Das Buch Ruth - Ilana Pardes - E-Book

Das Buch Ruth E-Book

Ilana Pardes

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Beschreibung

»Wo Du hingehst, da will auch ich hingehen, wo du bleibst, da bleibe ich auch« – Millionen Ehepaare wählen diesen Satz aus dem Buch Ruth zu ihrem Trauspruch. In diesem Buch von Ilana Pardes erfahren wir etwas über den religiösen und kulturellen Hintergrund dieses einen Satzes über viele Jahrhunderte. Die israelische Literaturwissenschaftlerin erklärt das rabbinische Lob Ruths als exemplarische Verwandlung und ihren moabitischen Hintergrund mit ihrer Erlösungskraft. Sie betrachtet die pastoralen Bilder Ruths in der französischen Malerei der frühen Moderne, auf denen sie Ährenbündel in der Hand hält. Aber auch zeitgenössische Darstellungen Ruths in der Literatur, der Fotografie und im Film als Fliehende und Vertriebene bezieht Pardes in ihre Betrachtung mit ein. Die vielfältige Wiederkehr von Ruth enthüllt nicht nur Wesentliches über die jeweiligen Zeiten, sondern beleuchtet auch den Ursprung: Das Buch Ruth in der Bibel.

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Seitenzahl: 324

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Cover for EPUB

Titel

Ilana Pardes

Das Buch Ruth

Geschichte einer Migration

Aus dem Englischen von Christa Krüger und Ursula Gräfe (Vorbemerkung)

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Ruth. A Migrant’s Tale bei Yale University Press, New Haven und London

eBook Jüdischer Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des Jüdischen Verlag 2022.

© der deutschsprachigen Ausgabe Jüdischer Verlag GmbH, Berlin, 2022© 2022 by Ilana Pardes

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagabbildung: James Tissot, Ruth bei der Nachlese (Ruth Gleaning), ca. 1896, Gouache auf Holz, The Jewish Museum, New York, Foto: bpk/The Jewish Museum of NY/Art Resource, NY/Kris Graves

eISBN 978-3-633-77485-2

www.suhrkamp.de

Das Buch Ruth

Geschichte einer Migration

Widmung

Für Keren und Eyal in Liebe

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Vorbemerkung

1

. Die Moabiterin

2

. Die Konvertitin

3

. Die Schechina im Exil

4

. Die bukolische Ährenleserin

5

. Die zionistische Pionierin

6

. In Amerika eine Außenseiterin

Nachlese

Danksagung

Bildnachweis

Anmerkungen

Informationen zum Buch

Vorbemerkung

Das Buch Ruth erzählt so ausführlich wie keine andere biblische Geschichte von weiblichen Lebenszusammenhängen, dennoch ist selbst dieser verhältnismäßig detaillierte Bericht erstaunlich knapp gehalten und somit kein Buch im eigentlichen Sinne. Es umfasst lediglich vier Kapitel und ist damit eher eine Kurzgeschichte oder eine sehr kurze Geschichte. Eine Biographie über Ruth zu schreiben, bedeutet also, selbst zur Sammlerin – zur Ährenleserin – zu werden, Fragmente und Hinweise aus den spärlichen, lückenhaften Szenen zusammenzustoppeln. Denn allen Auslassungen zum Trotz besitzt die hintergründige Geschichte der Ruth die bemerkenswerte Kraft, aus nur wenigen skizzenhaften Schilderungen das lebendige Porträt einer der faszinierendsten Gestalten der Bibel zu zeichnen.

Das Buch Ruth beginnt mit einer lakonischen Schilderung des Auszugs von Elimelechs Familie aus dem Land Juda nach Moab. Eine Hungersnot treibt sie dazu, in Moab nach Nahrungsquellen zu suchen. Ähnlich wie Abraham und Jakob, die in Zeiten des Hungers nach Ägypten zogen, wandert auch Elimelech in ein fremdes Land aus, um einen neuen Lebensunterhalt zu finden. Seine Frau Noomi und die beiden Söhne Machlon und Kiljon begleiten ihn. Aber die Geschichte ihrer Migration nimmt kein gutes Ende. Bald nach ihrer Ankunft stirbt Elimelech, zehn Jahre später kommen auch die beiden Söhne ums Leben. Ruth wird in dieser Vorrede zum ersten Mal neben Kiljons Ehefrau, der Moabiterin Orpa, als Machlons ebenfalls aus Moab stammende Frau erwähnt. Mehr Informationen über ihre Abstammung und ihren Hintergrund erhalten wir nicht. Der Midrasch füllt diese Lücke, indem er aus Ruth eine der Töchter Eglons, des Königs von Moab, macht und sie so zur Prinzessin erhebt. In der Bibel selbst spielt Ruths Vergangenheit in Moab keine Rolle. Noch auffälliger ist, dass Ruths Ehe mit Machlon und ihre gemeinsamen kinderlosen Jahre keine Erwähnung finden. Ruth könnte so verzweifelt gewesen sein wie die unfruchtbare Rahel, als sie Jakob anschrie: »Verschaff mir Söhne! Wenn nicht, sterbe ich.«1 Doch die Geschichte hält sich weder mit Ruths Eheleben auf, noch verrät sie etwas über ihre Reaktion auf den Tod ihres Mannes. Stattdessen geht die Vorrede in eine weitere Migrationsgeschichte über – hier beginnt das Drama, das nun in die entgegengesetzte Richtung von Moab nach Bethlehem führt.

Ruth betritt erst die Bühne, als sie ihr Zuhause und ihre Heimat verlässt, um sich auf den Weg in das ihr völlig fremde Land Juda zu machen. Ihre Migration ist so radikal wie Abrahams Aufbruch nach Kanaan, wenn auch von ganz anderer Art. Kein Gott ruft Ruth und verlangt von ihr wie aus dem Nichts, ihre angestammte Heimat zu verlassen. Sie bricht aus eigener Initiative auf, und ihr oberstes Ziel ist nicht, Gott zu gehorchen, sondern Noomi beizustehen. Mit bemerkenswertem Gespür macht Ruth die liebende Güte chesed2 zu ihrem Leitmotiv und erklärt sich bereit, alle Gefahren auf sich zu nehmen, um ihrer verarmten unglücklichen Schwiegermutter in die Fremde zu folgen.

Die Geschichte von Ruths Migration ist eine Ausnahme in der Bibel. Die großen Narrative vom Auszug in der Genesis und im Buch Exodus werden von männlichen Charakteren bestimmt. Hier steht jedoch eine Frau im Mittelpunkt, und die Eigenarten eines Migrantinnenlebens werden mit besonderer Anschaulichkeit geschildert. Wir folgen Ruth durch die verschiedenen Stadien ihrer Wanderschaft, angefangen mit dem Moment, in dem sie Moab als kinderlose Witwe verlässt und die Entscheidung trifft, sich Noomi anzuschließen, bis hin zu dem mühevollen Prozess der Eingewöhnung in Bethlehem, der mit ihrem Kampf ums Überleben als Ährenleserin auf den Gerstenfeldern beginnt und mit ihrer Heirat mit dem »einheimischen« Boas und der Geburt ihres Sohnes Obed endet.

Noch außergewöhnlicher an Ruths Geschichte ist der Umstand, dass sie Moabiterin ist. Eine Frau aus Moab wird nach ihrer Übersiedlung nach Bethlehem nicht nur ein Mitglied des Volkes Israel, sondern auch zur Ahnfrau König Davids. Diese dramatische Veränderung von Ruths Status ist eines der Rätsel ihrer Biographie: Wie konnte eine Fremde zur Begründerin der Dynastie Davids werden? Was ist ihr Zauber? Was macht sie unersetzlich?

Ruths Leben spielt »zu der Zeit, als die Richter richteten« (Ruth 1,1).3 Die »Richter«, die schoftim, sind Stammeshäuptlinge, die in der vormonarchischen Zeit herrschten, vermutlich vom 13. bis zum 11. Jahrhundert v.u.Z. Ungeachtet dieser historischen Einordnung im ersten Vers des Buches Ruth stellt sich die Frage, ob Ruth eine historische oder eine fiktive Gestalt ist. Es gibt keine archäologischen Funde oder außerbiblischen Texte, die ihre Existenz bestätigen würden. Dieser Mangel an Beweisen belegt jedoch nicht, dass es auf den Feldern von Bethlehem nie eine Ruth gegeben hätte. Es ist kaum vorstellbar, dass ein Schriftgelehrter es gewagt hätte, ohne jede historische Grundlage eine Moabiterin als Vorfahrin an den Anfang der Dynastie Davids zu setzen. Doch ob Ruth nun eine historische Figur war oder nicht, das Buch Ruth behandelt sie als solche. Der Gott Israels offenbart sich in der Geschichte und setzt seinen Plan mithilfe realer Menschen sowie auch gegen sie durch. Die Bibel ist geprägt von historischen Impulsen, auch wenn sich diese gewiss von unserer modernen Vorstellung von Geschichtsschreibung unterscheiden.

In der Bibel geht Geschichtsschreibung Hand in Hand mit Literatur, und die Erzählung ist der vorherrschende Modus bei der Aufzeichnung vergangener Ereignisse. Merkmale, die heute als Domäne der Literatur gelten – wie eine ausführliche Betrachtung zwischenmenschlicher Beziehungen, die Schilderung von Gesprächen, die niemand bezeugen kann, Gedanken und Gefühlsäußerungen –, sind im biblischen Kontext entscheidend für das Verständnis historischer Wirklichkeit.4 Martin Buber erklärt in einem Kommentar zu den Bibelwissenschaftlern, die auf einer Unterscheidung zwischen Fakten und Legenden in der Moses-Geschichte bestehen, derartige Bemühungen für vergeblich. Statt zu versuchen, eindeutige Grenzen zwischen Historie und Literatur zu ziehen, plädiert Buber dafür, die Macht der Erfahrung eines tatsächlichen Gründungsereignisses oder die tatsächliche Begegnung mit einer herausragenden historischen Figur bei der Entstehung von Literatur zu berücksichtigen. Dichtung und Sage mögen weit von der historischen Wahrheit entfernt sein, bewahren aber tatsächlich auf ganz eigene Weise die Erinnerung an die erste spontane Gefühlsreaktion auf die unerwartete Natur eines historischen Ereignisses oder einer Person.5 Wir kennen ähnliche Phänomene auch aus späteren Zusammenhängen. Abraham Lincoln, Theodor Herzl und Mahatma Gandhi sind historische Persönlichkeiten, dennoch haben sie in unserem kulturellen Gedächtnis den Status von Legenden. Auch wenn Ruth in ihrem historischen Umfeld keine Anführerin oder Richterin war, hatten vielleicht diejenigen, die ihr begegneten, den Eindruck, ihr Leben sei so außergewöhnlich und bedeutsam, dass ihre Geschichte weitergegeben werden sollte.6

Die Verknüpfung von Ruth mit der Zeit der Richter ist einigermaßen sonderbar, denn ihre Geschichte scheint in starkem Gegensatz zur Darstellung dieser Epoche im Buch der Richter zu stehen. Der bekannteste und wiederkehrende Vers darin lautet: »Jeder tat, was in seinen Augen recht war«. Die Epoche galt als eine Zeit, in der Gesetzlosigkeit und Unfrieden herrschten. Ad-hoc-Stammeshäuptlinge, die schoftim, versuchten willkürlich, den losen Verband der hebräischen Stämme vor ihren Feinden zu schützen, doch selbst nach der siegreichsten Schlacht hielt sogleich wieder das Chaos Einzug. Das Buch Ruth bietet mit seiner singulären Atmosphäre der Güte eine menschlichere Alternative oder vielleicht sogar einen Blick auf ein anderes Kapitel innerhalb dieser Umstände. Wir betreten Bethlehem zur Erntezeit, nicht der Schatten eines Feindes ist in Sicht. Die Menschen auf den Feldern grüßen einander mit Respekt, und Rechtsangelegenheiten werden friedlich am Stadttor geregelt.

Im Buch Ruth gibt es keine Schurken. Tatsächlich ist die überzeugende Darstellung guter Menschen eine seiner erstaunlichen literarischen Leistungen. Sie zeigt eine Ausnahmewelt, in der chesed – die Güte – als wünschenswertes Prinzip menschlicher Beziehungen hervorgehoben wird. Ruth besticht als Hauptvertreterin dieses Prinzips und wird immer wieder dafür gepriesen. Auch andere Charaktere werden als gütig und barmherzig geschildert. Selbst Orpa, die im Gegensatz zu Ruth beschließt, nach Moab zurückzukehren, statt ihrer Schwiegermutter nach Bethlehem zu folgen, wird nicht negativ dargestellt. Noomi dankt ihr für chesed und Fürsorge und drängt sie, ins Haus ihrer Mutter zurückzukehren. Orpa ist ein guter Mensch, nur weniger gut als Ruth. Auch Gott spielt eine entscheidende Rolle bei der Förderung von chesed, bleibt jedoch hinter den Kulissen. Er ist keine handelnde Figur, und seine Stimme ist nicht zu hören. Vor allem menschliches Handeln und menschliche Güte bestimmen die Dramaturgie des Buches Ruth.

Toni Morrison weist 2012 in einem Vortrag zum Thema »Goodness« darauf hin, dass »die zeitgenössische Literatur nicht an Güte in größerem oder auch nur begrenztem Umfang interessiert ist. Sobald sie in Erscheinung tritt, hält sie einen Entschuldigungszettel in der Hand und hat Mühe, ihren Namen auszusprechen.«7 Morrison kritisiert diese Tendenz und verweist auf Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts, die keine Hemmungen hatten, sich mit dem keineswegs reizlosen Leben guter Menschen zu beschäftigen. Seltsamerweise unterscheiden sich die biblischen Geschichten in ihrem Argwohn gegenüber dem Guten gar nicht so sehr von der modernen Literatur. Viele von ihnen handeln von Eifersucht, Betrug und Gewalt. Jakob betrügt seinen Bruder Esau und seinen Vater Isaak, um an das Erbe zu kommen; Lea und Rahel liefern sich einen erbitterten Kampf um Jakobs Liebe; Josef wird von seinen Brüdern in eine Zisterne geworfen; David schickt Uria in den Tod, um seine Affäre mit Batseba zu vertuschen. Die nachdrückliche Betonung des Guten in Ruths Geschichte bildet eine seltene Ausnahme von der Regel. In gewisser Weise ist Ruth eine Vorläuferin von Herman Melvilles Billy Budd und mehr noch von George Eliots Dorothea, der Protagonistin von Middlemarch, deren bedingungslose Hingabe an ihren Mann Casaubon einer der fesselndsten Aspekte des Romans darstellt. Gute Charaktere sind weder makellos noch ist ihr Leben notwendigerweise weniger elend oder frei von Wechselfällen, dennoch verfügen sie über ein einzigartiges Leuchten, eine eindrucksvolle Großzügigkeit, die alle um sie herum in ihren Bann zieht – selbst diejenigen, die ihre Anziehungskraft zu leugnen versuchen.

Wann diese Geschichte der chesed verfasst wurde, bleibt ein Mysterium. Dass sie in den Tagen der Richter spielt, bedeutet nicht, dass sie auch in dieser Zeit geschrieben wurde. Der Stammbaum am Ende des Buches, der mit dem Hinweis auf König David schließt, deutet auf eine weit spätere Entstehungszeit hin. Zahlreiche moderne Gelehrte sehen im Buch Ruth einen im 5. Jahrhundert v.u.Z. verfassten Protest gegen die damalige von Esra und Nehemia propagierte Ablehnung fremdstämmiger Ehefrauen. Sie stützen sich dabei auf linguistische Indizien – das Auftreten bestimmter Wörter aus späteren Schichten des biblischen Hebräisch – sowie auf den Inhalt, das heißt die positive Darstellung einer Ausländerin. Allerdings weist diese Methode der Datierung gewisse Tücken auf. Die sprachlichen Belege bezeugen die Zeit der Endredaktion, dennoch könnten frühere Versionen der Geschichte Ruths bereits in der vormonarchischen Zeit oder während der Herrschaft König Davids in Umlauf gewesen sein.8 Überdies kann die Verknüpfung einer angenommenen Ideologie des Textes mit einer bestimmten historischen Situation nicht ausschlaggebend sein. Die Ablehnung von Mischehen und ausländischen Frauen findet sich in einer Reihe von biblischen Texten in unterschiedlichen historischen Zusammenhängen. Der Text könnte in der Zeit von Esra und Nehemia verfasst worden sein, doch muss dies nicht zwingend der Fall sein. Jeder Versuch, das Buch Ruth mit eindeutigen politischen Absichten zu verknüpfen, ist ebenso fragwürdig, wie das Buch Samuel als entweder pro-davidisch oder anti-davidisch definieren zu wollen. Statt eine bestimmte Idee zu propagieren, bietet das Buch Ruth eher einen aufschlussreichen Bericht über das Leben einer Migrantin und verzichtet wie jede profunde Betrachtung menschlicher Daseinszustände auf Idealisierung. Ruth ist, wiewohl eine Fremde, bemerkenswert positiv dargestellt, dennoch ist die Geschichte nicht frei von Ambivalenzen. Die Menschen in Bethlehem heißen Ruth zwar willkommen, doch lauert im Hintergrund stets der Schatten ihrer Herkunft aus Moab. Die Akkulturation hat Grenzen.

Nicht nur die Entstehungszeit des Buches Ruth ist unbekannt, sondern auch die Identität seines Autors oder seiner Autoren. Eine talmudische Überlieferung schreibt die Autorschaft dem Propheten Samuel zu, während sich in der modernen Forschung eine Vielzahl von Ansichten und Theorien findet. Neben der Vermutung, der Verfasser sei ein Befürworter von Mischehen in der Zeit Esras und Nehemias gewesen, gibt es eine Theorie, die aus Ruths Geschichte die Stimme einer »klugen Frau« (analog zur »klugen Frau« aus 2 Sam 14,2)9 herauszuhören glaubt. Wieder andere Wissenschaftler vermuten, dass es vor der schriftlichen Fixierung eine mündliche, von Geschichtenerzählerinnen überlieferte Version gab. Auch wenn Frauen nicht zu den Bibelschreibern gehörten, könnten mündlich von ihnen weitergetragene Inhalte in den Kanon eingedrungen sein.10 Der beträchtliche Raum, den die Geschichte der weiblichen Perspektive einräumt, stützt die These, das Buch Ruth sei ein Produkt weiblicher Vorstellungskraft, dennoch bleibt sie (wie überzeugend auch immer) spekulativ. Die Macht großer Schriftstellerinnen und Schriftsteller zeigt sich häufig in ihrer Fähigkeit, Grenzen zu überschreiten und in Gefilde einzutauchen, die jenseits ihres unmittelbaren Erfahrungshorizonts liegen. Dies gilt auch für Geschlechtergrenzen: Gustave Flaubert scheute sich nicht, Madame Bovarys Welt in allen Einzelheiten zu beschreiben, und Virginia Woolf schilderte ihren Orlando sowohl in Gestalt eines Mannes als auch in der einer Frau.

Die Aufgabe einer Biographin besteht in der Regel darin, aus einer Fülle von Dokumenten die relevantesten auszuwählen und aus bekannten und bisher unbekannten Quellen eine neue Geschichte zu entwickeln. Eine Biographie der Ruth zu verfassen ist ein eher ungewöhnliches Unterfangen. Die einzige Primärquelle hierfür ist das Buch Ruth, dessen Datierung und Autorschaft nicht genau zu bestimmen ist. Auf was wir jedoch zurückgreifen, ist ein weitreichendes Netz von Verbindungen zwischen Ruth und anderen biblischen Figuren, durch das sich ihr Porträt verdichten lässt. Keine Gestalt der Bibel ist eine Insel. Jede ist untrennbar mit anderen Figuren verknüpft – nicht nur durch familiäre Beziehungen, sondern auch durch wiederkehrende Muster. Ruths Schicksal ist in erster Linie an das ihrer Schwiegermutter Noomi gebunden, aber in ihrer Biographie finden sich auch Spuren aus den Lebensgeschichten von Frauen aus ferner Vergangenheit. Im letzten Kapitel des Buches Ruth segnen die Ältesten die junge Frau am Stadttor als eine, die dazu bestimmt ist, in die Fußstapfen der Stammmütter Rahel und Lea sowie der Tamar zu treten. Aber nicht allein der Segen weist auf ihre Zukunft. In verschiedenen der Zeremonie am Tor vorangehenden Szenen wird Ruth bereits, wenn auch nur implizit, in Beziehung zu den drei weiblichen Gründerfiguren der Genesis gesetzt. Andere Verbindungen sind nicht so offenkundig, so die zwischen Ruth und Lots Tochter, ihrer berüchtigten Vorfahrin aus Moab, die nach der Zerstörung Sodoms (mithilfe ihrer Schwester) den eigenen Vater verführte. Eine weitere Andeutung beschwört eine Analogie zwischen Ruths Wanderschaft und der Abrahams. Auch zwischen Ruth und dem Migranten Josef besteht eine vage Affinität.

Ich beginne meine Biographie mit einer gründlichen Lektüre, oder besser gesagt, einer Nacherzählung des Buches Ruth. Sie konzentriert sich auf die dramatischen Eigenschaften der Geschichte mit ihren lebendigen Dialogen, die an zentraler Stelle die jeweils dominanten Handlungsfiguren charakterisieren. Ich folge den berichteten Einzelheiten, widme jedoch dem, was zwischen den Zeilen steht, ebenso viel Aufmerksamkeit. Zwischen Offenkundigem und Unausgesprochenem oszillierend, sondiere ich das gesamte Netz der Verbindungen zwischen der Geschichte der Ruth und den Erzählungen anderer biblischer Gestalten. Berücksichtigt werden auch Bezüge zum Gesetzescorpus der Bibel und zum komplexen Geflecht der verschiedenen Rechtsinstitutionen – von der gesetzlichen Regelung der Nachlese über das Levirat bis zum Gesetz der Erlösung. Die Einbettung dieser Gesetze in die Erzählung Ruth lässt den Text weder trocken noch technisch erscheinen, sondern verleiht der Geschichte Farbe.

Meine besondere Aufmerksamkeit gilt der nuancierten Darstellung von Ruths Leben als Migrantin. Damit widme ich mich einem Thema, das mir für die Belange des 21. Jahrhunderts besonders dringlich erscheint. Die uralte Geschichte der Ruth bietet meiner Ansicht nach einen überaus reichen Fundus für die Erforschung von Migrationserfahrungen, die heute weiterhin ungebrochene Relevanz besitzen – das qualvolle Gefühl von Entwurzelung, das Ringen um einen Lebensunterhalt im fremden Land, die zum Überleben notwendige Widerstandskraft und Kühnheit, das Heimweh und die Suche nach einem Neuanfang. Es ist jedoch nicht mein Ziel, historische Unterschiede einzuebnen. Ich möchte den spezifischen Bedingungen von Migranten, und insbesondere von Migrantinnen, im biblischen Zusammenhang nachgehen. Dabei verwende ich im Zusammenhang mit der biblischen Ruth absichtlich den Begriff »Migrantin« statt »Immigrantin«. »Migration« ist ein weiter gefasster Begriff, der nicht nur mit modernen Nationalstaaten assoziiert wird, und scheint daher den biblischen Figuren angemessener.

Der größte Teil dieser Biographie dreht sich jedoch um die Rezeption der Erzählung. Über die Jahrhunderte waren zahlreiche Menschen unterschiedlicher kultureller und religiöser Herkunft so fasziniert von der Figur der Ruth, dass sie beschlossen, sie neu zu interpretieren. So werden wir uns auch mit einigen besonders fesselnden Bearbeitungen ihrer Geschichte beschäftigen. Ruth erscheint als Konvertitin im Midrasch, als Schechina im Exil im Sohar, als ländliche Ährenleserin in der französischen Malerei, als Pionierin im frühen Zionismus und als paradigmatische Fremde und Ausgestoßene in verschiedenen Darstellungen des 20. und 21. Jahrhunderts. Walter Benjamin erklärt in seinen Überlegungen zu »Leben« und »Fortleben« eines Textes: »Denn in seinem Fortleben, das nicht so heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung und Erneuerung des Lebendigen wäre, ändert sich das Original.«11 Durch seine Verwandlung – oder vielmehr seine ständigen Verwandlungen – wird ein Text wieder lebendig und erhält neue Bedeutungen, von denen einige für vorherige Generationen unvorstellbar gewesen wären. Benjamin spricht die Frage des Fortlebens im Kontext der Übersetzung an. Obwohl es bei ihm um die Beziehung zwischen einem Original und seinen Übersetzungen geht, sind seine Beobachtungen auch für das Fortleben von Figuren von Relevanz. Sobald Ruth in einem neuen historischen Kontext eine Rolle spielt, erfährt ihre vorherige Biographie eine kulturelle Anverwandlung. Im Sinne Benjamins lässt sich sagen, dass die zahlreichen Facetten von Ruths Fortleben nicht nur viel über ihre eigene Zeit verraten: Sie beleuchten auch den biblischen Text, verwandeln, erneuern und erweitern die Rätsel im ursprünglichen Leben der altehrwürdigen Ährensammlerin.

Auch bei einem Streifzug durch Ruths Fortleben bleibt die Frage der Migration im Zentrum. Bei der Auslegung jeder Szene, die uns am Wegesrand begegnet, werden die wechselnden Perspektiven auf Ruths Stellung als Fremde in Augenschein genommen. Untersucht werden soll die Bemühung der Rabbinen, Ruths fremde Herkunft einzuhegen, indem sie zu einer mustergültigen Konvertitin wird, und die beharrliche Behauptung im Sohar, Ruths Herkunft aus Moab sei für ihre Erlösungskraft als Verkörperung der Schechina entscheidend. Wir sehen uns pastorale Gemälde von der antiken Ährensammlerin in der französischen Kunst der frühen Neuzeit und der Moderne an, die Ruths fremde Herkunft herunterspielen oder gänzlich verschleiern. Wir folgen der europäischen Ährenleserin, die Anfang des 20. Jahrhunderts als Pionierin auf die Felder Zions zieht.

Die beiden letzten Kapitel sind der Rezeption von Ruths Geschichte in Israel und den Vereinigten Staaten gewidmet und diskutieren modernistische und zeitgenössische Lesarten in Literatur, Fotografie und Film, die Ruths buchstäbliche und übertragene Wandlungen in den Vordergrund stellen und als Teil ihres ästhetischen und ethischen Erbes betrachten. Sie sind Positionen gewidmet, die ihr Augenmerk auf die migratorische Dimension der Erzählung richten und damit näher an meiner eigenen sind. Auch wenn ich diesen mehr Raum verleihe, liegt es nicht in meiner Absicht, die Berechtigung vorheriger Ansätze in Zweifel zu ziehen. Jedes Fortleben hat angesichts der wechselnden Bedingungen oder Krisen, die es erzwingen, seinen eigenen Reiz. Eine Erkundung der langen Auslegungsgeschichte des Buches Ruth ermöglicht eine historisch-kritische Betrachtungsweise und ein tiefer gehendes Verständnis aktueller Deutungen. Vor allem jedoch gestattet uns das Eintauchen in die vielfältige Überlieferung die wunderbare Freiheit, Ruth, die Moabiterin, zu neuem Leben zu erwecken.

1. Die Moabiterin

In der ersten Szene des Dramas sind drei Frauen, Noomi, Ruth und Orpa, unterwegs auf der Straße zwischen Moab und Bethlehem. Einzelheiten über das Aussehen oder die Kleidung dieser Frauen erfahren wir nicht. Vermutlich gingen sie in Lumpen, denn sie waren verarmt und auf dem Weg nach Bethlehem, um nicht zu verhungern. Die üblichen biblischen Zeichen für Wohlstand, lastentragende Esel und Knechte, fehlen in dieser Szene. Wie lange die Frauen unterwegs waren, ob sie mit anderen Reisenden sprachen, wissen wir nicht. Sie müssen einen außergewöhnlichen Anblick geboten haben. In biblischen Zeiten waren Frauen nur in äußersten Notlagen allein unterwegs. Die Straße war Männern vorbehalten. Wo genau befanden sich die drei, als sie miteinander sprachen? Das erfahren wir nicht. Statt uns eine erklärende Einführung zu geben, schildert die Geschichte eine Krise. Wir können uns vorstellen, dass die drei Frauen einen Augenblick lang innehalten, als Noomi zu sprechen beginnt. In schwerer Sorge um ihre Schwiegertöchter will sie offenbar nicht, dass die beiden sie weiter nach Bethlehem begleiten, und drängt sie, nach Moab zurückzukehren:

Geht hin und kehrt um, eine jede ins Haus ihrer Mutter! Der HERR tue an euch Barmherzigkeit, wie ihr an den Toten und an mir getan habt. Der HERR gebe euch, dass ihr Ruhe findet, eine jede in ihres Mannes Hause! Dann küsste sie die beiden. Da erhoben sie ihre Stimmen und weinten und sprachen zu ihr: Wir wollen mit dir zu deinem Volk gehen. Aber Noomi sprach: Kehrt um, meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir gehen? Wie kann ich noch einmal Kinder in meinem Schoße haben, die eure Männer werden könnten? Kehrt um, meine Töchter, und geht hin; denn ich bin nun zu alt, um wieder einem Mann zu gehören. Und wenn ich dächte: Ich habe noch Hoffnung!, und diese Nacht einem Mann gehörte und Söhne gebären würde, wolltet ihr warten, bis sie groß würden? Wolltet ihr euch einschließen und keinem Mann gehören? Nicht doch, meine Töchter! Mein Los ist zu bitter für euch, denn des HERRN Hand hat mich getroffen. (Ruth 1,8-13)1

Es hat keinen Sinn, sich einer alten Witwe anzuschließen, deren Schoß »leer« ist, gesteht sich Noomi unerbittlich ein. Die Söhne, die sie geboren hat, sind tot, und für einen Neuanfang ist sie zu alt. Einen Augenblick lang lässt sie ihrer Phantasie freien Lauf und stellt sich vor, noch in der gleichen Nacht einen neuen Mann zu finden und neue Söhne zu gebären. Aber dann zerstört sie das Traumbild und fragt ihre Schwiegertöchter, ob sie wirklich so absurd lange warten würden, bis diese imaginären Söhne erwachsen wären. Sie bereut, dass sie sich anfangs die Begleitung der jungen Frauen gewünscht hatte, und dankt ihnen jetzt für ihre Barmherzigkeit, die chesed, und bittet sie dringend, wieder nach Moab, in die Heimat ihrer Mütter, zurückzukehren. Sie ist physisch und psychisch am Ende und hat nichts mehr zu bieten. Ihre schonungslosen rhetorischen Fragen sollen alle Hoffnungen auf eine bessere Zukunft am Ziel dieser Reise zerschlagen. Noomi macht deutlich, dass die Migration in ein unbekanntes Land das Elend nur vergrößern und die Aussichten, dort heimisch zu werden und neue Familien zu gründen, verringern würde.

Die emotionale Intensität dieser Szene nimmt zu, als Ruth und Orpa laut weinen (Ruth 1,14). Sie weinen wohl über die Verluste und die Not, die sie teilen, aber sie weinen auch bei dem Gedanken, dass ihnen noch einmal eine Trennung bevorsteht. Orpa befolgt am Ende Noomis Rat und kehrt nach Moab zurück. Ihr Name orpa (in dem das Wort oref, »Nacken« mitschwingt) scheint auf ihren Entschluss zur Rückkehr hinzudeuten. Aber Orpa ist durchaus nicht herzlos, sie entscheidet sich nur für den Weg, der in einer Männerwelt üblich und vernünftig ist, denn in dieser Welt gehört eine Witwe zu den hilflosesten der unterprivilegierten Menschen; sie steht auf einer Stufe mit den Fremden und den Waisen.2 Auch heute mag das Leben als Witwe schmerzlich sein, schließt aber nicht notwendig den Verlust von Einkommen und Status ein. Im Kontext der Bibel ist eine Witwe jedoch per definitionem sozial und ökonomisch schutzlos. Witwe und Ausländerin zu sein, ist ohne Zweifel noch schlimmer.

Anders als Orpa lässt Ruth sich nicht abschrecken von der Aussicht auf das doppelte Unglück, das nach der Migration ins Land Juda womöglich auf sie wartet. Sie wählt den »weniger begangenen Pfad« und bleibt bei ihrer notleidenden Schwiegermutter. Ihre chesed ist offenbar mehr als die Barmherzigkeit und die Güte, die wir gewöhnlich mit dem Begriff verbinden. Die Bedeutung des Namens Ruth – hebräisch Rut – ist nicht ganz geklärt. Möglich ist eine Verbindung zum Begriff re’ut, »Freund« oder, genauer, »Gefährtin«, sodass der Name auf Ruths einzigartigen Charakter hinweist.3

Der Treueschwur auf dem Weg zwischen Moab und Bethlehem

In diesem spannungsreichen Augenblick auf der Straße, als die beiden Schwägerinnen in entgegengesetzten Richtungen weitergehen, wird Ruth als individuelle Persönlichkeit präsentiert und spricht zum ersten Mal in eigener Sache. Ihre Worte sind so voller Leidenschaft und unbeugsamer Kühnheit wie keine andere Zeile der Erzählung:

Bedränge mich nicht, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will auch ich hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der HERR tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden. (Ruth 1,16-17)

Ruths bewegender Treueschwur, sehr bekannt und reichlich zitiert, ist inzwischen womöglich so abgegriffen, dass seine Schönheit und Kraft kaum noch bemerkt werden. Vorher hatten Ruth und Orpa mit einer Stimme gesprochen (Ruth 1,10), aber jetzt, da ihre Schwägerin gegangen ist, klingt Ruth anders – sie wechselt von Prosa zu Dichtung und verwendet parallel gebaute Sätze (Parallelismus ist die häufigste Form biblischer Poesie). Das Einfügen kurzer poetischer Passagen in eine Bibelerzählung unterstreicht oft einen herausragenden Moment, eine dramatische Szene, die besondere Aufmerksamkeit verlangt.4 Ruths Gelöbnis ist ein solcher Moment. Der feierliche Parallelismus zu Beginn »Wo du hingehst, da will auch ich hingehen« bestimmt mit seiner rhythmischen Kraft und emphatischen Wiederholung den Ton der Rede. Ruths Entschluss, Noomi zu begleiten, ist bedingungslos. Das heißt, sie wird bei Noomi bleiben, auch wenn die Schwiegermutter keine rechte Unterkunft in Bethlehem findet, sie wird sich sogar dem Volk und dem Gott ihrer Schwiegermutter anschließen. Nur der Tod wird die beiden scheiden, in gewisser Weise nicht einmal er, denn Ruth ist entschlossen, selbst im Grab ihrer Schwiegermutter nahe zu sein.

Ohne ein Bekenntnis zu Noomis Gott und Volk hätte Ruths außergewöhnlicher Schwur ihr das Tor zu Bethlehem jedoch nicht geöffnet. In heutigen Migrations-Szenarien werden potenzielle Immigranten von Beamten ihres Gastlandes peinlich genau befragt, bis sichergestellt ist, dass sie die geforderten Bedingungen erfüllen. Die Heirat mit einem Bürger des Gastlandes gilt häufig als gangbarer Weg. Im Bibeltext ist die Aussicht auf Einbürgerung durch Heirat eher fragwürdig. Mischehen werden gewöhnlich verurteilt, vielleicht gibt es deshalb keine offiziellen Richtlinien. In der Praxis gilt eine Mischehe allerdings oft als zulässig – etwa Moses Ehe mit der Midianiterin Zippora oder gar Davids Tross fremdländischer Ehefrauen. Die implizite Voraussetzung dafür ist offenbar, dass ausländische Ehefrauen die monotheistische Basis des Lebens akzeptieren und bereit sind, ihre kulturelle Vergangenheit aufzugeben.

Die Töchter der Moabiter haben in dieser Hinsicht einen zweifelhaften Ruf. Als die Israeliten auf ihrer Wanderschaft endlich die Hochebenen Moabs erreichten und an der Schwelle zum Gelobten Land standen, »fing das Volk an zu huren«, mit Moabiterinnen, von denen sie verführt wurden, an Opfermahlen zu Ehren des kanaanitischen Götzen Baal-Peor (4 Mose 25,1) teilzunehmen. Unter dem Einfluss der verlockenden Töchter der Moabiter, die man am Ende der Wüste entdeckt hatte, »hängte« (vayitsamed) sich Israel an das Götzenbild. Ruths Verhalten ist das genaue Gegenteil dessen, was ihre moabitischen Vorläuferinnen im 4. Buch Mose taten. Als Ruth über die Grenze zwischen Moab und Juda geht, entscheidet sie sich für Noomis Gott und Volk und besteht die Aufnahmeprüfung ins Land Juda.5

Ruth ist als Schwiegertochter und als Migrantin vorbildlich, aber Noomi reagiert nicht auf Ruths staunenswerten Treueschwur. Statt Ruth zu umarmen und ihre Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, schweigt sie, sagt kein einziges Wort. Biblische Gestalten sind, wie Robert Alter feststellt, »oft nicht vorhersehbar, in gewisser Weise undurchschaubar, sie tauchen im Halbschatten der Mehrdeutigkeit abwechselnd auf und unter«.6 Ein Wunder biblischer Geschichten besteht darin, dass sie uns einladen – oder besser, von uns verlangen, Verschwiegenes zu erkunden sowie divergierende mögliche Erklärungen für Motive und emotionale Reaktionen zu bedenken. Der Erzähler biblischer Geschichten ist allwissend, aber wir, die Leser, sind es nicht. Figuren in diesen Geschichten müssen wir genauso allmählich kennenlernen wie Menschen in unserem täglichen Leben – durch andauernde Konjekturen. Womöglich zeigt Noomis Entscheidung, auf der Straße nicht weiter mit Ruth zu sprechen, ihren inneren Zwiespalt. Sie schätzt ihre Schwiegertochter, aber vielleicht möchte sie Ruth nicht mehr an ihrer Seite haben. Ist Noomi jetzt, da sie Bethlehem näher kommen, in Sorge, weil Ruth aus Moab stammt? Fürchtet sie die Reaktion der Leute in Bethlehem auf ihre fremdländische Schwiegertochter?7 Vielleicht. Aber das ist nicht die einzig mögliche Interpretation. Wir können genauso gut annehmen, dass ihr Schweigen Ausdruck ihrer tiefen Melancholie ist. Noomi in ihrem Unglück mag meinen, dass sie das Mitgefühl ihrer Schwiegertochter nicht verdient, oder vielleicht kann sie sich nicht mehr über das große Geschenk von Ruths chesed freuen. Diese verschiedenen Lesarten schließen einander nicht aus: Noomi könnte zwiespältig und melancholisch, liebevoll und verschlossen zugleich sein. Wie auch immer, die beiden Frauen wandern gemeinsam weiter Richtung Bethlehem, und Noomi versucht nicht mehr, Ruth umzustimmen.

Streng genommen ist nur Ruth eine Migrantin auf dem Weg in eine unbekannte Stadt, aber in mancher Hinsicht ist Noomi ebenfalls eine oder sogar eine zweifache Migrantin. Zuerst wanderte sie nach Moab aus – und jetzt, auf dem Rückweg in die Stadt Bethlehem nach zehn Jahren in der Fremde und mittlerweile in Not, fühlt sie sich wieder vollkommen entwurzelt. Ruth und Noomi teilen sich die Bühne auf komplizierte Weise – jede steuert ihre eigenen Farben zu dieser Migrationsgeschichte bei. Während Ruth deutlicher die Fremde, die Moabiterin darstellt, die sich einem ihr noch unbekannten Volk anschließt, bringt Noomi stärker den inneren Tumult der Selbstentfremdung zum Ausdruck. Der letzte Satz des Einleitungskapitels betont, dass die beiden Frauen untrennbar sind: »Es war aber um die Zeit, da die Gerstenernte anging, als Noomi mit ihrer Schwiegertochter Ruth, der Moabiterin, zurückkehrte vom Moabiterland nach Bethlehem.« (Ruth 1,22) Auf den ersten Blick überraschend, wird Ruth ganz ähnlich wie Noomi als »Rückkehrerin« in ihr Heimatland betrachtet, obwohl sie noch nie einen Fuß in das Land Juda gesetzt hatte. So wie die Heimkehr der beiden hat auch ihre Migration Gemeinsamkeiten.8

Als die beiden in Bethlehem ankommen, »erregt sich die ganze Stadt«. In diesem außergewöhnlichen Text, der das Handeln von Frauen in den Vordergrund stellt, wird auch Bethlehem – wenigstens auf den ersten Blick – als eine feminine Welt verstanden. Die Stadt, das sind die Frauen: Sie gehen den beiden Ankömmlingen entgegen, sie fragen: »Ist das die Noomi?« Wahrscheinlich fällt es ihnen schwer, sie nach all den Jahren wiederzuerkennen. Aber Noomi ordnet die Frage anders ein, so wie es ihrer tiefen Entfremdung entspricht:

Nennt mich nicht Noomi, sondern Mara; denn [Schaddai] der Allmächtige hat mir viel Bitteres angetan. Voll zog ich aus, aber leer hat mich der HERR wieder heimgebracht. Warum nennt ihr mich denn Noomi, da doch der HERR mich gedemütigt hat und der Allmächtige mir Leid angetan hat? (Ruth 1,20-21)

Ihre Selbstentfremdung zeigt sie an, indem sie sich von ihrem Namen distanziert, dem entscheidenden Identitätsmerkmal. Der Name »Noomi« (verwandt mit »angenehm«) passe nicht mehr zu ihr, klagt sie: »Mara« – die Bittere – wäre angemessener. Nicht viel anders als Hiob hadert Noomi mit einem Gott, der sie ohne einen erkennbaren Grund erbarmungslos gequält hat.9 An dieser Stelle wechselt der Stil wieder vom Prosaischen zum Poetischen und unterstreicht so die emotionale Intensität des Moments. Noomi stellt ihre jetzige Leere gegen die Fülle, mit der sie gesegnet war, als sie nach Moab aufbrach. »Voll zog ich aus, aber leer hat mich der HERR wieder heimgebracht.« Während sie auf dem Weg noch davon gesprochen hat, dass Gottes Hand sie getroffen habe (Ruth 1,14), erhebt sie jetzt, da sie ohne Ehemann und ohne Söhne in ein leeres Haus zurückkehrt, mit harten Worten Klage gegen den Himmel. Sie sieht sich als Angeklagte vor einem ungerechten Gericht: Die Bestrafung sei vollzogen, Vorwürfe und Beweise jedoch im Dunkeln geblieben.

Niemand antwortet auf Noomis Protest – weder die Frauen aus Bethlehem noch Ruth. Vielleicht nehmen sie wahr, dass Worte Noomis Schmerz nicht lindern können, so wie Hiobs Freunde (die gekommen waren, ihn zu trösten) sieben Tage und sieben Nächte bei ihm am Boden sitzen und nichts mit ihm redeten, »denn sie sahen, dass sein Schmerz sehr groß war« (Ijob 2,13). Dass Ruth schweigt, könnte man auch als Zeichen ihrer tiefen Identifikation mit Noomi verstehen. In Noomis Aufschrei muss etwas von Ruths eigenem Schmerz – sie zieht als kinderlose Witwe durch die Straßen einer fremden Stadt – mitgeklungen haben. Ruths Gedanken bleiben unausgesprochen, aber als sie merkte, dass die Frauen von Bethlehem und auch Noomi sie anscheinend überhaupt nicht wahrnahmen, muss sie sich noch mehr als Heimatlose gefühlt haben. Das ausgeprägt kryptische Buch Ruth lässt uns die unerträgliche Zerrissenheit im Leben von Migrantinnen nicht vergessen, auch wenn der Text zunehmend mehr Gewicht auf den dringenden Wunsch nach einer neuen Heimat und einem neuen Anfang legt.

Das erste Kapitel des Buchs endet mit einem Kommentar: »Es war aber um die Zeit, da die Gerstenernte anging, dass Noomi mit ihrer Schwiegertochter […] zurückkam vom Moabiterland nach Bethlehem.« (Ruth 1,22) Dieser Schlusssatz scheint ein schwaches Zeichen oder die Andeutung eines möglichen Übergangs aus einer Szene der Trauer, des Hungers und der Entfremdung in eine Welt der Fülle mit reichlich Brot zu sein. Bestand zu Beginn der Erzählung eine Diskrepanz zwischen der Bedeutung von »Bethlehem« – Haus des Brotes – und der Hungersnot, die das Land getroffen hatte, erhält die Stadt Bethlehem jetzt anscheinend wieder ihren früheren Glanz. Das Gerücht, das Noomi noch in Moab gehört hatte, »dass der HERR sich seines Volkes angenommen und ihnen Brot gegeben hatte« (Ruth 1,6), war nicht unbegründet.

In dieser letzten Zeile glimmt ein Hoffnungsschimmer, sie ist aber keine Theodizee. Die Erzählung versucht nicht, Gottes Wege zu rechtfertigen oder Gründe anzugeben für das Leiden ohne Schuld, das wir mitangesehen haben. Es handelt sich um eine rein deskriptive Aussage, die unvermeidliche Höhen und Tiefen im Menschenleben markiert. Gott kann Hungersnöte schicken und ebenso für Brot sorgen. An diesem Punkt der Erzählung ist jedoch noch nicht klar, ob Gottes neuerliche Barmherzigkeit gegen Bethlehem die Sorgen Ruths und Noomis lindern wird. Als Abraham während einer Hungersnot nach Ägypten hinabzog, kam er mit großem Reichtum von seiner Reise zurück. Noomi dagegen ist mit leeren Händen ohne jeden materiellen Gewinn zurückgekehrt. Es gibt nicht einmal Anzeichen dafür, dass sie wieder in ihr früheres Haus einziehen kann. Wo Noomi und Ruth in Bethlehem unterkommen, wird nicht gesagt.

Und doch liegen die Möglichkeiten einer anders gearteten Zukunft in der Luft. Könnte Noomis Name, so wie der Name Bethlehems, wieder passen? Deutet die Fruchtbarkeit des Landes darauf hin, dass auch menschliche Fruchtbarkeit wiederhergestellt werden könnte? Wird diese fremd gewordene Stadt für Ruth und Noomi wieder vertrauter werden?

Ährenlesen auf fremden Feldern: Die ersten Schritte

Kurz nach der Ankunft in Bethlehem macht sich Ruth auf den Weg zu den Gerstenfeldern. Ihre Migrationsgeschichte dreht sich – wie die meisten dieser Geschichten damals und heute – um die Suche nach Arbeit und Lebensunterhalt im neuen Land. Wie zuvor auf der Straße zeigt sich Ruths Kühnheit auch in Bethlehem. Entschlossen, das dringlichste Problem – den Hunger – zu lösen, bittet sie ihre Schwiegermutter: »Lass mich aufs Feld gehen und Ähren auflesen bei einem, vor dessen Augen ich Gnade finde.« (Ruth 2,2) Noch weiß Ruth nicht, auf wessen Feld sie Ähren lesen wird, aber sie weiß von Anfang an, dass es entscheidend ist, vor den Augen des Gutsherrn »Gnade zu finden«. Fremde sind angreifbar und müssen bei der Arbeitssuche ihre Schritte sorgfältig planen. Noomi geht nicht mit Ruth – weil sie vor Kummer gelähmt oder zu alt für die Arbeit ist.

Julia Kristeva schreibt: »Der Fremde ist der, der arbeitet […] [Man erkennt] den Fremden daran, dass er die Arbeit immer noch als einen Wert betrachtet. Eine Lebensnotwendigkeit, sicher, seine einzige Möglichkeit zum Überleben, die er nicht zwangsläufig verklärt, sondern einfach als Grundrecht, als Ausgangspunkt der Menschenwürde geltend macht.«10 Da es für Fremde weit dringlicher ist, Arbeit zu finden, sind sie sehr strebsam, bereit, alle Jobs anzunehmen und sogar neue zu erfinden. Viele Erfolgsgeschichten von Migranten drehen sich um bescheidene Anfänge, den Kampf ums Überleben, die Schwierigkeiten mit einer fremden Sprache und den Umgang mit unvermeidlichen Demütigungen. Dann kommt es – wenigstens in den Varianten mit gutem Ende – zu einer dramatischen Wende: von der Arbeit auf steinigen Äckern und in halsabschneiderischen Ausbeuterbetrieben zu einem Leben in Reichtum und Überfluss und einer führenden Rolle bei finanziellen, wissenschaftlichen oder kulturellen Veränderungen, an die man bis dahin nicht im Traum gedacht hatte.

Der Held der migrantischen Erfolgsgeschichte vom Tellerwäscher zum Millionär ist jedoch heute noch – und war im Alten Testament erst recht – zumeist ein Mann. Josef wird als Sklave nach Ägypten gebracht und schafft es gegen alle Wahrscheinlichkeit, ganz nach oben zu kommen. Zuerst »findet er Gnade« bei Potifar und wird dessen Diener. Potifar »setzte ihn über sein Haus; und alles, was er hatte, gab er in seine Hände« (1 Mose 39,4). Später steigt Josef auf der sozialen Leiter noch weiter nach oben und gewinnt eine einflussreiche Position am Hof des Pharaos. Tief beeindruckt von Josefs einzigartiger Voraussicht bestimmt der Pharao ihn zu seinem wichtigsten Ratgeber und Verwalter und setzt ihn »über ganz Ägyptenland« (1 Mose 41,42-43). Josef ist genau der Typ des hartarbeitenden Migranten, der nicht in Schablonen denkt und in Ägypten eine ökonomische Umwälzung in Gang setzen kann, die das Vorstellungsvermögen aller anderen übersteigt.

Ruths Geschichte ist die einer Migrantin und nimmt als Geschichte einer Frau einen ganz anderen Verlauf. Die Welt der Bibel schließt Frauen in der Regel von Lohnarbeit aus. Mädchen kommen gelegentlich als Erntehelferinnen oder Hirtinnen vor, aber im Großen und Ganzen bleiben Frauen am häuslichen Herd. Ährenlesen ist eine Kategorie eigener Art, eine Arbeit für Notleidende, die keine Unterstützung haben. Das Recht auf Ährenlesen gehört zu den Menschenrechten, die das biblische Sozialsystem sichert, um die Ärmsten der Armen, also Fremde (oder Gäste), Waisen und Witwen mit einer minimalen Nahrungsquelle zu versorgen.11 Das Gesetz über das Ährenlesen im 5