verriegelt. Keine Chance.

SCHAFFNERMacht zusammen vierundzwanzig.

ENGELzu SteinhoffHast du mal vier Mark?

STEINHOFFVierundzwanzig Mark! Aber bloß den halben Zug verkoofen!

LAUTSPRECHERStimme des SchreibabteilmädchensGuten Abend, meine Damen und Herren, wir begrüßen Sie in unserem Transkontinental-ExpressFT402. Unsere Durchschnittsgeschwindigkeit wird 110 Stundenkilometer betragen, die Spitzengeschwindigkeit wird bei 140 Stundenkilometern liegen. Auf diese Weise werden wir in weniger als sechs Stunden, um 0 Uhr 50, den Zielbahnhof erreichen. – Wir wünschen Ihnen eine gute Reise und möchten Sie bei dieser Gelegenheit auf die besonderen Annehmlichkeiten des Zuges hinweisen. Die Küche wird von Herrn Nowotny betreut, einem Mann, der sehr genau weiß, was auf einer Reise gut schmeckt. Im Restaurant werden Sie von unseren Zug­stewardessen und von unserem Oberkellner, Herrn Dienstmann, erwartet …

Schreibabteil

Während das Mädchen ansagt, betrachtet es sich in einem kleinen Handspiegel und zupft sich ein Augenbrauenhaar aus.

SCHREIBABTEILMÄDCHENZu Ihnen spricht Erika Kalweit, und Sie finden mich im Schreibabteil des Zuges. Bitte vertrauen Sie mir Ihre Korrespondenz an. Und sollten Sie ein drahtloses Telefongespräch führen oder ein Telegramm aufgeben wollen: Bitte wenden Sie sich an mich. Wer aber einen guten Tropfen liebt oder Sinn hat für ein ruhiges Gespräch zu zweit in behaglicher Atmosphäre, für den wird unser Fräulein Martens sorgen. Fräulein Martens erwartet Sie in der Bar und freut sich, Ihnen Ihren Drink mixen zu dürfen, Ihren ganz speziellen …

Fahrgastraum

Allgemeiner Friede im Abteil. Huber zieht eine Kollegtasche aus seiner Reisetasche und verschwindet in Richtung Schreibabteil.

LAUTSPRECHERUnd nun noch ein kurzer amtlicher Hinweis: Die Abteile am Ende des Zuges sind auf Anweisung der Direktion heute ausnahmsweise für jeden Reiseverkehr gesperrt. Wir bitten um Ihr Verständnis. – Guten Abend.

STEINHOFFden Spiegel beiseitelegendGuten Abend. –GähntÜber allen Gipfeln ist Ruhe die erste Bürgerpflicht.

ENGELSind wir Freunde?

STEINHOFFSonst noch was?

ENGELHör mal zu. Kritik einer Freundschaft.Liest aus einemTaschen­buch Jean Paul vor»Einen solchen Fürstenbund zweier seltsamer Seelen gab es nicht oft: dieselbe Lachlust in der schönen Irrenanstalt der Erde.«

STEINHOFFUnd die Kritik?

ENGELJean Paul. Hundert Jahre alt. Sehr frühe Romantik. Unser Mann: Gelächter im Irrenhaus. Wir taugen nur noch für Lachanfälle.

STEINHOFFlehnt sich zurück und schließt die AugenWer schläft, sündigt nicht.

ENGELliest weiterDas könnte dir so passen.

Schreibabteil

HUBERGeschäftspost vor sich auf den Knien, betrachtet das Schreibabteilmädchen Und ausgerechnet bei der Eisenbahn?

SCHREIBABTEILMÄDCHENSicher ist sicher. Wo Leute Uniform anhaben, kann nichts schiefgehen. Sagt mein Vater.

HUBERUnd hat nicht ganz Unrecht. – Außerdem: Man sieht was von der Welt.

SCHREIBABTEILMÄDCHENZiemlich.

Das Mädchen ordnet Schreibpapier. Man flirtet so ein Stückchen vor sich hin.

SCHREIBABTEILMÄDCHENEinen Durchschlag?

HUBERZwei, bitte. – Sie sehen gar nicht so aus.

SCHREIBABTEILMÄDCHENWie?

HUBERRauchen Sie?

SCHREIBABTEILMÄDCHENDanke. – Wie seh’ ich nicht aus?

HUBERlächelnd nach einer PrüfpauseFremdsprachen?

SCHREIBABTEILMÄDCHENEnglisch und Französisch, was man so braucht.

HUBEROberschule?

SCHREIBABTEILMÄDCHENKindermädchen. Ein Jahr England, ein Jahr Paris.

HUBERgenüsslichUnd? Wie war Paris?

SCHREIBABTEILMÄDCHENspannt den Bogen einWas soll ich für Sie tippen?

HUBERWarten Sie doch mal. – Ich muss heute Abend einen Franzosen treffen. Könnten Sie dolmetschen?

SCHREIBABTEILMÄDCHENlächelnd nach einer PrüfungNur so – oder so?

HUBERSchade.

SCHREIBABTEILMÄDCHENBestimmt nicht schade. So ein Abend kann ja schließlich ziemlich lange dauern – unter Umständen.

HUBERUnter Umständen. Abgemacht?

SchreibabteilmädchenSie wollten mir diktieren.

HUBERDas hat ja Zeit. – Wieso heißen Sie eigentlich Kalweit? Meine Familie ist nämlich auch aus Ostpreußen.

SCHREIBABTEILMÄDCHENKeine Ahnung. Ich war damals noch ein Kind.

HUBERAber Heimat bleibt schließlich Heimat.

SCHREIBABTEILMÄDCHENWenn man Spaß hat am Leben, kann man leben, wo man will.

HUBERDann würden Sie wahrscheinlich nicht tagaus, tagein hier im Zug fahren.

SCHREIBABTEILMÄDCHENDer Zug ist nicht schlecht. Bloß – also ich kann Sie ja mal auslassen – die meisten Fahrgäste sind ziemlich blöd.

HUBERWirtschaftswunderburschen, was?

SCHREIBABTEILMÄDCHENNein, warum, ich finde viel Geld gar nicht übel, nur – nein, wieso eigentlich? Sie haben doch wahrscheinlich auch ziemlich viel?

HUBERMäßig.

SCHREIBABTEILMÄDCHENUnd warum nicht?

HUBEREs gibt wichtigere Dinge.

SCHREIBABTEILMÄDCHENSagen Sie das, weil Sie ans Geld nicht so richtig rangekommen sind?

HUBERNein, ganz im Ernst, es gibt Wichtigeres.

SCHREIBABTEILMÄDCHENZum Beispiel?

HUBERMenschen.

SCHREIBABTEILMÄDCHENKlingt ganz schön. So’n Mensch ist was Schönes. Aber ohne Geld ist er was ziemlich Unwichtiges. Ohne Geld muss er tun, was andere wollen.

HUBERKennen Sie einen, der selber was will?

SCHREIBABTEILMÄDCHENStimmt. Alles Gesichter wie’n Mund voll Tempotaschentücher.

HUBERWas kann einer schon wollen? Das meiste kommt von ­allein.

SCHREIBABTEILMÄDCHENVon allein? Von wo ist das?

HUBERSie sind ziemlich neugierig.

SCHREIBABTEILMÄDCHENImmer. Sie nicht?

HUBERDoch. Auf Sie.

SCHREIBABTEILMÄDCHENDas bisschen Neugier kann man ganz gut im Kino loswerden.

HUBERSie sind sehr bescheiden.

SCHREIBABTEILMÄDCHENGar nicht. Aber ich möchte Ihnen Unkosten ersparen. – Schreiben wir jetzt einen Brief?

HUBERSie haben übrigens schöne Augen.

SCHREIBABTEILMÄDCHENAn? …

Bar

Auf dem Bar-Plattenspieler kreist eine Platte. Fuchs hört, rauchend und trinkend, der Musik zu, das Barmädchen betrachtet Fuchsens magnum-Heft.

BARMÄDCHENToll.

FUCHSWas? Die Bilder oder die Platte?

BARMÄDCHENDie Bilder. Sind doch toll gemacht.

FUCHSJeden Tag tolle Bilder.

BARMÄDCHENSind Sie vom Film?

FUCHSNee. Funk. Toningenieur. – Interesse für Fotografie?

BARMÄDCHENToll.

Die Platte läuft aus.

FUCHSHaben Sie noch andere Platten?

Eine neue Platte wird aufgelegt.

FUCHSToll.

Fahrgastraum

Bei Hansen und Hartmann. Hansen liest seinen Krimi, Hartmann hat eine Zigarette aus der Packung genommen und sucht nach Feuer.

HARTMANNHätten Sie vielleicht ein Streichholz?

Hansen stellt sichhöflichund exakt vor Hartmann auf und gibt ihm Feuer.

HARTMANNAber ich bitte Sie, behalten Sie doch Platz. – Warum haben Sie sich nicht ans Fenster gesetzt?

HANSENMan kann hier nicht irgendeinen Platz nehmen, soviel ich weiß …

HARTMANNlächelndOrdnung muss sein. – Luftwaffe?

HANSENPanzer, jawohl.

HARTMANNWollenOffizierwerden?

HANSENJawohl. Aktiv.

HARTMANNInteressant. – Ich war auch mal Panzermann. Damals. In Russland. Man lernt denken dabei. – Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen.

HANSENJawohl.

HARTMANNSie müssen sehr vernünftige Eltern haben. Ich meine, dass Sie als junger Mann heute den Mut haben zu diesem Beruf …

Huber kommt zurück und verstaut seine Kollegmappe wieder in der Aktentasche. Friede im Abteil.

Schreibabteil

Ein Telefonlämpchen leuchtet auf und zeigt an, dass ein Gespräch in der Leitung ist. Das Schreibabteilmädchen nimmt den Hörer ab.

DURCHSAGE ÜBER TELEFONHÖRER UND LAUTSPRECHERmit starken Störungen, bruchstückhaftAktion Friedenskrieg vierhundertzwo – Achtung! Aktion Friedenskrieg vierhundertzwo – Auftrieb gleichbleibend und billig und recht und heilsam –

Erst jetzt fällt dem Schreibabteilmädchen auf, dass die Durchsage nicht nur durch den Telefonhörer, sondern auch durch den Lautsprecher zu hören ist.

DURCHSAGEPunktzeit null vierundfünfzig – er selbst aus der Höhe –Marktpreise heilsam – strahlend die mit den roten Streifen –

Das Mädchen verlässt vorsichtig das Schreibabteil und bleibt im Gang stehen.

DURCHSAGEAngst vormerken – Auftrieb bei gleichbleibender Tendenz – Alternative aufzwingen – kleineres Übel auf Wunsch – Sicherheit gleich Tarnung –

Dann betritt es den Fahrgastraum und bleibt einen Augenblick stehen. Im Abteil herrscht immer noch Friede. Aber man beginnt, der Durchsage zuzuhören.

DURCHSAGEAuftrieb Sicherheit zuerst – Sicherheitsabstand und Schlagbolzenfederlänge überprüfen durch Anschießen –

Das Mädchen durchquert den Fahrgastraum und anschließend die Bar, ohne sich aufzuhalten. Das Barmädchen und Fuchs sehen ihm erstaunt nach.

DURCHSAGEStrahlend die mit den roten Streifen – bedenkenlos Punktzeit null fünf vier –

Im Restaurant stehen der Oberkellner und die beiden Zugstewardessen. Sie hören mit geringem Interesse zu. Das Mädchen geht weiter zur Küche.

DURCHSAGEEntscheidende Wirkung erzielen – hochloben Heerscharen Instrument Truppe zuerst aus der Höhe –

Das Mädchen steckt den Kopf durch die schmale Küchentür. Der Koch hebt nur die Schultern und hört dann weiter der Durchsage zu.

DURCHSAGEPunktzeit keine Experimente – mit allen Mitteln Aktion Punktzeit null vierundfünfzig – Sicherheit gleich Tarnung –

Fahrgastraum

Köhler blinzelt schläfrig vor sich hin. Herr von Aasenstein sitzt vornehm und starr mit geschlossenen Augen. Frau von Aasenstein beugt sich zu ihm.

DURCHSAGETarnung gleich Sicherheit – Preise gleichbleibend –

FRAU VON AASENSTEINArnulf! Was heißt das: »Halsschlagader anschießen«?

HARTMANNmacht eine heftige BewegungPssssst!

DURCHSAGEAngst vormerken – Achtung! Friedenskrieg vierhundertzwo –

Für einige Augenblicke nur Störungen.

FRAU STEINHOFF»Vierhundertzwo« – das sind wir.

HARTMANNWas heißt »wir«?

HUBERWas wollen Sie damit sagen?

Hartmann und Huber lächeln sich verständnisvoll an. Nur keine Panikmache.

STEINHOFFPsssst!

DURCHSAGEPunktzeit null vierundfünfzig –

Das Mädchen läuft eilig vorbei und verschwindet durch die Ausgangstür in Richtung Schreibabteil.

Schreibabteil

Der Telefonhörer, so, wie ihn das Schreibabteilmädchen, als es hinauslief, hingelegt hatte.

DURCHSAGEZeit zwanzig null drei – bleibt Differenz zwei null eins – Ende.

Nur noch die Störungen sind zu hören.

Die Hand des Schreibabteilmädchens legt den Hörer auf.

Stille.

Das Mädchen bleibt still stehen und überlegt.

Bar

Fuchs steht unter dem Lautsprecher und horcht hinauf. Als der still bleibt, klopft Fuchs vergnügt gegen das Lautsprecherkästchen und wendet sich zurück zur Bar und klettert wieder auf seinen Hocker.

FUCHSWas haben Sie denn hier plötzlich für eine Welle im Draht? War ja so ziemlich sendereif.

BARMÄDCHEN»Strahlend die mit den roten Streifen« – ist ’ne Zahnpasta.

FUCHSIch dachte schon Generalstab.

Köhler erscheint und setzt sich auf den Hocker neben Fuchs. Er zeigt auf Fuchs’ Whiskyglas.

KÖHLERzum BarmädchenAuch so was, bitte.Zu FuchsWas war das eben?

FUCHSKeine Ahnung. Cocteau.

Waschraum

Das Schreibabteilmädchen schaut in den Spiegel und findet sich blass. Es lässt kaltes Wasser über die Hände laufen und trocknet sie wieder ab.

Es schaut wieder in den Spiegel, gefällt sich schon besser, reibt mit den Händen die Haut warm, grinst sich an, nickt sich zu, schminkt sich. Dann malt es mit dem Schminkstift ein Mondgesicht aufs Spiegelglas, dazu einen Hals und eine kleine Faust. Macht dann vor dem Spiegel, sich selbst ins Gesicht, eine freche Bewegung mit der Faust. Und geht hinaus.

Fahrgastraum

Wieder Friede im Abteil. Das Schreibabteilmädchen wird erst allmählich beachtet.

SCHREIBABTEILMÄDCHENVerzeihen Sie, meine Herrschaften … Ich … hat jemand von Ihnen hier eben etwas Ungewöhnliches bemerkt?

FRAU VON AASENSTEINWas war denn das eben, Fräulein?

SCHREIBABTEILMÄDCHENzum Barmädchen, das zusammen mit Fuchs und Köhler in der Bartür erscheintInge, du hast es doch auch gehört!

BARMÄDCHENWas?

SCHREIBABTEILMÄDCHENDie Durchsage.

BARMÄDCHENZahnpasta.

FUCHSin militärischem Ton»Bedenkenlos Punktzeit mit allen Mitteln auch gegen geringfügigen Widerstand.« – Peng – Peng! Zähne putzen, Leute.

Lachausbruch im Fahrgastraum.

SCHREIBABTEILMÄDCHENVielleicht sollte man doch den Zugführer verständigen, oder den Schaffner. Dort, die Dame, sagte vorhin »Vierhundertzwo – das sind wir.« Das stimmt.

HARTMANNSie sind doch hier zuständig für Briefe und Telefonate. Ich möchte telefonieren, erlauben Sie …

Hartmann geht mit dem Mädchen hinaus in Richtung Schreibabteil. In der Bartür stehen noch immer Fuchs und Köhler. Sie schauen dem Schreibabteilmädchen nach.

FUCHSEin hübsches Kind.

KÖHLEROrdnung muss sein, sagte der Kaplan und gab dem Kind ein Gesetz.

FUCHSNicht ungeschickt.

KÖHLERDenn das hat Tradition.

BEIDEUnd Tradition schafft Vertrauen!

Sie sehen sich zuerst erstaunt an und lachen dann.

KÖHLERWar das gekonnt?

FUCHSDas macht die Presse.

KÖHLERDie Macht der Presse.

FUCHSNa, bitte.

Sie gehen zurück in die Bar.

Schreibabteil

Das Schreibabteilmädchen reicht Hartmann den Telefonhörer.

SCHREIBABTEILMÄDCHENDa. Tot. Kein Ton.

HARTMANNDas kommt wohl auch sonst mal vor.

SCHREIBABTEILMÄDCHENNie.

HARTMANNKann man nichts machen. Höhere Gewalt.

SCHREIBABTEILMÄDCHENWie hoch?

HARTMANNverdutztWas?

SCHREIBABTEILMÄDCHENDie Gewalt. Ich mag keine höhere.

HARTMANNWas man nicht mag, passiert trotzdem. Die Macht des Menschen …

SCHREIBABTEILMÄDCHENschüttelt das Telefon. Horcht dannManchmal hilft das. – Nichts. Erst dürfen wir nicht in den Zug, dann sind die hinteren Abteile zugesperrt, dann diese Durchsage, und jetzt ist auch noch das Telefon kaputt. Ich geh’ mal zum Schaffner.

HARTMANNNein. Ich gehe. – Ich schlage vor, wir behalten die Sache mit dem Telefon für uns. Was sollen wir unnötig Unruhe machen im Zug. Finden Sie nicht auch?

Er geht hinaus.

Dienstabteil des Schaffners

Der Schaffner löst ein Kreuzworträtsel.

Hartmann tritt ein und beugt sich über die Schulter des Schaffners.

HARTMANNGar nicht so einfach, was?

SCHAFFNERWas kann ich für Sie tun?

HARTMANNMan muss aufpassen. Is’ ja’n Riesenrätsel!

SCHAFFNERUnd dann sitzt man manchmal trotzdem fest.

HARTMANNUnd mit Gewalt?

SCHAFFNERHier – »Verteidigungsfall« –, was soll das?

HARTMANNDas ist Neudeutsch. Wir nannten das früher Krieg. Probieren Sie mal: Krieg.

SCHAFFNERzählt die Kästchen ausK-R-I-E und G stimmt mit Globus. Die sind ja gut: Verteidigungsfall.

HARTMANNKlingt vernünftiger. Hören Sie nicht manchmal Nachrichten? Warum soll man den Leuten unnötig Angst machen. – Apropos Angst, da ist was mit dem Telefon drüben im Schreibabteil …

Fahrgastraum

Von nun an reden die Reisenden miteinander, tauschen Plätze, stellen sich in Gruppen zusammen, je nach Gang des Gesprächs.

Herr von Aasenstein hat noch immer die Augen geschlossen. Frau von Aasenstein, die nichts begreift, außer dass etwas los ist, nimmt ihre Katze und setzt sich zu Huber und Hansen.

FRAU VON AASENSTEINHaben Sie irgendetwas verstanden vorhin? Was war denn das? Gibt es Krieg? Mein Mann sagt, so was steht täglich in allen Zeitungen.

HUBERIhr Gatte hat vollkommen recht, gnä’ Frau. Kleine politische Tagesgeschäfte. – Aber was für ein reizendes Tier!Er streichelt die Katze.

FRAU VON AASENSTEINUnd er hat genau zugehört! Nicht wahr, mein Schatzi? Ach, Tiere verstehen so vieles – ohne ein einziges Wort.

HUBERSo ein Tier hat uns tatsächlich manches voraus.

FRAU VON AASENSTEINDas sagt mein Mann auch immer.

Während Engel, Steinhoff und Frau Steinhoff grinsend dem Tierdialog zuhören, wendet Hansen sich an Huber.

HANSEN»Schlagbolzenfederlänge nachprüfen durch Anschießen« – haben Sie gehört?

HUBERSie meinen die Durchsage?

HANSENDas kommt in der Geschützlehre vor.

HUBERUnd?

HANSENIst hinten im Zug Militär?

HUBERMilitär? Hinten im Zug? Wie kommen Sie darauf? Was hat die blöde Lautsprecherei mit den abgesperrten Abteilen zu tun?

FRAU VON AASENSTEINdie bei dem Wort »Militär« an die Manöverbälle ihrer Jugend denktMilitär?

HANSENWir wissen es natürlich nicht … aber … wir wissen nichts, natürlich … es fiel mir nur so ein …

STEINHOFFUnd selbst wenn! Erlauben Sie – wer hätte denn etwas gegen Militär hinten im Zug? So was macht uns doch nicht nervös.

HANSENIch habe ja gar nicht …

STEINHOFFNicht Sie, Entschuldigung, ich habe selbstverständlich nicht Sie persönlich gemeint.

Köhler kommt aus der Bar, tritt näher und hört zu.

STEINHOFFNun sehen Sie, wir beide –er zeigt auf Engel– machen seit sechs Jahren eine Zeitung, nutzen jede Gelegenheit, um zu sagen: Mal aufpassen, Leute! Mal hinten reingucken! Da fährt was mit!

HUBERflüsternd zu HansenKommunist!

KÖHLERWer bezahlt Ihre Zeitung?

HUBERdankbarSehr richtig!

KÖHLERzu HuberIch habe nicht behauptet. Ich habe gefragt.

STEINHOFFMeine Zeitung wird von ihren Lesern bezahlt.

KÖHLERDann werden Sie nicht weit kommen.

ENGELAha. Ein Mann vom Fach.

HUBERmit WürdeDer Herr ist von drüben. Geflohen.

KÖHLERmustert erstaunt seinen ungebetenen Anwalt HuberEs sieht so aus, als wäre man schon sehr gut bekannt miteinander.Zu EngelOffen gesagt: Ich wurde nicht verfolgt.

ENGELKeine Angst vor Gefängnissen?

KÖHLERDie gibt es hier auch!

ENGELNicht für uns.

KÖHLERGenügt Ihnen das?

ENGELMan tut, was man kann.

Kleine Pause.

KÖHLERmehr vor sich hinNein. Angst vor Verblödung.

FUCHSDie gibt’s hier auch!

KÖHLERWas tun Sie dagegen?

FUCHSMan tut, was man kann.

KÖHLERUnd was können Sie?

HANSENsteht auf und geht in Richtung SchreibabteilErlauben Sie bitte …

FRAU VON AASENSTEINsieht Hansen nachWas für ein schöner junger Mensch.

KÖHLEREs sind viele schöne junge Menschen in diesem Zug, gnädige Frau. Sie werden sehen: Das ändert nicht im Mindesten irgendetwas.

ENGELRichtig. Zum Beispiel konnten die schönen jungen Menschen bisher nicht klären, was hinten los ist.

KÖHLERUnd wie alt sind Sie selbst?

Hansen vor der versperrten Tür. Er zieht an den Griffen, stemmt sich mit aller Kraft gegen die Verriegelung. Er geht zum Waschraum und versucht, nach hinten zu horchen. Er klopft gegen die Wand. Er versucht, das Fenster zu öffnen. Es lässt sich nicht öffnen. Er entdeckt das Mondgesicht auf dem Spiegelglas, zieht es mit dem Finger nach, sieht den Finger an, riecht daran, grinst. Wendet sich wieder zum Fenster.

Fahrgastraum

Durch die Bartür kommen Hartmann, Fuchs und der Schaffner in den Fahrgastraum. Der Schaffner palavert, als sei er gespritzt.

SCHAFFNERAlso, meine Herrschaften: Es ist alles in Ordnung. Sie können ganz ruhig sein.

KÖHLERHaben Sie auch die Durchsage gehört?

SCHAFFNERSelbstverständlich. Ich habe gar nichts gehört. Und selbst wenn: Es kann sich nur um eine kleine technische Störung handeln. Ich habe meine Anordnungen, es ist alles in Ordnung.

ENGELWas sind das für Anordnungen? Wie ordnet sich, bitte sehr, in Ihren Anordnungen die Unordnung einer technischen Störung?

SCHAFFNERIch weiß genau, was Sie meinen, mein Herr. Wie gesagt. Es ist alles in bester Ordnung.

Er geht hinaus. In der Tür wendet er sich noch einmal um.

SCHAFFNERFehlt sonst irgendetwas?

HARTMANNVielleicht sprechen Sie mal mit der jungen Dame vom Schreibabteil. Sie macht sich Sorgen.

FUCHSHalt! Das übernehme ich.

Allgemeines Grinsen. Fuchs geht hinaus in Richtung Schreib­abteil. Schöne öde Ruhe im Abteil.

Schreibabteil

FUCHSAber warum denn immer so tierisch ernst?

SCHREIBABTEILMÄDCHENSie sind lieber tierisch lustig, was?

FUCHSNein, ehrlich, wir nehmen uns doch alle viel zu wichtig. Was kann denn unsereiner schon machen?

SCHREIBABTEILMÄDCHENSie reden wie Ihr eigener Vater.

FUCHSLachen Sie doch mal!

SCHREIBABTEILMÄDCHENÜber Sie?

FUCHSLos!

SCHREIBABTEILMÄDCHENSpäter. – Jetzt wollen wir mal zusammenzählen. Erst lässt man uns nicht in den Zug –

FUCHSAufhören!

SCHREIBABTEILMÄDCHENDann kommt das Gerede über die Lautsprecher –

FUCHSLachen!

SCHREIBABTEILMÄDCHENUnd dann sagt der Schaffner: Es ist nichts.

FUCHSNa und? – Ist vielleicht was?

SCHREIBABTEILMÄDCHENDas Telefon ist blockiert.

Fuchs nimmt lässig den Hörer ab, ist aber dann doch ein bisschen irritiert. Legt wieder auf, lächelt.

FUCHSIrgend’ne technische Störung. Weiß der Teufel.

SCHREIBABTEILMÄDCHENWeiß das der Teufel?

FUCHSstutztSo was wie Sie hat man früher verbrannt. Meistens hübsche Weiber.

SCHREIBABTEILMÄDCHENMacht es Ihnen eigentlich Spaß, es zu wissen – oder macht es Ihnen Spaß, es nicht zu wissen.

FUCHSEs macht mir Spaß, es nicht zu wissen.

SCHREIBABTEILMÄDCHEN»Widerstand brechen – entscheidende Wirkung erzielen – Aktion mit allen Mitteln.« Klingt das faul?

FUCHSLesen Sie nie Zeitung?

SCHREIBABTEILMÄDCHENDas ist was anderes. Ich arbeite nun mal hier. Ich möchte wissen, was los ist. Aber – Sie finden es nicht bedrohlich?

FUCHSSie sind neugierig. Das ist alles.

SCHREIBABTEILMÄDCHENSie sollten neugieriger sein. Das wäre mehr.

Fahrgastraum

HARTMANNHier im Zug sind ein paar kleine, unübersichtliche Dinge passiert. Uns allen ist nicht recht wohl bei der Sache. Aber: Dürfen wir deshalb schon eingreifen?

HANSENSchon?

HUBEREin bisschen mehr Vertrauen bitte.

HARTMANNRichtig. Alles andere ist allzu bald Anmaßung. Ich darf Sie zum Beispiel an das Mädchen erinnern …

HUBERVerhetzt natürlich. Unter günstigen Bedingungen fügt sich jeder normale Mensch.

HANSENUnd was sind »günstige Bedingungen«?

HUBEROrdnung, Sicherheit, Vergnügen im privaten Raum – vor allem das – und das Gleiche draußen am Arbeitsplatz.

HANSENWie machen Sie »Vergnügen am Arbeitsplatz«?

HUBERMeine Güte, uralte Sachen. Bunte Kittel, bunte Wände, kleine innerbetriebliche Wettkämpfe mit Abstimmung und Preisverteilung, hier ein kleiner Quizabend, da mal ein Betriebsausflug, für den Ehrgeizigen kleine Abendkurse über Jazz, Foto, sonst was – alles in allem schrecklich einfache Dinge. Ein bisschen Menschlichkeit und Pipapo, und schon strengt man sich wieder an, bleibt munter, ist beschäftigt, ist zufrieden. Im Grunde ist es völlig wurscht, was Sie machen – es klappt immer. Natürlich muss man den einfachen Mann überhaupt erst einmal ernst nehmen!

HARTMANNEben! Und wenn Sie mir mal ein Wort von meinem Standpunkt aus erlauben, vom Theologischen her: Gott liebt den einfachen Menschen. Das geht durch die gesamte Heilsgeschichte.

HANSENSolange einer schläft und er träumt herrliche heile Sachen – alles okay. Aber irgendwann wird’s ja auch mal hell. Hat er bei Nacht gelernt, was am Tage dran ist?

HUBERWas am Tage dran ist – das zu wissen, sind erfahrungsgemäß immer nur wenige befugt.

HANSENUnd wer fügt so was? Der Chef? Wer ist das zum Beispiel in unserem Fall?

HARTMANNIhre Nachdenklichkeit in Ehren, aber wir sind jedenfalls nicht befugt, über die Vorgänge in diesem Zug zu befinden. Wo kämen wir hin, wenn jeder x-beliebige …

HUBERViel einfacher: Wir haben bezahlt, wir haben einen Platz gekauft, und damit geht die Verantwortung an den Lieferanten unserer Plätze, an die Bahndirektion. Der Zugführer ist von unserem Fahrgeld gekauft. Da wären wir ja schwachsinnig, wenn wir ihm nicht seine Arbeit überließen. Sonst noch was?

HANSENMan wird neugierig. Das Mädchen eben …

HARTMANNHaben Sie ihren Blick beobachtet? Sie kann einen nicht gerade ansehen. Achten Sie mal darauf …

HERR VON AASENSTEINIch wollte eben in den Waschraum – aber man hat von hinten ein Fenster eingeschlagen – und auf den Spiegel hat man ein Zeichen geschrieben, mit einer Faust.

HARTMANNVon hinten? Wieso denn? Was soll denn das?

HUBERganz Tatmensch, steht auf Nachsehen. Ich hole den Schaffner.